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https://de.wikipedia.org/wiki/Super%20Mario%20Sunshine
Super Mario Sunshine
Super Mario Sunshine (jap. , Sūpā Mario Sanshain) ist ein Videospiel des Genres 3D-Jump-’n’-Run und Action-Adventure. Der japanische Videospielkonzern Nintendo veröffentlichte es am 19. Juli 2002 in Japan für seine stationäre Spielkonsole GameCube. In Nordamerika kam das Spiel Ende August und in Europa Anfang Oktober auf den Markt. Es handelt sich um den Nachfolger von Super Mario 64 (N64, 1996) und um den einzigen für den GameCube veröffentlichten Teil der Super-Mario-Reihe. Der Spieler übernimmt in Super Mario Sunshine die Rolle des titelgebenden Klempners Mario, der fälschlicherweise beschuldigt wird, die Insel Isla Delfino großflächig verschmutzt zu haben. Zum Säubern der Insel verurteilt, erhält Mario die multifunktionale Wasserspritze „Dreckweg 08/17“ (im Englischen: „F.L.U.D.D.“ für „Flash Liquidizer Ultra Dousing Device“). Dieses zum Sprechen befähigte Gerät dient als wasserbasiertes Reinigungswerkzeug und Transportmittel in Form eines Raketenrucksacks gleichermaßen. Der Dreckweg 08/17 stellt die wichtigste Neuerung innerhalb des auf Super Mario 64 aufbauenden Spielprinzips dar. Für die etwa anderthalb Jahre dauernde Entwicklung von Sunshine war die Nintendo-Abteilung Entertainment Analysis & Development zuständig. Die Serienschöpfer Shigeru Miyamoto und Takashi Tezuka fungierten lediglich als Produzenten, die Projektleitung hatten stattdessen Yoshiaki Koizumi und Kenta Usui inne. Den Soundtrack des Spiels komponierten Kōji Kondō und Shinobu Tanaka. Nach der Veröffentlichung erhielten insbesondere das Spielkonzept, die Gestaltung der Spielabschnitte, die Steuerung und die Atmosphäre großes Lob und führten weltweit zu Höchstbewertungen in der einschlägigen Spielepresse. Die Führung der virtuellen Kamera, die Handlung und die Sprachausgabe konnten dagegen nicht überzeugen und waren häufig Gegenstand der Kritik seitens der Rezensenten und Super-Mario-Fans. Ebenso kritisierten viele Stimmen, dass Sunshine den hohen Erwartungen an einen Nachfolger von Mario 64 nicht gerecht geworden sei und sich zudem nicht gut in die Super-Mario-Reihe einfüge. Mit weltweit etwa sechs Millionen abgesetzten Exemplaren stellt Sunshine die dritterfolgreichste Veröffentlichung für den ein Jahr zuvor erschienenen GameCube dar. 2007 erschien der Nachfolger Super Mario Galaxy für die Wii. Super Mario Sunshine erschien im Rahmen des 35. Jubiläum von Super Mario als Teil der Kollektion Super Mario 3D All-Stars für Nintendo Switch. Handlung Der Klempner Super Mario begibt sich mit Prinzessin Peach aus dem Pilzkönigreich, einer Handvoll Toad-Begleiter und dem Butler Toadsworth auf eine Urlaubsreise nach Isla Delfino, einer fiktiven tropischen Insel. Bei ihrer Landung am Flughafen stellen die Urlauber fest, dass ganz Isla Delfino mit magischem Schleim beschmiert wurde. Die Einheimischen fordern Mario auf, das Flughafengebiet zu reinigen, und händigen ihm die von Professor I. Gidd entwickelte Wasserdüse „Dreckweg 08/17“ aus, die zum Sprechen befähigt ist und ein Eigenleben besitzt. Der Klempner schnallt sich das Gerät auf den Rücken und reinigt den Flughafen vom schädlichen Schleim sowie den daraus entstandenen Monstern. Das Leben auf der Urlaubsinsel wird von der Verschmutzung erheblich beeinträchtigt. Sie ist der Grund für das Verschwinden der Insignien der Sonne, denen die Kraft der Sonne innewohnt, von welcher die Insel ihre Energie bezieht. Deshalb herrscht nun auf Isla Delfino eine Finsternis. Hinzu kommen viele weitere Unannehmlichkeiten, die der Schleim und die Monster den einheimischen Palmas und Paradisos bereiten. Bei dem Übeltäter hinter dem Ganzen handelt es sich um einen als „Mario Morgana“ bezeichneten Doppelgänger des Klempners. Das Gericht von Isla Delfino hält jedoch fälschlicherweise Mario selbst für den Schuldigen, weshalb es ihn dazu verurteilt, nun auch die gesamte Insel vom Schleim zu befreien und die Insignien der Sonne zurückzubringen. Diese Mission nimmt Mario mithilfe des Dreckweg 08/17 am Tag nach der Verurteilung auf. Kurz darauf wird Prinzessin Peach in der Inselhauptstadt Piazza Delfino vom böse gesinnten Doppelgänger entführt. Nach einer kurzen Verfolgung kann Mario sie befreien. Dem Übeltäter gelingt jedoch die Flucht durch ein magisches Graffito, das er mithilfe seines Zauberpinsels erschaffen hat. Später erscheint Mario Morgana erneut in Piazza Delfino und verschleppt die Prinzessin zum Vergnügungspark Parco Fortuna. Mario nimmt die Verfolgung auf und muss sich im Park einem von seinem Widersacher kontrollierten Riesen-Roboter stellen, der das Ebenbild des Bösewichts Bowser ist. Anschließend offenbart Mario Morgana seine wahre Identität – er ist in Wahrheit Bowsers Sohn, Bowser Jr. Er erklärt, dass er Prinzessin Peach für seine Mutter hält und sie deswegen für sich beanspruchen möchte. Daraufhin flieht er mit Prinzessin Peach zum Vulkan Collina Korona. Nachdem Mario in allen sieben Gebieten der Insel – darunter ein Bergdorf, ein Hafen, ein Strand sowie ein Hotel – seinen Gegenspieler Mario Morgana im Kampf besiegt hat, wird Piazza Delfino von einer Überschwemmung heimgesucht. Dadurch öffnet sich ein Zugang zu Collina Korona, durch welchen Mario das Versteck von Bowser Jr. betritt. Im Vulkan kämpft sich der Klempner bis zur Bergspitze durch, wo sich eine überdimensionale Badewanne befindet, in der sich Bowser mit seinem Sohn und Prinzessin Peach im Rahmen eines vermeintlichen Familienurlaubs aufhält. Nach einem großen Kampf kippt die riesige Wanne um und ihre Insassen stürzen in die Tiefe. Mario und Prinzessin Peach landen unbeschadet auf einer kleinen Insel nahe Isla Delfino, doch der Dreckweg 08/17 erleidet irreparabel scheinende Schäden. Bowser und sein Sohn kommen indes auf einer schwimmenden Plattform auf, wo Bowser seinem Sohn erklärt, dass Prinzessin Peach in Wahrheit nicht seine Mutter ist. Die befreiten Insignien der Sonne versammeln sich währenddessen an der Porta Sole, dem Wahrzeichen der Insel. Die Kraft der Sonne ist wiederhergestellt und die gesamte Insel von Mario Morganas Schleim befreit. Diesen Anlass feiern die Einheimischen mit einem großen Fest in Piazza Delfino. Währenddessen haben die Toads den Dreckweg 08/17 wieder repariert. Gemeinsam mit der Wasserdüse, die Mario das gesamte Abenteuer über ein treuer Gefährte war, beginnt für Mario und Peach der eigentliche Urlaub. Spielbeschreibung Spielprinzip und -ablauf Der Spieler steuert in Super Mario Sunshine die Spielfigur Mario mithilfe des GameCube-Gamepads durch die dreidimensionalen Spielwelten. Die virtuelle Kamera zeigt das Geschehen aus der Third-Person-Perspektive und verfolgt die Spielfigur automatisch und kann zugleich manuell kontrolliert werden. Den Spielfortschritt kann der Spieler nach dem Abschluss einer Mission sowie jederzeit in der Oberwelt speichern, wozu eine Memory Card erforderlich ist. Sunshine bietet keinen Mehrspieler-Modus und kann somit ausschließlich allein gespielt werden. Super Mario Sunshine startet mit einer vorberechneten Filmsequenz und übergibt anschließend dem Spieler die Kontrolle. Während des als Tutorial fungierenden Spielbeginns am Flughafen von Isla Delfino erhält Mario den Dreckweg 08/17. Anschließend gelangt die Spielfigur nach Piazza Delfino, das für den restlichen Verlauf als Oberwelt sowie als Ausgangspunkt für jeden gespeicherten Spielstand dient. Je nach der Anzahl der gesammelten Insignien werden in Piazza Delfino Skriptsequenzen ausgelöst, die weitere spielerische Möglichkeiten freischalten. So kann die Spielfigur mit zunehmendem Fortschritt mehr Inselabschnitte über die Oberwelt erreichen. Insgesamt gibt es im Spiel sieben solcher Level mit je acht Kapiteln. Innerhalb eines Levels sind die Kapitel in der vorgegebenen Reihenfolge zu bewältigen, und für jedes absolvierte Kapitel erhält Mario eine Insignie [sic!] der Sonne. Die einzelnen Kapitel eines Levels bauen aufeinander auf, denn manche Aktionen Marios verändern die Spielwelt im folgenden Kapitel. Häufige Missionsziele bestehen beispielsweise darin, einen Endgegner ausfindig zu machen und zu besiegen, einen Parcours zu bewältigen, acht versteckte Rote Münzen zu sammeln, Mario Morgana zu verfolgen und aufzuhalten oder ein Rennen gegen den Athleten Palmathon zu gewinnen. Darüber hinaus existieren viele versteckte Insignien. Außerdem gibt es an ältere Super-Mario-Spiele angelehnte Missionen, in denen Mario lineare Parcours ohne die Hilfe des Dreckweg 08/17 bestreiten muss. Weil diese Parcours quasi in der Luft schweben, muss der Spieler nach einem Fehler wieder vom Beginn anfangen. Überdies ist über die ganze Spielwelt eine Vielzahl an Blauen Münzen verteilt, die zum Vorschein treten, wenn von Mario Morgana angebrachte Graffiti entfernt oder andere Aufgaben bewältigt werden. Je zehn Blaue Münzen kann Mario in Piazza Delfino gegen eine Insignie der Sonne eintauschen. Zusätzlich erhält Mario in jedem Level eine Insignie, wenn er 100 Gelbe Münzen sammelt. Diese sind über die ganze Spielwelt verteilt und befinden sich zudem in Objekten und Gegnern. Das Ziel des Spielers ist es, den Kampf gegen den Endboss zu bewältigen. Um diesen freizuschalten, muss der Spieler in jedem Level das siebte Kapitel absolviert haben. Sammelt der Spieler sämtliche 120 im Spiel enthaltenen Insignien der Sonne ein und besiegt den Endgegner, wird eine Bonus-Endszene gezeigt. Mario verfügt über acht Trefferpunkte, die in Form einer HUD-Anzeige visualisiert werden. Wenn die Spielfigur von einem Gegner verletzt wird, aus zu großer Höhe auf den Boden stürzt oder anderweitigen Gefahren ausgesetzt ist, verliert sie mindestens einen Trefferpunkt. Marios Energie regeneriert sich wieder, wenn er Münzen einsammelt. Sinkt die Energie jedoch auf null, verliert Mario einen Versuch und muss die aktuelle Mission von vorn beginnen. Nach dem Verlust sämtlicher Versuche erscheint der Game-over-Bildschirm. Zusätzliche Versuche erhält der Spieler, wenn er grüne 1-Up-Pilze einsammelt. Grundlegende Fähigkeiten und Kamerasteuerung Mithilfe des Analog-Sticks auf dem Nintendo-GameCube-Controller lässt der Spieler Mario gehen und steuert seine Laufrichtung. Je stärker der Stick geneigt wird, desto schneller bewegt sich die Spielfigur fort. Die A-Taste lässt Mario Sprünge ausführen, mithilfe der B-Taste kann er kontextsensitiv mit Nicht-Spieler-Charakteren (NPC) sowie der Umgebung interagieren. Die meisten gewöhnlichen Gegner kann Mario besiegen, indem er ihnen auf den Kopf springt. Neben diesen Hauptaktionen verfügt Mario über weitere Techniken: Beim Wandsprung stößt er sich in der Luft von einer vertikalen Plattform ab, und beim Dreiersprung vollführt er drei Sprünge hintereinander, wobei der letzte ihn besonders hoch in die Luft befördert. Darüber hinaus stehen ihm der Drehsprung, der Seitwärtssalto und die Stampfattacke zur Verfügung. Mit Letztgenannter kann Mario Gegner bekämpfen, bestimmte Gegenstände zerstören sowie das Kanalisationssystem von Isla Delfino betreten. Auch kann Mario schwimmen und für begrenzte Zeit tauchen. Außerdem ist es der Spielfigur möglich, Früchte zu tragen und zu werfen, sich an Plattformen festzuhalten, auf Palmen, Stangen und an Gittern zu klettern, über den Boden zu rutschen und über Drahtseile zu balancieren und diese als Trampolin zu zweckentfremden. Die einzelnen genannten Aktionen kann der Spieler übergangslos hintereinander ausführen, wobei einzig die Stampfattacke eine kurze Abklingzeit mit sich bringt. Mithilfe des gelben C-Sticks kann der Spieler die Kamera um die Spielfigur herum drehen sowie zoomen; in der kleinsten Einstellung nimmt Mario etwa ein Fünftel des Bildschirmes ein und in der größten ungefähr ein Dreizehntel. Per Tastendruck kann die Kamera hinter Mario zentriert werden; außerdem kann der Spieler die Kamera direkt hinter Marios Schulter einstellen, um sich von dort aus Marios aktueller Position in der virtuellen Welt umsehen zu können. Befindet sich zwischen der Kamera und der Spielfigur eine Wand, so ist die Spielfigur nur noch als Silhouette erkennbar. Dreckweg 08/17 und Yoshi Das zentrale Spielelement in Super Mario Sunshine ist die sprechende Wasserspritze Dreckweg 08/17, die dem Spieler – abgesehen von speziellen Parcours-Leveln – das gesamte Abenteuer über zur Verfügung steht und mitunter Hinweise gibt. Mit dem Dreckweg 08/17 kann der Klempner die magischen Schmierereien sowie Graffiti entfernen und Gegner bekämpfen. Außerdem ist die Wasserdüse ein zentrales Element zum Lösen von Rätseln. Gelegentlich kann das Entfernen von Geschmiere sogar die Spielwelten verändern, indem etwa ein vom Schleim verschlucktes Gebäude oder ein versunkener NPC freigelegt wird. Mit der rechten Analog-Schultertaste aktiviert der Spieler die Wasserdüse des Dreckweg 08/17. Wird die Taste nur leicht gedrückt, spritzt Mario Wasser und kann gleichzeitig laufen. Wenn der Spieler die Taste bis zum Anschlag drückt, bleibt Mario stehen, sodass die Ausrichtung des Wasserstrahls kontrollierbar ist. Unten rechts im HUD ist die Wassertank-Anzeige sichtbar, die beim Einsatz des Dreckweg 08/17 sinkt. Der Tank füllt sich auf, wenn Mario in Kontakt mit Wasser gerät, eine neue Düse ausrüstet oder Wasserflaschen einsammelt. Der Dreckweg 08/17 hat stets zwei Düsen ausgerüstet, zwischen denen der Spieler jederzeit wechseln kann und die gewissermaßen als Power-up fungieren. Die Schwebedüse ermöglicht es, einige Sekunden lang wie mit einem Raketenrucksack über den Boden zu schweben und so etwa Abgründe zu überwinden oder sich nach einem missglückten Sprung wieder auf eine sichere Plattform zu retten. Neben der horizontalen Bewegung befördert die Schwebedüse den Klempner auch leicht in die Höhe. Daneben gibt es zwei weitere Düsen, die Mario erst ab einem bestimmten Spielfortschritt zur Verfügung stehen. Wenn er eine entsprechende Düsenkiste öffnet, so wird die Schwebedüse durch den neu eingesammelten Aufsatz ersetzt. Bei den zwei weiteren Aufsätzen handelt es sich um die Raketen- und die Turbodüse: Erstere katapultiert Mario in die Luft, mit Letzterer kann sich die Spielfigur sowohl an Land als auch zu Wasser besonders schnell fortbewegen und sowohl höher als auch weiter springen als gewöhnlich, des Weiteren ermöglicht die Turbodüse dem Klempner, auf dem Wasser zu laufen. Ab einem gewissen Spielfortschritt erscheinen in manchen Leveln und Missionen grüngefleckte Eier. Bringt Mario eine vorgeschriebene Frucht zu einem solchen Ei, so schlüpft daraus der Dinosaurier Yoshi, der Mario als Reittier dient. Yoshi kann in Super Mario Sunshine Gegner und Früchte verspeisen sowie Saft speien, der ähnlich wirkt wie das Wasser des Dreckweg 08/17 und außerdem jenen Schleim auflösen kann, der gegen normales Wasser resistent ist. Manche Gegner kann Yoshi mit seinem Saft in Plattformen verwandeln, deren Verhalten abhängig davon ist, welche Früchte der Dinosaurier zuvor verzehrt hat. Außerdem kann Yoshi einen kurzen Flatterflug durchführen. Yoshi verschwindet, sobald er in einen Abgrund stürzt, mit Wasser in Kontakt gerät oder sein Saftvorrat erschöpft ist. Ferner kann ihn Mario innerhalb einer Mission höchstens bis zu deren Ende behalten. Entstehungsgeschichte Super Mario Sunshine entstand bei der Nintendo-Entwicklungsabteilung Entertainment Analysis & Development (EAD). Als Produzenten dienten die beiden Abteilungsleiter Shigeru Miyamoto und Takashi Tezuka, die außerdem die Super-Mario-Serie begründet hatten. Die Projektleitung übernahmen Kenta Usui und Yoshiaki Koizumi, der zuvor Co-Director von Super Mario 64, The Legend of Zelda: Ocarina of Time (N64, 1998) und The Legend of Zelda: Majora’s Mask (N64, 2000) gewesen war. Das Entwicklerteam umfasste laut Miyamoto etwa 30 Personen, in den Credits werden ungefähr 50 Mitwirkende genannt. Einige davon waren junge Nintendo-Mitarbeiter, für die Sunshine ihr Videospiel-Debüt darstellte. Kurz nach der Veröffentlichung von Super Mario 64 für das Nintendo 64 (N64), einem der ersten Videospiele mit frei begehbarer 3D-Spielwelt, hatte Nintendo die Arbeiten an einer Fortsetzung aufgenommen. Aus den beiden Projekten Super Mario 64 2 (64DD, 1998/1999) und Super Mario 128 (GameCube, ab 2000) resultierten jedoch keine veröffentlichten Spiele. Stattdessen erschien erst sechs Jahre nach der Markteinführung von Super Mario 64 mit Sunshine dessen offizieller Nachfolger. Projektbeginn Mitte 1999 wurde bekanntgegeben, dass Nintendo an einem neuen Super-Mario-Spiel arbeite für die damals noch unter dem Projektnamen „Dolphin“ in der Entwicklung befindliche N64-Nachfolgekonsole. Tatsächlich befasste sich Nintendo zu diesem Zeitpunkt aber noch mit der Grundlagenentwicklung. Zunächst programmierte Nintendo eine neue Spiel-Engine für den GameCube, die in mehreren Videospielen zum Einsatz kommen sollte, sodass die technischen Grundlagen nicht für jedes Projekt neu entwickelt werden mussten. Von dieser Maßnahme versprach sich Nintendo einen effizienteren Entwicklungsprozess. Während die neue Entwicklungsumgebung entstand, ruhten die Arbeiten an dem neuen Super-Mario-Spiel. Dessen eigentliche Entwicklungsphase begann erst Ende 2000 oder Anfang 2001 und dauerte ungefähr eineinhalb Jahre an. Nintendos neue Spiel-Engine fand in Super Mario Sunshine ihren ersten Einsatz und wurde später unter anderem auch für The Legend of Zelda: The Wind Waker (GC, 2003) genutzt. Kōichi Hayashida war an der Grundlagenarbeit für den GameCube und der Erstellung der neuen 3D-Engine beteiligt gewesen und wurde als leitender Programmierer des neuen Super-Mario-Projekts eingesetzt. Zur weiteren Verkürzung der Entwicklungsarbeiten stellte Nintendo ein internes Team zusammen, das spieleübergreifend die 3D-Modelle häufig verwendeter Spielfiguren erstellen sollte. Die Modelle einiger Hauptcharaktere aus Sunshine stammen von jenem Team und wurden entsprechend in späteren Spielen wiederverwendet. Das Sunshine-Team gestaltete lediglich exklusive Modelle, etwa zu neuen Gegnern. Konzeptarbeiten Die wichtigste Neuerung in der Spielmechanik von Super Mario Sunshine geht auf eine Idee von Yoshiaki Koizumi zurück. Die beiden analogen Schultertasten des GameCube-Controllers erinnerten ihn an den Abzug einer Wasserpistole und inspirierten ihn zu einem darauf basierenden Spiel. Das Team um Koizumi erarbeitete darauf aufbauend ein Spielkonzept. Drei Monate nach Beginn dieser Konzeptphase, in der das Projekt noch keiner Spieleserie zugeordnet war, entschieden die Entwickler, das neue Wasserdüsenkonzept mit dem Spielprinzip von Super Mario 64 zu kombinieren. So begannen die Arbeiten an einem neuen Super-Mario-Teil. Dabei wollten die Entwickler anspruchsvolle Wasserdarstellungen einbringen, um die leistungsfähige GameCube-Hardware unter Beweis zu stellen. Deswegen avancierte Wasser zum zentralen Motiv des neuen Projekts von Nintendo EAD. Um dem Rechnung zu tragen, sollte das Spiel auf einer tropischen Insel im Sommer handeln. Schon früh planten die Entwickler eine zu diesem Szenario passende Veröffentlichung des neuen Spiels im Sommer 2002. Der finale Name des Spiels, Super Mario Sunshine, stammt von Koizumi. Nachdem das Konzept der Wasserdüse feststand, legte Koizumi das Aktionsrepertoire der Spielfigur und die weiteren Spielelemente fest. Zu diesem Zeitpunkt kam die Idee auf, dass Mario mit seiner Wasserdüse Graffiti beseitigen sollte. Dazu experimentierte das Team mit der Berechnung von Bewässerung, Graffiti-Zeichnung und -Entfernung. Für die Umsetzung der Wasserdüsen-Idee gab es verschiedene Optionen. Eine davon war, dass Yoshi auf Marios Kopf sitzen und von dort Wasser speien sollte. Eine andere Überlegung sah vor, dass Mario selbst das Wasser verschießt. Auch standen Aussehen und Funktion einer klassischen Wasserpistole zur Debatte. Im Hinblick auf eine Veröffentlichung in Nordamerika, wo Nintendo jede Verbindung mit Waffen oder Pistolen vermeiden wollte, entschied sich das Team aber gegen das Aussehen einer Wasserpistole. Zehn Düsen entwarf das Entwicklerteam für den Dreckweg 08/17, wobei die Schwebedüse, die das Gerät zu einem Raketenrucksack umfunktioniert, eine der letzten Ideen war. Zu Gunsten der Übersichtlichkeit wurde die Anzahl der Düsen aber reduziert und die Schwebedüse zu einer der beiden Hauptfunktionen gemacht. Zu den verworfenen Ideen gehören etwa eine Feuerwerk-artige und eine Sprinklerdüse. Durch die Schwebedüse erhofften sie sich, den Spielern die Abschätzung der räumlichen Distanz und damit insbesondere zielgenaue Sprünge zu erleichtern. Dies war nämlich eine Schwäche von Super Mario 64 und anderen zeitgenössischen 3D-Jump-’n’-Runs. Durch diese Maßnahme sollte die Wasserdüse die Steuerung des neuen Spiels einfacher gestalten, zugleich erhöhte sie aber auch dessen Lernkurve. Gemäß der Zielsetzungen zum neuen Projekt sollten die Spielwelten realistischer wirken als in Super Mario 64 und viele Gebäude aufweisen, damit Marios Wandsprung häufiger zum Einsatz kommt. Ferner sollten die Spielwelten größer sein als die des Vorgängers. Im Rahmen dieser Zielsetzung sammelten einige Mitglieder des Entwicklerteams durch Reisen Inspiration für die Gestaltung der Spielwelten. Entsprechend entstand die Oberwelt „Piazza Delfino“, die Hauptstadt der fiktiven Insel „Isla Delfino“, deren Umrisse denen eines Delfins ähneln und deren Name eine Anspielung auf den Arbeitstitel des GameCube ist. Koizumi zeichnete auch für die Filmszenen des Spiels verantwortlich und sprach sich ferner dafür aus, dass Mario neue Kleidung tragen sollte. Produzent Tezuka war allerdings gegen diese Idee, zeigte sich jedoch damit einverstanden, dass der Klempner anders als üblich ein kurzärmeliges Shirt unter seinem blauen Overall trägt. Entwicklungsprozess Das Entwicklerteam überarbeitete das Kamerasystem aus Super Mario 64, sodass der Spieler die Sicht auf das Geschehen nun stufenfrei steuern kann. Dies sollte dazu beitragen, die Zugänglichkeit des neuen Spiels zu erhöhen. Außerdem ermöglichte das überarbeitete System komplexe Kamerafahrten, wie sie im Spiel etwa während einer Achterbahnfahrt zum Einsatz kommen. Auch eine automatische oder semi-automatische Kamera standen zur Debatte, konnten sich letztlich aber nicht durchsetzen. Ursprünglich sollte Mario per Zug von der Oberwelt Piazza Delfino zu den einzelnen Distrikten der Insel gelangen. Im finalen Spiel erreicht Mario diese Orte stattdessen, indem er magische Wand-Graffiti oder besondere Orte in Piazza Delfino betritt – ähnlich wie der Klempner in Super Mario 64 durch magische Gemälde springen muss, um von Prinzessin Peachs Schloss zu den anderen Spielwelten zu gelangen. Außerdem verwarf das Team mutmaßlich bereits früh im Entwicklungsprozess mindestens fünf geplante Spielwelten. Der Vulkan Collina Korona, der im finalen Spiel lediglich Schauplatz des Endkampfes ist, sollte ursprünglich wie die anderen Spielwelten auch über mehrere Missionen verfügen. Außerdem arbeitete das Team an einem Kameraverhalten für einen offenbar geplanten Mehrspieler-Modus, der allerdings nie finalisiert wurde. Mitte 2001 war das grundlegende Spielsystem fertig entwickelt. Material aus dieser Entwicklungsphase weist noch große Unterschiede zum fertigen Spiel auf und zeigt frühe oder alternative Versionen einiger Spielwelten. Die einzelnen Welten wurden nämlich im Laufe der Entwicklungsarbeiten mehrmals umgestaltet. Auch das Head-up-Display durchlief mehrere Stadien. Außerdem waren zunächst noch menschliche Nicht-Spieler-Charakter enthalten, wohingegen im Endprodukt neben Mario und Prinzessin Peach keine Menschen dargestellt werden. Ab Mitte 2001 versuchten die Entwickler das Produkt mehr in die Richtung von Super Mario 64 zu lenken. Auch Pressematerial, das nur wenige Wochen vor der Fertigstellung des Spiels entstand, weist noch einige Unterschiede zum fertigen Spiel auf. Mitte 2003 äußerte Miyamoto gegenüber dem Videospieljournalisten Steven L. Kent, dass die Entwicklung von Super Mario Sunshine etwas zu spät begonnen habe. Er deutete an, dass das Spiel aufgrund des fixen Veröffentlichungstermins nicht weiter vergrößert und verbessert werden konnte: Musik und Ton Die Videospielmusik von Super Mario Sunshine verfassten Kōji Kondō und Shinobu Tanaka. Kondō ist seit Bestehen der Super-Mario-Reihe für deren Musik verantwortlich und komponierte den Großteil der Stücke für Sunshine, darunter auch die Hintergrundmelodie von Piazza Delfino, welche als Hauptthema des Spiels fungiert. Tanaka hingegen hat ihre Arbeit bei Nintendo erst 2001 aufgenommen und vor Sunshine am Soundtrack von Luigi's Mansion mitgewirkt. Entsprechend der Spielatmosphäre ist der Soundtrack von Super Mario Sunshine überwiegend als karibische Musik zu klassifizieren und nutzt charakteristische Instrumente wie Steel Pans. Wenn Mario auf Yoshi reitet, wird die Hintergrundmusik durch eine Bongo-Tonspur ergänzt. Einige Stücke aus Super Mario Sunshine stellen Arrangements von Melodien aus Super Mario Bros. (NES, 1985) dar, dem ersten Teil der Reihe. Dazu zählt eine A-cappella-Version der bekannten Titelmelodie der Super-Mario-Serie. Als einziger Super-Mario-Teil hat Sunshine Zwischensequenzen mit Sprachausgabe. Die Ausrufe des ansonsten stummen titelgebenden Klempners stammen von Charles Martinet. Den Toads und Prinzessin Peach lieh die Synchronsprecherin Jen Taylor ihre Stimme, Kit Harris sprach den Dreckweg 08/17 und die Paradisos, Scott Burns synchronisierte Bowser sowie die männlichen Palmas und Dolores Rogers sprach Bowser Jr. und die weiblichen Palmas ein. Für die Toneffekte von Yoshi lieh der Nintendo-Komponist Kazumi Totaka seine Stimme. Super Mario Sunshine bietet, selbst in der japanischen Originalfassung, ausschließlich englische Sprachausgabe mit Untertiteln. Super Mario Sunshine unterstützt Dolby Pro Logic II. Das Spiel nutzt Surround Sound beispielsweise während der Verfolgungsjagden mit Mario Morgana. Dabei hört der Spieler das Thema von Mario Morgana aus der Richtung, in der sich der Bösewicht befindet, und die Melodie wird lauter, je näher Mario seinem Widersacher kommt. Grafik Super Mario Sunshine läuft mit einer konstanten Bildrate von 30 Bildern pro Sekunde. Während der Entwicklungsphase betrug die Bildrate des Spiels hingegen noch 60 Bilder pro Sekunde. Der GameCube berechnet das Bild in einer nativen Auflösung von 480p im Vollbildverfahren und im Seitenverhältnis 4:3. Ein wichtiger Bestandteil der Grafik des Spiels ist die Flüssigkeitssimulation, die zusammen mit speziellen Shadern sowie der Berücksichtigung von Reflexionen und Lichtbrechungen zu einer realistischen Darstellung von Wasser beitragen. Das Schleim-Feature realisierte das Entwicklerteam mithilfe von animierten Texturen, die über die Spielwelten gelegt werden und die dynamisch auf die Einwirkung des Spielers reagieren. Zu weiteren Postprocessing-Effekten, die Super Mario Sunshine zur Erzeugung der glaubwürdigen Atmosphäre einer heißen Tropeninsel nutzt, zählen Bumpmapping, Schärfentiefe sowie hitzebedingte Verzerrungen. Während Sunshine abseits dessen relativ wenige Schattierungseffekte anwendet, viele Texturen verschwommen sind und die Charaktermodelle flach und grob wirken, bedient es sich komplexer Partikelsysteme. Auch berechnet es die Physik des Schleims möglichst realistisch, sodass Mario beispielsweise selbst schmutzig wird bei Kontakt mit Schleim und diesen mit seinen Fußspuren verschmiert. Darüber hinaus bietet das Spiel eine relativ hohe Render-Sichtweite. Veröffentlichung Markteinführung Im Mai 2001 tauchte erstmals der Name Mario Sunshine als GameCube-Spiel auf einer Nintendo-Website zur E3 2001 auf. Im selben Monat kündigte Miyamoto an, dass Nintendo das neue Super-Mario-Spiel für den GameCube auf der Nintendo Space World am 22. August 2001 erstmals vorstellen werde. Im Rahmen dieser hauseigenen Messe präsentierte Miyamoto Videospieljournalisten das erste Videomaterial zu Super Mario Sunshine. Hierbei war der Dreckweg 08/17 noch nicht in Aktion zu sehen. Als Grund dafür gab Miyamoto an, dass man geistigen Diebstahl des Konzeptes verhindern wollte. Obwohl die Vorstellung hinter verschlossenen Türen stattfand und Miyamoto die Veröffentlichung von Bild- oder Videomaterial untersagte, verbreitete die Spielewebsite IGN eine abgefilmte Version des Materials. Als Veröffentlichungszeitraum für das Spiel gab Nintendo auf der Space World den Sommer 2002 an. Der Name „Super Mario Sunshine“ galt zu diesem Zeitpunkt bloß als vorübergehender Arbeitstitel des Spiels. Die finalen Veröffentlichungstermine des Spiels teilte Nintendo im März 2002 mit. Ende Mai 2002 stellte Nintendo Super Mario Sunshine auf der Electronic Entertainment Expo der Öffentlichkeit vor und präsentierte einen Trailer. In Japan veröffentlichte Nintendo Super Mario Sunshine am 19. Juli 2002. In Nordamerika erfolgte die Markteinführung des Spiels am 26. August 2002 und in Europa sowie Australien am 4. Oktober 2002. Im Oktober 2002 brachte Nintendo ein Bundle heraus, das die GameCube-Konsole inklusive Controller und Memory Card sowie ein Exemplar von Super Mario Sunshine umfasste. Unter dem Label „Player's Choice“ veröffentlichte Nintendo im September 2003 neue Exemplare des Spiels zu einem günstigeren Preis. Zur Vermarktung des Spiels veranstaltete Nintendo im August 2002 in San Francisco einen Weltrekordversuch. Dabei wurden 1,5 Tonnen Spaghetti serviert, womit Nintendo laut dem Guinness-Buch der Rekorde den Weltrekord für die größte Pasta-Portion erlangte. Verkaufszahlen In Japan legte Super Mario Sunshine einen erfolgreichen Verkaufsstart hin. Laut Analyseunternehmen wurden in den ersten drei Tagen auf dem Markt über 300.000 Exemplare verkauft, womit das Spiel den ersten Platz der japanischen Videospiel-Wochencharts erreichte. In der darauffolgenden Woche wurde das Spiel 100.000 weitere Male erworben. Bis Ende August stiegen die Verkaufszahlen von Sunshine in Japan auf rund eine halbe Million Exemplare an. Während der ersten zehn Tage auf dem nordamerikanischen Markt wurden laut Nintendo über 350.000 Exemplare von Super Mario Sunshine verkauft. Die Absatzzahlen des GameCube hätten sich im Veröffentlichungszeitraum um etwa 50 % erhöht. Obwohl es erst gegen Ende des Monats erschienen war, avancierte Sunshine plattformübergreifend zum zweitmeistverkauften Videospiel in Nordamerika im August 2002. Im Folgemonat September befand sich Sunshine auf dem dritten Platz der nordamerikanischen Videospielcharts. Mit Stand 2003 lagen die Verkaufszahlen des Spiels in Nordamerika laut der NPD Group bei knapp über 1,1 Million. Auf dem europäischen Markt konnte Nintendo eigenen Angaben zufolge während des Wochenendes der Markteinführung etwa 175.000 Exemplare des Spiels absetzen. Hier seien die Verkaufszahlen des GameCube um etwa 40 % angestiegen. Außerdem hieß es, Sunshine habe sich zu dieser Zeit etwa drei Mal so häufig verkauft wie Super Mario 64 zur entsprechenden Zeit seines Marktzyklus. Mit Stand Dezember 2003 hat Nintendo weltweit 3,5 Millionen Kopien von Super Mario Sunshine ausgeliefert, bis Juni 2006 stiegen die weltweiten Verkaufszahlen auf 5,5 Millionen an und 2010 beliefen sie sich auf 6,3 Millionen. Nach Super Smash Bros. Melee (2001) und Mario Kart: Double Dash!! (2003) stellt der Titel damit das dritterfolgreichste GameCube-Spiel dar. Rezeption Vorschauberichte Im August 2001 präsentierte Nintendo der Presse erstmals Super Mario Sunshine. Darauf beurteilte die Website IGN in einem Vorschaubericht die Spielwelten sowie Marios Aktionen positiv. Die Welten seien zwar realistischer, größer und detaillierter als in Super Mario 64, entsprächen damit jedoch nicht unbedingt den Erwartungen. Da wesentliche Spielkonzepte noch unbekannt waren, zeigte sich IGN nur vorsichtig optimistisch. Ebenso bedacht äußerte sich die Website GameSpot. Sie merkte weiterhin an, dass sich das Spiel noch in einer sehr frühen Entwicklungsphase zu befinden schien – einige Grafik- und Ton-Elemente waren etwa vorläufig aus Mario 64 übernommen worden – und war skeptisch, ob das Spiel tatsächlich bis Sommer 2002 fertiggestellt sein werde. IGN-Redakteur Matt Casamassina schrieb im März 2002 einen weiteren vorsichtig-skeptischen Vorschaubericht zum Spiel. Sunshine wirke bloß wie Mario 64 in besserer Grafik, die für GameCube-Verhältnisse dennoch nicht sehr ansehnlich sei und mitunter sogar ruckele, kritisierte er. Nintendo halte noch viele Informationen zum Spiel zurück, sodass ihm schwer fiel, ein Urteil zu fällen. Dennoch zeigte sich der Redakteur zuversichtlich, dass Sunshine eine dynamische Spielwelt bieten und außergewöhnlich spaßig sein werde. Kritik zur Markteinführung Zu seiner Markteinführung erhielt Super Mario Sunshine sehr gute Kritiken. Bei dem Wertungsaggregator Metacritic weist das Spiel einen sogenannten Metascore von 92 % auf. In diese Durchschnittswertung flossen 61 Rezensionen ein. Das Wertungsmittel bei GameRankings beträgt 91,5 % und wurde anhand von 76 Einzelwertungen berechnet. Die im August 2002 veröffentlichte Rezension zu Super Mario Sunshine von IGN fiel zwar sehr positiv aus, enthielt aber auch viel negative Kritik. Der Redakteur Fran Mirabella III äußerte, dass die Level vom spielerischen Aspekt aus betrachtet abwechslungsreich, spaßig und überzeugend gestaltet seien, allerdings thematisch wegen des Inselmotivs wenig abwechslungsreich ausfielen. Sunshine wende sich von einigen bekannten Themen und Elementen der Super-Mario-Reihe ab und könne somit nur wenig durch Nostalgie punkten. Außerdem beurteilte Mirabella die neuen Charaktere des Spiels als unbedeutend, die Handlung und die Gestaltung der Figuren als stupide und nicht gut ausgearbeitet und kritisierte die Zwischensequenzen als schlecht gemacht. Der Dreckweg 08/17 indes sei ein sinnvolles und gut eingebautes Spielelement, welches das Navigieren durch die Welten vereinfache und zugleich dem Spielkonzept mehr Tiefe verleihe. Mirabella attestierte dem Spiel zudem eine gelungene und präzise Steuerung, die dank mehr Möglichkeiten als in vorherigen Teilen unterschiedliche Spielstile ermögliche. Dem stehe die Kamerasteuerung im Weg, die insbesondere für Gelegenheitsspieler schwierig zu erlernen sei und überdies mitunter grobe Mängel aufweise. Mit etwas Übung aber entpuppe sich die Kamera als mächtiges Werkzeug. Ambivalent fiel das Urteil des Redakteurs zur Technik des Spiels aus. Einerseits punkte Sunshine durch einen flüssigen Bildaufbau, realistische Wasserdarstellungen und eine gute Weitsicht, andererseits trübe die Qualität der Texturen zusammen mit dem hohen Kontrast und den teils blendend grellen Farben den optischen Eindruck. Den Soundtrack von Sunshine beschrieb Mirabella als untypisch für die Super-Mario-Serie. Er sei an und für sich nicht schlecht gemacht und enthalte einige eingängige, jedoch auch viele belanglose Stücke ohne bleibenden Eindruck. Gut klängen die Toneffekte sowie Charles Martinet in der Rolle des Mario, wohingegen insbesondere die Toads und die Inselbewohner ausgesprochen dümmlich klängen. Zusammenfassend bezeichnete der IGN-Redakteur den Titel zwar als spaßigstes 3D-Jump-’n’-Run überhaupt, doch infolge kleinerer Makel sei er nicht perfekt. Tom Bramwell von der englischsprachigen Website Eurogamer besprach das Spiel im Oktober 2002 sehr positiv. Die grundlegende Steuerung sei einfach erlernbar und der Dreckweg 08/17 füge sich als natürliche wie intuitive Erweiterung gut ein. Allerdings sei das Kamerasystem weniger gelungen als im Vorgänger und störe den Spielverlauf, da es einer häufigen manuellen Korrektur bedürfe. Begeistert zeigte sich Bramwell von der sehr abwechslungsreichen Gestaltung der Spielwelten und der Missionen. Allgemein stelle Sunshine den Spieler vor eine größere und zugleich ausgeglichenere Herausforderung als der Vorgänger, wobei der Redakteur die Parcours-Level als besonders knifflig empfand. Der Grafikstil ähnele stark dem des Vorgängers, profitiere aber durch die höhere Rechenleistung des GameCube. In diesem Zusammenhang hob Bramwell die ausdrucksstarken und detaillierten Animationen von Figuren und Gegnern hervor. Konrad Lischka vom deutschen Onlinemagazin Telepolis schrieb im Oktober 2002 über Super Mario Sunshine: „Das Spieldesign fesselt, macht Spaß und die Umgebung versetzt den Spieler in Urlaubsstimmung“. Die Darstellung von Flüssigkeiten, Reflexionen und Schleim bezeichnete er als „ästhetisches Erlebnis“, kritisierte jedoch ebenfalls die Kamerasteuerung. Außerdem attestierte er dem Spiel, anders als sein Vorgänger keine Revolution, sondern eine Evolution zu sein. Er stellte des Weiteren eine Antithese zwischen Mikro- und Makrokosmos von Super Mario Sunshine fest: Während Mario über mehr Fähigkeiten und Aktionen verfüge als in vorherigen Titeln, wirke das Spiel als Ganzes restriktiver und linearer. Die britische Videospiel-Fachzeitschrift Edge betrachtete Super Mario Sunshine im September 2002 vor dem Hintergrund des Vorgängers Super Mario 64. Während Sunshine zwar eines der besten Nintendo-Spiele überhaupt sei und praktisch alle anderen Jump-’n’-Run-Spiele weit überbiete, reiche es nicht an die Qualität seines Vorgängers heran und könne so die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Weil Sunshine bloß halb so viele Spielwelten wie sein Vorgänger aufweist, wirke es zudem abwechslungsloser und repetitiver. Außerdem fielen die Welten begrenzter und kleiner aus als die von Super Mario 64, die Unterwasser-Steuerung sei wesentlich eingeschränkter und die Missionen erforderten weniger Querdenkerei. Entsprechend sei Super Mario Sunshine insgesamt linearer als sein Vorgänger. Den Dreckweg 08/17 beurteilte die Edge als perfekt umgesetzte und reibungslos in den Spielfluss integrierte Neuerung, die dem Spieler besonders beim Experimentieren sehr viel Spaß bereite. Infolge der Wasserdüse seien viele Level des Spiels vertikal ausgerichtet und würden sich auf Klettern fokussieren, was mitunter für Frustmomente sorge. Die Schuld für den Verlust eines Versuchs sei aber nie bei der Steuerung zu suchen, sondern stets beim Spieler selbst. Außerdem berichtete die Fachzeitschrift von sporadischen technischen Mängeln wie Programmfehlern und Abstürzen, die für ein Nintendo-Spiel höchst ungewöhnlich seien. Als noch größeren Mangel benannte die Edge die Kamera des Spiels. Retrospektive Kritik 2009 äußerte Levi Buchanan von IGN, dass Super Mario Sunshine zu seiner Veröffentlichung weltweit außergewöhnlich gute Rezeption erhielt und die Mängel des Spiels erst in den folgenden Jahren in den Fokus gerückt seien. Das Urteil von Kritikern und Fans habe sich mit den Jahren so stark gewandelt, dass Sunshine nunmehr als eines der schlechtesten Spiele der Super-Mario-Reihe gelte. Um diese Aussage in einen Kontext einzubetten, zitierte Buchanan seinen Kollegen Daemon Hatfield: „Doch selbst wenn man enttäuscht war von Super Mario Sunshine, es war immer noch besser als 90 % aller anderen Spiele“ („Even if you were disappointed with Sunshine, it was still better than 90-percent of what else is out there“). Konkret kritisierte IGN, dass der Dreckweg 08/17 nicht mehr als ein Gimmick sei und die Super-Mario-Reihe spielerisch nicht nachhaltig beeinflusst habe. Zudem lenke die Wasserdüse vom eigentlichen Spielkonzept ab, sodass die ohne sie zu bewältigenden Parcours-Missionen interessanter seien als der Rest des Spiels. Hinzu kämen unausgegorene Ideen in nicht optimaler Ausführung, was für ein Super-Mario-Spiel sehr ungewöhnlich sei. Chris Schilling von Eurogamer schrieb 2013 in einer Retrospektive zu Super Mario Sunshine: „Die Handlung ist schrecklich, ihre Einleitung endlos und peinlich und die Kamera müht sich furchtbar mit der komplexen Levelarchitektur ab“ („The story is dire, its introduction interminable and embarrassing. The camera struggles terribly with the complex level geometry“). Der Autor führt diese Mängel zurück auf eine zu frühe Beendigung der Entwicklungsarbeiten infolge der hohen Nachfrage nach dem Spiel sowie der geringen Anzahl an Dritthersteller-Veröffentlichungen für den GameCube. Bei vielen Fans sei ferner der Dreckweg 08/17 wegen seiner als nervig empfundenen Stimme nicht gut angekommen. Als weiteres Problem von Sunshine identifizierte Schilling den hohen Schwierigkeitsgrad: Die Parcours-Level bestrafen jeden Fehler seitens des Spielers mit einem Neustart, und in den normalen Leveln bedeutet der Sturz von einer hohen Passage mitunter einen zeitlichen Rückfall von einigen Minuten. Weil der Spieler mit der Schwebedüse einen missglückten Sprung oder einen Absturz von einer Plattform korrigieren kann, gestalte der Dreckweg 08/17 jene Situationen frustfreier. Ein ambivalentes Urteil fällte der Redakteur zu den Blauen Münzen: Einerseits ein wenig kreatives Mittel, um die Spielzeit zu verlängern, würden sie andererseits zur genaueren Erkundung der Umgebungen einladen. 2015 veröffentlichte die deutsche Nintendo-Website Nintendo-Online eine retrospektivische Rezension zu Super Mario Sunshine, in der sie schrieb, dass die überzeugenden Spielwelten durch viele versteckte Geheimnisse zum filigranen Erkunden einladen würden. Jedoch nutzten die Missionen des Spiels dessen weitläufige Welten zu wenig aus; stattdessen sorgten wiederkehrende Aufgabentypen für Monotonie. Den Dreckweg 08/17 beurteilte Nintendo-Online als gewöhnungsbedürftige, aber kreative und intensiv wie nahtlos in den Spielfluss integrierte Erweiterung. Durch die Schwebedüse würde zudem die teils ungenaue und unter der ungleichmäßigen Bildrate leidende Steuerung kaschiert. Ferner beklagte die Website, dass es zu schwierig sei, sämtliche 120 Insignien der Sonne zu erhalten, da die dazu erforderlichen Blauen Münzen in zu großer Zahl vorhanden und zu gut versteckt seien. Zum zehnten Jahrestag der Veröffentlichung von Super Mario Sunshine setzte sich die englischsprachige Website Nintendo Life mit der negativen Kritik zum Spiel auseinander. Redakteur Jamie O’Neill äußerte, dass die Steuerung der Kamera durch die großen Spielwelten und insbesondere die hohen vertikalen Strukturen mancher Level erschwert werde. Ein weiteres Problem sei die teils unausgewogene Lernkurve. Sunshine verlange vom Spieler darum viel Übung ab, versuche das Erlebnis jedoch durch mitunter großzügig verteilte Bonus-Versuche zu erleichtern. O’Neill konterte auf den häufig genannten Vorwurf, wonach Sunshine ähnlich wie Super Mario Bros. 2 nicht in den Kontext der Reihe passe, dass sich das Spiel einen ganz eigenen Platz innerhalb der Serie erarbeite. Das Fehlen klassischer Super-Mario-Szenarien wie Eis oder Wüste sei aufgrund des innerhalb der Reihe völlig neuen Handlungsortes nicht als mangelhafte Abwechslung zu interpretieren. Auch die Abwesenheit bekannter Gegner wie Gumbas oder Koopas sowie die neue Spielwelt, die nicht im bekannten Pilzkönigreich liegt, könne man Sunshine nicht negativ vorhalten, weil sich das Spiel stattdessen durch völlig neue Figuren und eine selbständige Spielwelt einen eigenen Stil erschaffe. Chris Schilling bezeichnete Sunshine in diesem Kontext als das umstrittenste Super-Mario-Spiel. Der Titel könne kaum Bedeutung innerhalb der Reihe aufweisen und habe keine nachfolgenden Spiele beeinflusst. Schilling übertrug die Urlaubsthematik des Spiels metaphorisch auf dessen Bedeutung innerhalb der Super-Mario-Reihe: Die Spielwelt sei für die Serie sehr ungewöhnlich, da ihr Fokus mehr auf Realismus liege als auf der spielerisch ansprechenden Levelgestaltung. Isla Delfino soll einen Urlaubsort für Mario darstellen und dementsprechend sei die Spielwelt nicht exakt auf die Fähigkeiten der Figur abgestimmt. Um sich in diese Welt integrieren zu können, sei der Klempner darum auf den Dreckweg 08/17 angewiesen. Außerdem äußerte Schilling, dass der Spieler in Sunshine noch relativ viel Einfluss auf das eigentliche Abenteuer habe, da er die Spielwelt auf eigene Faust erkunden dürfe, wohingegen die nachfolgenden Spiele linearer geworden seien. Nachfolger und Einfluss auf andere Spiele Die nächste Veröffentlichung innerhalb der Super-Mario-Reihe nach Sunshine war das 2D-Jump-’n’-Run New Super Mario Bros., das 2006 für die Handheld-Konsole Nintendo DS auf den Markt kam. Der Titel stammt jedoch von einem anderen Entwicklerteam innerhalb von Nintendo EAD. Das Team hinter Super Mario Sunshine indes hat 2003 ein neues EAD-Studio in Tokyo gegründet, welches 2004 Donkey Kong Jungle Beat für den GameCube hervorbrachte. Anschließend entwickelte EAD Tokyo das 3D-Jump-’n’-Run Super Mario Galaxy (Wii, 2007), das den Nachfolger von Sunshine darstellt. Unter der Leitung des Sunshine-Directors Yoshiaki Koizumi hat EAD Tokyo auch die nachfolgenden 3D-Spiele Super Mario Galaxy 2 (Wii, 2010), Super Mario 3D Land (Nintendo 3DS, 2011), Super Mario 3D World (Wii U, 2013) und Super Mario Odyssey (Nintendo Switch, 2017) entwickelt. Chris Schilling von Eurogamer sprach sich 2013 für eine Fortsetzung von Super Mario Sunshine aus, weil Nintendo den Fehlern des Spiels ausgewichen sei anstelle sie auszubessern, und deswegen nachfolgende Spiele linearer aufgebaut habe. Während ein Super-Mario-Spiel mit weitläufigen Welten nun dank fortgeschrittener Technik besser als zuvor umsetzbar wäre, gehe Nintendo mit der Serie immer weiter in Richtung Linearität. Mit einem zweiten Sunshine-Spiel könne diesem Trend gegengesteuert werden, argumentierte der Redakteur. 2013 äußerte Sunshine-Director Yoshiaki Koizumi, interessiert an einer Umsetzung des Spiels mit autostereoskopischem 3D-Effekt für den Handheld 3DS zu sein, und im Rahmen der Veröffentlichung der HD-Neuauflage The Legend of Zelda: The Wind Waker HD (Wii U, 2013) bekundete der Produzent Shigeru Miyamoto Interesse an ähnlichen Wiederveröffentlichungen zu 3D-Super-Mario-Spielen wie etwa Sunshine. Am 18. September 2020 wurde Super Mario Sunshine zusammen mit Super Mario 64 (Nintendo 64, 1996) und Super Mario Galaxy (Wii, 2007) als Collection unter dem Namen Super Mario 3D Allstars auf der Nintendo Switch veröffentlicht. Reverenzen auf Super Mario Sunshine in Form von Cameoauftritten von Charakteren, Umgebungen oder dem Dreckweg 08/17 hat Nintendo in Spielereihen wie Super Smash Bros., Mario Kart, Mario Tennis oder Mario Golf eingebracht. Außerdem avancierte der in Sunshine erstmals auftretende Bowser Jr. zu einem der zentralen Charaktere des Super-Mario-Universums und ist in einigen Ablegern der genannten Serien auch spielbar. In Super Mario Galaxy 2 existiert ferner ein Level, der an die Parcours-Level aus Sunshine erinnern soll. Literatur Weblinks Offizielle Mikrosite zu Super Mario Sunshine Material zu Super Mario Sunshine bei IGN (englisch) Super Mario Sunshine im MarioWiki Analysiert: Wie Super Mario Sunshine zum Schwarzen Schaf wurde bei Nintendo-Online, 27. September 2015 Einzelnachweise Computerspiel 2002 GameCube-Spiel Jump ’n’ Run Sunshine Nintendo Entertainment Analysis & Development
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Karolingische Buchmalerei
Als karolingische Buchmalerei wird die Buchmalerei vom Ende des 8. bis zum späten 9. Jahrhundert bezeichnet, die im Fränkischen Reich entstand. Während die vorherige merowingische Buchmalerei rein klösterlich geprägt war, ging die karolingische von den Höfen der fränkischen Könige sowie den Residenzen bedeutender Bischöfe aus. Ausgangspunkt war die Hofschule Karls des Großen an der Aachener Königspfalz, der die Manuskripte der Ada-Gruppe zugeordnet werden. Gleichzeitig und wahrscheinlich am selben Ort existierte die Palastschule, deren Künstler byzantinisch geprägt waren. Die Codices dieser Schule werden nach ihrer Leithandschrift auch Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars genannt. Bei allen stilistischen Unterschieden ist beiden Malschulen die direkte Auseinandersetzung mit der Formensprache der Spätantike sowie das Bemühen um eine vorher nicht dagewesene Klarheit des Seitenbildes gemeinsam. Nach dem Tod Karls verlagerte sich das Zentrum der Buchmalerei nach Reims, Tours und Metz. Dominierte zu Zeiten Karls die Hofschule, so wurden in den späteren Zentren der Buchkunst stärker die Werke der Palastschule rezipiert. Die Blütezeit der karolingischen Buchmalerei endete im späten 9. Jahrhundert. In spätkarolingischer Zeit entwickelte sich eine franko-sächsische Schule, die wieder verstärkt Formen der älteren insularen Buchmalerei aufnahm, bevor mit der ottonischen Buchmalerei ab Ende des 10. Jahrhunderts eine neue Epoche einsetzte. Grundlagen der karolingischen Buchmalerei Zeitlicher und geografischer Rahmen Die Zuweisung der karolingischen Kunst zu einer Epoche ist uneinheitlich: Teilweise wird sie als eigene Kunstepoche betrachtet, häufiger jedoch mit anderen Stilen des 5. bis 11. Jahrhunderts als frühmittelalterliche Kunst oder mit der ottonischen Kunst als Vorromanik zusammengefasst, mitunter auch als Frühromanik bereits in die romanische Epoche einbezogen. Die karolingische Kunst war stark an das jeweilige Herrscherhaus gebunden und auf den Herrschaftsbereich der Karolinger begrenzt, also auf das Fränkische Reich. Kunstregionen, die außerhalb dieses Raumes lagen, werden nicht zur karolingischen Kunst gezählt. Einen Sonderfall stellt das Langobardenreich dar, das Karl der Große 773/774 erobern konnte, das aber eigene kulturelle Traditionen fortführte, die stark auf die karolingische Kunst einwirkten. Umgekehrt wirkten die Impulse der Karolingischen Renaissance auch in Italien, besonders in Rom. Die Wahl Pippins des Jüngeren 751 zum König der Franken markiert den Beginn der karolingischen Königsdynastie, eine eigenständige karolingische Kunst setzte jedoch erst unter Karl dem Großen ein, der seit 771 Alleinherrscher des Fränkischen Reiches war und 800 zum Kaiser gekrönt wurde. Die erste, zwischen 781 und 783 von Karl in Auftrag gegebene Prachthandschrift war das Godescalc-Evangelistar. Nach dem Tod Ludwigs des Frommen, des Nachfolgers Karls, wurde das Reich 843 im Vertrag von Verdun in die drei Teile West- und Ostfrankenreich sowie Lotharingien aufgeteilt. Lotharingien erfuhr in den folgenden Jahrzehnten mehrere weitere Teilungen, bei denen einige Gebiete an das West- und Ostfrankenreich fielen, andere in Lothringen, Burgund und Italien zu selbständigen Königreichen und Herzogtümern wurden. Mit dem Tod Ludwigs des Kindes erlosch im Jahr 911 die Linie der ostfränkischen Karolinger. Zum neuen König wurde Konrad der Jüngere aus dem Geschlecht der Konradiner gewählt. Nach dessen Tod wählten die Großen Frankens und Sachsens Heinrich I. im Jahr 919 zum ostfränkischen König. Mit dem Übergang der Königswürde an die sächsischen Liudolfinger, die später als Ottonen bezeichnet wurden, verlagerte sich auch der Schwerpunkt der Kunstproduktion nach Ostfranken, wo die ottonische Kunst einen ausgeprägten eigenen Charakter entwickelte. Im Westfrankenreich ging die Königswürde nach dem Tod Ludwigs des Faulen 987 an Hugo Capet und damit an die Dynastie der Kapetinger über. Die Blüte der karolingischen Kunst endete jedoch im gesamten fränkischen Raum bereits Ende des 9. Jahrhunderts, die späteren spärlichen und weniger bedeutenden Werke griffen zumeist wieder auf ältere Traditionen zurück. Künstler und Auftraggeber Waren in merowingischer Zeit ausschließlich Klöster für die Buchproduktion verantwortlich, so ging die karolingische Renaissance vom Hof Karls des Großen aus. Das Godescalc-Evangelistar, der Dagulf-Psalter sowie eine schmucklose Handschrift bezeugen Karl in Widmungsgedichten und Kolophonen als Auftraggeber. Auch unter den Nachfolgern Karls des Großen waren kurzlebige Werkstätten an die Höfe der karolingischen Kaiser und Könige oder an die bedeutender, eng mit dem Königshof verbundener Bischöfe gebunden. Lediglich das Kloster von Tours blieb über Jahrzehnte bis zu seiner Zerstörung 853 produktiv. Die meisten liturgischen Bücher waren für den königlichen Hof bestimmt. Einige der kostbarsten Codices dienten als Ehrengeschenke, so war der Dagulf-Psalter als Geschenk Karls an Papst Hadrian I. geplant, wenn es auch wegen des Todes Hadrians nicht mehr zu einer Übergabe kam. Eine dritte Gruppe von Handschriften wurde für die wichtigsten Klöster des Reiches hergestellt, um die vom Kaiserhof ausgehenden religiösen und kulturellen Impulse in das Reich zu tragen. So war das Evangeliar von Saint-Riquier für Karls Schwiegersohn Angilbert, den Laienabt von Saint-Riquier, bestimmt, und 827 stiftete Ludwig der Fromme ein Evangeliar (Evangeliar aus Soissons) aus der Hofschule Karls des Großen der Kirche Saint-Médard in Soissons. Umgekehrt schenkte das touronische Kloster unter Abt Vivian 846 Karl dem Kahlen die Vivian-Bibel, der sie vermutlich 869/870 der Kathedrale von Metz stiftete. Wenige frühmittelalterliche Buchmaler sind namentlich fassbar. In einer vielleicht aus Aachen stammenden illustrierten Terenz-Handschrift versteckte einer der drei Maler, Adelricus, seinen Namen im Giebelornament einer Miniatur. Nach eigenen Aussagen malte der gelehrte Fuldaer Mönch Brun Candidus, der einige Zeit an der Aachener Hofschule unter Einhard verbracht hatte, die Westapsis der 819 geweihten Ratgar-Basilika über dem Bonifatiussarkophag im Kloster Fulda aus. Damit könnte ihm eine wichtige Rolle in der Fuldaer Malschule der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zugekommen sein. Hypothetisch, aber nicht unwahrscheinlich ist deshalb, dass er auch als Buchmaler tätig war und die von ihm selbst verfasste Vita Abt Eigils illustriert hat. Häufiger als die Maler nannte sich der Schreiber einer Handschrift in einem Widmungsgedicht oder im Kolophon. Das Godescalc-Evangelistar und der Dagulf-Psalter erhielten ihre Namen nach den Schreibern der Manuskripte. Beide bezeichnen sich als Capellani, was darauf hindeutet, dass das Skriptorium der Hofschule Karls des Großen mit der Kanzlei verbunden war. Im Codex aureus von St. Emmeram nennen sich die Mönche Liuthard und Beringer als Schreiber. Je kleiner ein Skriptorium war und je geringer der Anspruch der Buchmalerei, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Schreiber auch die Illumination ausführte. Das Buch in karolingischer Zeit und seine Überlieferung Die in einem arbeitsintensiven Prozess mit teuren Materialien hergestellten Bücher waren ein ausgesprochen kostbarer Luxusgegenstand. Alle karolingischen Manuskripte sind auf Pergament geschrieben, das billigere Papier erreichte Europa erst im Lauf des 13. Jahrhunderts. Besonders repräsentative Prachthandschriften, so das Godescalc-Evangelistar, das Evangeliar aus Soissons, das Krönungsevangeliar, das Lorscher Evangeliar und die Bibel von St. Paul wurden mit Gold- und Silbertinte auf purpurgefärbtem Pergament geschrieben. Ihre Buchdeckel wurden mit Elfenbeintafeln geschmückt, die von edelsteingeschmückten Goldschmiedearbeiten gefasst waren. Bei den Miniaturen dominierte die Deckfarbenmalerei, seltener war die – meist kolorierte – Federzeichnung. Rund 8000 Handschriften aus dem 8. und 9. Jahrhundert sind überliefert. Wie groß die Bücherverluste sind, die auf Normanneneinfälle, Kriege, Bilderstürme, Brände und andere gewaltsame Ursachen, auf Geringschätzung oder Wiederverwendung des Pergaments als Rohstoff zurückzuführen sind, ist kaum abzuschätzen. Erhaltene Bücherverzeichnisse geben über den Umfang einiger der größten Bibliotheken Auskunft. So stieg der Buchbestand des Klosters St. Gallen in karolingischer Zeit von 284 auf 428, das Kloster Lorsch besaß im 9. Jahrhundert 590 und die Klosterbibliothek in Murbach 335 Manuskripte. Aus Testamenten lässt sich eine Vorstellung über den Umfang privater Bibliotheken gewinnen. Die 200 Codices, die Angilbert seinem Kloster Saint-Riquier vermachte und unter denen sich auch das Evangeliar von Saint-Riquier befand, dürften eine der größten Bibliotheken gewesen sein. Eccard von Mâcon vermachte seinen Erben rund zwanzig Bücher. Wie groß die Bibliothek Karls des Großen war, die nach seinem Tod gemäß seinen testamentarischen Verfügungen verkauft wurde, ist nicht bekannt. In der Aachener Bibliothek waren alle wesentlichen greifbaren Werke und zahlreiche Bilderhandschriften zusammengetragen, darunter viele römische, griechische und byzantinische Bücher. Die meisten Handschriften waren gar nicht, ein kleiner Teil wenig anspruchsvoll illuminiert. In die kunsthistorische Literatur finden in der Regel nur die wenigen Hauptwerke der karolingischen Buchmalerei Eingang. Wertvolle Prachthandschriften – zumal, wenn es sich um liturgische Bücher handelte – genossen stets eine bevorzugte Behandlung. Die exklusivsten Codices waren keine Gebrauchsliteratur, sondern gehörten als liturgisches Gerät zum Kirchenschatz oder dienten vorwiegend repräsentativen Aufgaben, wie die häufig geringen Gebrauchsspuren nahelegen. Illustrationen auf dem sehr haltbaren Pergament sind zudem in einem geschlossenen Buch vor äußeren Einflüssen gut geschützt, und die Codices wurden lange Zeit nicht in offenen Regalen, sondern in Truhen, seltener in verschließbaren Schränken aufbewahrt. So haben sich gerade die illustrierten Manuskripte aus karolingischer Zeit relativ zahlreich erhalten, und viele Miniaturen überdauerten die vergangenen rund zwölf Jahrhunderte in einem sehr guten Zustand. Die meisten überlieferten Bilderhandschriften sind vollständig erhalten, fragmentarische Überlieferung ist selten. Dass dennoch mit einer nennenswerten Zahl verlorener illuminierter Handschriften zu rechnen ist, beweisen spätere Illustrationen, die Nachwirkungen nicht erhaltener Bildvorlagen sind. In einigen Fällen sind nicht mehr existierende illuminierte Codices bezeugt: so ein „goldener Psalter“ der Königin Hildegard aus der Frühzeit der karolingischen Buchmalerei. Die leicht einschmelzbaren goldenen Buchdeckel haben dagegen nur in wenigen Fällen dem Zugriff späterer Zeiten standgehalten. Häufiger sind die Elfenbeinplatten der Einbände erhalten, jedoch in keinem Fall im Zusammenhang mit dem Codex, den sie ursprünglich schmückten. Die fünf Platten des Lorscher Evangeliars befinden sich heute im Vatikanischen Museum. Zumindest die untere Elfenbeinplatte ist kein karolingisches Werk, sondern ein spätantikes Original, wie eine Inschrift auf ihrer Rückseite beweist. Die einzigen sicher zu datierenden Elfenbeintafeln sind diejenigen des Dagulf-Psalters, die in dessen Widmungsgedicht genau beschrieben werden und so mit zwei Tafeln im Pariser Louvre identifiziert werden konnten. Die Buchmalerei stand in enger Wechselbeziehung mit der Elfenbeinschnitzerei. Den kleinformatigen, leicht transportablen Kunstwerken kam eine wichtige Rolle als Vermittler antiker und byzantinischer Kunst zu. Von der karolingischen Großskulptur haben sich dagegen nur wenige Fragmente erhalten, etwas besser sind Werke der Goldschmiedekunst überliefert. Im Zusammenhang mit der Buchmalerei ist hier besonders der Buchdeckel des Codex aureus von St. Emmeram aus der Hofschule Karls des Kahlen von Interesse. Durch die relativ gute Überlieferungslage haben die karolingische Buchmalerei und Kleinplastik für die Kunstgeschichte größere Bedeutung als die anderer Epochen, da alle übrigen Kunstgattungen aus karolingischer Zeit ausgesprochen schlecht erhalten sind. Dies gilt insbesondere für die monumentale Wandmalerei, die wie in der späteren ottonischen und romanischen Zeit die Leitgattung der karolingischen Malerei war. Es ist davon auszugehen, dass jede Kirche sowie die Paläste mit Fresken ausgemalt waren; die minimalen erhaltenen Reste erlauben jedoch keine anschauliche Vorstellung von der einstigen Bilderpracht mehr. Auch Mosaiken in antiker Tradition spielten eine Rolle; so war die Pfalzkapelle in Aachen mit einem prächtigen Kuppelmosaik geschmückt. Vorläufer und Einflüsse Merowingische Buchmalerei Die Karolingische Renaissance bildete sich in einem ausgesprochenen „kulturellen Vakuum“ aus, ihr Zentrum wurde Karls Residenz Aachen. Die merowingische Buchmalerei, benannt nach der den Karolingern vorausgehenden Herrscherdynastie im Frankenreich, blieb rein ornamental. Die mit Lineal und Zirkel konstruierten Initialen sowie Titelbilder mit Arkaden und eingestelltem Kreuz sind fast die einzige Illustrationsform. Seit dem 8. Jahrhundert traten zunehmend zoomorphe Ornamente auf, die so dominant wurden, dass etwa in Handschriften aus dem Frauenkloster Chelles ganze Zeilen ausschließlich aus Buchstaben bestehen, die aus Tieren gebildet sind. Im Gegensatz zur gleichzeitigen insularen Buchmalerei mit wuchernder Ornamentik strebte die merowingische nach einer klaren Ordnung des Blattes. Eines der ältesten und produktivsten Skriptorien war das des 590 von dem irischen Mönch Columban gegründete Klosters Luxeuil, das 732 zerstört wurde. Das 662 gegründete Kloster Corbie entwickelte einen ausgeprägten eigenen Illustrationsstil, Chelles und Laon waren weitere Zentren der merowingischen Buchillustration. Ab der Mitte des 8. Jahrhunderts wurde diese stark von der insularen Buchmalerei beeinflusst. Ein Evangeliar aus Echternach beweist, dass es in diesem Kloster zu einer Zusammenarbeit irischer und merowingischer Schreiber und Buchmaler gekommen ist. Insulare Buchmalerei Bis zur Karolingischen Renaissance waren die britischen Inseln der Zufluchtsort römisch-frühchristlicher Überlieferung, die dort jedoch durch die Vermischung mit keltischen und germanischen Elementen einen eigenständigen insularen Stil hervorgebracht hatte, dessen teils heftig expressiver, das Ornament bevorzugender und strikt zweidimensionaler Charakter letztlich in seinem Antinaturalismus der antiken Formensprache geradezu entgegenstand. Nur ausnahmsweise bewahrten die insularen Buchmalereien klassische Gestaltungselemente, so der Codex Amiatinus (Südengland, um 700) und der Codex Aureus von Stockholm (Canterbury, Mitte des 8. Jahrhunderts). Durch die von Irland und Südengland ausgehende iro-schottische Mission wurde der europäische Kontinent stark von der insularen Klosterkultur geprägt. In ganz Frankreich, Deutschland und in Italien gründeten irische Mönche im 6. und 7. Jahrhundert Klöster, die „Schottenklöster“. Zu diesen zählten Annegray, Luxeuil, St. Gallen, Fulda, Würzburg, Sankt Emmeram in Regensburg, Trier, Echternach und Bobbio. Im 8. und 9. Jahrhundert folgte ein zweiter angelsächsischer Missionsschub. Über diesen Weg gelangten zahlreiche illuminierte Handschriften auf das Festland, die besonders in Schrift und Ornamentik starken Einfluss auf die jeweiligen regionalen Formensprachen hatten. Während in Irland und England wegen der Überfälle der Wikinger ab Ende des 8. Jahrhunderts die Buchproduktion weitgehend zum Erliegen kam, entstanden auf dem Kontinent noch einige Jahrzehnte lang Buchmalereien in insularer Tradition. Neben den Werken der karolingischen Hofschulen blieb dieser Traditionszweig lebendig und prägte in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts die franko-sächsische Schule, aber auch die Hofschulen übernahmen Elemente der insularen Buchmalerei, speziell die Initialseite. Antikenrezeption Der Rückgriff auf die Antike war das Hauptcharakteristikum der karolingischen Kunst schlechthin. Die programmatische Adaption antiker Kunst orientierte sich konsequent am spätrömischen Kaisertum und fügte sich in die als renovatio imperii romani bezeichnete Grundidee ein, das Erbe des Römischen Reiches in allen Bereichen zu beanspruchen. Die Künste fügten sich als elementarer Bestandteil in die geistige Strömung der karolingischen Renaissance ein. Von großer Bedeutung für die Rezeption der antiken Kunst war das Studium originaler Werke, die besonders in Rom noch zahlreich erhalten waren. Für die Künstler und Gelehrten des Nordens, die Italien nicht aus eigener Anschauung kannten, kam Werken der spätantiken Buchmalerei eine wesentliche Mittlerrolle zu, denn neben der Kleinplastik gelangte nur das Buch unmittelbar in die Werkstätten und Bibliotheken nördlich der Alpen. Nachweislich verwendete das Skriptorium in Tours auch antike Originale als Vorlage. So wurden Figuren aus dem Vergilius Vaticanus, der sich im Besitz der touronischen Bibliothek befand, abgepaust und finden sich in den Bibeln wieder. Andere antike Handschriften im Besitz der bedeutenden Bibliothek waren die Cotton-Genesis und die Leo-Bibel aus dem 5. Jahrhundert. Viele verlorene illustrierte Bücher der Spätantike sind heute nur durch karolingische Kopien erschließbar. Byzanz Neben den Originalwerken vermittelte die byzantinische Buchmalerei das antike Erbe, das dort in weitgehend ungebrochener Tradition produktiv fortgeführt worden war. Allerdings bedeutete der byzantinische Bilderstreit, der zwischen 726 und 843 den religiösen Bilderkult unterband und eine Welle der Bilderzerstörung nach sich zog, einen wichtigen Einschnitt für die Kontinuität der Überlieferung. Mit dem Exarchat von Ravenna besaß Byzanz noch bis in das 8. Jahrhundert einen wichtigen Brückenkopf im Westen. Künstler, die aus Byzanz vor der Verfolgung wegen des Bilderverbotes geflohen waren, beförderten auch die römische Kunst. Aus dem byzantinisch geprägten Italien zog Karl der Große Künstler an seinen Hof, die die Werke der Palastschule schufen. Italien Italien war nicht nur als Vermittler klassischer und byzantinischer Kunst von Bedeutung. Rom erlebte eine besonders ausgeprägte renovatio-Bewegung, die mit der karolingischen Renaissance im Frankenreich in Beziehung stand. Durch seine Rolle als Schutzherrschaft des Papsttums war das Frankenreich Rom eng verbunden, das trotz seines Niedergangs seit der Völkerwanderungszeit noch immer als caput mundi, als Haupt der Welt galt. In den Jahren 774, 780/781 und anlässlich seiner Kaiserkrönung im Jahr 800 hielt sich Karl der Große selbst längere Zeit in Rom auf. Seit dieser 774 das Langobardenreich erobert hatte, flossen von dort reiche Kulturströme nach Norden. Die Buchmalereien der Hofschule Karls des Großen weisen Gemeinsamkeiten mit langobardischen Werken auf und schon die für fränkische Könige neue Idee, Prachthandschriften in Auftrag zu geben, könnte auf Vorbilder am langobardischen Hof in Pavia zurückgehen. Entwicklung der karolingischen Buchmalerei Zur chronologischen Entwicklung und topografischen Verteilung siehe die Übersicht Hauptwerke der karolingischen Buchmalerei. Einen einheitlichen karolingischen Stil gibt es nicht. Stattdessen haben sich drei Zweige herausgebildet, die auf sehr unterschiedliche Malschulen zurückgehen. Zwei höfische Malschulen waren am Aachener Hof Karls des Großen um 800 tätig und werden als „Hofschule“ beziehungsweise „Palastschule“ bezeichnet. Auf dieser Grundlage entwickelten sich ausgeprägte Werkstattstile, vor allem im Reims, Metz und Tours, die selten länger als zwei Jahrzehnte produktiv blieben und stark von der jeweiligen Tradition des Skriptoriums, dem Umfang und der Qualität der vorhandenen Bibliothek sowie von der Persönlichkeit des Stifters abhängig waren. Ein dritter, von den Hofschulen weitgehend unabhängiger Stil führte die insulare Buchmalerei als franko-sächsische Schule fort und dominierte die Buchmalerei seit Ende des 9. Jahrhunderts. Beiden höfischen Malschulen ist die direkte Auseinandersetzung mit der Formensprache der Spätantike sowie das Bemühen um eine vorher nicht dagewesene Klarheit des Seitenbildes gemeinsam. War die insulare und merowingische Buchmalerei von abstrakten Flechtmustern und schematisierten Tierornamenten geprägt, so nahm die karolingische Kunst mit dem Eierstabmuster, der Palmette, der Weinranke und dem Akanthus klassische Ornamente wieder auf. In der figürlichen Malerei bemühten sich die Künstler um eine nachvollziehbare Darstellung der Anatomie und Physiologie, der Dreidimensionalität von Körpern und Räumen sowie um Lichteffekte auf Oberflächen. Besonders das Element der Wahrscheinlichkeit überwand die vorangegangenen Schulen, deren schildernde Darstellungen, anders als ihre abstrakten Bilder, „unbefriedigend, um nicht zu sagen lächerlich“ waren. Die klare Ordnung der Buchmalerei war nur ein Teil der karolingischen Reformation des Buchwesens. Sie bildete eine konzeptionelle Einheit mit der sorgfältigen Redaktion von Mustereditionen der biblischen Bücher sowie der Entwicklung einer einheitlichen, klaren Schrift, der karolingischen Minuskel. Daneben trat – vor allem als Schmuck- und Gliederungselement – der ganze Kanon antiker Schriften auf, etwa die Unziale und die Halbunziale. Typen illustrierter Bücher und ikonographische Motive Dem Buch kam durch die Verbindung von Text und Bild eine besondere Bedeutung als Instrument der Verbreitung des renovatio-Gedankens im Reich zu. Im Zentrum der Reformbemühungen um eine einheitliche Regelung der Liturgie stand das Evangeliar. Der Psalter war der erste Typus eines Gebetbuchs. Etwa ab der Mitte des 9. Jahrhunderts erweiterte sich das Spektrum der zu illustrierenden Bücher um die Vollbibel und das Sakramentar. Die Ausführung dieser liturgischen Bücher wurde in der Admonitio generalis von 789 ausdrücklich nur erfahrenen Händen, perfectae aetatis homines anvertraut. Hauptschmuck der Evangeliare waren Darstellungen der vier Evangelisten. Die Maiestas Domini, das Bild des thronenden Christus, kommt anfangs selten, Marienbilder und Darstellungen anderer Heiliger während der gesamten karolingischen Epoche fast gar nicht vor. Im Jahr 794 hatte sich die Synode von Frankfurt mit dem byzantinischen Bilderstreit auseinandergesetzt und die Bilderverehrung verboten, wies der Malerei aber die Aufgabe der Belehrung und Unterweisung zu. Als offizielle Stellungnahme des Kreises um Karl den Großen in diesem Sinne gelten die Libri Carolini, deren Verfasser wahrscheinlich Theodulf von Orléans war. Eine frühe Maiestas-Domini-Darstellung taucht 781/783, also einige Jahre vor der Festlegung auf diese Position, im Godescalc-Evangelistar auf. Nachdem 825 eine fränkische Synode die Bestimmungen lockerte, erweiterte sich die Skala bildwürdiger Themen besonders in den Schulen von Metz und Tours. Seit Mitte des 9. Jahrhunderts war das Motiv der Maiestas Domini ein zentrales Motiv besonders der touronischen Evangeliare und Bibeln und gehörte nun zusammen mit den Evangelistenbildern zu einem festen ikonologischen Illustrationszyklus. Im Godescalc-Evangelistar taucht zum ersten Mal das Motiv des Lebensbrunnens auf, das im Evangeliar von Soissons wiederholt wird. Ein anderes neues Motiv war die Anbetung des Lammes. Zum festen Bestandteil der Evangeliare gehören Kanontafeln mit Arkadenrahmungen. Charakteristisch für die Hofschule Karls des Großen waren Thronarchitekturen, die bei den Werken der Palastschule sowie der Schulen von Reims und Tours fehlen. Von der insularen Buchmalerei übernahmen die Buchmaler die Initialseite. Ein zentrales Motiv war seit der Zeit Ludwigs des Frommen das Herrscherbild, das vor allem in Handschriften aus Tours auftaucht. In Hinsicht auf die programmatische Aneignung des römischen Erbes im Sinne einer Erneuerung und damit der Legitimation karolingischer Herrschaft kam diesem Motiv eine besondere Bedeutung zu. Aus dem Vergleich der Bilder mit Beschreibungen in zeitgenössischer Literatur, etwa Einhards Vita Karoli Magni und Thegans Gesta Hludowici, lässt sich schließen, dass es sich um typologische Bildnisse im Geist und nach dem Vorbild römischer Herrscherbildnisse handelt, die mit naturalistisch-porträthaften Elementen angereichert wurden. Die sakrale Bedeutung des Kaiseramtes wird in fast allen karolingischen Herrscherbildern thematisiert, die dementsprechend besonders in liturgischen Büchern vorkommen. Häufig erscheint die Hand Gottes über den Herrschern. Am deutlichsten wird die sakrale Konnotation in einer Darstellung des nimbierten, das Kreuz tragenden Ludwigs des Frommen als Illustration von De laudibus sanctae crucis des Rabanus Maurus. Neben den liturgischen wurden relativ wenig weltliche Bücher illustriert, unter denen Kopien spätantiker Sternbildzyklen eine besondere Rolle spielen. Aus diesen ragt eine Aratea-Handschrift aus der Zeit um 830–840 heraus, die später einige Male kopiert wurde. Der Berner Physiologus (Reims, um 825–850) ist die bedeutendste aus einer Reihe von illustrierten Handschriften der Naturlehre des Physiologus. Ein für das Mittelalter wichtiges Lehrbuch war Boëthius’ Werk De institutione arithmetica libri II, das in den 840er Jahren in Tours für Karl den Kahlen illuminiert wurde. Unter den illustrierten Werken klassischer Literatur sind besonders Handschriften mit Komödien des Terenz, die um 825 in Lotharingien beziehungsweise in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Reims zu nennen sowie ein Manuskript mit Gedichten des Prudentius, das möglicherweise aus dem Kloster Reichenau stammt und im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts illustriert wurde. Alltagsszenen finden sich besonders zahlreich in Psalmenillustrationen eingebettet, so im Utrechter, im Stuttgarter und im Goldenen Psalter von St. Gallen. Andere Bücher wie ein Martyrologium des Wandalbert von Prüm (Reichenau, drittes Viertel des 9. Jahrhunderts) enthalten gelegentlich Monatsbilder mit den bäuerlichen Tätigkeiten im Laufe des Jahres, Dedikationsbilder oder Darstellungen schreibender Mönche. Noch keine Rolle für die karolingische Buchmalerei spielten die Historiographie sowie juristische Texte. Volkssprachige Literatur wurde nur in wenigen Ausnahmefällen überhaupt kodifiziert und genoss bei Weitem nicht die Wertschätzung, die für eine Illuminierung Voraussetzung gewesen wäre. Dies gilt selbst für anspruchsvolle Bibeldichtung wie Otfrieds Evangelienbuch. Die Buchmalerei zur Zeit Karls des Großen Die klösterlich und stark von der insularen Buchillustration geprägte merowingische Buchkultur setzte sich zunächst unbeeinflusst vom Wechsel der fränkischen Herrscherdynastie fort. Dies änderte sich Ende des 8. Jahrhunderts schlagartig, als Karl der Große (Regierungszeit 768–814) zur Reform des gesamten geistigen Lebens die bedeutendsten Gestalten seiner Zeit an seinem Hof in Aachen versammelte. Nach seiner Italienreise 780/781 berief Karl den Briten Alkuin zum Leiter der Hofschule, den er in Parma kennengelernt und der zuvor die Schule von York geleitet hatte. Andere Gelehrte am Hofe Karls waren Petrus Diaconus oder Theodulf von Orléans, die auch die Kinder Karls sowie junge Adlige am Hof unterrichteten. Viele dieser Gelehrten wurden nach einigen Jahren als Äbte oder Bischöfe an wichtige Stätten des Fränkischen Reiches entsandt, denn mit dem Erneuerungsgedanken war der Wille verbunden, dass die geistigen Errungenschaften des Hofes auf das gesamte Riesenreich ausstrahlen sollte. So wurde Theodulf zum Bischof von Orléans, Alkuin im Jahr 796 zum Bischof von Tours berufen. Für ihn übernahm Einhard die Leitung der Hofschule. Um 800 entstanden an Karls Hof zwei sehr unterschiedliche Gruppen von Prachthandschriften für den liturgischen Gebrauch in den großen Klöstern und an den Bischofssitzen. Die beiden Handschriftengruppen werden entweder nach herausragenden Werken als „Ada-Gruppe“ beziehungsweise „Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars“ oder als „Hofschule“ beziehungsweise „Palastschule Karls des Großen“ bezeichnet. Die illustrierten Texte beider Werkgruppen stehen in engstem Zusammenhang, während die Illustrationen selbst stilistisch keinerlei Berührungspunkte haben. Das Verhältnis der beiden Malschulen zueinander ist deshalb seit langem umstritten. Für die Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars wurde immer wieder ein anderer Auftraggeber als Karl der Große diskutiert, die Indizien sprechen jedoch für eine Lokalisierung am Aachener Hof. Die Ada-Gruppe oder Hofschule Die erste Prachthandschrift, die Karl zwischen 781 und 783, also unmittelbar nach seiner Romfahrt, in Auftrag gab, war das nach seinem Schreiber benannte Godescalc-Evangelistar. Möglicherweise entstand dieses Werk noch nicht in Aachen, sondern in der Königspfalz Worms. Die große Initialseite, Zierbuchstaben und ein Teil der Ornamentik entstammen der insularen, nichts erinnert aber an die merowingische Buchmalerei. Das Neue der Illumination sind die der Antike entnommenen Schmuckelemente, die plastisch-figürlichen Motive sowie die verwendete Schrift. Die ganzseitigen Miniaturen – der thronende Christus, die vier Evangelisten sowie der Lebensbrunnen – streben nach realer Körperlichkeit und einer logischen Verbindung zum dargestellten Raum und wirkten so stilbildend für die folgenden Werke der Hofschule. Der Text wurde mit goldener und silberner Tinte auf purpurgefärbtem Pergament geschrieben. Den Handschriften der Ada-Gruppe aus der sicher in Aachen zu lokalisierenden Hofschule ist die bewusste Auseinandersetzung mit dem antiken Erbe sowie ein übereinstimmendes Bildprogramm gemeinsam. Sie orientieren sich dabei vermutlich vorwiegend an spätantiken Vorlagen aus Ravenna. Neben prachtvollen, Architekturmotive oder edelsteinverzierte Bilderrahmen imitierenden Arkaden und insular beeinflussten Initial-Zierseiten gehören großflächige Evangelistenbilder zur Ausstattung, die seit der Ada-Handschrift einen Grundtyp vielfach variieren. Den Figuren mit klar konturierter Binnenzeichnung wird durch schwellende, reiche Gewänder zum ersten Mal seit römischer Zeit wieder Körperlichkeit, dem Raum Dreidimensionalität zurückgegeben. Den Bildern ist ein gewisser horror vacui, die Angst vor der Leere, gemeinsam, so füllen ausladende Thronlandschaften die Blätter mit den Evangelistenbildern. Um 790 entstanden der erste Teil der Ada-Handschrift und ein Evangeliar aus Saint-Martin-des-Champs. Es folgte der ebenfalls nach seinem Schreiber benannte, vor 795 geschriebenen Dagulf-Psalter, der nach dem Widmungsgedicht von Karl selbst in Auftrag gegeben wurde und als Geschenk für Papst Hadrian I. bestimmt war. Noch Ende des 8. Jahrhunderts sind das Evangeliar von Saint-Riquier und das Harley-Evangeliar in London anzusetzen, um 800 das Evangeliar aus Soissons sowie der zweite Teil der Ada-Handschrift und um 810 das Lorscher Evangeliar. Ein Fragment eines Evangeliars in London beschließt die Reihe der illustrierten Handschriften aus der Hofschule. Nach dem Tod Karls des Großen löste sie sich anscheinend auf. So bestimmend ihr Einfluss bis dahin war, scheint sie für die Buchmalerei der folgenden Jahrzehnte nur wenig Spuren hinterlassen zu haben. Nachwirkungen lassen sich in Fulda, Mainz, Salzburg und im Umkreis von Saint-Denis sowie einigen nordostfränkischen Skriptorien nachweisen. Die Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars oder Palastschule Eine zweite, wohl ebenfalls in Aachen zu lokalisierende, aber deutlich von den Illustrationen der Hofschule abweichende Handschriftengruppe steht eher in hellenistisch-byzantinischer Tradition und gruppiert sich um das Wiener Krönungsevangeliar, das um 800 hergestellt wurde. Der Legende zufolge fand Otto III. die Prachthandschrift bei der Öffnung des Grabes Karls des Großen im Jahr 1000. Seitdem war das auch künstlerisch bedeutendste Manuskript dieser Werkgruppe Bestandteil der Reichsinsignien, und die deutschen Könige legten den Krönungseid auf das Evangeliar ab. In Abgrenzung zur Hofschule werden die Handschriften der Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars einer Palastschule Karls des Großen zugerechnet. Ihr gehören vier weitere Manuskripte an: Das Schatzkammer-Evangeliar, das Xantener Evangeliar und ein Evangeliar aus Aachen, die alle Anfang des 9. Jahrhunderts anzusetzen sind. Die Manuskripte der Gruppe des Wiener Krönungsevangeliars haben in ihrer Zeit im nördlichen Europa keine Vorläufer. Die mühelose Virtuosität, mit der die spätantiken Formen realisiert wurden, müssen die Künstler in Byzanz, vielleicht auch in Italien erlernt haben. Im Vergleich mit der Ada-Gruppe der Hofschule fehlt ihnen insbesondere der horror vacui. Die durch dynamische Schwünge bewegten Figuren der Evangelisten sind in der Haltung antiker Philosophen dargestellt. Ihre kraftvoll modellierten Körper, luftige und lichtdurchflutete Landschaften sowie mythologische Personifikationen und andere klassische Motive verleihen den Werken dieser Gruppe den atmosphärischen und illusionistischen Charakter der hellenistischen Malweise. Zu Lebzeiten Karls scheint die Palastschule ein relativ isolierter Sonderfall der Buchmalerei gewesen zu sein, die im Schatten der Hofschule stand. Nach Karls Tod war es jedoch diese Malschule, die sehr viel stärkeren Einfluss auf die karolingische Buchmalerei ausübte als die Ada-Gruppe. Die Buchmalerei zur Zeit Ludwigs des Frommen Nach dem Tod Karls verlagerte sich die Hofkunst unter Ludwig dem Frommen (Regierungszeit 814–840) nach Reims, wo in den 820er und frühen 830er Jahren unter Erzbischof Ebo besonders die dynamisch bewegte Bildauffassung des Wiener Krönungsevangeliars rezipiert wurde. Ebo galt vor seiner Berufung nach Reims im Jahr 816 als „Bibliothekar des Aachener Hofes“ und brachte das Erbe der Karolingischen Renaissance mit. Die in einer anderen Maltradition verwurzelten Reimser Künstler verwandelten den ohnehin schon lebendigen Stil der Palastschule in einen expressiven Zeichenstil mit nervös-wirbelnder Linienführung und ekstatisch erregten Figuren. Die skizzenhaften Bilder mit der dichten, gezackten Strichführung weisen eine größtmögliche Entfernung zu dem ruhigen Bildaufbau der Aachener Hofschule auf. In Reims und in der nahen Abtei Hautvillers entstanden als Hauptwerke um 825 das Ebo-Evangeliar und vielleicht vom selben Künstler der außergewöhnliche, mit nichtkolorierten Federzeichnungen illustrierte Utrechter Psalter sowie der Berner Physiologus und das Evangeliar von Blois. Die 166 Darstellungen des Utrecht-Psalters zeigen neben paraphrasierenden Illustrationen der Psalmen zahlreiche Alltagsszenen. Neben dem Kaiserhof traten allmählich auch die großen Reichsklöster und Bischofsresidenzen mit leistungsstarken Skriptorien wieder stärker in Erscheinung. Von 796 bis zu seinem Tod 804 war Alkuin, zuvor religiöser und kultureller Berater Karls des Großen, als Abt nach St. Martin in Tours delegiert, um den Erneuerungsgedanken in diese wichtige Stadt des Fränkischen Reiches zu tragen. Unter dem bilderkritischen Alkuin blühte das Skriptorium, Illustrationen fehlten den Handschriften jedoch zunächst, so dass die sog. Alkuin-Bibeln erst in der Zeit seiner Nachfolger mit bemerkenswerter figürlicher Buchmalerei ausgeschmückt worden sind. Unter Erzbischof Drogo (823–855), einem illegitimen Sohn Karls des Großen, knüpfte die Metzer Schule an die Hofschule Karls an. Das um 842 entstandene Drogo-Sakramentar ist das Hauptwerk dieses Ateliers, von dessen Arbeiten unter anderem ein astronomisch-komputistisches Lehrbuch erhalten ist. Die originäre Leistung der Metzer Schule ist die historisierte Initiale, das heißt der mit szenischen Darstellungen bevölkerte Zierbuchstabe, der das ureigenste Element der gesamten mittelalterlichen Buchmalerei werden sollte. Die Hofschulen Karls des Kahlen und Kaiser Lothars Nach der Aufteilung des Fränkischen Reiches im Vertrag von Verdun 843 erreichte die karolingische Buchmalerei im Umkreis des nun westfränkischen Königs Karl dem Kahlen (Regierungszeit 840–877, Kaiser 875–877) ihre höchste Blüte. Vorsteher der Hofschule Karls, bisweilen nach der Bedeutung der Abtei Corbie für die Buchkunst der Epoche als Schule von Corbie bezeichnet, war Johannes Scotus Eriugena, der als Kunsttheoretiker die ästhetische Auffassung des gesamten Mittelalters richtungsweisend formulierte. Eine Führungsrolle für die Buchmalerei übernahm das Kloster in Tours unter den Äbten Adalhard (834–843) und Vivian (844–851). Ab etwa 840 entstanden riesige illustrierte Vollbibeln, die unter anderem für Klosterneugründungen bestimmt waren, darunter um 840 die Moutier-Grandval-Bibel und 846 die Vivian-Bibel. Nach dem Friedensschluss Karls mit seinem Bruder 849 stand das Kloster auch in enger Verbindung mit Kaiser Lothar I. Mit dem Lothar-Evangeliar erreichte die Schule von Tours ihren künstlerischen Höhepunkt. Die Werkstatt von Tours stand unter unmittelbarem und starkem Einfluss der Reimser Schule. Das Skriptorium von Tours war das einzige der gesamten karolingischen Zeit, das über mehrere Generationen hinweg produktiv blieb, mit der Zerstörung durch die Normannen im Jahr 853 endete seine Blütezeit jedoch unvermittelt. Ist Tours bis dahin als Ort der Hofschule Karls des Kahlen anzusehen, so übernahm nach der Zerstörung des Klosters wahrscheinlich St. Denis bei Paris diese Rolle, wo Karl der Kahle 867 Laienabt wurde. Aus der Zeit nach 850 stammen einige besonders reich ausgeschmückte Handschriften, darunter ein Psalter (nach 869) und ein Sakramentar-Fragment. Die prächtigsten Manuskripte sind der Codex aureus von St. Emmeram, der um 870 im Auftrag Karls des Kahlen illuminiert wurde, und die etwa zur gleichen Zeit mit Goldtinte auf Purpurgrund geschriebene Bibel von St. Paul mit 24 ganzseitigen Miniaturen und 36 Initial-Zierseiten. Die Hofschule Kaiser Lothars war wahrscheinlich in Aachen angesiedelt. Sie nahm den Stil der Palastschule Karls des Großen wieder auf und hatte anscheinend engen Kontakt zum Reimser Skriptorium, wie das Evangeliar aus Kleve zeigt. Die Buchmalerei außerhalb der Hofschulen Während die bedeutendsten Buchillustrationen an den karolingischen Höfen oder in eng mit dem Hof verbundenen Abteien und Bischofsresidenzen entstanden, pflegten viele klösterliche Ateliers eigene Traditionen. Teilweise waren diese von der insularen Buchmalerei geprägt oder sie führten den merowingischen Stil fort. In einigen Fällen kam es zu eigenständigen Leistungen. Die Buchkunst des Klosters Corbie hatte bereits in merowingischer Zeit eine wichtige Rolle für die Buchmalerei gespielt, und die Schrift des Klosters gilt als Grundlage der Karolingischen Minuskel. Bemerkenswert ist ein Psalter aus Corbie (um 800), dessen Figureninitialen weder mit der höfischen karolingischen, noch mit der insularen Buchmalerei in Verbindung zu bringen sind und der auf die romanische Buchmalerei vorausweist. Bereits um 788 entstand im Kloster Mondsee der reich ausgestattete Psalter von Montpellier, der wahrscheinlich für ein Mitglied der bayerischen Herzogsfamilie bestimmt war. Ein Sonderfall sind die Bibeln und Evangeliare, die im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts unter Bischof Theodulf in Orléans geschrieben wurden. Theodulf war neben Alkuin der führende Theologe am Hofe Karls des Großen und wahrscheinlich Autor der Libri Carolini. Mehr noch als Alkuin war er bilderkritisch eingestellt, und so handelt es sich bei den Codices aus seinem Skriptorium zwar um aufwendig gestaltete purpurgefärbte und mit Gold- und Silbertinte geschriebene Prachthandschriften, ihr malerischer Schmuck beschränkt sich jedoch auf Kanontafeln. Auch ein Evangeliar aus dem Kloster Fleury, das zur Diözese Orléans gehörte, enthält neben 15 Kanontafeln lediglich eine Miniatur mit den Evangelistensymbolen. Die Malschule von Fulda war anscheinend eine der wenigen in der Nachfolge der Aachener Hofschule. Deutlich wird diese Abhängigkeit am Fuldaer Evangeliar in Würzburg aus der Mitte des 9. Jahrhunderts. Sie nahm darüber hinaus aber auch Anleihen bei griechischen Vorbildern, so ist die nimbierte Gestalt Ludwigs des Frommen in einer Abschrift von de laudibus sanctae crucis des Rabanus Maurus als Bildgedicht ganz von dem Text umwoben und nimmt so Bezug auf Darstellungen Konstantins des Großen. Rabanus Maurus, ein Schüler Alkuins, war bis 842 Abt des Fuldaer Klosters. Der Übergang zur ottonischen Kunst Nach dem Tod Karls des Kahlen 877 begann für die bildende Kunst eine rund hundert Jahre währende unfruchtbare Zeit. Nur in den Klöstern lebte die Buchmalerei – meist auf vergleichsweise bescheidenem Niveau – fort, die Höfe der karolingischen Herrscher spielten keine Rolle mehr. Mit der Verlagerung der Machtverhältnisse kam den ostfränkischen Klöstern eine wachsende Bedeutung zu. Besonders der Initialstil des Klosters St. Gallen, aber auch die Buchmalereien der Klöster Fulda und Corvey nahmen eine Mittlerrolle zur ottonischen Buchmalerei ein. Weitere klösterliche Zentren des ostfränkischen Reiches waren die Skriptorien in Lorsch, Regensburg, Würzburg, Mondsee, Reichenau, Mainz und Salzburg. Besonders die Klöster in Alpennähe standen in engem künstlerischem Austausch mit Oberitalien. Im heutigen Nordfrankreich hatte sich, verstärkt seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, die franko-sächsische (bedeutet: fränkisch-angelsächsische) Schule entwickelt, deren Buchschmuck weitgehend auf Ornamentik beschränkt blieb und wieder auf die insulare Buchmalerei zurückgriff. Eine Vorreiterrolle hatte das Kloster Staint-Amand inne, daneben traten unter anderem die Abteien St. Vaast in Arras, Saint-Omer und St. Bertin in Erscheinung. Ein frühes Beispiel dieses Stils ist ein im zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts für Ludwig den Deutschen geschriebener Psalter aus Saint-Omer. Die bedeutendste Handschrift der franko-sächsischen Schule ist die Zweite Bibel Karls des Kahlen, die zwischen 871 und 873 im Kloster Saint-Amand entstand. Erst gegen 970 setzte unter den gewandelten Vorzeichen des jetzt sächsischen Herrscherhauses ein neuer, ganz anders gearteter Stil in der Buchmalerei ein. Die ottonische Kunst wird in Analogie zur karolingischen auch als „Ottonische Renaissance“ bezeichnet, doch griff sie kaum unmittelbar auf antike Vorbilder zurück. Vielmehr bezog sich diese, beeinflusst von der byzantinischen Kunst, auf die karolingische Buchmalerei. Dabei entwickelte die ottonische Buchmalerei eine ausgeprägt eigene, homogene Formensprache, an ihrem Beginn standen jedoch Adaptionen karolingischer Werke. So wurde die Maiestas Domini des Lorscher Evangeliars im späten 10. Jahrhundert auf der Reichenau im Petershausener Sakramentar und im Gero-Codex exakt, wenn auch reduziert kopiert. Literatur Kunibert Bering: Kunst des frühen Mittelalters (Kunst-Epochen, Band 2). Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-018169-0 Bernhard Bischoff: Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen) Teil 1: Aachen – Lambach. Harrassowitz, Wiesbaden 1998, ISBN 3-447-03196-4 Teil 2: Laon – Paderborn. Harrassowitz, Wiesbaden 2004, ISBN 3-447-04750-X Bernhard Bischoff: Manuscripts and Libraries in the Age of Charlemagne, translated and edited by Michael Gorman (= Cambridge Studies in Palaeography and Codicology 1), Cambridge University Press, Cambridge 1994, ISBN 0-521-38346-3 Peter van den Brink, Sarvenaz Ayooghi (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Karls Kunst. Katalog der Sonderausstellung Karls Kunst vom 20. Juni bis 21. September 2014 im Centre Charlemagne, Aachen. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-093-2 (zur Buchmalerei passim) Hermann Fillitz: Propyläen-Kunstgeschichte, Band 5: Das Mittelalter 1. Propyläen-Verlag, Berlin 1990, ISBN 3-549-05105-0 Ernst Günther Grimme: Die Geschichte der abendländischen Buchmalerei. DuMont, Köln 3. Auflage 1988, ISBN 3-7701-1076-5 (Kapitel Karolingische Renaissance, S. 34–57). Hans Holländer: Die Entstehung Europas. In: Belser Stilgeschichte. Studienausgabe, Band 2, herausgegeben von Christoph Wetzel, Belser, Stuttgart 1993, S. 153–384 (zur Buchmalerei S. 241–255). Christine Jakobi-Mirwald: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-018315-4 (Kapitel Karolinger und Ottonen, S. 237–249). Wilhelm Koehler: Die karolingischen Miniaturen. Drei Bände, Deutscher Verein für Kunstwissenschaft (Denkmäler deutscher Kunst), früher Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1930–1960, fortgeführt von Florentine Mütherich, Bände 4–8, Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, später Reichert Verlag, Wiesbaden 1971–2013 Johannes Laudage, Lars Hageneier, Yvonne Leiverkus: Die Zeit der Karolinger. Primus-Verlag, Darmstadt 2006, ISBN 3-89678-556-7 Lexikon des Mittelalters: Buchmalerei. 1983, Band 2, Sp. 837–893 (Beiträge von K. Bierbrauer, Ø. Hjort, O. Mazal, D. Thoss, G. Dogaer, J. Backhouse, G. Dalli Regoli, H. Künzl). Florentine Mütherich, Joachim E. Gaehde: Karolingische Buchmalerei. Prestel, München 1979, ISBN 3-7913-0395-3 Florentine Mütherich: Die Erneuerung der Buchmalerei am Hof Karls des Großen, in: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Bd. 3: Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Handbuch zur Geschichte der Karolingerzeit. Mainz 1999, ISBN 3-8053-2456-1, S. 560–609 Christoph Stiegemann, Matthias Wemhoff: 799. Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. Bd. 1 und 2: Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Bd. 3: Beiträge zum Katalog der Ausstellung Paderborn 1999. Handbuch zur Geschichte der Karolingerzeit. Mainz 1999, ISBN 3-8053-2456-1 Ingo F. Walther, Norbert Wolf: Meisterwerke der Buchmalerei. Taschen, Köln u. a. 2005, ISBN 3-8228-4747-X Michael Embach, Claudine Moulin und Harald Wolter-von dem Knesebeck: Die Handschriften der Hofschule Kaiser Karls des Großen. Individuelle Gestalt und europäisches Kulturerbe, Verlag für Geschichte und Kultur, Trier 2019, ISBN 978-3-945768-11-2 Weblinks Einzelnachweise Karolingisch Kunststil des Frühmittelalters
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander%20Cartellieri
Alexander Cartellieri
Alexander Maximilian Georg Cartellieri (* 19. Juni 1867 in Odessa; † 16. Januar 1955 in Jena) war ein deutscher Historiker, der die Geschichte des hohen Mittelalters erforschte. Von 1904 bis 1934 lehrte er als ordentlicher Professor für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Jena. Auch nach seiner Emeritierung, dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Teilung blieb er bis zu seinem Tod am 16. Januar 1955 in Jena. Cartellieri war ein Anhänger der Monarchie. Bis zum Ersten Weltkrieg war er in die internationale Gelehrtenwelt eingebunden. Durch den Krieg brachen diese Kontakte, vor allem mit französischen Gelehrten, ab. Auch seine Freundschaft mit dem belgischen Historiker Henri Pirenne zerbrach. Die Weimarer Republik lehnte er ab. Er agitierte gegen den Versailler Vertrag, jedoch konzentrierte er sich im Gegensatz zu anderen deutschen Historikern nicht auf ein national verengtes Geschichtsbild. Adolf Hitlers außenpolitische Erfolge begeisterten ihn, doch trat er nicht als Propagandist des nationalsozialistischen Gewaltregimes hervor. In Jena baute er eine große Privatbibliothek mit zeitweise über 18.000 Bänden auf. Cartellieri war Experte für die französische Geschichte des Mittelalters. Durch seine in den Jahren 1899 bis 1922 erschienene vierbändige Biografie des französischen Königs Philipp II. August verschaffte er sich auch international Ansehen. Neben dem französischen König war Weltgeschichte als Machtgeschichte sein zweites großes Forschungsthema. Cartellieri blieb in seinem Fach aber ein Außenseiter. Sein von 1878 bis 1954 geführtes, 12.000 Seiten umfassendes Tagebuch gilt als bedeutende Quelle für die Mentalität des deutschen Gelehrtentums zwischen Gründerzeit und beginnender deutscher Zweistaatlichkeit. Leben Herkunft und Jugend Die Vorfahren der väterlichen Linie Cartellieris stammten aus Mailand und viele waren Sänger. Als ältester nachweisbarer Vorfahre der väterlichen Linie wird Beppino Cartellieri genannt, der Ende des 17. Jahrhunderts in Mailand gelebt haben soll. Der erste in Deutschland lebende Vorfahre Cartellieris war sein Urgroßvater Antonio Cartellieri, der sich 1786 in Königsberg niederließ. Mit dem Umzug der Familie von Italien nach Deutschland vollzog sich auch ein sozialer Wandel: Aus Musikern wurden Kaufleute. Der Großvater väterlicherseits, Julius Friedrich Leopold Cartellieri (1795–1873), war Stadtkämmerer in Pillau. Cartellieris Vater war der Kaufmann Leopold Cartellieri, die Mutter Cölestine Manger war die Tochter eines Bergwerksbesitzers aus Kassel. Der 1867 in Odessa geborene Alexander Cartellieri war das dritte von fünf Kindern. Die Familie ging 1872 wegen der Handelstätigkeit des Vaters nach Paris. Cartellieris Vater war dort als Buchhalter für das Bankhaus Ephrussi & Co. des aus Odessa stammenden Ignaz von Ephrussi zuständig. Cartellieri gehört damit zu den wenigen deutschen Geschichtsprofessoren seiner Zeit, die im Ausland geboren wurden und aufgewachsen sind. Frankreich hatte wenige Monate vor der Übersiedlung Cartellieris den Krieg gegen die preußisch-deutschen Truppen verloren. Die Einwohner von Paris standen unter dem Eindruck der Belagerung ihrer Stadt, der Kaiserproklamation in Versailles, der Kapitulation und des Verlustes Elsass-Lothringens. Persönliche Kontakte hatten die Cartellieris daher nur mit den wenigen in Paris lebenden deutschen Familien. Cartellieris Vater verehrte Otto von Bismarck und befürwortete die nationale Einigung Deutschlands. Die Sprachkenntnisse und die patriotische Gesinnung des Vaters hatten Einfluss auf den Sohn. Neben der evangelischen Taufe war es Cartellieris Vater wichtig, dass sein Sohn 1867 in die Heeresmatrikel aufgenommen wurde. Hauslehrer brachten Cartellieri die französische Sprache bei. Die Bouquinisten am Ufer der Seine weckten bereits in frühen Jahren sein Interesse für Bücher. Laut einer Tagebuchnotiz vom Juni 1882 entschied er sich, „nach und nach die bedeutendsten Klassiker zusammenzubekommen, besonders solche, die auf mein Steckenpferd Geschichte Bezug nehmen“. Eine besondere Faszination übte bereits in frühen Jahren Leopold von Ranke auf ihn aus. Für Cartellieri war Ranke auch später der „grösste Geschichtsschreiber aller Völker und Zeiten“. Schon früh wurde auch Cartellieris Interesse am französischen Königtum durch häufige Spaziergänge in die Tuilerien und zu den Gräbern von Saint-Denis geweckt. Aus der europäischen Metropole Paris kam Cartellieri im April 1883 in das Provinzstädtchen Gütersloh. Der Vater wollte seinen Sohn auf einem deutschen Gymnasium ausbilden lassen und ihm so die Voraussetzungen für ein Universitätsstudium und den Staatsdienst im Deutschen Reich verschaffen. In Gütersloh vermehrte Cartellieri seine Büchersammlung schon auf über 400 Exemplare, darunter die ersten Bände von Rankes Weltgeschichte. Durch die Lektüre der Werke Rankes inspiriert beschloss er im November 1886, Universitätsprofessor für Geschichte zu werden. Im Februar 1887 bestand er das Abitur als Jahrgangsbester. Vom Militärdienst wurde er wegen seiner Kurzsichtigkeit ausgemustert. Studienjahre in Tübingen, Leipzig und Berlin Ab dem Sommersemester 1887 studierte Cartellieri an der Universität Tübingen Geschichte bei Bernhard Kugler. Fernab vom Studium hinterließen die Burgen Hohenzollern und Hohenstaufen bleibenden Eindruck bei ihm. Neben Geschichte interessierten ihn auch Philosophie, Archäologie und Literatur. In dieser Zeit begann er mit dem Aufbau einer historischen Bibliothek. Da er von seinen Eltern mit 1500 Mark jährlich großzügig ausgestattet war und als Student kein ausschweifendes Leben führte, verfügte er über beträchtliche Mittel für Bücherkäufe. Eine seiner ersten Anschaffungen war die Historik Johann Gustav Droysens. Mit einem Empfehlungsschreiben Kuglers wechselte er nach einem Jahr an die Universität Leipzig. Wilhelm Arndt weckte dort sein Interesse für den Kapetinger Philipp II. August. Außerdem besuchte er Wilhelm Wundts Kolleg zur Völkerpsychologie und die Vorlesungen Wilhelm Maurenbrechers über die Geschichte des 18. Jahrhunderts. Ab 1889 studierte Cartellieri in Berlin. An der Berliner Universität wurde Paul Scheffer-Boichorst sein akademischer Lehrer. Scheffer-Boichorst stand im Ruf einer besonders gründlichen Schulung in den Methoden der Quellenkritik. Bei ihm studiert zu haben galt in den achtziger und neunziger Jahren als wertvolle Empfehlung. Nachhaltig beeindruckten Cartellieri die Vorlesungen Heinrich von Treitschkes, in denen auch tagesaktuelle Themen wie die „Judenfrage“, der Kulturkampf oder die Bildungsreform behandelt wurden. Von Treitschke übernahm er „dessen Glauben an die deutsche Nation und den preußischen Staat“. Neben Treitschke wurde Otto von Bismarck für Cartellieri zur prägenden Figur. Ende 1890 beendete Cartellieri seine Dissertation über die Jugend des französischen Königs Philipp II. August (1165–1223). Sie wurde 1893 in der Revue Historique veröffentlicht. Ebenfalls 1890 lernte er in Berlin Margarete Arnold kennen, die Tochter eines vermögenden Berliner Anwalts, die er vier Jahre später heiratete. In der Ehe sah Cartellieri „immer noch das anständigste Mittel, gewisse Gefühle zu befriedigen“ und außerdem ganz umsonst eine „gute Köchin, Haushälterin und Pflegerin (zu) bekommen“. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor, darunter Wolfgang Cartellieri, der Vater des Bankmanagers Ulrich Cartellieri. Seine Frau kümmerte sich nicht nur um den Haushalt, sondern half ihm auch bei der Erstellung der Register und beim Korrigieren seiner Publikationen. Karlsruher Archivzeit Nach der Promotion erhielt Cartellieri durch die Vermittlung Scheffer-Boichorsts eine Stelle als Hilfsarbeiter der Badischen Historischen Kommission in Karlsruhe. Dort bearbeitete er ab 1892 die Regesten der Bischöfe von Konstanz (Regesta episcoporum Constantiensium), wobei er sich vornehmlich den Pergamenturkunden aus dem 14. und 15. Jahrhundert widmete. Zur Sichtung des Quellenmaterials unternahm er Archivreisen nach Luzern, Konstanz, Bregenz, Lindau und Freiburg. Im Vatikanischen Archiv sichtete er Quellenmaterial zur Geschichte der Bischöfe von Konstanz in der Zeit von 1351 bis 1383. Zugleich bereitete er sich auf die Staatsprüfung für das Lehramt vor. Durch den erhöhten Arbeitsaufwand erlitt er einen Schwächeanfall und wurde vier Wochen beurlaubt. Die Regestenarbeit konnte ihn nicht begeistern: „Die aus Urkunden und Akten gekelterten Weine sind Schlaftrunke.“ Diese Quellengattung bot Cartellieri wenig greifbare Aussagen über die Zeit. Er vermisste ein klares Bild der Epoche und der Weltgeschichte. Im Jahr 1895 legte er das Examen als Archivassessor ab. Rückblickend empfand er die Bearbeitung der Regesten als „Ausbeutung“ und Tätigkeit „stumpfsinnigster Art“. Seinem jüngeren Bruder Otto Cartellieri hingegen, dem ein Lehrstuhl verwehrt blieb, sicherte das Archiv dauerhaft die Existenz. Abgestoßen von der spröden Regestenarbeit wandte sich Cartellieri verstärkt der Geschichtstheorie und Geschichtsphilosophie zu und machte sich über die Einteilung der Weltgeschichte Gedanken. Er befasste sich mit der materialistischen Geschichtsauffassung, dem Rassenwerk Arthur de Gobineaus und Darwins Evolutionstheorie. Während seiner Karlsruher Zeit verfasste Cartellieri auch eine Vielzahl von Rezensionen zu französischen Neuerscheinungen und knüpfte Kontakte zu in- und ausländischen Kollegen. Er lernte den Direktor der französischen Nationalbibliothek Léopold Victor Delisle sowie die Mediävisten Achille Luchaire und Charles Petit-Dutaillis kennen. Auf dem zweiten Deutschen Historikertag 1894 in Leipzig traf er Henri Pirenne. Mit ihm blieb er über viele Jahre freundschaftlich verbunden. In Karlsruhe nahm Cartellieri regen Anteil am städtischen und gesellschaftlichen Leben und wurde Mitglied zahlreicher bürgerlicher Vereine. Am Oberrhein erlernte er das Schwimmen und Radfahren. Diese sportlichen Betätigungen wurden neben dem Wandern seine Lieblingsbeschäftigungen in der Freizeit. Die Lektüre von Büchern und das Wandern waren für ihn neben der Lehr- und Forschungstätigkeit zentrale Lebensinhalte. Privatdozent in Heidelberg Im Januar 1898 ließ sich Cartellieri vom Archivdienst beurlauben, um seine Studien über Philipp II. August weiter zu vertiefen. Bernhard Erdmannsdörffer und Dietrich Schäfer regten ihn an, diese Forschungen zur Habilitation auszubauen. Im Jahr 1898 ging Cartellieri deshalb nach Heidelberg und wurde Assistent Schäfers, den er für seinen Arbeitswillen bewunderte. Die Heidelberger Habilitation zu Philipp II. August erfolgte 1899. Im Sommersemester 1899 hielt er in Heidelberg seine erste Übung über Lateinische Paläografie und eine Vorlesung Französische Geschichte im Mittelalter. Engen Kontakt pflegte er mit Fachleuten, die wie er besondere Beziehungen zu ausländischen Kulturen hatten, wie etwa dem italienverbundenen Romanisten Karl Vossler oder dem von polnischen und französischen Vorfahren abstammenden Alfred von Domaszewski. Auch den Gedankenaustausch mit Carl Neumann und Georg Jellinek empfand er als anregend: Der Kunsthistoriker Neumann brachte ihm das Werk Jacob Burckhardts näher und der Jurist Jellinek war an den Verfassungsstrukturen fremder Staaten interessiert. Cartellieri behielt Heidelberg in guter Erinnerung. Er bezeichnete die Stadt als „das Ende einer wunderschönen Jugend“. Professur in Jena (1904–1935) Im Jahr 1902 wurde Cartellieri auf ein beamtetes Extraordinariat für mittlere und neuere Geschichte an der Universität Jena berufen. Zum Wintersemester 1904 übernahm er als Nachfolger von Ottokar Lorenz den Lehrstuhl für allgemeine Geschichte. Damals hatte er sich bereits einen Namen als Kenner der Geschichte Frankreichs im Mittelalter gemacht. In Jena fühlte sich Cartellieri jedoch – anders als in Paris oder Heidelberg – nicht heimisch, für ihn war Jena ein „Popel-Nest“. Eine erhoffte Berufung nach Heidelberg, München oder Berlin blieb aus. In Heidelberg wurde Karl Hampe berufen. Dies empfand Cartellieri noch lange als „eine Quelle […] bohrenden Schmerzes“. Drei Jahre später traf er erstmals auf seinen Rivalen Hampe. Vor lauter Aufregung musste er sich große Mühe geben, „klar und langsam zu sprechen“. Das von Cartellieri zunächst angemietete und später für 50.000 Mark gekaufte Haus zählte zu den ersten noblen Häusern des Jenaer Westviertels. Bis zu seinem Tod im Januar 1955 blieb es sein Zuhause. Als Professor besaß er eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft; zum Dienstpersonal zählten Kindermädchen, eine Köchin und ein Stubenmädchen. Seine Antrittsvorlesung als Professor in Jena hielt Cartellieri im November 1904 über Wesen und Gliederung der Geschichtswissenschaft. Bis 1945 betreute er 144 Dissertationen und vier Habilitationen. Von diesen Arbeiten hatten 55 einen landesgeschichtlichen Schwerpunkt. Zu seinen akademischen Schülern gehörten Ulrich Crämer, Willy Flach, Friedrich Schneider und Hans Tümmler. Neben Schneider war Helmut Tiedemann der einzige Historiker, der bei Cartellieri sowohl promoviert wurde als auch sich habilitierte. In Jena gehörte Cartellieri zu den Modernisierern und Reformern unter den Professoren. Bereits als außerordentlicher Professor beklagte er sich 1903 in einem Schreiben beim Kurator der Universität, „daß Jena das am bescheidensten ausgestattete Seminar hat, sogar noch um die Hälfte hinter Rostock zurückbleibt“. Er forderte vor allem für die Bibliothek mehr Mittel. Auch wenn sich in seinen Tagebüchern abfällige Bemerkungen zur Öffnung der Universitäten für Studentinnen finden, förderte er das Frauenstudium in Jena. Zahlreiche Frauen wurden von ihm promoviert, auch mit der höchsten Benotung summa cum laude, die er sehr selten vergab. Bis 1919 hatte er zehn Dissertationen von Frauen betreut. Käthe Nikolai wurde 1921 bei ihm promoviert und war jahrelang seine Assistentin. Ferner verbesserte er die Bücher- und Raumsituation sowie den Seminarbetrieb durch einen festen Regelkanon. Cartellieri hielt Prüfungen und Vorlesungen über den ganzen Zeitraum von der Spätantike bis zur Zeitgeschichte ab. Er vertrat damit das Fach Geschichte als einziger Jenaer Professor in seiner ganzen Breite. Bis zu seiner Emeritierung 1935 hielt er zur Geschichte der Revolution und Napoleons kontinuierlich Vorlesungen, die auf französischen Quellen und Darstellungen basierten. Erholung vom Universitätsalltag fand Cartellieri mehrmals in der Woche bei den Forstspaziergängen mit anderen Gelehrten, die ein fester Bestandteil der Jenaer Gelehrtenkultur wurden. Erster Weltkrieg Vor Kriegsbeginn gehörte Cartellieri zur geistigen Führungsschicht, als Universitätsprofessor bekleidete er eine gesellschaftlich angesehene Position. Er führte ab 1913 den Titel Hofrat. Zu Ostern 1914 wurde er Prorektor; dies war damals das höchste akademische Amt. Er unterhielt noch zahlreiche internationale Kontakte und vertrat die Universität im Ausland. Im Frühjahr 1913 sprach er auf dem Londoner Historikerkongress und im Herbst in Wien über seine Ergebnisse zu Philipp II. August. Außerdem gehörte er zum Mitarbeiterkreis der entstehenden Cambridge Medieval History, eines Handbuchs über die Geschichte des Mittelalters. Cartellieris Einbindung in fachübergreifende Diskurse ging dagegen zurück. Unter den Historikern des späten Kaiserreiches galt er als „Franzose“. Als am 28. Juni 1914 beim Attentat von Sarajevo der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie ermordet wurden, war Cartellieri mit der Eisenbahn zur Rektorenkonferenz nach Groningen unterwegs. Dort nahm er auch nach Bekanntmachung des Attentates keine Zurückhaltung der ausländischen Kollegen gegenüber den Deutschen wahr. Durch das Prorektorat und den Ersten Weltkrieg verzögerte sich die Fertigstellung des vierten und letzten Philipp-August-Bandes. Cartellieri war in seiner Arbeit streng chronologisch vorgegangen und nach jahrzehntelanger Beschäftigung kurz vor Kriegsbeginn beim Hauptteil seiner Darstellung, der Schlacht bei Bouvines 1214, angekommen. Nun fehlte ihm aber das Publikum, da er sich mit einem Herrscher befasste, der im Urteil der Nachwelt zum Denkmal des französischen Nationalismus verklärt worden war und daher unter den damaligen politischen Verhältnissen für einen deutschen Historiker als inopportunes Thema erschien. Zudem jährte sich der Sieg Philipps über Otto IV. bei Bouvines im Sommer 1914 zum 700. Mal. Daher war Cartellieri aus seiner Sicht im Oktober 1914 ein „Leidtragender des Kriegsjahres wie wenig andere Kollegen!“ Trotz Zweifeln am Thema und der geringen Aussicht auf eine breite Rezeption in Deutschland setzte er seine Forschungen zum französischen König fort. Während des Weltkrieges entwickelte sich eine vielfältige Kriegspublizistik, zu der etwa die Hälfte der mediävistischen Lehrstuhlinhaber in Deutschland beitrug. Im Krieg und in den frühen Krisenjahren der Weimarer Republik vollzog Cartellieri nach Matthias Steinbach „einen inneren Wandel zum verbitterten Nationalisten, der intellektuelle und heuristische Energien im Kampf gegen die Feinde und später den Friedensvertrag von Versailles verschleudern […] wird“. Steinbach stellte außerdem eine Verhärtung und Militarisierung der Tagebucheinträge für die ersten Kriegsmonate fest. Jede Siegesankündigung der deutschen Truppen wurde im Tagebuch gefeiert. Cartellieri träumte davon, das Alte Reich wiederherzustellen. Noch im Juni 1914 hatte Cartellieri als Prorektor allerdings eine versöhnlich gestimmte Rede Deutschland und Frankreich im Wandel der Jahrhunderte gehalten, in der er die beiden Nationen als „durch Erbstreitigkeiten verfeindete Geschwister“ bezeichnete und seine Studenten aufforderte, „im geistigen Kampfe keine Grenzpfähle zu achten, sondern mutig auszuziehen zu Eroberungen im unverfänglichen Reiche des Wissens“. Er betonte, es sei nie deutsche Art gewesen, „harte politische Gegensätze […] auf das geistige und persönliche Gebiet zu übertragen“. In einer Rede vor der Studentenschaft im Oktober 1914 meinte er hingegen, neben der militärischen und wirtschaftlichen Rüstung solle auch die geistige Deutschland zum Sieg verhelfen: „Der Sieg der deutschen Waffen soll neue Bahnen öffnen dem Siege der deutschen Gedanken.“ Trotz seiner Nähe zum französischen Kulturkreis sprach Cartellieri im November 1916 vom Rachedurst Frankreichs, den das Nachbarland gegenüber Deutschland stillen wolle. Unter dem Pseudonym Konrad veröffentlichte Cartellieri Beiträge in der nationalromantischen Zeitschrift Die Tat von Eugen Diederichs. Dabei wollte er den alten Kaisergedanken in die Gegenwart tragen und „predigen und sprechen von Kaiser und Reich“. Die mittelalterlichen Könige und Kaiser galten damals in der deutschen Mediävistik als frühe Repräsentanten einer für die Gegenwart erhofften starken monarchischen Gewalt. Cartellieris Mitarbeit endete aber bereits 1915; möglicherweise missfiel ihm die Zuspitzung auf den Gegensatz von deutscher und westeuropäischer Kultur. Mit öffentlichen Stellungnahmen trat Cartellieri ansonsten in der Kriegspublizistik nicht hervor. Wenig hielt er davon, „mit einigen Karten und Zeitungsnotizen die Geheimnisse des Generalstabs entschleiern oder ihm Zensuren erteilen zu wollen“. Auch politisch engagierte er sich nicht im Unabhängigen Ausschuss für einen deutschen Frieden um Dietrich Schäfer oder in der Deutschen Vaterlandspartei. In den Kriegsjahren verschlechterten sich die Lebensbedingungen auch für wohlhabende Familien. Cartellieri musste auf Haushälterin und Gärtner sowie auf Reisen in den Süden verzichten. Den Kontakt zu seinen Studenten, die an der Front kämpften, versuchte er aufrechtzuerhalten; er schickte ihnen Briefe, Süßigkeiten und kleinere Schriften. Im Jahr 1915 nahmen sein ältester Sohn Walther und sein Bruder Otto am Krieg teil. In dieser Zeit wandte er sich von der Gegenwart ab; er vertiefte sich in seiner Lektüre in die mittelalterliche Welt der Ritter und las Geschichten aus dem Morgenland. Henri Pirenne wurde nach der deutschen Besetzung Belgiens von den Militärbehörden nach Thüringen deportiert. Er kam vom Offiziersgefangenenlager Holzminden nach Jena. Dort traf er im August 1916 den ihm wissenschaftlich und persönlich verbundenen Cartellieri wieder. Die deutschen Behörden hatten Pirennes Haftbedingungen gelockert. Lediglich zweimal die Woche musste er sich bei den Behörden melden, blieb aber ansonsten auf freiem Fuß. In Jena suchte Pirenne nur zu Cartellieri Kontakt. Nach einem langen Spaziergang mit Pirenne bemerkte Cartellieri im Januar 1917 in seinem Tagebuch, er sei „ein ausnehmend kluger und in der Erörterung verbindlicher Mann, freilich in den Grenzen, die einem Franzosen gesteckt“ seien. Ende 1917 wurde Pirenne nach Kreuzburg verlegt. Die beiden Gelehrten entfremdeten sich. Sie sahen sich nicht mehr wieder und wechselten auch keine Briefe mehr. Pirenne charakterisierte 1920 in seinen Souvenirs de captivité en Allemagne (mars 1916–novembre 1918) Cartellieri als Typus des eroberungssüchtigen deutschen Professors, der am Weltkrieg mitschuldig sei. Bis Ende September 1918 hielt Cartellieri einen glücklichen Ausgang des Krieges für das deutsche Reich für möglich. Durch die Russische Revolution glaubte er, „für immer von der gefährlichen Gefahr im Osten befreit“ zu sein. Er hoffte auf einen englisch-amerikanischen Gegensatz. Den Glauben an Deutschland behielt er bis zum Ende des Krieges. Am 8. November 1918 notierte er: „Aber der feste Glaube an das Reich, an das deutsche Vaterland kann nicht ins Wanken kommen“. Bei Kriegsende erreichte seine Bibliothek mit mehr als 18.000 Bänden ihren größten Umfang. In Deutschland konnten lediglich Werner Sombart, Joseph Schumpeter, Max Weber, in Italien Benedetto Croce und in Frankreich Henri Bergson eine vergleichbare Büchersammlung vorweisen. Weimarer Republik Die Novemberrevolution war für Cartellieri ein Schock. Der Tonfall im Tagebuch verschärfte sich. Der 9. November 1918 war für ihn „ein Tag unauslöslicher Schande für Deutschland“, die nur „durch Blut abgewaschen werden“ könne. Die Waffenstillstandsbedingungen vom 11. November 1918 empfand er als „schrecklich“. Am 13. November 1918 notierte er: „Wer könnte so blödsinnig sein und an den Völkerbund glauben, wenn wir Elsass-Lothringen dauernd verlieren? Wolf [sein Sohn] sagte gleich: Das nehmen wir wieder! Bravo, so muss die Jugend denken, und ich möchte die Vergeltung erleben.“ Cartellieri wollte mit seinen Reichsgründungsreden und Kriegsschuldvorträgen die nationale Gesinnung fördern. In seinen Vorlesungen vermied er aber weitestgehend ein politisches Bekenntnis; er beabsichtigte in seinen Darstellungen „keinen Zorn in die Vergangenheit hineinzugiessen“. Die Weimarer Republik lehnte er ab. Vom parlamentarischen Prinzip hatte er keine hohe Meinung, denn auf (Wahl-)„Zettel“ lasse sich keine legitime staatliche Autorität gründen. Am 19. Januar 1919 ging die ganze Familie zur Wahl der Weimarer Nationalversammlung. Die Familie stimmte geschlossen „deutschnational, hauptsächlich um Clemens Delbrück hinein zu bringen“ und „gegen die Sturmflut der demokratischen Gedanken Dämme zu errichten“. Noch bis in die Zeit von Konrad Adenauer vermerkte Cartellieri jede Wahl gewissenhaft in seinem Tagebuch. Die Sozialdemokratie verachtete er, zur Arbeiterschaft hielt er Distanz. Mit großem Interesse verfolgte er die politischen Vorgänge in Italien und den Sieg des italienischen Faschismus. Für ihn war es „die erste grosse gegensozialistische Bewegung seit der französischen Revolution“. Den Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger bezeichnete er anlässlich dessen Ermordung 1921 durch rechtsterroristische Kreise als einen der „schlimmsten Schädlinge des Vaterlandes“. Zwar wurde Cartellieri wegen seiner antiparlamentarischen Einstellung kein „Vernunftrepublikaner“, doch verhielt er sich verfassungsloyal. Sein Biograf Matthias Steinbach sieht ihn näher bei dem Personenkreis, der sich aus Vernunftgründen zur Weimarer Verfassung bekannte, als bei den nationalkonservativen Professoren wie Dietrich Schäfer, Johannes Haller oder Max Lenz. Die Einheit des Reiches hatte für ihn oberste Priorität, deshalb tolerierte er die neue Staatsform. Seine Vorlesungen nutzte er auch nicht, um sich gegen die Republik auszusprechen. Er war ein typischer Anhänger der DNVP. Im weiteren Verlauf der Weimarer Republik wählte er vor allem deutschnational und gelegentlich die DVP. Eine deutsche Kriegsschuld lehnte er ab. Er betonte vielmehr „die Friedensliebe und Selbstbescheidung, […], die Deutschland bei verschiedenen Gegebenheiten vor dem Krieg“ bewiesen habe. Das Streben nach Widerlegung der Kriegsschuldthese veranlasste ihn zur aktiven Mitarbeit im Arbeitsausschuss Deutscher Verbände. Dabei vertrat er die These von der Kriegsschuldlüge. Cartellieri propagierte auch die Dolchstoßlegende und hoffte auf eine Rückkehr der Hohenzollern. Im Jahr 1922 notierte er, dass er seine Tagebuchaufzeichnungen bis 1915 zurückverfolgt habe, und gestand ein, dass er sich über die hochgemute Stimmung von damals heute wundere. Ein Jahr später heiratete seine Tochter Ilse den promovierten Geographen Max Prange (1891–1979). Aus der Ehe gingen drei Kinder, darunter 1932 der Historiker Wolfgang Prange hervor. Durch den Anstieg der Inflation seit Mitte 1922 konnte Cartellieri seinen relativ hohen Lebensstandard der Vorkriegszeit nicht mehr unvermindert halten. Er musste für Lebensmittel einen Teil seiner Bibliothek verkaufen und Zeitschriftenabonnements kündigen. Die Professorengehälter waren kaum noch etwas wert, obwohl sie in immer kürzeren Zeitabständen neu berechnet wurden. Nach der Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage lag Cartellieris Gehalt bei 3500 Mark. Er verdiente damit etwa das Doppelte eines ungelernten Arbeiters. Mehrfach in seinem Leben sehnte er sich nach mehr Bedeutung. Bereits am 20. Dezember 1921 schrieb er in sein Tagebuch: „Mein heisses Verlangen, irgendwie einzuwirken auf meine Zeit, auf eine spätere Zeit, wird vielleicht nie erfüllt werden […] Gerne hätte ich grossen Männern gedient, ich wäre ihnen nach altgermanischer Art treu gewesen, es fand sich dazu keine Gelegenheit, geliebt hat mich auch keiner“. Am 25. November 1928 fragte er sich: „Was wird von mir bleiben? Ein frostiger Nekrolog in der HZ?“ Neben seinen Verpflichtungen als Hochschullehrer war er noch stellvertretender Vorsitzender des Vereins für Thüringische Geschichte und Alterthumskunde, Beiratsmitglied der Gesellschaft der Freunde der Universität und zählte zum engen Mitgliederkreis der Deutschen Dante-Gesellschaft in Weimar. Er wurde im Februar 1933 in die Sächsische Akademie der Wissenschaften als ordentliches Mitglied aufgenommen. In der Spätphase der Weimarer Republik trafen Cartellieri mehrere persönliche Schicksalsschläge. Im April 1930 starb sein Bruder Otto unerwartet während einer Erholungsreise in die Schweiz. Der Tod seiner Ehefrau im März 1931 stürzte ihn in eine tiefe persönliche Krise. Die politische Situation verlor für Cartellieri dadurch erheblich an Bedeutung. Sein Tagebuch wurde zum Ort der Trauerbewältigung und Erinnerungspflege. Nach dem Tod seiner Frau versuchte er mehrmals, sich neu zu binden und auch wieder zu heiraten, letztlich aber ohne Erfolg. Nationalsozialismus Im März 1932 las Cartellieri die neue kritische Studie Hitlers Weg von Theodor Heuss über Adolf Hitler und die Nationalsozialisten. Wenige Wochen später stimmte er bei der Reichspräsidentenwahl für Hitler. Die Ablehnung des Weimarer Parteienwesens, das Streben nach Revision des Versailler Vertrags, der Wunsch nach nationalem Wiederaufstieg und ein ausgeprägter Antikommunismus führten bei Cartellieri zu einer Annäherung an den neuen nationalsozialistischen Staat. Dabei war vor allem die Befreiung von der Demütigung des Versailler Vertrags ausschlaggebend. Am 29. März 1938 schrieb er in sein Tagebuch: „Ohne Jena kein Sedan, sagte Bismarck nach 1892 in Jena. […] Ohne Versailles kein Nationalsozialismus, wird man später sagen müssen“. Steinbach beurteilt Cartellieris Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus als „zustimmend skeptisch“. Nach der Lektüre von Hitlers Mein Kampf im Mai 1933 fragte er sich in seinem Tagebuch: „Was will er eigentlich im Osten? Das sagt er nicht. Russland angreifen und dort Deutsche ansiedeln? Ist da wirklich Platz für uns?“ Cartellieri, der sich um sein berufliches Weiterkommen keine Gedanken mehr zu machen brauchte, konnte die Entwicklung nach 1933 laut Folker Reichert mit „einer Mischung aus nationaler Loyalität und aristokratischer Distanziertheit“ beobachten. Er wurde nicht Mitglied der NSDAP, engagierte sich nicht aktiv für den Nationalsozialismus und sprach sich auch nicht öffentlich für ihn aus. Im März 1933 begrüßte er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in seinem Tagebuch von Herzen, „dass unsere sog. Revolution von 1918, diese dumme, verbrecherische und vor allem überflüssige Revolution ausgelöscht wird“. Zunächst ging er noch von einer Übergangsregierung aus. „Man muss mitmachen“, schrieb er am 1. Mai 1933 in sein Tagebuch, „denn das Misslingen bringt uns den Zusammenbruch und den Bolschewismus. Vielleicht stürzt er in Russland zusammen, so lange wir noch die jetzige Regierung haben. Das wäre am besten.“ Im Sommer 1934 ereignete sich der sogenannte Röhm-Putsch, bei dem Hitler die Führungsriege der SA einschließlich des Stabschefs Ernst Röhm ohne gerichtliche Urteile ermorden ließ. Obwohl durch dieses Vorgehen der Terror des NS-Regimes offenkundig wurde, begrüßte Cartellieri die Entscheidung und hoffte auf „eine wesentliche Besserung der allgemeinen Verhältnisse“. In Cartellieris Tagebuch finden sich nach der Analyse Matthias Steinbachs gelegentlich antisemitische Anklänge. Am 5. September 1922 fragte er dort: „Es steckt doch wohl Negerblut in allen Semiten?“ Nach dem Historiker Karel Hruza finden sich im Tagebuch öfter negative Notizen über jüdische Kollegen, wie etwa zu Hermann Bloch, Hedwig Hintze oder Ernst Kantorowicz. Cartellieri hielt aber am Humboldtschen Wissenschafts- und Universitätsideal fest. Eine Politisierung der Universität lehnte er strikt ab. Schon 1930 sprach er sich in einem Antrag gegen die Berufung des pseudowissenschaftlichen Rassenkundlers Hans F. K. Günther durch den nationalsozialistischen Kultusminister Wilhelm Frick aus. Die Entlassung des Medizinhistorikers Theodor Meyer-Steineg in Folge des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schockierte ihn. Erschüttert registrierte er die neuen Judengesetze nach den Novemberpogromen 1938. Um seine Bewunderung für Hitler mit den Judenverfolgungen in Einklang zu bringen, erinnerte er an den französischen König Philipp August. Der französische König habe die Juden erst hinausgeworfen und später wieder hereingelassen. Nach Matthias Steinbach findet sich im 1941 veröffentlichten vierten Band seiner Weltgeschichte angesichts völkisch-antisemitischer Positionen jüngerer Kollegen ein bemerkenswertes Urteil. Zu den Judenverfolgungen im Rheinland am Rande des ersten Kreuzzuges meinte er, dass sie „denen, die sich daran beteiligten, und natürlich auch vielen Unschuldigen Verderben gebracht (hatten) und […] von den Zeitgenossen mehrfach mißbilligt worden“ waren. Im Januar 1935 schrieb er in sein Tagebuch: „Ich muss mich furchtbar zusammennehmen, um nicht auch etwas Dummes zu sagen.“ Gleich im nächsten Satz fügte er aber hinzu: „Dabei bejahe ich unendlich viel vom Nationalsozialismus und nicht erst heute, sondern lange vorher.“ Im Juli 1935 wurden er und sein Kollege Georg Mentz von einem Studienrat beim Rektor angezeigt, weil sie das Horst-Wessel-Lied nicht mitgesungen und den Arm nicht hoch genug zum Hitlergruß erhoben hatten. Von der Emeritierung 1935 bis zum Kriegsende Nach seiner Emeritierung 1935 konzentrierte sich Cartellieri auf die Arbeit an seinem Projekt Weltgeschichte als Machtgeschichte. Nach Matthias Steinbach und Herbert Gottwald blieb er Hitler und dem Reich bis zuletzt in „Nibelungentreue“ verbunden. Vor allem Hitlers außenpolitische Erfolge weckten Cartellieris Begeisterung. Im Jahr 1938 schrieb er in sein Tagebuch: „Ich glaube Verständnis für Hitlers Genialität zu haben, erkenne an, dass ein Mann aus dem Volke aufstehen musste, wie nach Azincourt und Troyes die Jungfrau von Orléans, aber gar manches, was in Hitlers Namen getan wird, will mir gar nicht behagen.“ Für Cartellieri stand die Idee des Vaterlandes höher als der Führergedanke. Am 12. November 1939 vermerkte er in seinem Tagebuch: „Der Führer kann fallen, die Fahnen des Vaterlandes können von anderen weitergetragen werden. […] Hitler hat ja schon vorgesorgt: Göring, Rudolf Hess. Hoffentlich lebt er lange.“ Mit großem Interesse verfolgte er die Vorgänge in Österreich. Den „Anschluss Österreichs“ im März 1938 begrüßte er, „damit Österreich nicht in der slawischen Flut versinkt“. Dabei machte er in Österreich mit „Katholiken, Legitimisten, Sozzis und Kommunisten, Juden“ vier Feinde aus. Anlässlich der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 hoffte Cartellieri, dass der Frieden im Schloss Versailles geschlossen werde, um so den Versailler Vertrag vom 29. Juni 1919 auszulöschen und die Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 zu erneuern. Für Cartellieri blieb auch im Nationalsozialismus das Kaisertum „die für Deutschland gegebene Lebensform“. Trotz seiner Verachtung für Wilhelm II. meinte er, ein Hohenzoller müsse Kaiser werden. Im Oktober 1941 prangerte Cartellieri in seinem Tagebuch die Emigranten, die Deutschland verlassen hatten, als die „schlimmsten Feinde“ der Heimat an. Den Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 registrierte er mit Empörung; er war erleichtert, dass „der Führer keine schwere Verwundung erlitten“ habe. Ihm war durch einen Offizier bekannt geworden, dass die Kriegssituation im Osten zunehmend aussichtslos wurde. Dennoch hoffte er noch am 25. März 1945 auf eine Wende im Krieg durch die V2-Raketen. Die Nationalsozialisten widmeten Cartellieri im Jahr 1942 zum 75. Geburtstag einen ausführlichen Artikel in den Nationalsozialistischen Monatsheften. Er erhielt ein Glückwunschschreiben des „Führers und Reichskanzlers“. Der Jenaer Kriegsrektor Karl Astel gratulierte ihm persönlich. Zudem wurde er mit der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft gewürdigt. Für Matthias Steinbach hatte das Interesse der Nationalsozialisten an Cartellieri zwei Gründe: Sie konnten damit eine vermeintlich ideologiefreie und unparteiische Geschichtsauffassung präsentieren, und Cartellieris Konzentration auf das Wirken großer Männer in der Geschichte kam ihrem Weltbild entgegen. Letzte Lebensjahre Cartellieri nahm nach Kriegsende keine selbstkritische Haltung ein, er glaube nicht an eine Mitschuld der Gelehrten am Aufstieg des Nationalsozialismus. „Von den Grausamkeiten in den KZlagern“ habe „der größte Teil des Volkes gar nichts gewusst“. Nach der Deutung, die er nun vertrat, war Hitler kein deutsches, sondern ein europäisches Problem: Ohne den Sturz des Kaiserreiches und den Versailler Vertrag wäre er nicht an die Macht gekommen. Nach wie vor hielt Cartellieri das Kaiserreich für die beste Staatsform. Am 22. September 1946 notierte er in seinem Tagebuch: „Kein Verständiger kann bezweifeln, dass wenn die Sozzen nicht in ihrer Republikpsychose den Kaiser verjagt hätten, die NSDAP nie zur Macht gelangt wäre.“ Jena war durch Bombenangriffe schwer beschädigt, doch Cartellieris Haus blieb weitgehend verschont. Krieg und Friedensordnung hatten seine Familie auseinandergerissen, sein ältester Sohn Walther war bei den letzten Kämpfen in Oberitalien im Mai 1945 gefallen. Er war alleine in Jena. Im Februar 1949 starb seine Tochter Ilse Prange. Fortan hatte er niemanden mehr in der Familie, mit dem er sich über die Verwaltung seines Nachlasses austauschen konnte. Auch Kollegen und Freunde waren im Krieg umgekommen oder fingen im Westen neu an. Ohne seine Bibliothek wollte Cartellieri aber nicht umziehen. Im September 1949 teilte ihm Otto Schwarz, der Rektor der Universität Jena, mit, dass ihm die mit Vergünstigungen beim Lebensmittelbezug verbundene Intelligenzkarte entzogen werde, weil er sich kritisch zur Volkskongressbewegung und zur politischen Situation in der Sowjetischen Besatzungszone geäußert habe. Darauf musste Cartellieri wie in der Krise 1922/23 erneut für den Erwerb von Lebensmitteln Bücher tauschen oder verkaufen. Ein Amerikaner, dem er seine Edition Ex Guidonis de Bazochiis cronosgraphie libro septimo im Tausch für Lebensmittel gab, bedankte sich im Gegenzug mit Honig aus Moscow, Idaho. Schließlich wurde die Intelligenzkarte Cartellieri von Rektor Josef Hämel wieder ausgehändigt. Der durch den Krieg noch deutlicher erkennbar gewordene technische Fortschritt inspirierte Cartellieri zur Beschäftigung mit neuen Themenfeldern wie der Entwicklung der Reisegeschwindigkeit im Mittelalter oder Ursachen und Ausbreitung von Seuchen in der Stauferzeit. Er arbeitete weiter am fünften Band seiner Weltgeschichte. Bis ins hohe Alter unternahm er seine regelmäßigen Spaziergänge. Zu seinem 85. Geburtstag 1952 nahm er die Glückwünsche des Oberbürgermeisters entgegen. Rektor und Prorektor übermittelten ihm die Glückwünsche der SED. Die Gratulanten gehörten noch zur älteren bürgerlichen Gelehrtengeneration. Cartellieri starb vereinsamt am 16. Januar 1955 in Jena. Er wurde auf dem Jenaer Nordfriedhof beerdigt. Werk Cartellieri legte von 1890 bis 1952 über 200 Veröffentlichungen vor, wobei er die Rankesche Geschichtsschreibung fortsetzte. Ihm ging es um die Bewahrung der Idee einer historischen Einheit der „germanischen und romanischen Völker“. Gegenüber Detailstudien bevorzugte er die große Form. Seine frühen Arbeiten waren regionalgeschichtliche Studien zum Klerus des Bistums Konstanz. Danach konzentrierte er sich auf Frankreich, vor allem auf die Zeit zwischen dem dritten Kreuzzug und der Schlacht bei Bouvines, und schließlich widmete er sich einer universalen Geschichtsbetrachtung. Seine beiden Hauptwerke sind die zwischen 1899 und 1922 veröffentlichte vierbändige Biografie des französischen Königs Philipp II. August (1165–1223) und die fünfbändige, von 1927 bis 1972 erschienene Weltgeschichte als Machtgeschichte, die die Zeit von 382 bis 1190 umfasst. Diese Arbeiten erfuhren hohe Wertschätzung vor allem in Frankreich und Belgien, jedoch weniger in Deutschland. Bei den deutschen Fachkollegen galt er als unpatriotischer Außenseiter. Nach seinem Geschichtsverständnis gestalten „große“ aktive Männer nachhaltig die Geschehnisse. Von den akademischen Zeitschriften hatte er keine hohe Meinung („Zeitschriften sind die Bierstuben und Kaffeehäuser der Wissenschaft.“). In Rezensionen trat er nicht als vernichtender Kritiker hervor; nahezu alle seine Besprechungen sind in einem sachlichen Tonfall verfasst. Revolutionsstudie und Biografie zu Philipp II. August Cartellieri widmete sich über viele Jahre der äußeren Machtentfaltung der Staaten. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete er an einer Überblicksdarstellung zu den inneren Machtkämpfen der letzten Jahrhunderte. Im Jahr 1921 erschien seine Studie Geschichte der neueren Revolutionen. Vom englischen Puritanismus bis zur Pariser Kommune (1642–1871). Das Werk entstand sowohl aus den unmittelbaren Erfahrungen von Novemberrevolution und Weltkriegsniederlage als auch aus langjährigem Interesse. Nach Matthias Steinbach handelt es sich um eine schlichte Faktendarstellung. Cartellieri wollte zur Klärung der Ansichten beitragen und dem Leser ein selbstständiges Urteil ermöglichen. Ganz in der Tradition Rankes ging Cartellieri von der Bedingtheit und gegenseitigen Abhängigkeit der französischen und deutschen Verhältnisse zwischen 1789 und 1871 aus. Den Wechsel von Reform, Revolution und Reaktion versuchte er in seiner europäischen Dimension zu deuten. Cartellieri gehörte zu den wenigen deutschen Historikern, deren Arbeitsschwerpunkt die Geschichte Frankreichs war. Lediglich Robert Holtzmann und Fritz Kern haben sich ähnlich intensiv mit der mittelalterlichen Geschichte Frankreichs befasst. Henri Pirenne bezeichnete Cartellieri 1913 als „den besten Kenner, den es heute auf dem Gebiet der westeuropäischen Geschichte des XII. Jahrhunderts gibt“. Über drei Jahrzehnte erforschte er das Leben und die Zeit des französischen Königs Philipp II. August. Nach Cartellieris Hauptthese wurde Frankreich unter Philipp ein Großreich und griff maßgeblich in die europäische Politik ein. Bereits in den ersten Handlungen des Königs erkannte Cartellieri „die frühe Reife und vorwiegend politische Richtung seines Geistes und Charakters“. Philipps Hass auf England erklärte er aus „den Eindrücken, die der lebhafte Knabe halb unbewusst in sich aufnahm, wenn er miterlebte, wie seines Vaters ganzes Dichten und Trachten darauf gerichtet war, sich des übermächtigen Feindes zu erwehren“. Im Gegensatz zu bisherigen Ansichten krönte nach Cartellieris Darstellung die Schlacht bei Bouvines „nicht eine deutsch-feindliche Politik des französischen Königs, sondern besiegelte den Zusammenbruch des angevinischen Reiches“. Cartellieri meinte, Philipp sei kein Feind der Deutschen gewesen, vielmehr habe der französisch-anglonormannische Konflikt, die Folge des dynastischen Gegensatzes der Häuser Plantagenet und Capet, seine Politik bestimmt. Cartellieris universale Geschichtsschreibung Schon in seiner 1919 veröffentlichten Darstellung Grundzüge der Weltgeschichte 378–1914 hat Cartellieri Weltgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Machtgeschichte verstanden. In den Jahren 1923 bis 1947 arbeitete er an einer Weltgeschichte. Es war eine politische Geschichte der Entstehungs- und Anfangsphase der westlichen Welt im Mittelalter in ihrer Verzahnung mit der islamischen Welt. Dabei wollte er nationale Beschränkungen vermeiden und die Weltgeschichte in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Rolle führender Persönlichkeiten, die auf allen Gebieten Dauerndes geleistet haben, zusammenfassend schildern. Er hielt sich eng an die Quellen, um seiner Darstellung einen zeitlosen Wert zu verleihen. „Es gilt“, sagte er im Vorwort, „die Weltgeschichte dadurch zum Range einer Wissenschaft zu erheben, daß man sie nichts aussagen läßt, was nicht bewiesen, d.h. unmittelbar oder mittelbar auf die Quellen zurückgeführt werden kann.“ Den behandelten Zeitraum gliederte er nicht nach der üblichen Periodisierung; er wollte weder vom Altertum noch vom Mittelalter und erst recht nicht vom mittelalterlichen Menschen reden. Ihm ging es nicht um die Klärung einzelner Streitfragen, sondern um das Festhalten des Wesentlichen. Cartellieri verstand Weltgeschichte als Machtgeschichte, also als „politische Geschichte mit besonderer Rücksicht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen“. Der leitende Gesichtspunkt war für ihn der „ewig unveränderliche, sich unter immer neuen Hüllen verbergende Machttrieb gemäß der allgemein menschlichen Erfahrung“. Er ging in seiner Darstellung vom Römischen Reich aus, „das die Voraussetzung für alles bildet, was in der romanisch-germanischen Welt seitdem geschehen ist“. Als Beginn wählte er den Vertrag, den Theodosius I. am 3. Oktober 382 mit den Westgoten geschlossen hatte, da dabei die Auflösung des Reiches besonders deutlich zu erkennen sei. Durch den Schwerpunkt auf dem Machttrieb einzelner Völker und Herrscherpersönlichkeiten traten soziale und wirtschaftliche Einwirkungen zurück. Der erste Band, der 1927 erschien, behandelt die Zeit der Reichsgründungen von 382 bis 911. Der letzte Band, Das Zeitalter Barbarossas. 1150–1190, wurde 1972 postum herausgegeben. Das Manuskript zum letzten Band hatte Cartellieri Ende der vierziger Jahre abgeschlossen. Die Gattin Ulrich Cartellieris hatte es druckfertig gemacht. Tagebuch Cartellieri führte sein Tagebuch vom 1. Januar 1878 bis zum Herbst 1954 zunächst fast täglich, ab 1903 wöchentlich. Es endet am 1. November 1954 mit dem Eintrag: „Wie lange muss ich mich noch opfern?“. Nach Cartellieris eigener Einschätzung zeichnen sich die Tagebücher „weniger dadurch aus, daß ich viel Bedeutendes erlebt habe als durch die Vollständigkeit der Eintragungen von Kinderzeiten an“. Beim Verfassen der Tagebücher hoffte er auf die „unbestechliche Nachwelt“ und damit auf mehr Geltung, als ihm die Gegenwart gab. Das 12.000 Seiten umfassende Tagebuch macht deutlich, wie Cartellieri das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und die deutsche Zweistaatlichkeit sowie die damit einhergehenden politischen Umbrüche erlebte. Außerdem wollte er eine „ausführliche Schilderung der Universität“ Jena hinterlassen. Das Tagebuch wurde auch zu einem Arbeitsjournal, in dem er umfangreiche Notizen zu seinen Arbeitsvorhaben und akademischen Tätigkeiten eintrug. In ihrem Umfang und der Ausdehnung über mehrere Epochen hinweg sind seine Tagebücher nur mit denen von Victor Klemperer und Harry Graf Kessler vergleichbar. Heute befinden sie sich samt dem Nachlass in der Universitätsbibliothek Jena. Nachwirkung Cartellieris Biografie über Philipp II. August blieb ein Standardwerk. Der Wert der Arbeit liegt in der methodisch exakten Arbeitsweise, der Erarbeitung einer sicheren Chronologie und dem Bemühen um ein sachgerechtes Urteil über das historische Individuum. Joachim Ehlers hielt die Darstellung noch 1996 für unentbehrlich, da sie aus den Quellen erarbeitet wurde. Das Werk war zwar grundlegend, doch konnte es den vorherrschenden Deutungen der Schlacht von Bouvines keine neue Richtung geben. Im 19. Jahrhundert galt die Schlacht als Symbol französischen Vordringens und deutscher Schwäche. Erst in den 1970er Jahren brachten neue Forschungsansätze ein neues Verständnis der Schlacht und ihrer Bedeutung. Cartellieri zählte nicht zu den führenden Persönlichkeiten seines Faches. Die nächste Generation war von der marxistischen Weltanschauung geprägt und zollte ihm keine Anerkennung mehr. In der DDR geriet er in Vergessenheit, in Hans-Ulrich Wehlers neunbändiger Reihe Deutsche Historiker blieb er unerwähnt. Seine 16.000 Bände umfassende Bibliothek wurde nach seinem Tod von der Universität Jena aufgekauft und blieb dort jahrzehntelang unbeachtet. Im Jahr 1989 wurde Matthias Steinbach beim erstmaligen Betreten der Handschriftenabteilung auf einen Bestand von sechzehntausend Bänden aufmerksam und stellte sich die Frage, wer eine solche Vielzahl von Büchern häufig französischer und italienischer Herkunft in Jena zusammengetragen hatte. Dieses Interesse wurde Ausgangspunkt für seine einige Jahre später veröffentlichte Dissertation über Alexander Cartellieri. Auch für Steinbach gehört Cartellieri „nicht zu den herausragenden Figuren des deutschen Kultur- und Gelehrtenlebens der Epoche zwischen Kaiserreich und nationalsozialistischer Diktatur“. Seine Vorlesungen und Forschungen zur Geschichte der Revolutionen wurden aber zum Ausgangspunkt einer in Jena über Karl Griewank, Siegfried Schmidt bis zu Werner Greiling und Hans-Werner Hahn führenden Forschungstradition. Nach Steinbach verband sich bei Cartellieri eine konservativ-monarchische Grundhaltung mit rankescher Methodik und einer weltbürgerlichen Offenheit. Steinbach gab im Jahr 2014 gemeinsam mit Uwe Dathe Auszüge der Tagebücher aus dem Zeitraum von 1899 bis 1953 in einer kritisch kommentierten Edition heraus. Die Herausgeber sehen im Tagebuch ein „repräsentatives“ Zeugnis, das Einblick in die „Mentalität des deutschen Bildungsbürgertums“ gebe. Die Einträge aus Cartellieris Zeit im badischen Archivdienst (1892–1898) hatte Steinbach zwei Jahre zuvor separat veröffentlicht. Ebenfalls 2014 publizierte Tillmann Bendikowski seine Darstellung Sommer 1914. Dort soll anhand von fünf ausgewählten Zeitzeugen ein Eindruck davon vermittelt werden, wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten. Dabei repräsentiert Alexander Cartellieri das Großbürgertum. Schriften (Auswahl) Ein Schriftenverzeichnis erschien in Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland (= Jenaer Beiträge zur Geschichte. Band 2). Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001, ISBN 3-631-37496-8, S. 290–303. Philipp II. August, König von Frankreich. 4 (in 5) Bände(n). Dyk u. a., Leipzig u. a. 1899–1922; Band 1: 1165–1189. 1899–1900 (2. Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1984, ISBN 3-511-03841-3); Band 2: Der Kreuzzug. (1187–1191). 1906 (2. Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1984, ISBN 3-511-03842-1); Archive Band 3: Philipp August und Richard Löwenherz. (1192–1199). 1910 (2. Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1984, ISBN 3-511-03843-X); Band 4, Teil 1: Philipp August und Johann Ohne Land. (1199–1206). 1921 (2. Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1984, ISBN 3-511-03844-8); Band 4, Teil 2: Bouvines und das Ende der Regierung. (1207–1223). 1922 (2. Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1984, ISBN 3-511-03844-8). Grundzüge der Weltgeschichte 378–1914. Dyk, Leipzig 1919 (2., vermehrte und verbesserte Auflage. ebenda 1922). Geschichte der neueren Revolutionen. Vom englischen Puritanismus bis zur Pariser Kommune. (1642–1871). Dyk, Leipzig 1921. Weltgeschichte als Machtgeschichte. 4 Bände. Oldenbourg, München u. a. 1927–1941 (fünfter Band postum 1972); Band 1: 382–911. Die Zeit der Reichsgründungen. 1927 (Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1972, ISBN 3-511-04431-6); Band 2: Die Weltstellung des Deutschen Reiches 911–1047. 1932 (Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1972, ISBN 3-511-04432-4); Band 3: Der Aufstieg des Papsttums im Rahmen der Weltgeschichte. 1047–1095. 1936 (Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1972, ISBN 3-511-04433-2); Band 4: Der Vorrang des Papsttums zur Zeit der ersten Kreuzzüge. 1095–1150. 1941 (Neudruck. Scientia-Verlag, Aalen 1972, ISBN 3-511-04434-0); Band 5: Das Zeitalter Friedrich Barbarossas. 1150–1190. Scientia-Verlag, Aalen 1972, ISBN 3-511-04435-9. Quellen Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899–1953) (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts. Band 69). Herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Matthias Steinbach und Uwe Dathe. Oldenbourg, München 2014, ISBN 978-3-486-71888-1. Rezensionen zum Tagebuch: Gerhard A. Ritter in: H-Soz-Kult, 5. September 2014, (online); Wolfgang Michalka in: Das Historisch-Politische Buch 63 (2015), S. 256–257; Mario Kessler: in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15. Oktober 2014] (online) dazu die Stellungnahme von Matthias Steinbach in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15. Oktober 2014] (online); Franz-Josef Kos in: Neue Politische Literatur Jg. 60 (2015), S. 470–471 (online); Julian Führer in Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz. 2014, S. 1–4 (online); Dieter Dowe in: Archiv für Sozialgeschichte 55 (2015) (online); Christian Tilitzki in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 60 (2014), S. 303–304; Karel Hruza in: Historische Zeitschrift 301 (2015), S. 264–266; Peter Schöttler in: Francia-Recensio 2015/2 (online); Christian Amalvi in: Francia-Recensio 2016/1 (online). Literatur Tillmann Bendikowski: Sommer 1914: Zwischen Begeisterung und Angst – wie Deutsche den Kriegsbeginn erlebten. Bertelsmann, München 2014, ISBN 978-3-570-10122-3, S. 33ff., 117ff., 192ff., 274ff. Matthias Steinbach: Des Königs Biograph. Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland (= Jenaer Beiträge zur Geschichte. Band 2). Lang, Frankfurt am Main u. a. 2001, ISBN 3-631-37496-8 (Zugleich: Jena, Universität, Dissertation, 1998: Geschichtswissenschaft zwischen Frankreich und Deutschland.). Rezensionen zu Steinbachs Studie von Thomas Nicklas in: Archiv für Kulturgeschichte. 85 (2003), S. 383–385; Hans-Christof Kraus: Träume vom Tyrannenmord, Zeuge der Machtgeschichte: Der Historiker Alexander Cartellieri. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung., 3. Juli 2001, Nr. 151, S. 48; Heribert Müller: „Aber das menschliche Herz bleibt, und darum können wir historisch kongenial verstehen“. Anmerkungen zu einer Biographie des Jenaer Historikers Alexander Cartellieri. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte. 55 (2001), S. 337–352; Stephanie Irrgang in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. 50 (2002), S. 838–840; Peter Stadler in: Historische Zeitschrift. 275 (2002), S. 423–424; Hans Cymorek in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. 150 (2002), S. 666–667. Weblinks Veröffentlichungen von und über Alexander Cartellieri im Opac der Regesta Imperii Nachlass von Alexander Cartellieri in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena Anmerkungen Mittelalterhistoriker Hochschullehrer (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Rektor (Friedrich-Schiller-Universität Jena) Hochschullehrer (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Deutscher Geboren 1867 Gestorben 1955 Mann Archivar (Deutschland) Prorektor einer Universität in Deutschland Mitglied der Badischen Historischen Kommission Bibliophiler Tagebuch
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https://de.wikipedia.org/wiki/Denisova-Mensch
Denisova-Mensch
Die Denisova-Menschen waren eine Population der Gattung Homo, die eng verwandt ist mit den Neandertalern und wie diese den anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens) nahe steht, jedoch genetisch von beiden Arten unterschieden werden kann. In der englischsprachigen Fachliteratur werden sie Denisova hominins oder kurz Denisovans genannt. Johannes Krause und Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gelang es im Jahr 2010 zunächst, die DNA aus den Mitochondrien (die mtDNA) eines Fingerknochens mit Hilfe der DNA-Sequenzierung auszuwerten. Die Bekanntgabe der Ergebnisse dieser DNA-Analyse sorgte für weltweites Aufsehen, da das Fossil als Beleg für eine bis dahin unbekannte, den Neandertalern und den anatomisch modernen Menschen nahe stehende Population der Gattung Homo interpretiert wurde. Einige Monate später wurde auch die Analyse der DNA aus den Zellkernen des Knochens publiziert; sie bestätigte die relative Eigenständigkeit der Denisova-Population. Demnach hatte damals neben den bis dahin bekannten Populationen des Neandertalers und des Homo floresiensis noch eine dritte Gemeinschaft von entfernten (aber eindeutig zur Gattung Homo gehörigen) Verwandten des anatomisch modernen Menschen existiert. Am engsten verwandt sind die Denisova-Fossilien mit den Neandertaler-Funden aus der Vindija-Höhle und der Mesmaiskaja-Höhle. Auf die Zuordnung der Funde aus der Denissowa-Höhle zu einer neuen Art oder zu einer Unterart wurde 2010 ausdrücklich verzichtet; 2011 wurden die Fossilien jedoch „einer bisher unbekannten Art“ zugeschrieben. Denisova-Menschen lebten bis vor 76.000–52.000 Jahren – während der Altsteinzeit – im Altai-Gebirge im südlichen Sibirien und vor rund 160.000 Jahren in Tibet. Sicher belegt ist die Existenz dieser Population bislang nur durch wenige, kleine Fossilien aus der Denissowa-Höhle: u. a. durch den Knochen eines kleinen Fingers, zwei hintere Backenzähne und einen Unterkiefer aus Tibet. Fundgeschichte und Datierung Die Ausgrabungen in der Denissowa-Höhle (, eigentlich: „Höhle von Denis“) nahe der Grenze zu Kasachstan wurden vom Naturkundemuseum von Nowosibirsk durchgeführt unter der Leitung der beiden Archäologen Michail Schunkow und Anatoli Derewjanko von der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Höhle war seit den 1970er-Jahren intensiv erforscht worden, nachdem in ihr Steinwerkzeuge im Moustérien- und Levallois-Stil freigelegt worden waren, die Neandertalern zugeschrieben wurden. Mehrere unterschiedlich alte Hinweise auf eine Nutzung der Höhle durch vorzeitliche Menschen (Fundhorizonte) konnten gegeneinander abgegrenzt werden. Im Jahr 2000 legten Mitarbeiter der russischen Forschergruppe den ersten Backenzahn frei, das Fossil Denisova 4; man konnte ihn jedoch nicht mit Gewissheit einer bestimmten Homo-Art zuordnen. Das 48.000 bis 30.000 Jahre alte Fingerglied (das Fossil Denisova 3, ein Phalanx distalis), das vermutlich von einem fünf- bis siebenjährigen Kind stammt, wurde 2008 entdeckt. 2011 gab die Forschergruppe den Fund eines äußeren Zehengliedknochens vom linken Fuß bekannt, das 130.000 bis 90.900 Jahre alte Fossil Denisova 5, das jedoch später als von einem Neandertaler stammend erkannt wurde. 2015 schließlich erfolgte der Fund eines weiteren Backenzahns, das Fossil Denisova 8. Im März 2017 wurden in Science zusammengehörige Fragmente von zwei Schädelkalotten aus Lingjing (灵井), Xuchang (许昌), Volksrepublik China, beschrieben, die 125.000 bis 105.000 Jahre alt und aufgrund ihrer Merkmale möglicherweise den Denisova-Menschen zuzuordnen sind. Die Fundstelle ist seit 2008 international bekannt; die ersten, 2007 entdeckten Schädelfragmente wurden bislang in China als Xuchang-Mensch bezeichnet. Anfang 2019 wurden in der Fachzeitschrift Nature zwei Studien mit Datierungen zur Besiedelung der Höhle auf Basis der optisch stimulierten Lumineszenz und einer Variante der Massenspektrometrie (ZooMS) publiziert. Demnach sind die ältesten Belege für Denisova-Menschen mindestens 200.000 Jahre alt. 2021 wurde diese Datierung durch mtDNA aus einem weiteren Knochenfund bestätigt. Das „Mischlingskind“ Denisova 11 ist der Analyse zufolge rund 100.000 Jahre alt. Der jüngste Knochenfund (Denisova 14) ist zwar 46.300 ± 2600 Jahre alt, seine Zuschreibung zu den Denisova-Menschen gilt allerdings nicht als gesichert, so dass der jüngste Beleg für die Existenz der Denisova-Menschen 76.000–52.000 Jahre alt ist. Die Höhle war den Befunden zufolge nicht kontinuierlich, sondern episodisch – insbesondere während der Zwischeneiszeiten – besiedelt. Der 2019 vorgestellte Unterkiefer aus Tibet ist rund 160.000 Jahre alt. Analyse der mtDNA aus dem Fingerknochen Johannes Krause, ein Experte für die Analyse von Neandertaler-DNA, hatte aus 30 Milligramm pulverisierten Materials des Fingerknochens genügend DNA aus Mitochondrien gewonnen, um deren Bauplan (die Nukleotidsequenz der mtDNA) vollständig rekonstruieren zu können. Danach wurde diese mtDNA-Sequenz mit jener von 54 heute lebenden Menschen (Homo sapiens) verglichen, ferner mit der mtDNA-Sequenz eines jungpleistozänen Menschen aus Kostjonki 14 am Don (Südrussland), mit den vollständigen mtDNA-Sequenzen von sechs Neandertalern sowie – als sogenannte Außengruppe, weil bislang keine DNA von Homo erectus / Homo heidelbergensis gewonnen werden konnte – mit der mtDNA je eines Schimpansen und eines Bonobos. Während sich Neandertaler und anatomisch moderne Menschen im Durchschnitt an 202 Nukleotid-Positionen der mtDNA unterscheiden, ist die Anzahl der Abweichungen zwischen dem Fund aus der Denissowa-Höhle und dem anatomisch modernen Menschen mit 385 fast doppelt so groß. Aus dem Vergleich dieser Daten mit den Abweichungen zwischen Mensch und Schimpansen (1462 Positionen) wurde abgeschätzt, dass sich die Entwicklungslinien des Denisova-Menschen und des anatomisch modernen Menschen bereits vor 1.314.000 bis 779.000 Jahren getrennt haben, während sich die Entwicklungslinien von Homo sapiens und Neandertaler erst vor 618.000 bis 321.000 Jahren endgültig trennten. Daraus wurde geschlossen, dass es im Altai vor rund 60.000 Jahren neben Homo sapiens und den Neandertalern noch eine dritte, unabhängig von diesen beiden Arten dorthin eingewanderte Population der Gattung Homo gegeben hat. Wie zuverlässig die Datierung von verwandtschaftlichen Verhältnissen allein anhand der mtDNA ist, ist jedoch umstritten, da die Mitochondrien ohne Rekombination ausschließlich über die Mutter vererbt werden. Sie sind daher in besonderem Maße zum Beispiel Gendrift und Genfluss ausgesetzt, das heißt, es können in kurzer Zeit relativ viele Veränderungen vorkommen; im Unterschied hierzu weist die Zellkern-DNA zehntausende Genloci auf, die „evolutionsneutral“ sind und sich daher weniger rasch (und weniger diskontinuierlich) verändern. 2019 gelang es, die mtDNA eines Knochenfragments zu gewinnen und mit der mtDNA des Fossils Denisova 3 zu vergleichen, mit dem Ergebnis, dass dieses Fragment als Denisova 3 zugehörig erkannt wurde. Eine virtuelle Rekonstruktion ergab, dass dieser Fingerknochen demjenigen eines anatomisch modernen Menschen sehr ähnlich ist, nicht aber demjenigen eines Neandertalers, sodass den Bau des Fingers ein plesiomorphes Merkmal zu sein scheint. Analyse der DNA aus Zellkernen des Fingerknochens Die Leipziger Forscher hatten bereits im März 2010 angekündigt, im Anschluss an die mtDNA auch die vollständige DNA aus Zellkernen des Fossils zu sequenzieren. Fest stand seinerzeit bereits, dass das von den Leipziger Forschern inoffiziell „X-Woman“ genannte und als „Mädchen“ beschriebene Fossil kein Y-Chromosom besaß, also ein weibliches Kind war. Die gesamte Genomsequenz aus dem Zellkern der Denisova-Menschen publizierte das Leipziger Forscherteam schließlich am 8. Februar 2012 online und damit für jedermann frei zugänglich. Die Zellkern-DNA des Fingerknochens erwies sich dabei als ungewöhnlich gut erhalten. Eine Verbesserung der Untersuchungstechnik hatte es möglich gemacht, jede Base innerhalb des Denisova-Genoms dreißigmal zu sequenzieren. Die dafür benötigte DNA wurde aus weniger als zehn Milligramm des Fingerknochens gewonnen. Die jetzige Auflösung zeigt sogar jene Unterschiede zwischen den Genkopien, die das Individuum von seiner Mutter beziehungsweise von seinem Vater geerbt hatte. Verwandtschaft mit den Neandertalern Schon im Dezember 2010 war berichtet worden, die DNA-Unterschiede zwischen Neandertalern und Denisova-Menschen deuteten auf eine endgültige Trennung beider Populationen vor 640.000 Jahren hin sowie auf eine endgültige Trennung ihrer gemeinsamen Vorfahren von den Vorfahren des Homo sapiens vor rund 800.000 Jahren. Diesen Daten zufolge sind die Denisova-Menschen – deutlich abweichend von der Interpretation der mtDNA-Befunde – enger mit den Neandertalern verwandt als mit dem anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens. Die Ergebnisse solcher Berechnungen sind in Fachkreisen jedoch umstritten, denn für die exakte Ganggeschwindigkeit der molekularen Uhr, also für die Häufigkeit von Mutationen in vergangenen Epochen, gibt es nur Schätzwerte. Ein Vergleich der DNA von Neandertaler-Funden aus der Vindija-Höhle und der Mesmaiskaja-Höhle ergab eine ungewöhnlich große genetische Nähe beider Funde und einen relativ großen genetischen Abstand beider Funde zum Denisova-Fossil. Daraus wurde zum einen geschlossen, dass Neandertaler und Denisova-Menschen zwei über längere Zeit hinweg genetisch isolierte Populationen waren, dass sie jedoch miteinander enger verwandt sind als mit Homo sapiens; zum anderen, dass die Neandertaler nach der Trennung von den Vorfahren der Denisova-Population durch einen genetischen Flaschenhals gegangen sind – eine starke genetische Verarmung war zuvor bereits aus der Analyse der mtDNA von Neandertalern abgeleitet worden, da deren genetische Variabilität wesentlich geringer als die genetische Variabilität des anatomisch modernen Menschen ist. Aufgrund dieser Besonderheiten wurde erstmals eine vorzeitliche Population der Gattung Homo allein anhand molekularbiologischer Daten von verwandten Populationen – in Analogie zu Neandertalern auf Englisch als Denisovans bezeichnet – separiert. Die errechnete, langanhaltende genetische Isolation der Neandertaler-Populationen von denen der Denisova-Menschen verhinderte jedoch nicht, dass es vor mindestens 50.000 Jahren noch zur Zeugung von gemeinsamem Nachwuchs kam. Dies zumindest geht aus einer Studie hervor, die 2018 publiziert wurde. Demnach gelang es, aus dem Fossil Denisova 11 – einem kleinen Fragment eines Röhrenknochens, das 2012 in der Denissowa-Höhle entdeckt worden war – DNA zu gewinnen und zu sequenzieren. Das Fossil gehörte zu einer vermutlich mindestens 13 Jahre alten Jugendlichen, deren Mutter eine Neandertalerin und deren Vater ein Denisovaner war. Weitere Analysen des Genoms ergaben, dass auch der Vater der Frau wenigstens einen Neandertaler unter seinen Vorfahren hatte. Die Forscher stellten ferner fest, dass die Mutter genetisch näher mit Neandertalern verwandt war, die in Westeuropa lebten, als mit einem Neandertaler, der zu einem früheren Zeitpunkt in der Denissowa-Höhle gelebt hatte. Dies zeige, dass die Neandertaler Zehntausende von Jahren vor ihrem Verschwinden zwischen West- und Ost-Eurasien migrierten. Möglicherweise kam es in Asien zudem zu einer Verpaarung von Neandertaler-Denisova-Mischlingen mit den aus Afrika zuwandernden Gruppen des Homo sapiens. Genfluss zu Homo sapiens Bereits im Mai 2010 war eine Studie veröffentlicht worden, die einen Genfluss von den Vindija-Neandertalern zu Homo sapiens belegte. Daher wurde auch die genetische Distanz des Denisova-Fossils zu heute lebenden Ethnien analysiert, wobei auf Daten von 938 Menschen aus 53 Populationen zurückgegriffen wurde. Den Befunden zufolge steht das Denisova-Fossil den heute lebenden europäischen, asiatischen und afrikanischen Menschen ferner als die Neandertaler. Hingegen wurde eine signifikante Nähe zur DNA von Menschen aus Melanesien (Papua und Bewohner von Bougainville) festgestellt. Dies führte zur Aussage, dass das Genom der Melanesier – wie das aller nicht-afrikanischer Menschen – zu 2,5 ± 0,6 Prozent von Neandertalern stamme, dass zusätzlich aber weitere 4,8 ± 0,5 Prozent von Denisova-Menschen beigesteuert wurden; zusammengerechnet wären dies laut Studie 7,4 ± 0,8 Prozent des Genoms der Melanesier, die von einer früheren Vermischung mit archaischen Homininen stammen. Aus der rein regionalen Verbreitung der Denisova-DNA wurde abgeleitet, dass es keine häufige Vermischung gegeben haben kann. Im September 2011 wurden weitere genetische Befunde publiziert, die nunmehr auf einem Vergleich der DNA von 33 heute lebenden Populationen aus Asien und Ozeanien mit denen des Denisova-Fossils beruhten. Demnach konnten DNA-Spuren der Denisova-Menschen auch bei den Aborigines in Australien, bei den Mamanwas auf den Philippinen sowie im Osten von Indonesien nachgewiesen werden, nicht aber im Westen von Indonesien und nicht bei den Onge auf den Andamanen, bei den Jehai in Malaysia und bei Bevölkerungsgruppen in Ostasien. Die Autoren dieser Studie interpretierten den Nachweis von Denisova-DNA in Ost-Indonesien, Australien, Papua-Neuguinea, Fidschi und Polynesien als Beleg dafür, dass die genetische Vermischung in Südostasien stattgefunden habe, was bedeuten würde, dass die Denisova-Menschen ein Gebiet zwischen Sibirien und den Tropen besiedelt hätten. Diese Deutung ist jedoch umstritten, da frühe Wanderungen von Vorfahren der untersuchten Volksgruppen nicht ausgeschlossen werden und die sexuellen Kontakte daher auch weiter nördlich – im asiatischen Kernland – stattgefunden haben könnten. Eine weitergehende Analyse der Denisova-DNA ergab im Jahr 2012 unter anderem, dass Allele nachgewiesen werden konnten, „die bei heute lebenden Menschen verbunden sind mit dunkler Haut, braunem Haar und braunen Augen“. Ferner gelang es, Teile der von Vater und Mutter stammenden Erbanlagen getrennt auszuwerten. Hieraus wurde auf ein sehr geringes Ausmaß von nur 0,022 % an Heterozygotie geschlossen; dies entspricht „annähernd 20 % des Wertes von heutigen Afrikanern, rund 26 bis 33 % heutiger Eurasiern und 36 % bei den Karitiana, einer in Brasilien lebenden indigenen Population mit extrem niedriger Heterozygotie“. Eine bei den Inuit von Grönland nachgewiesene Anpassung, die es ihnen ermöglicht, Fett besser zu verwerten und leichter in Körperwärme umzuwandeln als dies den Menschen anderer heutiger Populationen möglich ist, wurde 2016 als mögliche Introgression interpretiert. Die Interpretation der Befunde aus Neandertaler-DNA als Genfluss von Neandertalern zu Homo sapiens wurde 2012 allerdings anhand von Modellrechnungen wiederholt kritisiert: Die größere Übereinstimmung des Genoms der außer-afrikanischen Populationen von Homo sapiens mit dem Genom der Neandertaler könne auch dadurch erklärt werden, dass zufälligerweise eine Population des Homo sapiens Afrika verlassen habe, die noch eine besonders große genetische Ähnlichkeit mit dem gemeinsamen Vorfahren der anatomisch modernen Menschen und der Neandertaler hatte. Diese Einwände sind auf die Denisova-Menschen übertragbar. Im Februar 2020 wurde eine Studie publiziert, der zufolge es bereits vor 600.000 Jahren zum Genfluss von einer bislang nicht identifizierten, archaischen Homo-Population zu den gemeinsamen Vorfahren von Neandertalern und Denisova-Menschen gekommen ist, deren genetische Marker heute – infolge von späteren Genfluss zu Homo sapiens – auch beim anatomisch modernen Menschen nachweisbar sind. Morphologie und DNA der Backenzähne Der im Jahr 2000 entdeckte, fast vollständig erhaltene Backenzahn (ein Molar M3 oder M2 aus dem linken Bereich eines Oberkiefers) wurde 2010 aufgrund seiner mtDNA ebenfalls den Denisova-Menschen zugeordnet, jedoch einem anderen Individuum als der Fingerknochen. Der Zahn ist außergewöhnlich groß, größer als die Backenzähne der Neandertaler und des anatomisch modernen Menschen: mesiodistal (von vorn nach hinten) 13,1 mm, bukkolingual 14,7 mm (von außen nach innen; bei Homo sapiens: mesiodistal ca. 10–10,5 mm; bukkolingual ca. 9,5–10 mm). Sollte es ein Molar M2 sein, wäre er ähnlich groß wie der entsprechende Backenzahn von Homo erectus und Homo habilis; sollte es ein Molar M3 sein, wäre er ähnlich groß wie der entsprechende Backenzahn von Homo habilis oder Homo rudolfensis und vergleichbar dem Molar M3 eines Australopithecus. Ähnlichkeiten mit Zahnfunden mittelpleistozäner Homininen aus China bestehen ebenfalls weder hinsichtlich der Größe noch der Form der Zahnkrone, und selbst die 350.000 bis 600.000 Jahre alten Zähne aus der Sima de los Huesos in Spanien weisen „modernere“ Merkmale auf. Die Morphologie des Zahnfundes unterstützt somit die aus der Analyse der mtDNA abgeleitete, relativ große genetische Distanz der Denisova-Fossilien zu anderen ähnlich alten Populationen der Gattung Homo. 2015 wurde der Fund eines zweiten Backenzahns (Denisova 8) bekannt gegeben und zugleich dessen Zellkern-DNA sowie seine mt-DNA mit den jeweiligen Daten des zunächst entdeckten Zahns (Denisova 4) verglichen. Der Oberkieferzahn Denisova 8 ist ebenfalls recht groß, stammt aber aus einer etwas tieferen Fundschicht als Denisova 4 und ist daher vermutlich älter als der zunächst entdeckte Zahn; Denisova 8 ist den Daten zufolge älter als 50.000 Jahre, Denisova 4 ist maximal 50.000 Jahre alt. Beide Zähne unterscheiden sich deutlich von allen bekannten Neandertaler-Funden und können künftig möglicherweise als Referenz für das Identifizieren von Denisova-Fossilien aus anderen Fundstellen dienen. Die Analyse der Zellkern-DNA von beiden Zähnen ergab eine enge genetische Nähe zur DNA aus den Zellkernen des Fingerknochens und bestätigte zudem die genetische Distanz der Fossilien zu den Neandertalern. Die gleichen Befunde ergaben sich aus der Analyse der mt-DNA beider Zähne, sodass nunmehr Belege für drei Individuen der Denisova-Menschen als gesichert gelten. Zudem belegt der Altersunterschied der Zähne die Existenz der Population über eine längere Zeitspanne. Morphologie und DNA des Zehenknochens Der 2011 erstmals beschriebene distale Zehenknochen stammt entweder von der 4. oder von der 5. (der kleinen) Zehe eines erwachsenen Individuums. Der Knochen ist auffallend lang und hat einen sehr kräftig gebauten, sehr breiten Schaft; das Verhältnis von großer Breite zu vergleichsweise geringer Höhe gleicht eher dem Verhältnis bei älteren pleistozänen als bei modernen Vertretern der Gattung Homo und übertrifft die entsprechenden Maße bei Neandertalern. Insgesamt wirken die Merkmale des Knochens daher altertümlich, einige Merkmale liegen jedoch in der Spannweite zwischen den Neandertalern und dem frühen modernen Menschen, heißt es in der wissenschaftlichen Beschreibung des Knochens. Die größte Ähnlichkeit bestehe zum Neandertaler-Fossil Shanidar-4 und zum Homo-sapiens-Fossil Tianyuan 1. Bereits 2011 war darauf hingewiesen worden, dass erst eine Analyse seines Genmaterials Klarheit über die stammesgeschichtliche Einordnung des Knochens geben könne. 2013 berichtete die Forschergruppe um Svante Pääbo, dass die DNA des Knochens zu 60 Prozent der eines Neandertalers entspreche. Ferner sei die DNA der jeweils homologen Chromosomen so weitgehend identisch, dass der Knochens vermutlich zum Kind von Cousin und Cousine ersten Grades gehörte. Zugleich wurde aus den Daten geschlossen, dass 0,5 bis 8 % der DNA des Denisova-Menschen vor rund 300.000 Jahren von einer bislang unbekannten Population der Gattung Homo ins Denisova-Genom eingebracht wurde; diese Population habe sich vor mehr als 1 Million Jahre von den gemeinsamen Vorfahren der Neandertaler, der Denisova-Menschen und der anatomisch modernen Menschen abgespaltet. Pääbo wurde für seine Arbeit auf dem Gebiet der evolutionären Genetik im Jahr 2022 der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin zuerkannt. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet der Denisova-Menschen ist aufgrund der wenigen bisher bekannt gewordenen Funde ungeklärt. In der im Dezember 2010 publizierten Studie wird jedoch erwähnt, dass diese Population möglicherweise „zu jener Zeit in großen Teilen von Ostasien lebte, als die Neandertaler in Europa und im westlichen Asien anwesend waren“. Diese Mutmaßung wurde zum einen aus dem Befund abgeleitet, dass es einen Genfluss zu den Vorfahren der Melanesier gegeben habe, der sich jedoch „wahrscheinlich nicht im südlichen Sibirien“ zugetragen habe. Zum anderen spricht die – im Vergleich mit dem Neandertaler – höhere genetische Variabilität für ein relativ großes Verbreitungsgebiet. Spurensuche in China Bereits seit 2008 unterhält das Team von Svante Pääbo in Peking ein Labor, in dem nach Fossilien-DNA aus chinesischen Beständen gesucht wird. Als Ergebnis dieser deutsch-chinesischen Kooperation wurde Anfang 2013 berichtet, dass das – vergleichbar mit den Denisova-Funden – rund 40.000 Jahre alte Homo-sapiens-Fossil Tianyuan 1 aus der Nähe von Peking keinen größeren Anteil an Neandertaler- oder Denisova-DNA aufweise als die heute in Nordchina lebenden Menschen. Aus anderen Fundstücken konnte bislang (Stand: Frühjahr 2019) jedoch keine weitere aDNA nachgewiesen werden. Die Besiedelung Ostasiens durch diese Population reicht möglicherweise zurück bis in die Zeit vor 300.000 Jahren. Im Juli 2011 bezeichneten es sowohl Chris Stringer als auch Milford H. Wolpoff als möglich, dass einige in China entdeckte Fossilien, die bislang weder eindeutig Homo erectus noch den anatomisch modernen Menschen zugeordnet werden konnten, den Denisova-Menschen zuzuschreiben seien; erwähnt wurden in diesem Zusammenhang der Dali-Mensch und der Jinniushan-Mensch. 2012 wies Chris Stringer weitergehend darauf hin, dass neben den Funden aus Dali und Jinniushan möglicherweise auch Funde aus Yunxian sowie aus Narmada in Indien den Denisova-Menschen zuzurechnen seien. Eine 2022 veröffentlichten Analyse des fossilen großen Backenzahns CA 673 kam zu dem Ergebnis, dass dieser Fund aufgrund zahlreicher innerer und äußerer Merkmale den Fossilien Denisova 4 und Denisova 8 sowie dem Fund Xujiayao 1 des sogenannten Xujiayao-Menschen ähnelt und daher den Denisova-Menschen zugeschrieben werden kann. Der Backenzahn war von Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald in einer chinesischen Apotheke erworben und 1957 von ihm als Holotypus einer neu eingeführten Art, „Hemanthropus peii“, ausgewiesen worden. Aufgrund seiner ungewöhnlichen Form war der Zahn, dessen Fundort in Südchina vermutet wird, in jüngerer Zeit als fossiler Vertreter der Orang-Utans interpretiert worden. Sollte dieser Zahn tatsächlich der früheste Fund eines Denisova-Menschen sein, hätte laut dem derzeit gültigen Regelwerk für die Zoologische Nomenklatur der 1957 eingeführte Artname (das Epitheton peii, ein Verweis auf Pei Wenzhong) Vorrang vor jüngeren Vorschlägen für einen Denisova-Artnamen. Zahnfund in Laos Im Dezember 2018 wurde in einer als Tam Ngu Hao 2 („Kobra-Höhle 2“) bezeichneten Fossilienlagerstätte in der Provinz Houaphan, nördliches Laos (20°12′41.5′′ Nord, 103°24′32.2′′ Ost), ein einzelner großer Backenzahn aus einem Unterkiefer geborgen, der in Kalkstein eingebettet war. Ihm wird ein Alter zwischen 164.000 und 131.000 Jahren zugeschrieben, und aufgrund seiner Merkmale wurde er als hominin klassifiziert. Dieser Zahn ist größer als der eines anatomisch modernen Menschen, hat eine komplexere Kaufläche als die Zähne von Homo erectus und besitzt Merkmale, die auf eine verwandtschaftliche Nähe zum Neandertaler hindeuten. Aufgrund diverser morphologischer Übereinstimmungen mit den Backenzähnen des Xiahe-Unterkiefers wurde der Zahn aus der Kobra-Höhle (Sammlungsnummer TNH2-1) im Mai 2022 zu den Denisova-Menschen gestellt. Es handelt sich dieser Interpretation zufolge um den ersten archäologischen Beleg für die Anwesenheit von Denisova-Menschen in Südostasien. Die Kaufläche des Zahns weist keine Abriebspuren auf, das heißt, der Zahn war noch nicht durchgebrochen und stammt folglich von einem Kind. Erstbesiedelung von Tibet Ein Vergleich der Denisova-DNA mit DNA-Proben heute lebender Tibeter und Han-Chinesen hatte 2014 Hinweise auf eine mögliche Introgression von Denisova-DNA in die DNA der Tibeter und in wesentlich geringerem Maße in die DNA der Han-Chinesen ergeben. Den Gen-Analysen zufolge wurde durch eine Variante des Gens EPAS1, die identisch mit einer sonst nur bei den Denisova-Menschen nachgewiesenen Variante sein soll, eine Anpassung der Tibeter bewirkt, die ihnen das Atmen in großen Höhen erleichtert. Im Mai 2019 wurde in der Fachzeitschrift Nature bekannt gegeben, dass ein bereits 1980 im Hochland von Tibet entdeckter, fossiler rechter Unterkiefer mit zwei gut erhaltenen, sehr großen Molaren M1 und M2 und mehreren vorderen Zähnen ohne Kronen den Denisova-Menschen zuzuschreiben ist. Hervorgehoben wurde, dass der Xiahe-Unterkiefer sich von Homo erectus-Unterkiefern unterscheide, aber Ähnlichkeiten mit den Xujiayao- und Xuchang-Fossilien sowie dem Fossil Penghu 1 von den Penghu-Inseln aufweise. Die Forscher äußerten in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass künftig – aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum Fund von Xiahe – weitere chinesische Urmenschen-Fossilien dem Denisova-Menschen zugeordnet werden können. Zwar konnten keine DNA-Proben aus dem Fossil gewonnen werden, wohl aber gelang es, Proteine aus Dentin zu analysieren, deren Aufbau sich als ähnlich den Nachweisen aus der Denissowa-Höhle erwies und eindeutig von modernen Proteinen unterscheidbar war. Das Ergebnis wurde von der Max-Planck-Gesellschaft, deren Experten den Unterkiefer gemeinsam mit chinesischen Forschern untersucht hatten, wie folgt kommentiert: „Unsere Proteinanalyse hat ergeben, dass der Xiahe-Unterkiefer zu einer Population gehörte, die eng mit den Denisova-Menschen aus der Denissowa-Höhle verwandt war.“ Die Uran-Thorium-Datierung der Kalkkrusten auf dem Unterkiefer ergab ein Alter von annähernd 160.000 Jahren, was das Fossil zum bisher ältesten bekannten Beleg für die Anwesenheit eines Vertreters der Hominini im Hochland von Tibet macht. Es ist zugleich das erste hominine Fossil, dessen Zugehörigkeit zu einer bestimmten Population einzig anhand einer Protein-Bestimmung nachgewiesen wurde. Die Forscher interpretierten den Fund als Beleg dafür, dass Denisova-Menschen das Hochland von Tibet im Mittelpleistozän besiedelt und sich dort erfolgreich an die Sauerstoff-Mangelversorgung angepasst haben, lange bevor die Region durch den anatomisch modernen Menschen besiedelt wurde. Der Unterkiefer war 1980 von einem Mönch in der Baishiya-Höhle auf 3280 Meter Höhe in Ganjia, Xiahe (Provinz Gansu, Volksrepublik China) entdeckt und von ihm dem 6. Gungthang Rinpoche des Klosters Labrang übergeben worden, der ihn der Lanzhou-Universität in Lanzhou übergab. Forscher der Lanzhou-Universität untersuchten das Fossil seit 2016 in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Bei Ausgrabungen in der Höhle wurden zudem Steinwerkzeuge und Tierknochen mit Schnittspuren geborgen. Genetische Spuren in Ozeanien Der Genfluss zu den Vorfahren der Melanesier und anderer Populationen in Ozeanien ereignete sich vermutlich unabhängig von jenem in Ostasien. Aufgrund von DNA-Fragmenten wurde sogar vermutet, dass zwei Linien der Denisova-Menschen, die sich vor über 300.000 Jahren getrennt haben, Erbgut an die Vorfahren der Papua weitergaben. Eine der beiden Denisova-Linien unterscheide sich von der anderen so sehr, dass es sich bei ihr um eine eigenständige Linie handeln könnte. Zudem legen die genetischen Spuren nahe, dass die Denisova-Menschen erst vor etwa 30.000 Jahren ausgestorben sind und dass die Introgression insbesondere zur Formung des Immunsystems der heute in der Region lebenden Menschen beigetragen hat. 2021 ergaben Untersuchungen der Genotypen ethnischer Gruppen auf den Philippinen für die Negrito-Volksgruppe der Ayta Magbukon den bisher höchsten Grad an Übereinstimmung mit dem Erbgut des Denisova-Menschen. Genetische Spuren in Spanien Als „verblüffend“ erwies sich Ende 2013 ein Befund aus einer Höhle (der Sima de los Huesos) im Norden von Spanien: Aus einem anhand der molekularen Uhr auf ein Alter von rund 400.000 Jahre geschätzten Oberschenkelknochen (Femur XIII) eines Homo heidelbergensis war es gelungen, mitochondriale DNA (mtDNA) zu gewinnen und zu sequenzieren. Diese mtDNA weist ein hohes Maß an Gemeinsamkeiten mit der mtDNA der Denisova-Menschen auf, woraus geschlossen wurde, dass die Population, zu welcher der ehemalige Besitzer des Knochens gehörte, 300.000 Jahre zuvor gemeinsame Vorfahren mit den Denisova-Menschen hatte. Der Leiter der mtDNA-Studie, Matthias Meyer, vermutete daher, dass die spanische Population des Homo heidelbergensis eine Vorfahren-Population besaß, „aus der später sowohl die Neandertaler als auch die Denisova-Menschen hervorgegangen sind“. Chris Stringer verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass die von spanischen Forschern als Homo antecessor bezeichneten Fossilien als mögliche Kandidaten für diese Vorfahren-Population infrage kommen könnten. Taxonomische Einordnung der Fossilien Die verwandtschaftliche (taxonomische) Einordnung der Fossilien ist ungeklärt. Die Funde wurden im Jahr 2010 von ihren Entdeckern zunächst neutral – nach dem Fundort – als „Denisova-Hominine“ bezeichnet. In einem Begleitartikel zu dieser Veröffentlichung der mtDNA-Analyse in Nature war der Evolutionsbiologe Eske Willerslev, Direktor des Centre for Ancient Genetics der Universität Kopenhagen, zitiert worden, der gleichfalls davon abriet, aus den gewonnenen Daten die Entdeckung einer neuen biologischen Art abzuleiten. Auch nach der Analyse der Zellkern-DNA im Jahr 2012 verzichteten die Forscher ausdrücklich auf eine Benennung gemäß den Vorgaben der internationalen Regeln für die Zoologische Nomenklatur und wählten stattdessen die Bezeichnung Denisovans und in deutschen Begleitveröffentlichungen Denisova-Mensch. Die Forscher lehnten es zudem ausdrücklich ab, Festlegungen zum Status des Neandertalers in Bezug auf den anatomisch modernen Menschen (Art versus Unterart) zu treffen. Sie beließen es stattdessen bei der Feststellung, die Denisova-Menschen seien eine „Schwestergruppe“ der Neandertaler. In seinem Buch Die Neandertaler und wir berichtete Svante Pääbo 2014, dass man zunächst die Bezeichnung „Homo altaiensis“ erwogen hatte; sie sei jedoch verworfen worden, weil es – wie im Fall von Neandertalern und anatomisch modernem Menschen – keine sicheren Kriterien für die Abgrenzung oder Zusammenführung dieser Arten gebe. Siehe auch Stammesgeschichte des Menschen Ausbreitung des Menschen Liste homininer Fossilien Literatur Johannes Krause, Qiaomei Fu, Jeffrey M. Good, Bence Viola, Michael V. Shunkov, Anatoli P. Derevianko, Svante Pääbo: The complete mitochondrial DNA genome of an unknown hominin from southern Siberia. In: Nature. Band 464, Nr. 7290, 2010, S. 894–897, doi:10.1038/nature08976, Volltext (PDF; 298 kB). David Reich, Richard E. Green, Martin Kircher, Johannes Krause, Nick Patterson, Eric Y. Durand, Bence Viola, Adrian W. Briggs, Udo Stenzel, Philip L. F. Johnson, Tomislav Maricic, Jeffrey M. Good, Tomas Marques-Bonet, Can Alkan, Qiaomei Fu, Swapan Mallick, Heng Li, Matthias Meyer, Evan E. Eichler, Mark Stoneking, Michael Richards, Sahra Talamo, Michael V. Shunkov, Anatoli P. Derevianko, Jean-Jacques Hublin, Janet Kelso, Montgomery Slatkin, Svante Pääbo: Genetic history of an archaic hominin group from Denisova Cave in Siberia. In: Nature. Band 468, Nr. 7327. London 2010, S. 1053–1060, doi:10.1038/nature09710, . Sriram Sankararaman, Swapan Mallick, Nick Patterson, David Reich: The Combined Landscape of Denisovan and Neanderthal Ancestry in Present-Day Humans. In: Cell. Band 26, Nr. 9, 2016, S. 1241–1247, doi:10.1016/j.cub.2016.03.037. David Gokhman et al.: Reconstructing Denisovan Anatomy Using DNA Methylation Maps. In: Cell. Band 179, Nr. 1, S. 180–192 (e10), 2019, doi:10.1016/j.cell.2019.08.035. – Besprechung auf nature.com vom 19. September 2019: First portrait of mysterious Denisovans drawn from DNA. Weblinks Siberia’s ancient ghost clan starts to surrender its secrets. Auf: nature.com vom 27. Februar 2019. Abbildungen des Tibet-Unterkiefers aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Aus seiner Beschreibung in Nature vom 1. Mai 2019. Einzelnachweise Hominines Fossil aus Asien Neandertaler Altai Ausgestorbener Primat
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https://de.wikipedia.org/wiki/Vibrio%20parahaemolyticus
Vibrio parahaemolyticus
Vibrio parahaemolyticus ist ein gramnegatives Bakterium aus der Gattung der Vibrionen. Die Zellen sind fakultativ anaerob, sie können mit und ohne Sauerstoff leben. Vibrio parahaemolyticus lebt im Meerwasser und kann bei Aufnahme in den menschlichen Verdauungstrakt zu bakterieller Gastroenteritis führen. Ein solcher Krankheitsausbruch in Japan führte 1951 zur Entdeckung des Erregers durch Fujino Tsunesaburō. Seit 1998 treten auch Erkrankungen in größerem Ausmaß in Nord- und Südamerika sowie Europa auf, als Infektionsquellen sind Fische und Meeresfrüchte von Bedeutung. Vibrio parahaemolyticus weist einen umfangreichen Bestand an Virulenzfaktoren auf, die bei der Infektion des menschlichen Wirtes eine Rolle spielen, sie sind immer noch Gegenstand der Forschung. Die Spezies umfasst sehr viele Bakterienstämme, die nach den in der Zelle enthaltenen Antigenen in Serotypen eingeteilt werden. Von den 76 bisher identifizierten Serotypen sind 12 pathogen, können also Krankheiten verursachen. Merkmale Erscheinungsbild Vibrio parahaemolyticus besitzt nicht die für die meisten Vertreter der Gattung Vibrio typische Zellform eines gekrümmten Stäbchens, sondern seine Zellen sehen lediglich stäbchenförmig aus. In der Gram-Färbung verhält er sich gramnegativ, wird also durch die verwendeten Farbstoffe rot angefärbt. Verursacht wird dies durch eine dünne Mureinschicht in der Zellwand. Überdauerungsformen wie Endosporen werden nicht gebildet. Er bewegt sich – ähnlich wie Vibrio cholerae – mit einer einzelnen Geißel an einem Ende des Zellleibs fort. In dieser Form – als swimmer cell („schwimmende Zelle“) bezeichnet – ist das Bakterium im natürlichen Habitat Meerwasser vorzufinden. Wenn sich die Viskosität des umgebenden Mediums erhöht, führt dies zu einer Abnahme der Geschwindigkeit, mit der sich die Geißel dreht. Als Folge bildet V. parahaemolyticus nun viele peritriche Flagellen aus und verändert sich zur sogenannten swarmer cell („schwärmende Zelle“). Diese Form bietet den Vorteil des Schwärmens über feste oder halbfeste Substrate. Die meisten Stämme besitzen eine Kapsel, die der Bakterienzellwand aufgelagert ist, und werden deshalb den K-Serogruppen zugeordnet, das K steht für Kapsel-Antigen. Wachstum und Stoffwechsel Vibrio parahaemolyticus ist fakultativ anaerob und kann sich also auch vermehren, wenn kein Sauerstoff vorhanden ist. Er ist Katalase-positiv und Oxidase-positiv, letzteres dient als Unterscheidungsmerkmal zu Vertretern der Enterobacteriaceae. Die Temperatur im natürlichen Lebensraum der Küstengewässer liegt bei 10–15 °C oder darüber. Eine Vermehrung in natürlichen Gewässern ist ab einem Temperaturbereich von 14–19 °C beobachtet worden, dies ist ein für die Monate April und Mai typischer Temperaturbereich. Bei niedrigeren Temperaturen lässt sich Vibrio parahaemolyticus nicht im Wasser nachweisen, sondern im Sediment. Viele der untersuchten Stämme wachsen optimal bei etwas höheren Temperaturen (20–30 °C), somit gehört V. parahaemolyticus zu den mesophilen Bakterien. Dies nutzt man, um ihn im Rahmen einer mikrobiologischen Untersuchung zu kultivieren. V. parahaemolyticus ist im Meerwasser beheimatet und ist daher halophil („salzliebend“). Folglich kann er in Nährmedien mit erhöhter Salzkonzentration kultiviert werden. Dabei wächst er in einem Medium, das bis zu 8 % Natriumchlorid (Kochsalz) enthält und benötigt für das Wachstum auch einen Mindestgehalt an Natriumchlorid. Dieser liegt bei 2–3 % und somit deutlich höher als der Kochsalzgehalt in gängigen Nährmedien, in denen er nicht kultiviert werden kann. Wie andere Vertreter seiner Gattung betreibt V. parahaemolyticus einen chemoorganotrophen und heterotrophen Stoffwechsel, er benutzt organische Verbindungen als Energiequelle und ebenso zum Aufbau zelleigener Stoffe. Sein Stoffwechsel ähnelt dem der Vertreter der Enterobacteriaceae, er kann mehrere Substrate in einer Gärung verwerten. So werden verschiedene Kohlenhydrate (z. B. Glucose, Arabinose, Mannose) und der Zuckeralkohol Mannitol fermentativ zu Säuren und anderen Produkten abgebaut. Außerdem besitzt er die Enzyme Ornithindecarboxylase (ODC) und Lysindecarboxylase (LDC), die die Abspaltung von Kohlenstoffdioxid bei den Aminosäuren Ornithin bzw. Lysin ermöglichen. Daher kann auch eine „Bunte Reihe“, die zur Unterscheidung der Enterobacteriaceae verwendet wird, für die Identifizierung von V. parahaemolyticus eingesetzt werden. Genetik Das Genom des Stammes Vibrio parahaemolyticus RIMD 2210633 (Serovar O3:K6) wurde im Jahr 2003 vollständig sequenziert. Der für die Untersuchung verwendete Bakterienstamm wurde 1996 aus einer Stuhlprobe eines Patienten mit Gastroenteritis in Osaka (Japan) isoliert. Die Genomgröße beträgt 5166 Kilobasenpaare (kb) und entspricht damit in etwa der Genomgröße von Escherichia coli. Es sind 4832 Proteine annotiert. Wie beim verwandten Choleraerreger verteilt sich auch das Genom von V. parahaemolyticus auf zwei zirkulären Chromosomen, was für Bakterien ungewöhnlich ist, da die meisten Bakterien nur ein einziges kovalent geschlossenes, ringförmiges Bakterienchromosom besitzen. Chromosom 1 von V. parahaemolyticus umfasst 3289 kb, während Chromosom 2 mit 1877 kb kleiner ausfällt. Bedingt durch die große Anzahl an Bakterienstämmen sind zurzeit (2014) noch mehr als 100 Genomprojekte in Arbeit, aber noch nicht abgeschlossen. Pathogenität Vibrio parahaemolyticus wird durch die Biostoffverordnung in Verbindung mit der TRBA (Technische Regeln für Biologische Arbeitsstoffe) 466 der Risikogruppe 2 zugeordnet. V. parahaemolyticus weist einen umfangreichen Bestand an Virulenzfaktoren auf, die es ihm erlauben, Menschen als Wirt zu besiedeln und Krankheiten zu verursachen. Üblicherweise erfolgt nach Aufnahme der Krankheitserreger in den Darm dort die Produktion von Toxinen durch die Bakterien. Die Pathogenität von V. parahaemolyticus beruht auf der Freisetzung eines Exotoxins, ähnlich wie dies auch bei Vibrio cholerae und dem Choleratoxin (CTX) der Fall ist. V. parahaemolyticus setzt ein thermostabiles Toxin mit hämolytischer Aktivität frei. Es wird auch mit der Abkürzung TDH bezeichnet, nach dem englischen thermostable direct hemolysin („thermostabiles, direktes Hämolysin“). Weiterhin findet sich noch die Bezeichnung Kanagawa-Toxin bzw. Kanagawa-Hämolysin, benannt nach dem sogenannten Kanagawa-Phänomen: 1968 wurden in der japanischen Präfektur Kanagawa Stämme von V. parahaemolyticus untersucht, die sowohl aus der Umwelt (z. B. Meerwasser) als auch von klinischen Proben isoliert wurden. Diese stammten von Patienten, die an einer durch V. parahaemolyticus hervorgerufenen Gastroenteritis erkrankt waren. Wurden die isolierten Stämme auf Blutagar mit hohem Kochsalzgehalt kultiviert, so zeigten die klinischen Isolate eine Hämolyse (eine β-Hämolyse), während dies bei den anderen Stämmen nicht der Fall war. Als Ursache für die hämolytische Aktivität wurde später das TDH erkannt. Ebenfalls wird ein weiteres Toxin gebildet, das thermolabile Hämolysin (TLH). Bei einer Infektion wirkt das Kanagawa-Toxin jedoch auch als Enterotoxin auf den menschlichen Darm. Die damit verbundenen Symptome sind die einer Gastroenteritis mit akutem Erbrechen, Durchfall und Bauchschmerz. Der Vorgang auf zellularer Ebene ist noch Gegenstand der Forschung, man nimmt eine ähnliche Wirkungsweise wie beim Choleratoxin an. Durch Veränderung des Ionenflusses erfolgt ein Verlust von Ionen aus den Darmepithelzellen und damit verbunden der Entzug von Wasser. Neben dem TDH setzt V. parahaemolyticus noch ein weiteres Exotoxin frei. Es wurde bei Stämmen gefunden, die das Kanagawa-Phänomen nicht verursachen, die aber ebenfalls Gastroenteritis hervorrufen. Dieses Toxin wird mit der Abkürzung TRH bezeichnet, nach dem englischen thermostable related hemolysin („thermostabiles, verwandtes Hämolysin“). Es ist „verwandt“ mit TDH, da beide Proteine zu mehr als 60 % gleich aufgebaut sind. Die meisten pathogenen Stämme produzieren entweder TDH oder TRH oder beide Toxine. Im Rahmen einer Untersuchung von 1990 an 214 aus klinischen Proben isolierten Stämmen konnte bei 52 % das zugehörige tdh-Gen, bei 24 % das trh-Gen und bei 11 % beide Gene nachgewiesen werden. Die Untersuchung erfolgte durch DNA-Hybridisierung mit Hilfe von Gensonden. In einer 9 Jahre später erfolgten Untersuchung mit Hilfe des empfindlicheren PCR-Verfahrens (Polymerase-Kettenreaktion) an 111 Isolaten wurden bei 16 % das tdh-Gen, bei 1 % das trh-Gen und bei 38 % beide Gene nachgewiesen. Allerdings umfassten die 111 Stämme auch Isolate aus der Umwelt und von Meeresfrüchten, die nicht unbedingt als pathogene Stämme anzusehen sind. Ein weiteres Exotoxin kommt bei allen Stämmen von V. parahaemolyticus vor und wird mit der Abkürzung TLH (oder nur TL) bezeichnet, nach dem englischen thermolabile hemolysin („thermolabiles Hämolysin“). Seine Wirkungsweise ist noch nicht geklärt. Die PCR-Untersuchung der 111 Isolate bestätigte das zugehörige tlh-Gen bei allen untersuchten Stämmen, unabhängig von ihrer Herkunft. Ein wichtiger Faktor für die Pathogenität von V. parahaemolyticus liegt darin begründet, dass diese Exotoxine nicht einfach freigesetzt werden und dann mehr oder weniger zufällig in die Zellen des Wirts gelangen, sondern dass sie gezielt eingebracht werden. Grundlage hierfür ist das Typ-III-Sekretionssystem (engl. Type III secretion system; als TTSS oder T3SS abgekürzt). Es handelt sich um eine Proteinstruktur, deren Verankerungsstelle Ähnlichkeit mit der von Flagellen hat. Sie wird aber als Transportsystem zur Sekretion von bakteriellen Proteinen in die Wirtszellen verwendet. Das T3SS besteht aus 20–30 Proteinen, die Basis des Typ-III-Sekretionssystems erstreckt sich über die innere und äußere Membran der Bakterienzelle, dann folgt ein Injektionsapparat, ähnlich der Nadel einer Spritze. Er dient als Leitungsrohr zwischen der Bakterienzelle und der eukaryotischen Wirtszelle (siehe Abbildung). Vibrio parahaemolyticus verfügt über zwei verschiedene Typ-III-Sekretionssysteme, wobei das als T3SS1 bezeichnete System dem T3SS in Yersinia-Arten ähnlich ist. Die im Genom für diese Proteinstrukturen codierenden Bereiche werden als Pathogenitätsinseln (PAI) bezeichnet. Hier haben genetische Untersuchungen ergeben, dass jedes der beiden Bakterienchromosomen jeweils eine Pathogenitätsinsel aufweist und die PAI, die T3SS1 codiert, bereits in einer Urform einer Bakterien-Art vorgekommen ist, so dass Bakterien aus verschiedenen Gattungen (Vibrio und Yersinia) einen ähnlichen Mechanismus der Pathogenität aufweisen. Auch andere Bakterien, die Gastroenteritis verursachen, besitzen als Virulenzfaktor ein Typ-III-Sekretionssystem. Es kommt bei Shigella- und Salmonella-Arten sowie bei den enteropathogenen Escherichia coli vor. Genetische Untersuchungen haben gezeigt, dass der näher verwandte Vibrio cholerae nicht über ein T3SS verfügt. Nachweise Die in der Lebensmittelmikrobiologie eingesetzten Untersuchungsmethoden für Vibrio cholerae und andere Vibrio-Arten sind durch die ISO 21872 und in den USA durch das Bacteriological Analytical Manual (BAM) der Food and Drug Administration (FDA) – der US-amerikanischen Behörde für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit – vorgeschrieben. Wie bei V. cholerae erfolgt nach der Anreicherung der Bakterien ein Ausstrich auf TCBS-Agar, hierbei erfolgt durch Vibrio parahaemolyticus jedoch keine Säurebildung, da er Saccharose nicht verwerten kann. Auf TCBS-Agar gewachsene Kolonien müssen zur Differenzierung der verschiedenen Vibrio-Arten noch weiter untersucht werden, z. B. durch biochemische Tests aus einer „Bunten Reihe“. Ein darauf basierendes Schnellbestimmungssystem im Miniaturformat (Analytical Profile Index) zur Bestimmung von Bakterien aus den Familien Enterobacteriaceae und Vibrionaceae ist kommerziell verfügbar. Alternativ ist die Bestätigungsanalytik mittels MALDI-TOF MS möglich. Falls notwendig, kann mit der isolierten V. parahaemolyticus-Kultur noch die Zuordnung zu den Serotypen erfolgen. Durch das gleichzeitige Auftreten von O-Antigenen und K-Antigenen ergibt sich theoretisch eine sehr große Anzahl an Serotypen, tatsächlich treten aber nur bestimmte Kombinationen (wie beispielsweise O3:K6) auf, so dass 76 Serovare bekannt sind. Die für die serologische Untersuchung benötigten Antikörper werden nur in Japan hergestellt, außerdem überdecken die K-Antigene die O-Antigene, so dass die Bestimmung der Serotypen nur an einem Referenzlabor durchgeführt wird. Der prinzipielle Ablauf gleicht dem Kauffmann-White-Schema zur Klassifizierung der Salmonella Serotypen. Bei klinischen Proben wird eher auf das Vorhandensein der Virulenzfaktoren geprüft. So ist für den Nachweis des Kanagawa-Hämolysins (TDH) der Teil des Genoms, in dem die Toxinbildung codiert ist, Ziel der Untersuchung. Der Nachweis erfolgt mit Hilfe des Multiplex PCR Verfahrens, dabei ist auch die gleichzeitige Unterscheidung von anderen Enterotoxinen, die Gastroenteritis verursachen, möglich. Auch für die Exotoxine TRH und TLH gibt es PCR-Verfahren, mit denen die zugehörigen trh– bzw. tlh-Gene identifiziert werden. Vorkommen und Ökologie Vibrio parahaemolyticus ist ein aquatisches Bakterium, er kommt also im Wasser vor, hauptsächlich im Meerwasser, hier sind vor allem die Brack- und Küstengewässer von Bedeutung. Dabei ist er beinahe weltweit verbreitet, in Küstengewässern von nahezu allen Temperaturbereichen. Im Gewässer von gemäßigten Klimazonen wird häufig ein jahreszeitlich bedingtes verstärktes Auftreten beobachtet – in den wärmeren Monaten. In den kälteren Monaten mit einer Wassertemperatur von 6–14 °C ist V. parahaemolyticus nicht im Wasser zu finden, sondern nur im Sediment, in dem er „überwintert“. Bei 14 °C wird er aus dem Bodenmaterial freigesetzt, angeheftet an Planktonbestandteile, und vermehrt sich dann zunehmend mit steigender Temperatur. Über das Plankton erfolgt eine Übertragung auf Fische und Krebstiere, von denen V. parahaemolyticus ebenfalls isoliert werden kann. Eine über mehrere Monate laufende Untersuchung in der Chesapeake Bay im Osten der USA zeigt, dass V. parahaemolyticus in den Wintermonaten im Gewässer nicht nachweisbar ist. Seine „Konzentration“ liegt unter der Nachweisgrenze, d. h., es sind zu wenige Zellen im Wasser vorhanden, um bei einer Keimzahlbestimmung ein Ergebnis zu erhalten. Im Temperaturbereich von 14–19 °C (ab Mitte April) ist er dann im natürlichen Gewässer nachweisbar. Deutliches Wachstum ist ab 20 °C (Anfang Juni) zu beobachten, er vermehrt sich dann zunehmend mit steigender Temperatur. Die höchste, im Rahmen der Untersuchung gemessene Wassertemperatur lag bei 31 °C (im Juli), hier wurden 340 Zellen von V. parahaemolyticus in 100 ml Wasser nachgewiesen. Im Sediment kann er sowohl in kälteren wie in wärmeren Monaten nachgewiesen werden, allerdings in den Wintermonaten in eher geringer Anzahl (weniger als 100 Zellen in 10 g Boden). Bei einer Wassertemperatur von mehr als 20 °C sind auch im Bodenmaterial mehr V. parahaemolyticus zu finden, etwa 300 Zellen/10 g Boden im Juni und bis zu 5700 Zellen/10 g Boden im Juli. Die höchsten Keimzahlen lassen sich auf und in Zooplankton nachweisen. Im Juli wurden zwischen 5,3 • 105 und 1,4 • 107 Zellen pro Gramm Plankton (Frischmasse) nachgewiesen. Die Oberfläche der Planktonbestandteile ist mit einer „Schleimschicht“ überzogen, in diesem Biofilm findet V. parahaemolyticus Stoffwechselprodukte anderer Organismen, die er selber als Nahrungsquelle nutzen kann. Durch das Wasser erfolgt auch die Übertragung auf den Menschen. Nicht oder unzureichend aufbereitetes Trinkwasser ist ein möglicher Grund für die Übertragung, genauso wie Lebensmittel, die mit kontaminiertem Wasser in Berührung gekommen sind, wie Fische und Meeresfrüchte. Besonders in Japan tritt V. parahaemolyticus als Verursacher von Gastroenteritis auf, was auf die Verzehrgewohnheiten zurückzuführen ist. Dort ist es üblich, Fische und Meeresfrüchte roh zu sich zu nehmen, beispielsweise als Sushi. Allerdings werden Krankheitsfälle durch V. parahaemolyticus weltweit dokumentiert, in den USA vor allem im Zusammenhang mit dem Verzehr von rohen Austern. Systematik Äußere Systematik Neben Vibrio cholerae (Erreger der Cholera) sind die Arten V. parahaemolyticus, V. vulnificus und V. alginolyticus von medizinischer Bedeutung. Innere Systematik Die Spezies umfasst mehr als 200 Bakterienstämme. Zu ihrer Unterscheidung erfolgt die Einteilung in Serotypen. In der Zellmorphologie von Vibrio parahaemolyticus ist eine Vielzahl von möglichen Antigenen begründet. Die Bezeichnung und Natur der Antigene erfolgt ähnlich wie bei dem Kauffmann-White-Schema: Die H-Antigene lassen sich auf die Flagellen (Geißeln) zurückführen, die O-Antigene (somatische Antigene) haben ihren Ursprung in den Lipopolysacchariden auf der Zelloberfläche und die K-Antigene in der Kapsel. F-Antigene (auf Fimbrien bzw. Pili zurückzuführen) sind bei V. parahaemolyticus nicht von Bedeutung. Alleine in seiner Kapsel wurden mehr als 70 unterschiedliche K-Antigene in verschiedenen Stämmen erkannt. Das H-Antigen ist bei allen Stämmen von V. parahaemolyticus gleich und daher für ihre Unterscheidung nicht von Bedeutung. Um die O-Antigene serologisch untersuchen zu können, müssen zuvor die K-Antigene durch eine Hitzebehandlung entfernt werden. Es existieren 12 unterschiedliche O-Serogruppen. Ein bestimmtes Antigen vom K-Typ kann in Kombination mit einem Antigen einer O-Gruppe vorliegen, durch diese Kombinationsmöglichkeiten kann es theoretisch zu sehr vielen verschiedenen Serotypen kommen, in der Praxis wurden bisher 76 Serotypen gefunden. Das Schema zur Unterscheidung der Serotypen von V. parahaemolyticus wurde 1963 von dem japanischen Mikrobiologen Riichi Sakazaki eingeführt. Pathogene Serotypen Nicht alle Serotypen sind pathogen, bisher (Stand 2011) wurden 12 pathogene Serotypen beschrieben. In den 1990er Jahren wurden hauptsächlich drei neue Serotypen als Verursacher von Gastroenteritis identifiziert: O3:K6, O4:K68 und O1:K untypeable (auch mit UT abgekürzt, nicht zu typisieren). Seit 1996 ist O3:K6 bezogen auf klinische Proben der am häufigsten identifizierte Serotyp. Um diesen Serotyp handelt es sich auch bei dem Stamm Vibrio parahaemolyticus RIMD 2210633, dessen Genom bereits vollständig sequenziert wurde und an dem zahlreiche genetische Untersuchungen zum Verständnis der Pathogenität durchgeführt wurden. Erkrankungen durch diesen Serotyp wurden seit 1995 in Japan dokumentiert, weitere Fälle traten ein Jahr später in Indien auf. Mittlerweile treten Krankheitsfälle durch den Serotyp O3:K6 weltweit auf. Der in Indien gefundene Serotyp lässt sich nicht von dem 1995 in Japan isolierten Serotyp unterscheiden, während es schon genetische Unterschiede zu den zwischen 1982 und 1993 isolierten Stämmen des Serotyp O3:K6 gibt. Es wird davon ausgegangen, dass es sich um einen einzelnen Stamm (einen Klon) handelt, der in Indien, Japan und Südostasien seit etwa 1995 vorherrschend ist. Dies wurde 2000 durch genetische Untersuchungen bestätigt. Epidemiologische Daten, die seitdem erhoben werden, zeigen, dass dieser spezielle Stamm auch bei Krankheitsausbrüchen an ganz anderen Orten nachweisbar ist (siehe Abschnitt Verbreitung). Er wird daher als pandemisch bezeichnet, mit Hinweis auf das erstmalige Auftreten auch als „post-1995 pandemischer Vibrio parahaemolyticus O3:K6“ (post-1995 pandemic Vibrio parahaemolyticus O3:K6). Um ihn besser mit anderen Stämmen vergleichen zu können, wurden folgende Merkmale definiert: Alle Stämme des in Asien ab 1995 aufgetretenen Serotyps O3:K6 besitzen das tdh-, jedoch nicht das trh-Gen. Somit können sie das „thermostabile, direkte Hämolysin“ (TDH) produzieren, das verantwortlich für das Kanagawa-Phänomen ist, sie werden auch als Kanagawa-Phänomen-positiv (abgekürzt KP-positiv) bezeichnet. Sie produzieren nicht das TRH-Toxin und auch nicht das Enzym Urease. Weiterhin wurde im Genom die toxRS-Sequenz analysiert, ein 1346 bp großer DNA-Abschnitt, der für phylogenetische Untersuchungen der Gattung Vibrio eingesetzt wird. Hier zeigt der neue Stamm eine Veränderung gegenüber Stämmen, die vor 1995 isoliert wurden, diese veränderte Sequenz wird daher als toxRS/new bezeichnet. Weiterhin ergaben Untersuchungen von 2000, dass der neue Stamm ein Plasmid aufweist. Es wird als pO3K6 bezeichnet, ist 8782 bp groß und besteht aus zehn offenen Leserahmen (ORF). Das Plasmid entspricht dem Genom eines Bakteriophagen (f237), mit dem Unterschied, dass der Phage nur einzelsträngige DNA beinhaltet. ORF Nummer 8 zeichnet sich durch die Besonderheit aus, keine Homologie zu bekannten Proteinen aufzuweisen. Bei V. parahaemolyticus ist ORF8 nur in den nach 1995 isolierten Stämmen zu finden. Mehrere, an Ausbrüchen außerhalb von Asien beteiligte V. parahaemolyticus ließen sich als „post-1995 pandemischer Vibrio parahaemolyticus O3:K6“ identifizieren. Allerdings wurden nach 1997 weitere Stämme entdeckt, die genau diesen Kriterien entsprechen, aber zu anderen Serotypen (O4:K68 und O1:KUT) gehören. Ein 2004 in Chile isolierter Stamm entsprach ebenfalls den Kriterien, gehörte allerdings zum Serotyp O4:K12. Das führte zu der Bezeichnung „pandemischer klonaler Komplex“ (pandemic clonal complex, VpPCC), verbunden mit der Annahme, dass sich diese Serotypen direkt aus dem pandemischen Serotyp O3:K6 entwickelt haben, durch Mutation der für die O- und K-Antigene codierenden Gene. Hingegen zeigen die 2004 in Spanien isolierten Stämme keine Zugehörigkeit zum VpPCC. Obwohl die dort gefundenen Serotypen O4:K11 und O4:KUT auch pathogen sind, unterscheiden sie sich genetisch deutlich vom neuen Serotyp O3:K6 und den anderen Vertretern. Weitere pathogene Serotypen, die bei Krankheitsausbrüchen isoliert wurden, sind O1:K25, O1:K41, O1:K56, O3:K75, O4:K8 und O5:KUT. Entdeckung Entdeckt wurde das Bakterium 1950 in Japan durch Fujino Tsunesaburō. In der Nähe der Stadt Osaka gab es einen Ausbruch einer „Lebensmittelvergiftung“ durch den Verzehr von Shirasu, einer kleinen halbgetrockneten Sardine. 272 Patienten waren von einer Gastroenteritis betroffen, 20 davon starben. Die daraufhin folgende Untersuchung des beteiligten Lebensmittels auf Toxine verlief erfolglos, so dass nun eine mikrobiologische Ursache in Betracht gezogen wurde. Fujino, Mediziner und Bakteriologe, untersuchte auf Shigellen und Salmonellen, die jedoch nicht nachweisbar waren. Daraufhin wurde das Filtrat einer Lebensmittelprobe in vivo an einem Meerschweinchen durch eine intraperitoneale Applikation getestet. Das Tier entwickelte eine Entzündung des Bauchfells (Peritonitis), bei deren weiterer Untersuchung immer noch keine Salmonellen oder Shigellen zu finden waren, aber andere gramnegative stäbchenförmige Bakterien. Es wurde versucht, diese durch Ausstrich auf Nährmedienplatten zu kultivieren – ohne Erfolg. Fujino wusste aus früheren Untersuchungen, dass manche Krankheitserreger nur in Versuchstieren zur Vermehrung gebracht werden konnten und injizierte Mäusen die unbekannten Bakterien. Nachdem die Tiere Krankheitssymptome entwickelt hatten, wurde ihr Aszites auf Blutagarplatten übertragen und bei 37 °C 10 Stunden lang inkubiert, woraufhin Kolonien erkennbar waren. Die Kolonien, die eine Hämolyse verursachten, wurden näher untersucht. Das Bakterium war durch eine polare Geißel zur aktiven Bewegung fähig. Jene ähnelte der von Vibrio cholerae, aber ein Test mit den dafür bekannten Antiseren verlief negativ. Auch die Form des Bakteriums war anders als bei den Vibrionen, die Krümmung fehlte. Somit entschloss sich Fujino das Bakterium als Pasteurella parahaemolytica zu klassifizieren, da es viele Übereinstimmungen mit Pasteurella haemolytica zeigte. 1956 ereignete sich in Yokohama ein ähnlicher Vorfall, nur gelang es diesmal, mehr über die Eigenschaften des Erregers der Gastroenteritis in Erfahrung zu bringen. Er war halophil („salzliebend“) und ließ sich auf Nährmedien kultivieren, die einen höheren Kochsalzgehalt aufwiesen. Dies führte bei mikrobiologischen Untersuchungen zum Einsatz von Nährmedien mit Natriumchlorid. Mit diesen Nährböden ließen sich nun auch Bakterien kultivieren, die im Zusammenhang mit Gastroenteritis standen, egal ob aus klinischen Proben oder verdächtigen Lebensmitteln. 1962 wurde die Beschreibung der Gattung Vibrio ergänzt, so dass Fujino Tsunesaburō et al. die Probe der Shirasu-Lebensmittelvergiftung erneut untersuchten und nun eine Übereinstimmung mit dem Genus Vibrio feststellten. Ein Jahr später untersuchte der japanische Mikrobiologe Riichi Sakazaki die Bakterien, die 1956 in Yokohama isoliert wurden und verglich sie mit dem Isolat von Fujino. Er konnte bestätigen, dass es sich um die gleiche Art handelt und schlug den neuen Namen Vibrio parahaemolyticus vor, der 1980 in der Approved Lists im International Journal of Systematic and Evolutionary Microbiology (IJSEM) publiziert wurde (siehe Systematik der Bakterien). Etymologie Der Gattungsname lässt sich auf vibro aus dem Lateinischen zurückführen, es bedeutet „sich schnell hin- und herbewegend“, „vibrierend“. Der Artname verweist auf die Fähigkeit des Bakteriums zur Hämolyse, darin findet sich der griechisch-lateinische Wortstamm haema für „Blut“ wieder, sowie lutikos aus dem Altgriechischen, was „etwas auflösen“ bedeutet. Die griechische Vorsilbe para heißt „neben“ und bezieht sich auf die Ähnlichkeit des ursprünglich als Pasteurella parahaemolytica bezeichneten Bakteriums zu Pasteurella haemolytica. Medizinische Bedeutung Verbreitung Infektionen mit Vibrio parahaemolyticus sind seit der Entdeckung des Krankheitserregers vor allem in Japan, Taiwan und Südostasien von Bedeutung. Erkrankungen durch den Serotyp O3:K6 wurden dort 1995 registriert, bei Japanern, die von einer Reise aus Indonesien zurückgekehrt waren. Weitere Fälle traten ein Jahr später in Indien auf, 50–80 % der in diesem Zusammenhang isolierten Stämme konnten als Serotyp O3:K6 identifiziert werden und lassen sich nicht von dem 1995 in Japan isolierten Serotyp unterscheiden (siehe Abschnitt Pathogene Serotypen). Weitere Nachweise auf anderen Kontinenten führten zu der Bezeichnung „post-1995 pandemischer Vibrio parahaemolyticus O3:K6“ (post-1995 pandemic Vibrio parahaemolyticus O3:K6). 1998 gab es eine Epidemie mit 416 Patienten, hauptsächlich in Texas, neben 12 weiteren Bundesstaaten der USA. Auch hier wurde der neue Serotyp O3:K6 in Stuhlproben erkrankter Personen nachgewiesen. 1998 ereignete sich noch ein weiterer Krankheitsausbruch, diesmal in Chile. Später stattfindende Untersuchungen an 20 klinischen Isolaten ergaben bei 19 Stämmen, dass es sich um den „post-1995 pandemischen Vibrio parahaemolyticus O3:K6“ handelt, ein Stamm wurde als Serotyp O1:K56 identifiziert. In Spanien wurde 1999 ein Ausbruch mit 64 Fällen verzeichnet, daran war jedoch hauptsächlich der Serotyp O4:K11 beteiligt. In Frankreich wurden im Zeitraum von 1997 bis 2004 mehrere Krankheitsausbrüche registriert. Von den aus diesem Zeitraum stammenden 13 klinischen Isolaten wurden fünf als neuer Serotyp O3:K6 identifiziert. 2004 kam es zu einer Epidemie in Chile, es waren etwa 1500 Personen betroffen. Von 24 Rektalabstrichen von Patienten wurden V. parahaemolyticus Stämme isoliert und näher charakterisiert. 18 Stämme gehörten dem neuen Serotyp O3:K6 an, vier weitere gehörten ebenfalls dem Serotyp O3:K6 an, wichen aber in einem untersuchten Merkmal von dem „post-1995 pandemischen Vibrio parahaemolyticus O3:K6“ ab. Zwei Stämme konnten als Serotyp O4:K12 identifiziert werden. Ein ebenfalls 2004 in Spanien stattfindender Ausbruch mit 80 Fällen ließ sich zum Teil auf den neuen Serotyp O3:K6 zurückführen. Außerdem wurde auch Serotyp O3:KUT nachgewiesen. Im gleichen Jahr wurden 42 Fälle in Mosambik registriert, die Mehrheit der isolierten Stämme wurde ebenfalls als neuer Serotyp O3:K6 bzw. als zum VpPCC gehörenden Serotyp O4:K68 identifiziert. Damit haben die pandemischen V. parahaemolyticus Stämme auch den afrikanischen Kontinent erreicht. Im Sommer 2013 gab es einen erneuten Ausbruch in den USA mit mehr als 100 Fällen. Eine Untersuchung von Wasserproben von Nordatlantik und Nordsee aus den Jahren 1958 bis 2011 legt einen Zusammenhang zwischen der Oberflächentemperatur des Meerwassers, der Vibrio-Konzentration und der Erkrankungsfälle nahe. Infektionsquellen Der bevorzugte Infektionsweg von Vibrio parahaemolyticus ist fäkal-oral, was oftmals durch den Verzehr von rohem oder ungenügend gekochten Fisch (oft bei Makrelen, Thunfischen, Sardinen, Aalen und Gerichten wie z. B. Sushi) und Meeresfrüchten (wie Krabben, Garnelen, Hummer, Tintenfische, Muscheln – insbesondere Austern) zustande kommt. Es kommt vor, dass sich Personen mit offenen Wunden der Haut durch Schwimmen im warmen Meerwasser Infektionen mit V. parahaemolyticus zuziehen. Infektionskrankheiten Das Resultat einer Infektion mit pathogenen Vibrio parahaemolyticus-Stämmen ist meist eine akute Gastroenteritis. Möglich sind allerdings auch oberflächliche Wundinfektionen oder Sepsis („Blutvergiftung“), diese sind aber selten. In Mitteleuropa kommt eine Infektion mit V. parahaemolyticus eher selten vor, Epidemien treten bevorzugt an Küstenregionen während der Sommer- und Herbstzeit auf, wenn die höheren Wassertemperaturen das Bakterienwachstum begünstigen. Nach einer Inkubationszeit von 8 bis 24 Stunden erfolgt eine wässrige Diarrhoe in Kombination mit Bauchschmerz, Übelkeit, Erbrechen und gelegentlichem Fieber. Die Symptome verschwinden für gewöhnlich nach 60–72 Stunden, können aber in Extremfällen, wie etwa bei immunschwachen Patienten, bis zu 10 Tagen bestehen bleiben. Auch Todesfälle kommen vor. Therapie Da die Infektion üblicherweise selbstlimitierend ist, wird von einer medikamentösen Therapie oft abgesehen. In schweren Fällen wird Elektrolyt- und Flüssigkeitsersatz über Infusionen gewährleistet. Als Antibiotikum der Wahl im Notfall eignet sich Doxycyclin oder Ciprofloxacin. Lebensmittelmikrobiologische Bedeutung Die vom Robert Koch-Institut herausgegebene Gesundheitsberichterstattung des Bundes erwähnt zwar Vibrio parahaemolyticus als Auslöser für lebensmittelbedingte Krankheiten. Gleichzeitig wird aber betont, dass Infektionen durch V. cholerae und V. parahaemolyticus in Deutschland sehr selten sind und meistens auf Auslandsreisen zurückzuführen sind. Fisch und andere Meerestiere kommen als Infektionsquellen in Frage, dies ist jedoch allenfalls bei importierten Lebensmitteln von Bedeutung. Da Fische und Meeresfrüchte mögliche Infektionsquellen sind, empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM e. V.) bei Seefisch aus wärmeren Regionen die Untersuchung auf Vibrionen. Falls pathogene Arten nachgewiesen werden, sind weitere Untersuchungen zum Toxinbildungsvermögen notwendig, da der Nachweis von V. parahaemolyticus an sich noch kein Risiko darstellt, weil in der Umwelt apathogene Stämme vorherrschen. In den USA ist V. parahaemolyticus die Hauptursache für durch Bakterien verursachte Diarrhoe nach dem Verzehr von Meeresfrüchten. 1997 und 1998 gab es mehrere Ausbrüche, die sich auf den Verzehr von rohen Austern zurückführen ließen. Gleiches gilt für den Krankheitsausbruch in Spanien von 1999 und in den USA von 2013, wobei dort auch roh verzehrte Muscheln beteiligt waren. Die Tiere filtern ihre Nahrung aus dem Wasser heraus, dabei reichern sich die im Wasser vorhandenen Bakterien in den Austern oder Muscheln an. In den warmen Sommermonaten sind bis zu 100 % der Tiere mit V. parahaemolyticus kontaminiert. Neben dem Verzehr roher Austern gibt es aber auch im Zusammenhang mit Krabben, Garnelen und Hummer sporadisch Krankheitsausbrüche. Da diese Meeresfrüchte in den USA üblicherweise gekocht gegessen werden, muss eine falsche Hygiene-Praxis die Ursache sein. Ähnliches gilt für den Krankheitsausbruch von 2004 in Spanien, bei dem gekochte Krabben als Infektionsquelle ausfindig gemacht wurden. Unterbrechung der Kühlkette, unzureichendes Erhitzen oder nachträgliche Kontamination kommen hier in Frage. Wenn die Gesamtheit aller verzehrten Nahrungsmittel erfasst wird, nimmt in Deutschland – wie insgesamt in der Europäischen Union – die Campylobacter-Enteritis den Spitzenplatz unter den registrierten, lebensmittelbedingten Erkrankungen ein, gefolgt von der Salmonellose. In den USA nimmt die durch Noroviren verursachte Gastroenteritis den Spitzenplatz ein, gefolgt von der Salmonellose. Davon unterscheidet sich die Lage in Japan beträchtlich. Infektionen durch V. parahaemolyticus sind dort die Hauptursache für lebensmittelbedingte Erkrankungen, 20–30 % der Fälle sind auf sie zurückzuführen. Obwohl im Alltagssprachgebrauch oft der Begriff „Lebensmittelvergiftung“ verwendet wird, trifft diese Bezeichnung nicht für V. parahaemolyticus zu. Bei einer Nahrungsmittelvergiftung (Intoxikation) enthalten die Lebensmittel bereits vor dem Verzehr die von den Mikroorganismen gebildeten Toxine und es ist nicht erforderlich, dass sich die Mikroorganismen im menschlichen Körper vermehren. Die durch V. parahaemolyticus verursachte Gastroenteritis ist eine Lebensmittelinfektion, der Mensch als Wirtsorganismus wird durch die pathogenen, im Nahrungsmittel enthaltenen Mikroorganismen infiziert. Daher sollte man zur Prophylaxe auf rohe oder unzureichend gegarte der als Infektionsquellen bekannten Lebensmittel verzichten. Wenn sie hingegen ausreichend erhitzt werden, so werden die darin enthaltenen V. parahaemolyticus abgetötet. Die CDC (Centers for Disease Control and Prevention, die Gesundheitsbehörde in den USA) schätzen, dass es dort etwa 4500 Fälle pro Jahr gibt. Um mehr gesicherte Daten zu erhalten, ist 2007 eine Meldepflicht für Infektionen mit V. parahaemolyticus und anderen Vibrio-Arten eingeführt worden. Für die Europäische Union wurde 2001 im Auftrag der Europäischen Kommission eine Stellungnahme des zuständigen wissenschaftlichen Komitees herausgegeben. Danach ist für die EU das Risiko für Infektionen durch V. parahaemolyticus als eher gering einzuschätzen, gleichwohl wird eine ungenügende Datenlage genannt. Die Ausweitung des internationalen Handels mit Fischen und Meeresfrüchten und eine Veränderung der Verzehrsgewohnheiten kann jedoch einen Anstieg der Infektionen in der EU verursachen. Basierend auf dieser Stellungnahme wird der Krankheitserreger nicht vom Netz für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der EU erfasst und fällt damit nicht unter eine Meldepflicht. Dies wird u. a. von französischen Wissenschaftlern des Institut Pasteur bemängelt. Auch eine mikrobiologische Überwachung der Aquakulturen, beispielsweise von Austern, auf V. parahaemolyticus ist nicht veranlasst worden. Allerdings wird an einem Impfstoff für die Fischzucht geforscht, der oral verabreicht werden kann. Neben den gesundheitlichen Auswirkungen ist ein Krankheitsausbruch auch mit wirtschaftlichen Folgen verbunden, da die Zucht- oder Fanggebiete von Austern und anderen Meeresfrüchten geschlossen werden, wie dies beispielsweise in Chile und den USA erfolgte. Literatur Weblinks Forschungsprojekt VibrioNet (englisch) Catharina Lüdeke: Vibrio parahämolyticus in Meeresfrüchten: Was bedingt seine Virulenz?, 16. Mai 2013, Food & Health Academy (SoSe 13), Uni Hamburg Lecture2Go Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Fragen und Antworten zu Vibrionen Einzelnachweise Vibrionales Vibrionales (Ordnung) Bakterium mit sequenziertem Genom Lebensmittelmikrobiologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rote%20Halle
Rote Halle
Die Rote Halle (), auch Rote Basilika, Serapistempel oder Tempel der ägyptischen Götter genannt, ist die Ruine eines 60 × 26 Meter großen Backsteingebäudes von über 20 Meter Höhe am Fuß des Akropolishügels von Pergamon, die von zwei Türmen flankiert wird und der ein Hof vorgelagert ist. Sie liegt in der heutigen Stadt Bergama in der türkischen Provinz İzmir, die auf dem Gebiet der antiken Unterstadt von Pergamon liegt. Das Gelände des dazugehörigen Komplexes hat etwa die Maße von 100 × 265 Meter und zählt damit zu den größten römischen Anlagen in Kleinasien. Die Gebäude wurden in römischer Zeit, wohl unter Kaiser Hadrian, errichtet als Tempel für ägyptische Götter, wahrscheinlich Isis und Serapis, vermutlich in Verbindung mit der kleinasiatischen Göttermutter Kybele. Auch als Ort der Kaiserverehrung wird es in Betracht gezogen. In byzantinischer Zeit wurde in die Halle eine dreischiffige Basilika mit einer Apsis an der Ostseite und Arkadenstellungen eingebaut, die Johannes oder Paulus geweiht war. Unter dem Vorhof fließt in zwei annähernd 200 Meter langen Tunneln der Selinus, der Stadtfluss von Pergamon. Diese Brücke von Pergamon genannte Flussüberbauung ist die längste bekannte ihrer Art in der Antike. Unter den Gebäuden befindet sich ein komplexes System unterirdischer Räume und Gänge, deren Funktion umstritten ist. Verschiedene Wasserbecken und -leitungen standen vermutlich mit zeremoniellen Handlungen bei der Verehrung der ägyptischen Götter im Zusammenhang. Anlage Die Rote Halle liegt am südlichen Fuß des Akropolishügels, eingebettet in das Straßensystem der Unterstadt und etwa 1,5 Kilometer östlich des Asklepieions. Nach dem Stadtplan Pergamons von Ulrike Wulf-Rheidt war die Unterstadt in Insulae von 92 × 92 Meter eingeteilt, die etwa in Nord-Süd-Richtung angelegt waren. Demnach hätte das Gelände der Roten Halle drei Insulae eingenommen. Am östlichen Ende stößt die Halle in spitzem Winkel auf das Raster der dort gelegenen, Nordost-Südwest orientierten römischen Stadterweiterung. Im Westen schließt sich das vermutete Forum an. Durch die umgebenden hohen Mauern war das Gebiet von der Umgebung abgeschottet und nicht in das Wegesystem eingebunden, da nach heutigem Forschungsstand nur Eingänge in der Westmauer existierten. Zum Gesamtkomplex (Temenos) gehört ein Vorhof im Westen, der von der Westseite, also wahrscheinlich vom Forum, betreten werden konnte und fast drei Viertel der Gesamtfläche einnimmt. Im Osten liegt das eigentliche Tempelgebäude, flankiert im Norden und Süden von zwei Rundbauten, zu denen jeweils ein weiterer, annähernd quadratischer Hof gehörte, der im Westen mit der Vorderfront des Tempels abschloss. Das Gesamtgelände war von einer Mauer umgeben, deren Verlauf im heutigen Stadtgebiet von Bergama teilweise noch zu erkennen ist. Mit den Maßen 100 × 265 Meter zählt der Komplex zu den größten römischen Anlagen in Kleinasien. Der heutige Zugang befindet sich an der Ostseite der Anlage in der Kınık Caddesi. Hof und Brücke Der Haupthof hat Maße von etwa 100 × 200 Meter. Mehr als zwei Drittel davon sind von modernen Gebäuden der Stadt Bergama überbaut. Man betrat den Hof durch eine mit Blendarkaden gegliederte Front an der Westseite. Von dieser bis zu 13 Meter hohen Eingangsfront ist ein Teil im Stadtgebiet, in der Mermer Direkler Caddesi, auf einer Länge von 46,5 Meter erhalten, auch auf Grund der Tatsache, dass moderne Gebäude daran angebaut wurden. In dieser Wand sind am Nordende eine Marmortürlaibung und der Ansatz eines Sturzes mit einer Breite von 2,70 Meter erkennbar. Ein weiterer Zugang lag mittig der Front, seine Breite wird unter Annahme einer Gesamtsymmetrie des Komplexes auf 10 Meter geschätzt. Die Außenwand war gegliedert durch Nischen, eingebaute Säulen mit korinthischen Kapitellen und Pfeilervorlagen aus weißem Marmor, von denen eine noch in situ vorhanden ist. Zur Anlage des Hofes musste über eine Länge von 200 Meter der Stadtfluss von Pergamon, Selinus (heute Bergama Çayı), mit einem doppelten Tonnengewölbe überbaut werden. Diese Brücke von Pergamon genannte Flussüberbauung ist noch in Funktion und ist die längste bekannte ihrer Art in der Antike. An den Seiten des Hofes lagen Säulenhallen (Portiken). In der Nord- und Südwand befanden sich je drei Exedren. Die östliche Portikus war deutlich höher als die anderen und hatte in der Mitte eine vorspringende Front mit einem Propylon, das den Eingang zum Tempel markierte. Durch diese Portikus gelangte man auch in die seitlichen Höfe, die ebenfalls von Portiken umgeben waren. Ihre Dächer wurden nicht von Säulen getragen, sondern von Atlanten, überlebensgroßen Skulpturen, in denen zum Teil ägyptische Götter dargestellt waren. Über die weitere Gestaltung des Haupthofs ist nichts bekannt. Dass Statuen aufgestellt waren, kann als sicher angenommen werden, ob es zusätzlich Gebäude oder Inschriften gab, ist nach gegenwärtigem Forschungsstand nicht zu entscheiden. Tempel Das Hauptgebäude hat die Maße von etwa 26 × 60 Meter und ist fast genau ost-westlich ausgerichtet. Seine rötlichen Ziegelsteine gaben dem Bauwerk seinen heutigen Namen. Bei den photogrammetrischen Aufnahmen, die 1974 und 1976 Manfred Stephani und Armin Grün in Zusammenarbeit mit dem Architekten Klaus Nohlen anfertigten, wurde eine Höhe der noch stehenden Wände von 20 Meter festgestellt. Da die Dachform des Gebäudes unbekannt ist, kann über seine ursprüngliche Höhe nur gemutmaßt werden. Den Eingang hinter dem Propylon und sechs marmornen Stufen bildete eine monumentale Tür von mindestens 7 Meter Breite und 14 Meter Höhe, die nach oben von einem Bogen abgeschlossen wurde. Nimmt man die 0,65 Meter tiefen und über 2 Meter breiten Mauervorsprünge an den Seiten der Türöffnung als Maß, so ergibt sich eine Türbreite von mehr als 11 Meter. Wie die Tür geöffnet wurde, bleibt unklar, da keinerlei Reste gefunden wurden, die eine sichere Aussage erlauben würden. Eine Bewegung auf Rollen wie beim Serapistempel in Ephesos kommt wegen der Größe nicht in Frage, möglicherweise blieb sie geschlossen und hatte eine kleinere Öffnung als Eingang. Die beiden mächtigen Türpfeiler waren hohl und konnten vom Souterrain aus bestiegen werden. Die Wände des Innenraums waren, ebenso wie die Außenhaut des Gebäudes, mit verschiedenfarbigem Marmor verkleidet. An der rechten Wand fanden sich Reste der Marmorverkleidung, in einiger Höhe sind Marmorpflöcke erkennbar, die der Aufhängung der Platten gedient haben könnten. Auch der Fußboden weist – im Westteil teilweise gut erhaltene – Reste eines Belags auf. Zu erkennen sind rötlicher Marmor aus Rhodos, grüner aus Indien und dunkler Stein, wahrscheinlich Granit, aus Ägypten. In der Eingangswand befindet sich rechts und links der Tür auf 2,70 Meter Höhe jeweils eine Nische mit einer Höhe von 6 Meter und einer Breite von 3,12 Meter. Fünf gleichartige Nischen sind im vorderen Teil der Längswände zu sehen. Die dazwischen liegenden Pfeiler haben eine Breite von 2,25 Meter, das Mauerwerk in den Nischen ist 2,55 Meter tief. Die dadurch gebildeten Bögen stellen die tragenden Elemente des Gebäudes dar. Genau über diesen fünf Nischen öffnen sich gleichartige Fenster in der Außenwand. Sie setzen sich, im Gegensatz zu den unteren Nischen, auch im hinteren, östlichen Teil der Seitenwände fort, in Form von je drei von außen sichtbaren Bögen. In der südöstlichen Ecke des Raumes sind zwei quadratische Säulenbasen erhalten, aus denen sich auf eine Reihe von sieben oder acht Säulen auf jeder Seite schließen lässt. Im Innenraum wurden zahlreiche Säulenreste gefunden. Etwa 2 Meter über den Nischenbögen ist in der Wand eine durchgehende Marmorrippe zu erkennen. Sie hat wohl, in Verbindung mit den Säulenreihen, einen etwa 3 Meter breiten Umgang getragen. Es wird vermutet, dass darauf eine weitere Säulenreihe stand. Somit wäre den Innenwänden eine doppelstöckige Portikus vorgelagert, deren Obergeschoss über zwei mächtige Treppenhäuser in den Ecken der Ostwand zu besteigen war. Ob der Umgang in der Eingangswand geschlossen war, ist nicht bekannt, allerdings wäre dann die Tür nicht zu öffnen gewesen, da sie über das Niveau der umlaufenden Marmorrippe hinausreichte. Das Aussehen der Ostwand lässt sich nicht rekonstruieren, da dort im Zuge des byzantinischen Umbaus zur Kirche eine Apsis eingebaut wurde. Da aber im hinteren Teil keinerlei Lichtöffnungen vorhanden waren, ist anzunehmen, dass die Rückwand Fenster enthielt. Aber auch eine Beleuchtung über Deckenfenster ist denkbar. Im Zuge der neueren Grabungen seit 2002, wobei auch Sondagen bis auf Fundamenttiefe von über sieben Meter unter dem Bodenniveau der Halle vorgenommen wurden, stellte Ulrich Mania fest, dass eine nach außen offene und überkuppelte Nische den östlichen Abschluss des Gebäudes bildete, die aber keinerlei Spuren einer Ausgestaltung zeigte. Er schließt daraus, dass die östliche Front der Roten Halle nie fertiggestellt wurde. In der Mitte des Raumes ist im Fußboden ein 0,22 Meter tiefes Wasserbecken eingelassen. Es beginnt etwa bei der vierten Nische, ist 5,20 Meter lang und war seitlich durch die Säulenreihen begrenzt. Etwa 2 Meter dahinter folgt ein 1,40 Meter langer und 1,37 Meter tiefer Graben, der mit ägyptischem Alabaster ausgekleidet ist. Von dort führt eine Wasserleitung bis vor die Eingangsstufen der Halle, sodass sicher angenommen werden kann, dass der Graben mit Wasser gefüllt war. Direkt daran schließt ein 1,50 Meter hohes und 8,82 Meter breites Podest an, auf dem sich nach 7,80 Meter ein zweiter Aufbau aus Bruchsteinen erhebt. Er ist quadratisch und hat eine Seitenlänge von 4,60 Meter. In seiner Mitte befindet sich eine Aussparung von 1,50 × 1,50 Meter mit der Tiefe 1,35 Meter. Sie war zur Aufnahme einer monumentalen Kultstatue bestimmt. Je nachdem, ob es sich um eine Sitz- oder eine Gewandstatue gehandelt hat, wird deren Höhe auf zwischen 10 und 20 Meter geschätzt. Diese Aussparung ist über eine Treppe nördlich des Podestes von unten erreichbar, was Salditt-Trappmann zur Annahme führt, dass die hohle Statue begehbar war und Priester von dort im Namen der Gottheit zur Gemeinde sprachen. Laut Brückener und Mania wurde allerdings der letzte Abschnitt des Ganges mit der Errichtung der Kultbildbasis wieder verschlossen, was diese Deutung ausschließt. Unter dem Podium liegt ein tonnengewölbter Raum, den Regina Salditt-Trappmann als Reservoir zum Schöpfen von symbolischem Nilwasser interpretiert, wie es in den Kulten der ägyptischen Götter Verwendung fand. Ulrich Mania stellt allerdings nach den Grabungsergebnissen von 2002/3 fest, dass der Raum wohl erst nach der Umwandlung zur Kirche als Zisterne genutzt wurde und auch das Wasserbecken vor dem Podium erst nachträglich eingebaut wurde. 1,85 Meter hinter dem Podium befindet sich ein christlicher Altar aus byzantinischer Zeit. Den heutigen Abschluss des Gebäudes nach Osten bildet die nachträglich eingebaute Apsis. Vom Dach des Gebäudes sind keine eindeutig zuzuordnenden Bauteile vorhanden, sodass sich über dessen Form nur Vermutungen anstellen lassen. Das Gewicht von mehreren Kreuzgewölben können die Säulen der inneren Portiken beziehungsweise die Arkaden, die beim Umbau zur Kirche an deren Stelle traten, nicht getragen haben. Salditt-Trappmann schlägt ein Tonnengewölbe vor, was aber von Klaus Nohlen abgelehnt wird. Ein solches ist bei der Flussüberbauung gewählt worden, wobei die Breite der Bögen mit 13 Meter etwa dem Abstand der Säulenreihen und damit dem Mittelschiff der Basilika entspricht. Basilika Beim Umbau zur christlichen Kirche wurde das Fußbodenniveau des Gebäudes um mindestens 2,47 Meter angehoben, erkennbar an zwei noch gut sichtbaren Fundamentstreifen. Die durch die Ausgrabung heute zu Tage liegenden Mauerzüge waren dadurch alle, bis auf den Altar, unter dem Boden verborgen. Auf diesen Fundamenten, etwa an der Stelle der Tragsäulen der antiken Portiken, wurden Arkadenreihen eingebaut, die die Cella in drei Schiffe teilten. Die Breite der Seitenschiffe beträgt dabei nur etwa ein Drittel des Mittelschiffs. A. Baratta beschrieb 1840 zwei Ordnungen von Granitsäulen, deren Schäfte Emporen stützten. Andreas David Mordtmann berichtete von seiner Reise nach Pergamon in den Jahren 1850 und 1854, dass er Mühe hatte, in das Innere der Kirche zu gelangen, da sie mit türkischen Wohnhäusern zugebaut war, und dass die Säulen nach Konstantinopel zur Verwendung in die Sultan-Ahmed-Moschee verbracht worden seien, was allerdings nicht belegbar ist. Die Ostwand wurde durch eine Apsis ersetzt, von der, im Gegensatz zu den Arkaden, heute noch Reste zu sehen sind. Im Bereich der Apsis sind Reste von Wandinkrustation zu erkennen. Von dort verlief auf den inneren Wänden des Mittelschiffs ein Rankenfries, das aus römischen Spolien bestand. Weitere Spuren der Innenausstattung sind Reste eines bemalten Verputzes, der Alabaster imitierte. In die Außenwände wurden im Osten, am Ende der Seitenschiffe, Türen gebrochen. Sie führten in den Raum zwischen Tempel und Rundbauten, der an dieser Stelle mit einem Kreuzgratgewölbe überkuppelt war und wohl als Pastophorium (Arbeitsraum der Priester) diente. Von diesen Gewölben zeugen Reste von Wandvorlagen und Abdrücke der Gewölbebögen. Ob sie zur Zeit des Umbaus schon bestanden oder erst errichtet wurden, ist nicht zu klären. Als Füllmaterial in der Bodenkonstruktion der angebauten Apsis sowie als Spolien verbaut in kleineren Bauten an der Außenwand fanden sich Fragmente der römischen Hallenarchitektur, was belegt, dass der Umbau zur Kirche mit einer vorherigen Zerstörung der paganen Architektur einherging. Rundbauten und Seitenhöfe Rechts und links des Tempelgebäudes befinden sich zwei monumentale Rundbauten, deren Funktion nicht geklärt ist, die jedoch vermutlich kultischen Zwecken gedient haben. Sockel für die vermutete Aufstellung von Götterbildern wurden nicht gefunden. Die Türme liegen auf der Höhe der Treppenhäuser und haben einen inneren Durchmesser von 12 Metern. Der Haupteingang befand sich auf der Westseite vom jeweils zugehörigen Säulenhof her. Er war 11,5 Meter hoch und schloss oben, ähnlich der Tempeltür, mit einem Bogen ab. Weitere Eingänge befanden sich auf der dem Tempel zugewandten Seite sowie gegenüber davon. In einer Höhe von rund 16 Metern setzen die Kuppeln an, die die Bauten überwölbten. Fenster sind in den Wänden nicht vorhanden, sodass anzunehmen ist, dass in der Kuppel eine Lichtöffnung vorhanden war. An der Außenseite sind Marmorreste erhalten sowie, etwas unterhalb des Kuppelansatzes, eine Marmorrippe, was annehmen lässt, dass auch die Türme mit Marmor verkleidet waren. Der Nordturm ist heute als Moschee in Gebrauch, der südliche wurde als Depot für die Ausgrabungen genutzt und in den Jahren 2006 bis 2009 vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) aufwändig restauriert, nachdem zuvor südlich davon ein neues Depot errichtet worden war. Seitlich der Halle und den beiden Rundbauten auf der Eingangsseite vorgelagert befand sich je ein Hof, der zur Süd- bzw. Nordseite von einer Mauer umgeben war. Weitere kleinere Höfe lagen an den Süd- und Nordseiten der Rundbauten, durch deren Umfassungsmauern der gesamte Komplex nach Süden, Osten und Norden abgeschlossen war. Auf den größeren Höfen seitlich des Hauptgebäudes fanden sich Reihen von Säulenbasen an den Süd-, Nord- und Ostseiten, sodass die Höfe, außer an der Westseite, von überdachten Säulenhallen umgeben waren. Die Westseite war vermutlich vom Haupthof durch eine Mauer abgegrenzt, von der allerdings keine Reste gesichert werden konnten. Einen kleinen Mauerrest an der nördlichen Außenecke der Tempelfront hält Salditt-Trappmann für einen möglichen Rest dieser Trennwand. An den Seitenwänden des Tempelgebäudes sind außen Sitzbänke angebaut, unterbrochen von gemauerten Postamenten. Darüber sind Marmorpflöcke erhalten, an denen die Balken für die Dachauflage des Umgangs befestigt waren. Die Funktion der dachtragenden Säulen übernahmen hier Doppelatlanten, von denen zahlreiche Fragmente in den Höfen gefunden wurden und einige hier aufgestellt sind. Es handelt sich um Rücken an Rücken aufgestellte Karyatiden, wobei eine Gestalt männlich und eine weiblich ist. Ihre Kleidung und Verzierung sind im ägyptisierenden Stil gehalten. Die weiblichen Figuren tragen ein bodenlanges Faltengewand und einen verzierten Brustlatz, die männlichen ein ebenso langes Gewand mit einem Rautenmuster, das Salditt-Trappmann als Netz interpretiert, wie es von Mumien bekannt ist. Die Haare werden bei beiden Figurentypen von einem Haarbeutel gehalten, vergleichbar dem ägyptischen Nemes-Kopftuch, liegen auf der Schulter und reichen bis zum Brustansatz. Die Figuren bestehen aus verschiedenen Marmorsorten, die unbekleideten Körperteile sind aus dunklem, die Kleidung aus hellem Marmor. Zapflöcher an den Körperteilen lassen erkennen, wie die Statuen zusammengesetzt waren. Im Inneren des Säulengevierts der Höfe lag jeweils ein von Ost nach West ausgerichtetes Wasserbecken, 5,6 Meter von den dem Tempel näherstehenden Säulenreihen entfernt, 11,5 × 2,5 Meter groß und 0,85 Meter tief. Die Becken hatten an den östlich und westlich liegenden Schmalseiten je zwei halbkreisförmige Ausbuchtungen, davor jeweils ein kleines Rundbecken von 1,75 m Durchmesser und gleicher Tiefe. Die Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts seit 2002 im Südhof brachten die Gewissheit, dass, wie vermutet, ein zweites weiter südlich gelegenes Becken vorhanden war. In seiner Verfüllung aus spätbyzantinischer bis moderner Zeit kamen zahlreiche weitere Fragmente der Stützfiguren sowie Marmorbauteile zu Tage. Am östlichen Abschluss des Beckens fanden sich Bauteile eines Marmoraufbaus. Sinterspuren lassen auf herabfließendes Wasser und damit auf Wasserspiele schließen, was den dekorativen Charakter der Bassins betont. In der Hofmitte wurde ein Fundament von 2,5 × 1,8 Meter aus Andesitblöcken ergraben, das wohl einen Marmorsockel trug. Unweit davon kam der Torso eines Löwen ans Licht. Spuren an seiner Seite legen den Schluss nahe, dass er eine Reiterin im Damensitz getragen hat. Durch den Vergleich mit einer Darstellung am Südfries des Pergamonaltars gilt eine Identifizierung der Figur als Kybele als wahrscheinlich. Mania nimmt an, dass die löwenreitende Kybele Bestandteil eines Monuments auf dem Sockel in der Mitte des Hofes war. Eine gemeinsame Verehrung von Kybele als Magna Mater zusammen mit ägyptischen Gottheiten ist auch von anderen römischen Orten bekannt. Unterirdische Anlage Unter dem Gelände des Tempels und der Seitenhöfe liegt ein komplexes System unterirdischer Räume und Verbindungsgänge. Zwischen dem östlichen Ende des Hauptgebäudes und dem südlichen Rundbau liegt ein Raum von 9 × 15 Meter mit einer Deckenhöhe von 4 Meter. Sein Kreuzgewölbe wird von 3 × 3 rechteckigen Säulen getragen, die eine Stärke von 2,50 × 1 Meter haben. Südlich des Rundturms liegt ein weiterer, größerer Raum mit den Maßen 13 × 15 Meter. Er besitzt 4 × 4 Säulen von etwas geringerer Stärke. Die Pfeiler bestehen aus 0,55–0,60 Meter hohen Blöcken, die oben von einem Kapitell abgeschlossen werden. Beide Räume haben einen Zugang im Westen durch je einen Gang, der etwa 8 Meter nach Westen führt. Dort treffen beide Wege auf einen Hauptgang, der von Süden nach Norden das gesamte Gelände des Tempels und mindestens des südlichen Hofes unterquert. Von ihm gehen Abzweigungen zu weiteren Ein- und Ausgängen des Tunnelsystems. Das Gangsystem hat Zugänge im Süden, von denen einer an der Außenwand des Tempels, auf der Höhe der dritten Nische, liegt und unter der Wand ins Tempelinnere führt. Ein spiegelbildliches Pendant unter der Nordwand konnte Mania ergraben. Aus dessen Zustand schloss er, dass dieser nie in Betrieb war. Ein zweiter Eingang war eine halbkreisförmige Rampe aus dem Inneren des Südturms, von wo aus der kleinere der beiden Räume und, über einen Verbindungsgang nach Westen, der nord-süd-gerichtete Hauptgang zugänglich waren. Als weitere Eingänge fand Ulrich Mania Treppen südlich und nördlich der Südrotunde, die in die beiden oben genannten Räume führten. Ein Tunnel führte vom Hauptgang in die mächtige Südecke der Tempel-Eingangsfront, durch die ein Schacht weiter bis aufs Dach des Gebäudes führte. Ein Gang zweigte vom System etwa auf Höhe der Tempelfront nach Süden ab. Er konnte nicht bis zum Ende verfolgt werden, möglicherweise führte er bis zum Fluss. Wiederum vom Hauptgang war über Gänge unter dem Innenraum des Tempels, die genau unter den späteren byzantinischen Einbauten lagen und deshalb nicht mehr nachgewiesen werden können, der Sockel und damit vielleicht das Innere der Statue begehbar. Ein zusätzlicher Eingang zu dem unterirdischen Komplex befindet sich direkt auf der Nordseite des Statuensockels. Alle Gänge haben eine Breite von mindestens 0,70 Meter und eine Höhe von etwa 2 Meter, waren also bequem begehbar. Die von Salditt-Trappmann aufgrund der Axialsymmetrie des Komplexes angenommenen entsprechenden unterirdischen Anlagen auf der Nordseite konnten bei Probegrabungen von Mania auf dem nördlichen Hof nicht nachgewiesen werden. Er erklärt dies mit einem wahrscheinlichen Geländeanstieg auf dieser Seite, der Substruktionsbauten wie im südlichen Teil nicht notwendig machte. Regina Salditt-Trappmann sieht in dem Tunnelsystem eine Unterwelt, in der der Uneingeweihte Initiationsriten zu absolvieren und zahlreiche Aufgaben zu lösen hatte, die ihn für den Kultdienst qualifizierten. Eine Bestätigung dafür sieht sie auch in einigen Nischen und farbigen Stuckresten, die sie als Reste von Malereien interpretiert, die den Prüfungen den angemessenen Hintergrund gaben. Robert A. Wild lehnt diese Deutung ab und sieht den Zweck des Gangsystems darin, den Priestern den Zugang zu allen Bereichen des Bezirks zu ermöglichen. Ulrich Mania stellte bei seinen Untersuchungen fest, dass das gesamte unterirdische Gangsystem wahrscheinlich nie in Betrieb war. Wasseranlagen Mehrere Becken, Gräben und Behältnisse weisen auf die Bedeutung von Wasser in den Zeremonien hin. Im Tempelinneren sind dies zunächst das große, flache Becken im Zentrum, dahinter der tiefe Graben und dessen Verbindung nach außen sowie eine unterirdische Zisterne unter dem Podium. Letztere hat eine Tiefe von 4 Meter und war nach Aussage von Salditt-Trappmann zur Zeit ihrer Untersuchungen, Ende der 1960er, noch im Sommer wie im Winter bis zu einer Höhe von 2 Meter mit Wasser gefüllt. Dazu kommen die zwei Becken in den Seitenhöfen. Sie nimmt an, dass die inneren Wasserbassins zu Reinigungs- und Tauchritualen verwendet wurden, gleichzeitig den westlichen, öffentlichen Teil des Tempels vom heiligen, östlichen trennten. Da der tiefere Graben, der ursprünglich mit ägyptischem Alabaster ausgekleidet war, über einen Zufluss von 0,45 Meter Breite und 1 Meter Höhe mit einer Wasserleitung verbunden war, die bis vor die Eingangsstufen des Gebäudes verfolgt werden konnte, hält Wild dieses Becken für eine Nachahmung des Nils. Durch stärkere Regenfälle in den Wintermonaten wurde der Graben phasenweise geflutet, womit die jährlich in Ägypten wiederkehrende Nilflut symbolisiert wurde, was Mania allerdings als technisch undurchführbar zurückweist. Das flache Becken wird als Reinigungsbecken gedeutet, wobei Wild wegen der geringen Tiefe vermutet, dass es nicht ständig gefüllt war, sondern dass in ihm die Initianden mit reinigendem Wasser besprengt wurden. Er nimmt außerdem weitere Becken seitlich des Statuenpodestes an, die aus der von oben zugänglichen Zisterne gefüllt wurden und ähnlichen Reinigungszwecken dienten. Bei den Becken in den Seitenhöfen gehen die Vermutungen von hauptsächlich dekorativen Zwecken aus. Darauf weisen auch Spuren von Springbrunnen hin, die Mania gefunden hat. Ulrich Mania hat in seinen Untersuchungen seit 2002 gezeigt, dass der tonnengewölbte Raum unter dem Podium, den Salditt-Trappmann und Wild als Zisterne im Zusammenhang mit den Kulthandlungen interpretierten, erst später zu diesem Zweck umgebaut worden ist. Die Ziegel an der Schöpföffnung belegen laut Mania eine Datierung in die Zeit des Umbaus zur spätantiken Basilika. Er konnte aber für das frühe Baustadium eine Verbindung mit dem Treppenhaus nördlich des Podiums zeigen, die beim Bau des Statuensockels wieder verschlossen wurde. Auch das flache Becken und der Graben westlich des Podiums sind demnach spätere Einbauten. Dies führt ihn zu dem Schluss, dass die unterirdischen Bauten der Roten Halle in keinem funktionalen Zusammenhang mit den Wasseranlagen standen. Letztere wurden Münzfunden zufolge noch Ende des 3. Jahrhunderts in Stand gehalten. Funktion Das Gesamtbild des Tempels weist keine Ähnlichkeiten mit klassischen römischen oder griechischen Tempelbauten auf. Dies führte in der Vergangenheit zu so verschiedenen Deutungsversuchen wie Bibliothek, Basilika, Palast bis zur Therme. Sowohl die Kolossalität als auch die Monumentalität deuten auf Ähnlichkeiten mit ägyptischen Sakralbauten, die allerdings im Gegensatz zur Roten Halle aus Stein, also dauerhafterem Material erbaut sind. Ziegel wurden in Ägypten nur bei vergänglichen, also beispielsweise Wohnbauten, verwendet. Nach heutigem Forschungsstand wird dennoch als sicher angenommen, dass der Tempel zumindest unter anderem ägyptischen Göttern gewidmet war. Als Beleg gilt die ägyptisierende Ausführung der Atlanten in den Seitenhöfen, wobei vor allem die Darstellung der nackten Körperteile durch dunklen Marmor und die ägyptischen Frisuren der Figuren angeführt werden. Weiterhin deutet die Verwendung von Wasserbecken sowohl im Tempelinneren als auch in den Seitenhöfen darauf hin. Auf dem Temenosgelände wurde ein kleiner Terrakottakopf der Isis mit Sonnenscheibe und Hörnern gefunden. Weitere Funde weisen auf schon früher in Pergamon existierende ägyptische Kulte hin. Dazu gehören eine Inschrift auf einem Marmoraltar, datiert auf das zweite vorchristliche Jahrhundert, die besagt: Σαράπετ ῎Ορκανος ἀνέθηκε (Orkanos widmete [dies] dem Serapis), sowie eine Inschrift, die nahe der armenischen Kirche in der Unterstadt gefunden wurde und beschreibt, dass Euphemos und Tullia Spandousa den Göttern Serapis, Isis, Harpokrates, Osiris, Apis Helios […] und den Dioskuren Statuen errichtet haben. Auf einem in Oxyrhynchos in Ägypten gefundenen Papyrus wird Isis als ἡ ἐν Περγάμῳ δεσπότις (die in Pergamon herrscht) bezeichnet. Helmut Koester vermutet, dass der Tempel und die beiden Rundbauten drei Göttern gewidmet waren, möglicherweise Isis, Serapis und Anubis. Salditt-Trappmann nimmt, wie Otfried Deubner, Serapis als Hauptgott des Tempels an, Wild sieht, auch auf Grund des gefundenen Isis-Kopfes, eher Isis als Hauptgöttin. Der erwähnte Fund eines Löwentorsos, der mit Kybele in Verbindung gebracht wird, weist darauf hin, dass auch eine gleichzeitige Verehrung dieser Göttin praktiziert wurde. Rieger hält auch eine zusätzliche Verwendung als Ort des Kaiserkults für möglich. Dirk Steuernagel veröffentlichte 2006 eine Rezension des Kolloquiumsbandes von Hoffmann und fasst dort zusammen, dass von einem eher breit angelegten Spektrum kultischer – und möglicherweise nicht nur kultischer – Funktionen der Roten Halle auszugehen ist. Bei der Frage, wem die spätere Kirche geweiht war, kann nur auf örtliche Überlieferung zurückgegriffen werden. Diese nennt zum einen Johannes, zum anderen Antipas. Nach einem Bericht von Ernst Curtius aus dem Jahr 1872 war beiden jeweils einer der Rundbauten zugeordnet. Auch die Frage, ob diese Kirche oder die Basilika auf der unteren Agora die älteste christliche Kirche des Ortes war, lässt sich gegenwärtig nicht klären. Durch den Vergleich mit dieser Kirche sowie derjenigen beim Gymnasium in Bezug auf Lage, Größe und Ausstattung ist aber zumindest feststellbar, dass die Kirche in der Roten Halle wohl eine Vorrangstellung am Ort hatte. Baugeschichte und Datierung Nachdem die Stadt Pergamon 133 v. Chr. mit dem Ende der Attaliden in römische Hand gefallen war, setzte nach einer Zeit der Stagnation im ersten nachchristlichen Jahrhundert eine rege Bautätigkeit ein. In dieser Zeit verlagerte sich, auch aus Platzgründen, der Mittelpunkt des Stadtlebens vom Burgberg in die Ebene, wo eine groß angelegte Neustadt entstand. Zwar wurden die Monumente der Akropolis weiter in Stand gehalten, aber die Konkurrenzsituation zum aufstrebenden Ephesos verlangte neue repräsentative Bauten. Auch das Vorrücken neuer Kulte, wie der Verehrung ägyptischer Götter, in Kleinasien führte zur Errichtung der Roten Halle. Eine Datierung in die Regierungszeit des römischen Kaisers Hadrian (117–138) wird heute allgemein als gesichert angenommen. Dass der Bau von Hadrian selbst in Auftrag gegeben wurde, scheint wahrscheinlich. Die Archäologin Katja Lembke erkennt in den ägyptisierenden Stützfiguren Parallelen zu Ausstattungselementen der Villa Adriana in Tivoli und damit zu den persönlichen Ägyptenerfahrungen des Kaisers. Sie sieht im Architekturkonzept Ähnlichkeiten mit weiteren Bauten des Kaisers wie dem Templum Pacis in Rom und der Hadriansbibliothek in Athen. Auch von der Bautypologie zieht sie Vergleiche zur Hadriansbibliothek und zur Staatsagora in Side, die aber keine Kultbauten darstellen. Anna-Katharina Rieger, Archäologin mit Schwerpunkt Antike Stadtforschung, stellt ebenfalls aufgrund von Vergleichen mit anderen Bauten fest, dass es sich bei der monolithischen Türschwelle des Haupttempels, bei in der Portikus gefundenen Figuralkapitellen sowie bei den Rundbauten um Gestaltungselemente handelt, die ab dem zweiten Jahrhundert für kaiserliche Bauwerke reserviert waren. Sie zieht dabei Parallelen zum Bauprogramm Hadrians in Athen und Alexandria. Eine Datierung des Kircheneinbaus in den Tempel ist weit schwieriger, da nur wenige eindeutig dem Kirchenbau zuzuordnenden Architekturteile zu identifizieren sind. Es erscheint jedoch unwahrscheinlich, dass der Bau vor dem Theodosius-Dekret von 435, das die Zerstörung der heidnischen Tempel forderte, errichtet worden ist. Durch den Vergleich mit anderen oströmischen Kirchenbauten auf bautypologischer Grundlage hat Klaus Rheidt den Umbau in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert. Der Kunsthistoriker Friedrich Wilhelm Deichmann stellt fest, dass die dreiseitig-polygonale Ummantelung der Apsis, die in der Roten Halle vorliegt, eine Eigenart der Konstantinopler Kirchenbauweise ist, die ebenfalls seit dem 5. Jahrhundert anzutreffen ist. Das Ende der Nutzung markieren Spuren einer Brandkatastrophe, wie Abplatzungen an Wandkonsolen, womöglich im Zusammenhang mit den Einfällen der Araber im 7. Jahrhundert, die letztlich die Aufgabe der Unterstadt und den Rückzug der Bewohner auf den Burgberg zur Folge hatten. Nachdem die Araber Anfang des 8. Jahrhunderts ihren Versuch einer Eroberung Konstantinopels aufgegeben hatten, wurde die Stadt wieder aufgebaut, die Kirchenruine stand noch bis zum endgültigen Einsturz im 13./14. Jahrhundert. Noch im 12. Jahrhundert beschreibt Georgios Kedrenos ihre Schönheit, über eine weitere Nutzung oder einen Wiederaufbau ist nichts bekannt. Forschungsgeschichte Pergamon war seit dem 19. Jahrhundert Ziel zahlreicher europäischer Forschungsreisender, die zumeist auch die Rote Halle beschrieben. 1809 veröffentlichte der französische Diplomat und Althistoriker Comte de Choiseul-Gouffier eine Grundrissskizze der Stadt, in der das Gebäude als Temple d'Esculape eingetragen war, und beschrieb die Reste des dem Evangelisten Johannes geweihten Kirchenbaus. Auch er berichtet von der Verbringung von Säulen nach Konstantinopel. Der estnische Archäologe Otto Magnus von Stackelberg sah 1811 noch Teile der geborstenen Granitsäulen in der Erde stecken, andere im Ort verbaut. Eine detaillierte Beschreibung lieferte 1826 der britische Geistliche Francis Vyvyan Jago Arundell. Er spricht von zwei Reihen von Säulen, die den Raum dreiteilen und die Frauentribünen in der Nähe der Fenster tragen. Einer der Rundbauten war mit Marmorstufen und Altarnische als Kirche in Gebrauch. Der französische Reisende Charles Texier lieferte 1838 eine Zeichnung der Roten Halle sowie ebenfalls einen Plan der Stadt und interpretierte ihre Umfassungsmauer als byzantinischen Palast. Nach Baratta 1840 und Mordtmann 1850 und 1854 folgte schließlich Curtius im Sommer 1871. Nachdem die Pergamon-Grabungen durch Carl Humann 1878 bis 1886 und Wilhelm Dörpfeld 1900 bis 1936 sich auf die hellenistischen Anlagen des Burgbergs konzentriert hatten, erstellte Paul Schazmann 1906 bis 1909 die erste detaillierte Baudokumentation der Roten Halle. Bei den Grabungen in den 1930er Jahren wurden zunächst die im Tempelinneren stehenden türkischen Wohnhäuser entfernt, 1936 erstellte darauf Oskar Ziegenaus eine Grundrissaufnahme. Dem folgten bald erste Restaurierungsbemühungen im Hauptgebäude, angeregt durch den damaligen Leiter des Museums von Bergama, Osman Bayatlı, fortgesetzt in den 1950er und 1960er Jahren im östlichen Bereich des Baus und an der östlichen Umfassungsmauer. In den 1970er Jahren entstanden photogrammetrische Aufnahmen durch Manfred Stephani und Klaus Nohlen, auf deren Grundlage, in Verbindung mit Ziegenaus' Dokumentationen, schließlich 2002 von Ulrich Mania und Corinna Brückener die Erforschung der Roten Halle als Projekt der Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts unter der Leitung von Adolf Hoffmann wieder aufgenommen wurde. Im Zuge dieser Arbeiten wurde durch Martin Bachmann von 2006 bis 2009 der stark einsturzgefährdete südliche Rundbau einer aufwändigen Restaurierung unterzogen. Dabei wurde zunächst im Süden des Turms ein neues Depot errichtet, in das die Fundstücke umgelagert wurden. Darauf wurde die stark gestörte Ostfassade mit Stahllamellen geschlossen, der Innenraum restauriert und die Kuppel erneuert und mit Blei gedeckt. Im nun für Besucher geöffneten Innenraum werden ausgewählte Objekte präsentiert. Die Grabungen durch Brückener und Mania seit 2002 wurden mit ihren vorläufigen Ergebnisse in einem Kolloquiumsband 2005 veröffentlicht. 2011 legte Mania eine Monographie vor, 2018 Brückener ihre Dissertation. Seit 2010 arbeitete das DAI in einem Anastilosis-Projekt daran, Teile der Karyatiden und der ursprünglichen marmornen Wandverkleidungen zu rekonstruieren. Im September 2012 konnte eine der tragenden Säulen probeweise aufgerichtet werden. Sie wurde unter Verwendung eines Originaltorsos von einem Steinmetz aus Bergama erstellt, ist über acht Meter hoch und stellt die ägyptische Göttin Sachmet dar. Die Restaurierung der Roten Halle wurde 2020 abgeschlossen. Literatur Regina Salditt-Trappmann: Tempel der ägyptischen Götter in Griechenland und an der Westküste Kleinasiens. Brill, Leiden 1970 bei GoogleBooks. Klaus Nohlen: The 'Red Hall' in Pergamon, in: Helmut Koester (Hrsg.), Pergamon. Citadel of the Gods. Archaeological Record, Literary Description and Religious Development (= Harvard Theological Studies 46). Harrisburg, Pa. 1998, ISBN 1-56338-261-X, S. 77–110. Wolfgang Radt: Pergamon. Geschichte und Bauten einer antiken Metropole. WBG, Darmstadt 1999, S. 200–209. Adolf Hoffmann (Hrsg.): Ägyptische Kulte und ihre Heiligtümer im Osten des Römischen Reiches. Internationales Kolloquium 5./6. September 2003 in Bergama (Türkei) (= Byzas 1). Ege Yayınları, Istanbul 2005, ISBN 975-807-105-X. Ulrich Mania: Die Rote Halle in Pergamon. Ausstattung und Funktion (= Pergamenische Forschungen 15). von Zabern, Mainz 2011, ISBN 978-3-8053-4203-2. Corinna Brückener: Die Rote Halle in Pergamon. Dissertation Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg, 2018 (Digitalisat). Weblinks Restaurierung eines römischen Großmonuments als Langfristaufgabe, Deutsches Archäologisches Institut (DAI) Ulrich Mania: Die Rote Halle in Pergamon. Untersuchungen zur Funktion und Ausstattung der Roten Halle in Pergamon, alte Seite an der Universität Bonn Einzelnachweise Pergamon Römischer Tempel in der Türkei Kuppelbauwerk Forschungsprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts Bauwerk in der Provinz Izmir Isis Tempel in Asien
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https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf%20J%C3%A4hrling
Rolf Jährling
Rolf Jährling (* 27. Oktober 1913 in Hamburg; † 5. Juli 1991 in Weidingen; vollständiger Name: Rudolf Wolfgang Jährling) war ein deutscher Architekt, Galerist und einer der ersten Förderer der rheinischen Avantgarde. 1949 gründete er in Wuppertal die Galerie Parnass, die mit der Galerie Schmela und der Galerie 22 in Düsseldorf sowie der Galerie Der Spiegel in Köln zu den wagemutigsten Galerien im Nachkriegsdeutschland zählte und in der Anfangszeit eng mit den Künstlerbewegungen Informel verbunden war. Die Galerie Parnass auf der Moltkestraße 67 in Wuppertal-Elberfeld, Sitz der Galerie von 1961 bis 1965, war Ort der ersten Happening- und Fluxus-Veranstaltungen auf deutschem Boden. Sie schrieb mit ihren spektakulären Medienkunst-Ereignissen und Ausstellungen während der beginnenden 1960er Jahre internationale Kunstgeschichte. In Nam June Paiks Einzelausstellung Exposition of Music – Electronic Television wurden 1963 die ersten Video-Objekte gezeigt, und beim 24-Stunden-Happening von 1965 erregten die Auftritte der nur mit einer durchsichtigen Cellophanfolie bekleideten Paik-Muse und Fluxus-Cellistin Charlotte Moorman großes Aufsehen. Leben und Wirken Vom Architekten zum Galeristen Rudolf Jährling wurde als Sohn des Lehrers Bruno Ferdinand Jährling in Hamburg geboren. Schon während seiner Schulzeit bewunderte er Walter Gropius und Le Corbusier. Nach dem Besuch der Realschule in Hamburg machte er 1933 sein Abitur an der Dürerschule in Dresden. Von 1933 bis 1935 studierte Jährling Architektur an der Technischen Hochschule Dresden, von 1935 bis 1936 an der Technischen Hochschule in Stuttgart und von 1936 bis 1939 bei Heinrich Tessenow, einem Lehrer von Albert Speer, an der Technischen Hochschule in Berlin, wo er den Abschluss als Diplom-Ingenieur erwarb. 1937 besuchte er zunächst die Weltausstellung in Paris, wo er zum ersten Mal ein Bild von Pablo Picasso – das für den spanischen Pavillon gemalte Bild Guernica – sowie Werke von Joan Miró sah. Der Besuch der nationalsozialistischen Propaganda-Ausstellung Entartete Kunst in München im selben Jahr brachte ihn noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mit der modernen Kunst in Berührung. 1939 war er in Berlin als Architekt mit dem Bau der Reichsautobahn beschäftigt, wurde 1941 als Pionier in die Armee einberufen und war in Russland und Südfrankreich im Einsatz. 1944 geriet er in Frankreich in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde. Galerie Parnass 1949–1965 Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft zog Rolf Jährling im September 1946 nach Wuppertal und ließ sich dort als Architekt nieder. Das Interesse an der modernen Kunst hatte er dem 1902 in Berlin geborenen Architekten Heinz Rasch, einem Mitarbeiter von Kurt Herberts, zu verdanken, der 1945 am Döppersberg 24 das „Studio für Neue Kunst“ eingerichtet hatte, wo bis 1953 rund 120 Einzelausstellungen lebender Künstler und Architekten gezeigt wurden. Die erste Nachkriegsweihnacht verbrachte Jährling mit dem Architekten und Maler Franz Krause in einem möblierten Zimmer eines dreistöckigen Hauses. Ein Freund, der Attaché an der Botschaft in Athen war, taufte sein Zimmer „Parnass drei Stockwerke hoch“, womit der Name seiner Galerie, der aber auch einen Bezug zum Pariser Montparnasse hat, geboren wurde. Im Januar 1949 gründete Jährling in seinem Architekturbüro In der Aue 30 a unter dem Dach eines halbzerstörten Lagerhauses die Galerie Parnass, deren Spektrum von Architektur, Plastik, Bühnenkunst, Fotografie bis hin zu Vorträgen, Diskussionen, Happenings und Musikvorführungen reichte. und setze sich für Künstlerinnen wie Helen Ashbee, Elfriede Luthe, Paula Modersohn-Becker, Claire Falkenstein, Lil Picard und Nele ein. 1950 zog die Galerie in das von Rolf Jährling erbaute Geschäftshaus an der Alten Freiheit 16–18 um. Das wohl erste Penthouse in Deutschland bot neben einem lichtdurchfluteten Ausstellungs- und Arbeitsraum im obersten Stockwerk eine promenadenartige Dachterrasse und eine eingebaute Studiobühne für verschiedene Inszenierungen. Im April 1950 wurde hier Jean-Paul Sartres Huit Clos (Geschlossene Gesellschaft) in der Regie von Paul Pörtner und im Februar 1952 Jean Cocteaus La voix humaine (Geliebte Stimme) aufgeführt. An der Alten Freiheit lernte Jährling 1954 seine spätere Frau Anneliese (geb. Schu, 1923–2010) kennen, eine promovierte Zahnärztin, die als Besucherin in seine Galerie kam. 1958 eröffnete er Galerieräume an der Gathe 83, zog 1959 mit der Galerie in die Morianstraße 14 und übernahm, als der Sammler Klaus Gebhard 1961 von Wuppertal nach München zog, dessen Villa Moltkestraße 67, wo er seine Galerie bis 1965 weiterführte. Erste Ausstellungen 1949–1956 Bei den ersten Ausstellungen stellte Rudolf Jährling, anfangs im Rahmen von Salonausstellungen, Werke von Künstlern der Klassische Moderne aus, darunter August Macke, Ernst Ludwig Kirchner, Gerhard Marcks, Oskar Schlemmer, Jean Cocteau, Paul Klee, Max Beckmann, Otto Dix und Lovis Corinth, gefolgt von Bildhauern und Malern seiner Generation. Das Ausstellungsprogramm zeigte abstrakte Kunst, insbesondere des Tachismus, der französischen École de Paris und des deutschen Informel. Wichtige Vertreter wie Francis Bott, Peter Brüning, Rolf Cavael, Karl Fred Dahmen, Albert Fürst, Hans Hartung, Gerhard Hoehme, Heinz Kreutz, André Lanskoy, Bernard Schultze, Emil Schumacher, Jaroslaw Serpan, Heinz Trökes, François Willi Wendt und WOLS sowie der Bildhauer Norbert Kricke stellten ab 1951 in der Galerie Parnass aus. Die Ausstellungen wurden stets von namhaften Kunstkritikern und -theoretikern eröffnet, darunter Pierre Restany, Franz Roh, Albert Schulze-Vellinghausen, John Anthony Thwaites, Eduard Trier oder der Düsseldorfer Galerist Jean-Pierre Wilhelm. 1951 fand in der Galerie Parnass die erste Le-Corbusier-Ausstellung in Deutschland statt und im darauf folgenden Jahr widmete Jährling dem Architekten Ludwig Mies van der Rohe eine Architektur-Ausstellung. 1952 reiste Jährling nach Paris, um den Kunsthändler Aimé Maeght, dessen Galerie den Künstler Alexander Calder vertrat, zu treffen und ihm über seine Pläne für eine Ausstellung mit Werken Calders, dessen „Mobiles“ er aus einem alten Life-Magazin während seiner Kriegsgefangenschaft kennengelernt hatte, zu unterrichten. Maeght, gar nicht begeistert, fragte den ihm unbekannten Wuppertaler Galeristen, wie viel Geld er denn für die Ausstellung hinterlegen wolle, woraufhin Jährling ihm sagte, dass er kein Geld zur Verfügung habe, und Maeght daraufhin antwortete, dass dann daraus wohl nichts werden würde. Calder, der davon hörte, machte einen Riesenkrach und sorgte dafür, dass Jährling 16 „Mobiles“ aus Paris bekam, infolgedessen Rolf Jährling am 5. Juni 1952 die erste Einzelausstellung von Alexander Calder in Deutschland in den Räumen der Galerie Parnass eröffnen konnte. Ein Jahr später lernten sie sich bei den Darmstädter Gesprächen persönlich kennen, und Calder bat ihn, nach Roxbury in die USA, wo Calder mit Familie lebte, zu kommen. Das drei Monate dauernde Reiseprogramm wurde von Calder zusammengestellt, das Jährling unter anderem nutzte, um die US-amerikanische Architektur zu besichtigen. Mit der Hilfe von Wilhelm, der die Galerie 22 leitete, fand 1956 die Ausstellung Poème Objet statt. Sie enthielt Werke von etwa fünfzig Künstlern aus Deutschland und Frankreich. Diese Ausstellung der Galerie Parnass wurde zum ersten Brückenschlag von den der informellen Kunst zugrundeliegenden, abstrakten und surrealistischen Wurzeln, von Künstlern wie Hans Arp, Max Ernst und Raoul Ubac bis hin zur zeitgenössischen Avantgarde wie Peter Brüning, Albert Fürst, Winfred Gaul, Karl Otto Götz und Gerhard Hoehme. Kleines Sommerfest – Après John Cage 1962 Die stattliche Jugendstil-Villa des Sammlers Klaus Gebhard in der Moltkestraße 67 in Wuppertal-Elberfeld, die Rolf und Anneliese Jährling im Dezember 1961 bezogen, bot Platz für das Architekturbüro, die Galerie und eine Privatwohnung. Vermieter war der damalige Oberbürgermeister Heinz Frowein, der im Haus nebenan wohnte. Mit ihren geräumigen Zimmern vom Keller bis zum Speicher bildete die Villa den Ort für die ersten Prä-Fluxus-Veranstaltungen in Deutschland. Anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung von verschiedenen Bildhauern und Malern wurde am 9. Juni 1962 das Kleine Sommerfest – Après John Cage eröffnet, das zum Beginn für weitere Fluxus-Aktionen in der Galerie Parnass wurde. Die Idee zu diesem Sommerfest ging auf Jean Pierre Wilhelm von der Düsseldorfer Galerie 22 und Nam June Paik zurück, den Jährling ein Jahr zuvor bei Mary Bauermeister und Karlheinz Stockhausen in Köln kennengelernt hatte, wo Paik an dem Musiktheater Originale von Stockhausen mitwirkte. Etwa 100 Gäste nahmen teil. Aufgeführt wurden Konzert-Stücke von George Maciunas und Benjamin Patterson, zu denen Carlheinz Caspari, Jed Curtis, George Maciunas, Nam June Paik und Benjamin Patterson als Akteure auftraten. Auf den Treppenstufen der Eingangshalle der Villa waren ein Notenpult, Papierröhren, Kinderflöten und ein Kontrabass aufgebaut. Patterson spielte zum Beispiel das Stück Variationen für Kontrabass, indem er – so die Schilderung eines anwesenden Zeitungsreporters 1962 – „mit einem Bogen streicht, mit zwei Bogen streicht, ein Abschleppseil unter den Saiten durchzieht, mit Messer und Gabel, mit Hammer und Blechfolie Geräusche zustande bringt, dabei auch mal das Instrument auf den Kopf, mal sich am Boden neben das Instrument legt“, wobei Caspari, Regisseur am Theater am Dom, den Text Neo-Dada in den Vereinigten Staaten von Maciunas verlas, der als Vorab-Manifest von Fluxus gilt. Unter den Fluxus-Veranstaltungen nimmt dieses Konzert eine Schlüsselposition ein, da es der erste öffentliche Auftritt des amerikanischen Fluxus-Gründers George Maciunas in Deutschland war. Exposition of Music – Electronic Television 1963 Exposition of Music – Electronic Television Nam June Paik, 1963 Fotografie von Manfred Montwé Die Schaufensterpuppe in der Badewanne Link zum Bild (Bitte Urheberrechte beachten) Im März 1963 fand eine zweite Einzelausstellung in der Galerie Parnass statt, die Jährling dem südkoreanischen Künstler Nam June Paik angeboten hatte. Paik nahm sich zu deren Vorbereitung ein ganzes Jahr Zeit, um zwei Pianos sorgfältig zu präparieren. Die Ausstellung, seine erste eigene, lief unter dem Titel Exposition of Music – Electronic Television. In der Eingangstür der Villa hing ein an Kordeln aufgehängter abgehackter Ochsenkopf, der am Morgen blutfrisch vom Schlachthof angeliefert worden war und laut Paik als Teil eines schamanistischen Rituals zu verstehen gewesen sei, das der Besucher der Ausstellung zu durchlaufen habe. In der Eingangshalle standen vier mit verschiedenen Gebrauchsgegenständen und Stacheldraht präparierte Klaviere, von denen eines – ein Ibach-Piano – völlig unerwartet und überraschend für die Organisatoren und die Besucher der Ausstellung, in einer Piano-Aktion von Joseph Beuys, der, „gekleidet wie ein Pianist in dunkelgraues Flanell, schwarze Fliege und ohne Hut“, mit einer Axt und einem Paar Schuhe am Eröffnungsabend zertrümmert und traktiert worden war. In der Toilette hing ein umgekehrter Gipskopf, in der Badewanne des Badezimmers lag mit dem Kopf unter Wasser eine Schaufensterpuppe, und in der Diele luden Schallplatten-Schaschliks, Spieße, an denen verschiedene Schallplatten gleichzeitig abgespielt werden konnten, zu musikalischen Experimenten ein, währenddessen „im Heizungskeller blecherne Klangobjekte zu akustischem / interaktivem Handeln aufforderten.“ In einem Fernsehraum befanden sich dreizehn von Paik manipulierte Fernseher, die verzerrte Bilder, Raster oder Striche wiedergaben. Beuys erkannte als einer der ersten diese Ausstellung, die in der heutigen kunsthistorischen Forschung als Geburtsstunde der Videokunst gilt, als einen wichtigen Meilenstein für die Kunst und schrieb in einem Brief an Jährling, datiert vom 18. Mai 1963, dass er die „wunderbare Paiksache […] für eine historische Tat halte und wofür“ [er Jährling] „nochmals“ [seinen] „allergrößten Respekt zum Ausdruck bringen möchte.“ 9-Nein-Décollagen 1963 9-Nein-Décollagen Wolf Vostell, 1963 Fotografie Am Rangierbahnhof Wuppertal-Vohwinkel Link zum Bild (Bitte Urheberrechte beachten) Mit Wolf Vostell, der um 1962 regelmäßig die Ausstellungseröffnungen der Galerie Parnass besuchte, verabredete Rolf Jährling eine Ausstellung seiner Décollagen. Geplant wurde die Ausstellungseröffnung für den 14. September 1963, dabei sollte ein sechsstündiges Happening mit dem Titel 9-Nein-Décollagen stattfinden. Vostell plante, das Happening in Form einer vierstündigen Busreise zu neun verschiedenen Orten in Wuppertal zu veranstalten, und sah einen Einsatz von Polizeibeamten vor, um den vorgesehenen Aufprall zweier Dampflokomotiven auf einen Mercedes-Benz abzusichern. Zu diesem Vorhaben musste Rolf Jährling seine Kontakte zur Stadt Wuppertal einsetzen und schrieb einen Brief an seinen Rotary-Freund Friedrich Laemmerhold, den Präsidenten der Bundesbahndirektion Wuppertal, der das Happening auf einem stillgelegten Gelände der Deutschen Bundesbahn genehmigte. Da Vostell vorsah, dass alle Kreuzungen nur bei Rotlicht zu überqueren seien, setzte sich Wuppertals Oberbürgermeister Heinz Frowein für eine Begleitung der Bustour durch eine Polizeieskorte ein. Zudem wurden die Teilnehmer des Happenings – die Gäste – in dem Fabrikgebäude einer Weberei in einen spärlich beleuchteten Gitterkäfig gesperrt, ein künstlicher „Wachhund“ simulierte eine bedrohliche Lebenslage. Die Vostell-Ausstellung mit 71 Werken wurde, nachdem die erschöpften Gäste aus ihren Bussen ausgestiegen waren, um 22 Uhr eröffnet. Vostell, der seine Idee der Décollage zur Erinnerung an Auschwitz einsetzte, zeigte unter anderem erstmals seine Installation Zyklus Das schwarze Zimmer aus dem Jahr 1958, einen stockfinsteren Raum, in dem drei seiner Décollage-Assemblagen auf Sockeln platziert waren. Die einzigen Lichtquellen lieferten der am Fuß von Auschwitz-Scheinwerfer 568 angebrachte Scheinwerfer, ein Relikt aus ebendiesem Todeslager, sowie der in Deutscher Ausblick integrierte Fernseher. Treblinka, die dritte Assemblage, zeigte unter anderem einen Teil eines Motorrads, ein Transistorradio und einen Film, der in einer ausgeschlachteten Kamera gefunden worden war. Vorgartenausstellung 1964 Anfang 1964 fragte die Gruppe Kapitalistischer Realismus Jährling, „ob sie mal ihre Sachen zeigen könnten.“ Sie konnten, und wenig später standen die Mitglieder mit einem kleinen Lieferwagen mit Persenning vor der Haustür. Konrad Fischer-Lueg, Gerhard Richter, Sigmar Polke und Manfred Kuttner, damals noch Studenten an der Düsseldorfer Kunstakademie, hatten ihre teils großformatigen Arbeiten an die Hauswand und an die Bäume und Büsche des verschneiten Vorgartens gelehnt. Ihre eigentliche Ausstellung, unter dem Titel Neue Realisten, erhielten Gerhard Richter, Sigmar Polke und Konrad Lueg, jedoch ohne die Beteiligung von Manfred Kuttner, am 20. November 1964. Die Ausstellung umfasste großformatige Arbeiten wie den Bomber und den Hirsch von Richter, den Tennisspieler von Polke und den Fußballspieler von Konrad Lueg. Richters Arbeit Helen, als Diptychon konzipiert, wurde in einer Fassung gezeigt. Während der Ausstellung erhielt Gerhard Richter einen Auftrag der Sammlerin Fänn Schniewind, ihren Mann zu porträtieren. 24-Stunden-Happening 1965 Am 5. Juni 1965 fand, zu einer ungewöhnlichen Tageszeit, das um 0 Uhr beginnende und um 24 Uhr endende sogenannte 24-Stunden-Happening statt und übertraf an Intensität alle bisherigen Ereignisse der Galerie Parnass. Die Künstler Joseph Beuys, Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik, Eckart Rahn, Tomas Schmit und Wolf Vostell verteilten sich in die verschiedenen Räume der Villa, deren Grundriss auf dem Veranstaltungsplakat zu sehen ist – überall fanden verschiedene Aktionen statt. Wolf Vostells Aktion mit dem Titel Die Folgen der Notstandsgesetze bestand darin, dass er auf dem Boden lag und Stecknadeln in die neben ihm verteilt liegenden rohen Fleischstücke und Innereien steckte. Dann setzte er sich mit einer Gasmaske bekleidet in einen Glaskasten mit zerstäubtem Mehl und einem Staubsauger. In einem Käfiggestell aus Holzlatten saßen Studenten der Werkkunstschule Wuppertal, die mit Fleischstücken drapiert waren und an Fleischstücken kauten. 24-Stunden-Happening Joseph Beuys, Wenzel Beuys, 1965 Fotografie von Hanns Sohm Link zum Bild (Bitte Urheberrechte beachten) Joseph Beuys führte, als Einziger über die gesamte Länge von 24 Stunden, seine Aktion mit dem Titel und in uns … unter uns … landunter in einem etwa vierzig Quadratmeter großen Raum, „Atelier“ genannt, aus, wobei er mit minimalen Bewegungen auf einer Apfelsinenkiste, die mit einem weißen Wachstuch überzogen war, hockte oder lag. Zuweilen streckte er sich, ohne die Kiste zu verlassen, nach Objekten aus – unter anderem einem Tonbandgerät, Plattenspieler, Lautsprecher, einer Zinkkiste mit Fett, einem Wecker, zwei Stoppuhren und den kleinen Boxhandschuhen des Sohnes –, die zum Teil außerhalb seiner Reichweite lagen. Immer wieder hielt er seinen Kopf in einer Schwebesituation knapp über einen Fettkeil oder ließ seine Füße knapp über dem Boden schweben und nahm sporadisch einen der beiden von ihm hergestellten zweistieligen Spaten – Gemeinschaftsspaten –, die jeweils in ein Brett gerammt waren, und hielt diesen vor seine Weste. Bazon Brock, der Literat unter den Aktionisten, stellte unter anderem Alltagsgegenstände, die er im Haushalt der Jährlings gesammelt hatte, als Spuren des Lebens aus und stand kopf vor einer langsam rotierenden Scheibe, hinter der sich eine weitere, feststehende Scheibe befand, in deren Fenster alle 15 Minuten ein neuer Buchstabe erschien und wieder verschwand. Nach Ablauf der 24 Stunden bildeten die Buchstaben den Text „Nach experimentellen Ergebnissen tötet ein Gramm Kobragift 83 Hunde, 715 Ratten, 330 Kaninchen oder 134 Menschen“. Eckart Rahn musizierte mit Lautsprecher, Mikrofon, monoton gespielter Blockflöte und Kontrabass eine Art Geräuschmusik, und Thomas Schmit hatte in seiner Aktion ohne Publikum 24 Eimer im Kreis aufgestellt und beschäftigte sich damit, das vorhandene Wasser eines Wassereimers so lange umzuschütten, bis das vorhandene Wasser verschwunden war. Die Aktion wurde unterbrochen, sobald Publikum den Raum betrat. 24-Stunden-Happening Nam June Paik, Charlotte Moorman, 1965 Fotografie von Hanns Sohm Staatsgalerie Stuttgart Link zum Bild (Bitte Urheberrechte beachten) Größtes Aufsehen erzeugte das Konzert von Nam June Paik und Charlotte Moorman, die Stücke von John Cage, Morton Feldman, La Monte Young und Ludwig van Beethoven spielten. Moorman, die nur mit einem transparenten Cellophankleid bekleidet war und Cello spielte, tauchte ab und an in ein Wasserbad, um klatschnass weiterzuspielen, zerstörte einen Spiegel und strich wie in Trance über ihr Cello, um es im nächsten Moment zu traktieren. Nam June Paik schien währenddessen auf den Tasten seines Klaviers eingeschlafen zu sein. Am nächsten Morgen erlebte sein ferngesteuerter Roboter K-456, eine mannshohe Figur aus Holz und Draht mit weiblichen Merkmalen, auf der Moltkestraße in Robot Opera seinen ersten öffentlichen Auftritt in Europa. Er konnte sprechen, sich fortbewegen, den Kopf schütteln, seine Arme und Hände getrennt und – was Paik besonders wichtig war – seine Brüste einzeln bewegen, sogar verdauen, indem er Bohnen ausschied. Als erster nicht-menschlicher Aktionskünstler sollte er bei allen zukünftigen Straßenaktionen eingesetzt werden. Am folgenden Tag erschienen Eva und Joseph Beuys, um Rolf und Anneliese Jährling beim Aufräumen der Villa behilflich zu sein. Wolf Vostells Fleischstücke und Innereien, die im Garten herumlagen, wurden vergraben, und Stella Baum gab Jacutin-Fogetten mit, ein Räuchermittel gegen Vorratsschädlinge sowie sonstiges Ungeziefer wie Wanzen und Fliegen in Räumen. Da Rolf und Anneliese Jährling 1965 beschlossen hatten, mit einem VW-Bus durch Afrika zu reisen, verabschiedeten sie sich mit einem letzten rauschenden Fest und der Ankündigung, in Kenia ein Architekturbüro mit angeschlossener Galerie für europäisch-afrikanischen Kunstaustausch eröffnen zu wollen. Die seit 1949 bestehende Galerie Parnass löste Jährling, nach nunmehr fast 17 Jahren Galerietätigkeit, im September 1965 auf. Publikation „24 Stunden“ Der Galerist Rolf Jährling und Ute Klophaus, die das 24-Stunden-Happening fotografisch dokumentierte, wurden im Anschluss an dieses Happening von den Akteuren zu Mitautoren und Aktionsteilnehmern erklärt. Noch im selben Jahr erschien im Verlag Hansen & Hansen, Itzehoe-Vosskate, das von der Verlegerin Margot Hansen publizierte Buchobjekt 24 Stunden. Es enthält, teilweise auf zwei eingebundenen Leporellos, Fotografien von Ute Klophaus, Aufzeichnungen und Texte der Akteure, wie Das Mittelwort von Rolf Jährling, Charlotte Moormans cello, den Energieplan von Joseph Beuys und Pensée 1965 von Nam June Paik, der darin über Kybernetik und Drogen räsoniert sowie den Sieg der konzeptionellen Kunst über die populäre Massenkunst prophezeit. Bazon Brocks längerer Text über 24 Stunden Wuppertal 5. 6. 65 protokolliert Ereignisse und Empfindungen während der Aktion und bemerkt angesichts der Aufmerksamkeit: „bei Vostell 5 Leute, bei Beuys alle, bei mir keiner.“ Ferner schildert er, wie um die Mittagszeit „bis 13 Uhr“ „Wenzel“, der Sohn von Joseph Beuys, „so sichtbar als einziger“ sich seiner „erzählten Geschichte“ ausliefert. Zudem enthält das Buchobjekt über mehrere Seiten hinweg eine quadratische Ausstanzung im hinteren Teil, in dem ein mit Mehl gefülltes Plastiksäckchen von Wolf Vostell eingeklemmt ist. Entfernt man das Säckchen, so erscheint im nun freien Fenster der Zusatz: „beschäftigen/ sie sich/ 24 stunden/ mit mehl“. Afrika und die letzten Jahre Nachdem Rolf und Anneliese Jährling von 1965 bis 1966 zwölf afrikanische Länder in einem VW-Bus durchreist hatten, arbeitete Jährling in den Jahren 1968 bis 1974 in Addis Abeba als Architekt und „Planning Adviser“ bei der Wirtschaftskommission für Afrika für die Vereinten Nationen. Während dieser Zeit trug er gezielt äthiopische Volksmalerei zusammen. Er kaufte die Werke bei Händlern auf den Märkten, ohne dass es ihm in den meisten Fällen gelang, direkt mit den Künstlern in Kontakt zu treten. Arbeiten aus der Afrika-Sammlung Jährling waren 1979 auf der Ausstellung Moderne Kunst aus Afrika zu sehen, die aus Anlass des Festivals Horizonte – Festival der Weltkulturen bei den Berliner Festspielen erstmals Werke von Künstlern wie Cheri Samba, Twin Seven Seven und anderen zeigte. Der Einband des Romans Die dreizehnte Sonne von Daniachew Worku, erschienen 1981 bei Philipp Reclam jun. in Leipzig, wurde unter Verwendung des Gemäldes Leben und Arbeiten auf dem Lande von Tilahun Mammo aus der Sammlung Jährling gestaltet. In der gleichen Zeit begann Anneliese Jährling, die durch ihren Mann zur modernen Kunst gekommen war, in Addis Abeba in Häkeltechnik textile Skulpturen verschiedener Größe herzustellen. Im Dezember 1970 widmete das Goethe-Institut in Addis Abeba in seinem Gebäude den Häkelarbeiten eine erste Ausstellung unter dem Titel Tänzer. Die gedruckten Kataloge wurden sämtlich von Anneliese Jährling zugehäkelt. Nach seiner Rückkehr aus Addis Abeba im Jahre 1975 lebte Rolf Jährling bis zu seinem Tod 1991 zurückgezogen, jedoch mit wachem Interesse für die Kunst, in Weidingen in der Eifel. Anneliese Jährling zog nach dem Tod ihres Ehemanns zu ihrer Familie nach Köln, wo sie am 1. Juni 2010 verstarb. Seit 1994 befindet sich das Archiv der Galerie Parnass in den Beständen des Zentralarchivs des internationalen Kunsthandels. Sammlung Rolf und Anneliese Jährling Mit dem Jahr der Gründung der Galerie Parnass im Jahre 1949 begann auch die Sammlungstätigkeit Rolf Jährlings. Gemeinsam mit seiner Frau Anneliese Jährling wurden Werke von Alexander Calder, Emil Schumacher, Bernard Schultze, Heinz Trökes, Gerhard Hoehme, Peter Brüning, Heinz Kreutz, Raoul Ubac, Wolf Vostell und anderen erworben. Große Teile der Sammlung befinden sich heute im Von der Heydt-Museum in Wuppertal, so das Mobile/Stabile von Calder aus dem Jahr 1952, Schumachers Lichtes Feld von 1955, Schulzes In Memoriam Altdorfer, um 1949 entstanden, die Kleine Hymne an Blau von Hoehme aus dem Jahr 1956, ein Kruzifix von 1946 von Ubac oder Vostells Cobaleleda von 1958. Zudem sammelte das Paar Werke von Werner Schriefers, Johannes Geccelli und Hans Platschek. Die Afrika-Sammlung Jährling, die nach 1965 zusammengetragen wurde, enthielt Werke afrikanischer, vornehmlich äthiopischer Volkskunst. Rezeption Am 31. Mai 1982 fand die Ausstellung „Treffpunkt Parnass Wuppertal 1949–1965“ im Kunst- und Museumsverein Wuppertal im Von der Heydt-Museum statt. Sie war konzipiert als Hommage an die Arbeit der Galerie Parnass; zur Eröffnung erschienen neben vielen Besuchern einige Wegbegleiter, darunter Bazon Brock, Joseph Beuys und Nam June Paik, die schon beim 24-Stunden-Happening dabei gewesen waren. Im Frühjahr 2009 wiederholte das Von der Heydt-Museum seine Reminiszenz an die Galerie Parnass und würdigte die entscheidenden Impulse der Galerie für die Nachkriegszeit sowie das Engagement von Privatsammlern in der Ausstellung „Privat – Wuppertaler Sammler der Gegenwart“. Ausgestellt waren Werke aus der Sammlung von Rolf und Anneliese Jährling, hinzu kamen die Sammlungen von Stella und Gustav Adolf Baum, die Sammlungen von Jürgen und Hildegard Holze, Bazon Brock sowie von Hans-Georg Lobeck und Christian Boros. Werk Editionen Micro-Macro. acht Novographien von Heinz Trökes zu Dichtungen von Alain Bouquet, Galerie Edition Parnass, Wuppertal 1957 André Frénaud: Die Herberge Im Heiligtum und andere Gedichte, (deutsch von Paul Pörtner), Galerie Parnass, Wuppertal 1959 Will Grohmann: Alcopley – Voies et Traces No. 5, Galerie Panass, Wuppertal 1961 Armin Sandig: landstriche & seestücke. oder wie die natur mich nachahmt Fünf Radierungen mit einem Vorwort von Will Grohmann, Galerie Panass, Wuppertal 1962 Franz Roh: Metamorphosen. Gegenständliche Collagen. Katalog, Galerie Parnass, Wuppertal 1963 Wohnbauten 1949: Alte Freiheit 16–18, Wuppertal-Elberfeld; Geschäftshaus mit Penthouse, Sitz der Galerie Parnass von 1950 bis 1958 1953/54: Obere Lichtenplatzer Straße 263, Wuppertal-Lichtenplatz; Auftraggeber: Oberbürgermeister Hans Bremme 1957: Spessartweg 25, Wuppertal-Küllenhahn; Auftraggeber: Vereinigte Glanzstoff-Fabriken 1958: Funckstraße 13, Wuppertal-Brill; Erdgeschoßumgestaltung der 1891/92 von Heinrich Plange erbauten Villa Wolff 1960: Wittelsbacherstraße 31 a, Wuppertal-Lichtenplatz; Wohnhaus mit Garage, Auftraggeber: Vereinigte Glanzstoff-Fabriken Industriebauten und Bürohäuser 1958: Hatzfelder Straße 165, Wuppertal-Hatzfeld; Bürohaus, Auftraggeber: Ernst Pott, Maschinenfabrik 1960/61: Giebel 30, Beckamp Brotfabrik, Wuppertal-Varresbeck; mit Bürohaus, Werkstätten, Wohnhaus für Gastarbeiter 1962: Kolk 29, Autohaus Albert Zeisler, Wuppertal-Vohwinkel; mit 36 Meter Schaufensterfront Literatur 24 Stunden. Beuys, Brock, Jährling, Klophaus, Moorman, Paik, Rahn, Schmit, Vostell. Hansen & Hansen, Itzehoe-Voßkate, 1965. Helga Behn: Herzlich, Ihr Max. Künstlerpost aus den Beständen des ZADIK. Verlag für moderne Kunst Nürnberg, Hrsg. Zentralarchiv des Internationalen Kunsthandels e. V. ZADIK, Köln 2010, ISBN 978-3-86984-137-3 Bogomir Ecker, Annette Tietenberg (Hrsg.): »24 STUNDEN« in Fotografien von Bodo Niederprüm, Wunderhorn, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-88423-538-6 Gerhard Finckh, Antje Birthälmer (Hrsg.): »Privat«. Wuppertaler Sammler der Gegenwart im Von der Heydt-Museum. Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2009, ISBN 978-3-89202-073-8 Ruth Meyer-Kahrweg: Architekten, Bauingenieure, Baumeister, Bauträger und ihre Bauten im Wuppertal. Pies, Sprockhövel 2003, ISBN 3-928441-52-3 Sabine Schütz: Interview mit Rolf Jährling. In: Hans M. Schmidt, Klaus Honnef: Aus den Trümmern: Kunst und Kultur im Rheinland und Westfalen 1945–1952. Rheinland-Verlag, Köln 1985, ISBN 978-3-7927-0871-2, S. 505 Das Theater ist auf der Straße. Die Happenings von Wolf Vostell. Katalog des Museums Morsbroich, Leverkusen zur Ausstellung 2010. Kerber, Bielefeld 2010, ISBN 978-3-86678-431-4 Alfons W. Biermann: Treffpunkt Parnass Wuppertal, 1949–1965, Ausgabe 11 der Schriften des Rheinischen Museumsamtes, Rheinland-Verlag, 1980 Weblinks Rolf Jährling bei Kunstaspekte Brigitte Jacobs van Renswou: , Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels e. V. Frank Becker, Andreas Rehnolt: Mit Parnass fing alles an …, Musenblätter März 2009 Einzelnachweise Abbildungen Galerist Architekt (Wuppertal) Deutscher Geboren 1913 Gestorben 1991 Mann Äthiopisch-deutsche Beziehungen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Haus%20zur%20Goldenen%20Waage
Haus zur Goldenen Waage
Haus zur Goldenen Waage oder Haus zur Güldenen Waage steht für Haus zur Goldenen Waage (Aachen), ein mittelalterliches Haus in der Altstadt von Aachen Haus zur Goldenen Waage (Frankfurt am Main), ein mittelalterliches Haus in der Altstadt von Frankfurt Zur goldenen Waage (Quedlinburg), ein ehemaliges Gebäude in Quedlinburg
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heeby-Jeebies
Heeby-Jeebies
Heeby-Jeebies ist ein Rock-’n’-Roll-Song von Little Richard. Der über mehrere Aufnahmesessions von Februar bis Juli 1956 für Specialty Records entwickelte Song basierte ursprünglich auf Little Richards Chart-Debüt Tutti Frutti. Nach einigen Umarbeitungen wurde das Copyright aber auf die beiden Songwriter Maybelle Jackson und John Marascalco registriert. Heeby-Jeebies variiert im Aufbau das 12-taktige Bluesschema und erzählt von der Unruhe, von der Verliebte ergriffen werden können. Der Song wurde mehrfach auf Single, EP und LP in Amerika, Europa und Südafrika veröffentlicht. Außer einem Remix aus dem Jahr 1981 kamen von Little Richard nach der offiziellen Veröffentlichung keine Neuinterpretationen mehr hinzu, allerdings wurde der Titel 1959 von Larry Williams, 1963 von Kingsize Taylor und 1964 vom Australier Colin Cook gecovert. 1974 war Heeby-Jeebies Bestandteil eines Medleys im Live-Repertoire der Bluesrock-Band Cactus. Ab 1996 nahm sich die Neo-Rockabilly-Szene des Songs an und George Bedard & The Kingpins, die Boogiemen, Nick Curran, The Neatbeats, Hot Chickens und Mike Sanchez legten Aufnahmen vor. Es folgten 2014 Rock-Versionen der amerikanischen Band Isaac Rother & The Phantoms und der schwedischen Band Imperial State Electric. Keine der Coverversionen konnte Little Richards Original in die Charts folgen, wo seine Single im November 1956 den siebten Platz der amerikanischen R&B-Bestenliste des Billboard Magazins belegte. Entstehung Seit Ende 1955 war Little Richard beim kalifornischen Plattenlabel Specialty Records unter Vertrag. Seine in Cosimo Matassas J&M Studio in New Orleans aufgenommene Debütsingle Tutti Frutti war ein Charthit. Für die Aufnahme einer Folgesingle wurde am 9. Februar 1956 erneut das J&M-Studio gebucht und unter anderem eine erste Version des Titels Heeby-Jeebies-Love eingespielt. Den Sänger und Pianisten begleitete die Studio Band in der Besetzung Edgar Blanchard an der Gitarre, Frank Fields am Bass, Lee Allen am Tenorsaxophon, Alvin Tyler am Baritonsaxophon und Earl Palmer am Schlagzeug. Alle drei erhaltenen Takes waren Weiterentwicklungen von Tutti Frutti, dessen Intro- und Refrain-Melodie exakt übernommen wurde. Auch der bekannte Scat-Ruf „A-wop-bom-a-loo-mop-a-lomp-bom-bom!“ fand leicht abgewandelt als „Wop-bop-a-leema-lama-wop-bobba-loo!“ Verwendung. Der Label-Chef Art Rupe wählte aus der Februar-Session aber Long Tall Sally als nächste Single aus und die Aufnahmen von Heeby-Jeebies-Love wurden archiviert. Der Mississippi-stämmige Songwriter John Marascalco hörte Long Tall Sally im Radio und fuhr im März 1956 nach Los Angeles, um seine beiden Kompositionen Rip It Up und Ready Teddy Little Richards Produzenten Bumps Blackwell anzubieten. Beide Songs wurden am 9. Mai 1956 in New Orleans erstmals aufgenommen und bildeten zusammen als Little Richards dritte Single einen Doppelerfolg in den Charts. Bereits eine Woche später am 15. Mai kam Little Richard erneut ins Studio. Unter der Leitung von Bumps Blackwell und Art Rupe nahm der Sänger mit der Studio-Band eine überarbeitete Version von Heeby-Jeebies auf. Aus dieser Session sind drei vollständige Takes einer langsamen Version des Titels erhalten, dazu zwei kurz nach dem Start abgebrochene Versuche. Die Tutti-Frutti-Scat-Anleihe war dabei durch die neue Hookline „Bad luck baby put a jinx on me“ ersetzt worden. Als Autoren von Heeby-Jeebies werden in allen Veröffentlichungen John Marascalco und Maybelle Jackson genannt. Ab wann die beiden Songwriter in die Entwicklung des Songs mit welchem Anteil involviert waren, ist nicht überliefert. Art Rupe und Bumps Blackwell waren mit dem Ergebnis der Mai-Aufnahmen immer noch nicht zufrieden und setzten bei einer Aufnahmesession am 30. Juli 1956 Heeby-Jeebies erneut aufs Programm. Wieder war der Song deutlich überarbeitet worden: Der bisherige Refrain, der lediglich den Songtitel „Heeby-Jeebies“ mehrfach wiederholte, erhielt mit der Aufforderung „You gotta jump back, jump back…“ einen neuen Text, außerdem wurde die Geschwindigkeit deutlich erhöht. Außer Roy Montrell, der diesmal die Gitarre übernahm, spielten die gleichen Musiker wie am 15. Mai. Nach einem Test-Take wurde eine Version gefunden, die den Ansprüchen genügte und im Anschluss von Art Rupe für die Veröffentlichung auf Little Richards vierter Specialty-Single gemastert wurde. Little Richard erinnerte sich 1984 in der autorisierten Biografie von Charles White an eine Studiosession in Los Angeles am 6. September, bei der er mit seiner Live-Band The Upsetters unter anderem auch Heeby-Jeebies gespielt habe. Eine entsprechende Evidenz in der beigefügten Sessiongrafie findet sich allerdings nicht. Musikalischer Aufbau Der Grundaufbau der auf Single veröffentlichten Version von Heeby-Jeebies ist ein zwölftaktiger Blues, der in seiner Reinform im Refrain und beim Saxophon-Solo zu hören ist. Die funktionalen Akkorde lassen sich mit der Stufentheorie darstellen, wobei die erste Stufe der Tonika, die vierte Stufe der Subdominante und die fünfte Stufe der Dominante entspricht: ||  I   |  I  |  I  |  I  |  IV  |  IV  |  I  |  I  |  V  |  IV  |  I  |  I  || Beim Intro in Form einer ersten Strophe werden die ersten vier Takte Tonika durch die Hookline „Bad luck baby put the jinx on me“ auf zwei Takten Tonika ersetzt, welche den Refrain auch jeweils auf den letzten beiden Takten abschließt. ||  I  |  I  |  IV  |  IV  |  I  |  I  |  V  |  IV  |  I  |  I  || Die zweite und dritte Strophe besteht jeweils aus den ersten acht Takten des Bluesschemas, sind also um Dominante, Subdominante und Tonika verkürzt. ||  I   |  I  |  I  |  I  |  IV  |  IV  |  I  |  I  || Der Ablauf des Stückes sieht nach dem Intro einen Refrain und die zweite Strophe vor. Nach erneutem Refrain und dritter Strophe folgt ein weiterer Refrain und das Saxophon-Solo. Nun werden die Strophen zwei und drei jeweils mit einem anschließenden Refrain wiederholt. Inhalt Heeby-Jeebies ist einer aus einer langen Reihe von sich reimenden Song-Titel aus Little Richards Repertoire wie Tutti Frutti, Ready Teddy oder Good Golly Miss Molly. Der Song handelt von den Ängsten eines Verliebten um die Beziehung zu einem Mädchen. Die unsichere Situation bereitet ihm Unrast, Gänsehaut oder Unbehagen („Heeby-Jeebies“), die er auf einen Fluch („jinx“) des unglückseligen Mädchens („bad luck baby“) zurückführt. Kritiker verhandeln vor allem diese mit okkulten Bildern spielende Hookline des Songs: „Ein unglückseliges Mädchen hat mich verflucht“ („Bad luck baby put the jinx on me“). Dennis Drabelle findet, der Text wirke wie „Handkantenschläge“, während David Kirby in Anspielung auf den Reiz der unsicheren Beziehung vermutet, der „Fluch“ käme dem Protagonisten gar nicht ungelegen. Little Richards Specialty-Kollege Larry Williams zeigte sich während der Aufnahme seiner Version des Stücks über dessen Text verwundert und urteilte über die Zeile „If I can’t find my baby, then you know darn well, I’m gonna ring your door till I break your bell.“ aus der ersten Strophe: „Die Worte ergeben überhaupt keinen Sinn!“ („Those words don’t make no sense.“) Veröffentlichung Am 17. September 1956 wurde vom Specialty-Verlag Venice Music das Copyright bei der Library of Congress auf John Marascalco und Maybelle Jackson registriert. Der Song erschien am 1. Oktober 1956 zusammen mit She’s Got It auf der Single Specialty 584 im 7-Zoll- und Schellack-Format. Specialty Records ordnete den Songs einer Single zu dieser Zeit keine zu bevorzugende A- oder B-Seite zu, sondern überließ es dem Markt, welche der beiden Seiten einer Platte nachgefragt wurde. Noch im gleichen Jahr erschien die Single ebenfalls auf Vinyl und Schellack unter der Nummer 1188 bei der belgischen Plattenfirma Ronnex, in Kanada war Regency Records für den Vertrieb der Platte zuständig. Erst drei Jahre später, im November 1959, folgte die niederländische Artone Records mit Artone 24034 und im Folgejahr nochmals mit Artone 24149. Auch Specialty unterhielt eine Niederlassung in den Niederlanden und veröffentlichte Specialty 25.264 im Jahr 1965. Das Ausgabejahr der südafrikanischen Schellackversion bei London Records ist unbekannt. Eine britische Ausgabe des Songs erfolgte erst in den 1970er Jahren auf der britischen Specialty unter der Nummer 5015, auf der Heeby-Jeebies mit Long Tall Sally gekoppelt wurde. Auf EP erfolgte die Veröffentlichung in den Vereinigten Staaten 1958, als Little Richard Vol. 3 den Titel mit Boo Hoo Hoo Hoo, The Girl Can’t Help It und Send Me Some Lovin’ als Specialty EP-405 kombinierte. Eine in Großbritannien von London Records konzipierte EP mit dem Titel Little Richard and his Band und der Nummer 1071 kam 1957 im Vereinigten Königreich, und ab 1958 in Deutschland, in Frankreich, Italien und Norwegen, in Südafrika und in Schweden auf den Markt. Eine weitere EP-Veröffentlichung in Deutschland und den Niederlanden bei London 3051 war Great Hits with Little Richard. Von einer französischen EP auf London 10012 ist kein eigener Titel bekannt. Eine 1959 in Schweden erschienene London-Ausgabe mit der Nummer 5041 war schlicht Little Richard betitelt, der 1964 auf der schwedischen Sonet 6071 eine EP-Ausgabe auf grünem Vinyl folgte. Auf LP erschien Heeby-Jeebies regulär erstmals auf Little Richards zweitem Specialty-Album Little Richard im Dezember 1958. Es folgte 1968 die amerikanische Kompilation Little Richard’s Grooviest 17 Original Hits auf Specialty 2113, 1976 die britische Ausgabe Specialty SNTF 5017 unter dem Titel 20 Original Greatest Hits und im Folgejahr 22 Original Hits auf Warwick Records WW 5034. Eine dänische Picture Disc namens Little Richard unter der Nummer AR-30012 enthielt den Song ebenso wie GRT 2103-725 mit dem Titel The Original Little Richard Recordings. 1980 fand Heeby-Jeebies Eingang auf der deutschen Specialty-Ausgabe Star Portrait. Alle erhaltenen Versionen erschienen offiziell erst 1989 auf der 6-CD-Box The Specialty Sessions aus dem Hause Ace Records. Als die Disco-Musik populär war, ließ Specialty mehrere Songs Little Richards überarbeiten. Lee Silver remixte die frühe Songversion Heeby-Jebbies-Love, die 1981 zusammen mit Lucille (Remix) auf 12-Zoll-Maxi-Single für 33 Umdrehungen pro Minute erschien. Diese Veröffentlichung blieb kommerziell aber erfolglos. Der zugrundeliegende Track Heeby-Jeebies-Love kam 1983 auf Specialty-Single SP-736 zusammen mit All Around the World heraus. Zwei weitere Jahre später wurde die Maxi-Single mit dem Remix als Specialty 741 im 7-Zoll-Format erneut veröffentlicht. Coverversionen Die erste Coverversion von Heeby-Jeebies spielte Little Richards Specialty-Kollege Larry Williams am 19. Februar 1958 ein. Als Band begleitete ihn Gerald Wilson an der Trompete, Plas Johnson am Tenorsaxophon, Alvin Tyler am Baritonsaxophon, Earl Palmer am Schlagzeug, Ernie Freeman am Klavier und Barney Kessel an der Gitarre. Ein von Williams gepfiffenes Solo ersetzte dabei das Saxophon. Die Aufnahme wurde zurückgehalten und erschien erst 1973 auf dem Album The Great Rock Stars des niederländischen Bootleg-Labels Redita unter der Nummer RLP-103. 1987 erschien ein alternatives Take auf dem Album Alakazam! bei Ace Records einschließlich eines verwunderten Kommentars über den obskuren Text an die Studioregie. Das erste veröffentlichte Cover war eine Live-Einspielung der Liverpooler Band Kingsize Taylor & the Dominoes aus dem Hamburger Star-Club im Jahr 1963. Es erschien 1963 auf der LP King Size Taylor and the Dominoes Live im Star-Club Hamburg Volume 2 bei Ariola sowie auf Single unter der Nummer Ariola 18074. Die Firma kombinierte das Rock-’n’-Roll-Konzert außerdem mit einem Auftritt der Bobby Patrick Big Six als Split-Doppel-LP. 1964 folgte der australische Interpret Colin Cook mit seiner Version auf dem Label W&G unter der Nummer WG-S-2324. Die amerikanische Bluesrock-Formation Cactus übernahm in den 1970er Jahren Heeby-Jeebies in ihr Live-Repertoire und spielte das Stück als Teil eines Rock-’n’-Roll-Medleys, das bei zwei Konzerten mitgeschnitten wurde und Jahre später bei Rhino Records erschien. Die LP Fully unleashed: The Live Gigs enthielt 2004 das 17-minütige Medley aus Heeby-Jeebies, Money (That’s What I Want), Hound Dog und What’d I Say. 2007 folgte das von Eddie Kramer aufgenommene Cactus-Album Fully unleashed: The Live Gigs Vol. 2 mit einem zweistündigen Konzert vom 26. Juni 1971 in Buffalo, bei dem Heeby-Jeebies lediglich mit What’d I Say in einer 12-minütigen Performance kombiniert wurde. Nachdem der Sänger der Band Rusty Day gefeuert wurde, heuerte er als Ersatz von Mitch Ryder bei dessen Band The Detroit Wheels an, die sich unter dem Namen „Detroit“ neu formierte. 1973 kam es zu einer inoffiziellen Live-Aufnahme, welche aufgrund der Mitwirkung des späteren Lynyrd-Skynyrd-Sängers Steve Gaines seit 1998 lediglich als Lynyrd-Skynyrd-Bootleg kursierte. Auf dieser Platte namens The Driftwood Tapes ist ein Medley aus Long Tall Sally, Heeby-Jeebies und She’s Got It enthalten. Ab Mitte der 1990er entdeckte die Neo-Rockabilly-Szene den „Klassiker“. George Bedard & The Kingpins nahmen den Titel 1996 für ihr zweites Album Hip Deep auf Schoolkids’ Records auf. Kevin Ransom findet, dass Bedard den aus dem Rockabilly bekannten Schluckauf-Stil des jungen Elvis Presley adaptiere und der Aufnahme die Atmosphäre einer bahnbrechenden Sun-Records-Session verleihe. Ebenfalls 1997 veröffentlichte die Bluesband Boogiemen den Song für das Label Blue Loon auf ihrem Album Boogie Time, das als Blues-Album für den Minnesota Music Award nominiert wurde. 2004 folgten Nick Curran and the Nitelifes mit dem Album Player! auf Blind Pig Records. Die japanische Band The Neatbeats spielten schließlich Heeby-Jeebies im Jahr 2006 für ihre Live-DVD Neatle Mania und 2008 für ihr Album Roll on Good auf BMG Japan ein. Ebenfalls 2006 erschien bei Sfax Records das Album Speed King der französischen Rockabillyband Hot Chickens, bei der Hervé Loison singt und den Bass spielt, Thierry Sellier trommelt und Didier Bourlon an der Gitarre zu hören ist. Der britische Musiker Mike Sanchez veröffentlichte den Song 2008 auf seinem Album You Better Dig It bei Doopin 002. Es musizierten neben Sanchez am Klavier und Mikrophon Mark Morgan am Schlagzeug, Al Gare am Bass, Oliver Darling an der Gitarre sowie Nick Lunt und Paul Corry an den Saxophonen. Zu Weihnachten 2014 veröffentlichte die schwedische Rockband Imperial State Electric um den Sänger und Gitarristen Nicke Andersson eine auf zweimal 500 Exemplare limitierte Vinylsingle beim japanischen Label AM Records. Hinter der A-Seite mit (Why Don’t You) Leave It Alone  findet sich als B-Seite Heeby Jeebies. Das britische Musikportal Über Röck findet, die Single enthalte „zwei, in geschmackvoller Art und Weise gecoverte Klassiker“. Im September 2014 nahm die Band Isaac Rother & The Phantoms das Stück in El Segundo, Kalifornien auf. Es spielten Issac Rother und Matthew Zuk an den Gitarren, Mikki Itzigsohn am Bass, Alberto Mendoza am Schlagzeug und Steven Moos an den Keyboards. Michelle Rose und Veronica Bianqui unterstützen den Sänger Rother im Background. Eine Single erschien Anfang 2015 beim Los Angeleser Label Mock Records zusammen mit dem Titel One Ain’t Enough. Bedeutung, Kritik und Erfolg Specialty 584 mit Heeby-Jeebies und She’s Got It war Little Richards vierte Hit-Single in Folge, seit er im November des Vorjahres mit Tutti Frutti bei Specialty Records debütiert hatte. Es war allerdings seine erste Specialty-Platte, welche sich nur in den schwarzen Rhythm-and-Blues-Charts platzierte und welcher der Crossover in den allgemeinen Popmarkt misslang. Von den 20 Songs, die Little Richard bis zu seinem vorübergehenden Rückzug 1957 für das Label aufgenommen hatte und die in den amerikanischen oder britischen Charts punkteten, war Heeby-Jeebies der einzige, den er im Laufe seiner Karriere bei verschiedenen Comebacks nicht noch einmal einspielte. Auch die Anzahl der Coverversionen von Heeby-Jeebies blieb hinter jener seiner größten Hits deutlich zurück. Bereits am 8. Oktober 1956 hatte das Billboard Magazin die Single rezensiert und festgestellt: „Richard schmettert in seinem Shouting-Stil zwei starke Nummern mit fettem Beat und aufregender Begleitung und nutzt somit die gleiche Formel, die ihn mit früheren Veröffentlichungen an die Spitze der Charts katapultierte. Heeby-Jeebies ist eine treibende Nummer mit rasant-feurigem Text, der sich bis zur Ekstase steigert. Die Rückseite mit pfiffigen Lyrics hat einen ähnlich kraftvollen Effekt.“ Die R&B-Charts des Billboards bestanden 1956 mit den Verkaufscharts („R&B Best Sellers in Store“), den Jukebox-Charts („Most Played R&B in Juke Boxes“) und den Radio-Charts („Most Played R&B by Jockeys“) aus drei separaten Bestenlisten. Bei den ersten beiden wurde die Single vor allem mit deren Haupttitel bewertet, nur die Radio-Charts führten beide Seiten der Platte getrennt. Specialty Records verzichtete bewusst auf eine Zuordnung zu A- und B-Seite und überließ es dem Markt, welcher Titel bevorzugt nachgefragt wurde. Bei Specialty 584 zeigt sich der ungewöhnliche Effekt, dass sich mit She’s Got It in den Verkaufscharts die eine Seite der Platte, mit Heeby-Jeebies in den Juke-Box-Charts die andere Seite platzieren konnte. Letzteres debütierte am 3. November 1956 auf Platz neun, war in den drei Folgewochen aus der seinerzeit zehnstelligen Liste verschwunden und konnte am 1. Dezember Re-Entry auf Platz zehn feiern. Mit Platz sieben war Heeby-Jeebies am 8. Dezember am höchsten und gleichzeitig zum letzten Mal platziert. In den Verkaufscharts war der Titel am 10. November 1956 lediglich im Sinne einer am Erfolg der Platte beteiligten B-Seite zu She’s Got It mitgenannt. In den Radiocharts fehlte Heeby-Jeebies im Gegensatz zur anderen Seite der Single komplett. Nach der bei Joel Whitburn gängigen Methodik der Chartstatistik verbrachte Heeby-Jeebies demnach drei Wochen in den R&B-Charts und besetzte als Höchstposition Platz sieben. In den mit dem Billboard konkurrierenden Pop-Charts des Cashbox-Magazins erreichte Heeby-Jeebies einen 50. Platz und stach damit die unplatzierte Rückseite She’s Got It deutlich aus. Von den Coverversionen konnte sich keine in den Charts platzieren. Nur wenige Kritiker äußerten sich explizit über Heeby-Jeebies und lobten die energiereiche Performance. Der Little-Richard-Biograf Paul MacPhail bezeichnete beide Seiten der Platte als „wild hämmernde Rock ’n’ Roller“. Larry Birnbaums Analyse hört eine „rasende“ Aufnahme und hebt Lee Allens Saxophon-Solo über Little Richards perkussivem Pianospiel der Achtelnoten hervor. Otis Redding, der wie Little Richard aus Macon, Georgia stammte und sich als Teenager am Rock-’n’-Roll-Star orientierte, berichtet vom erfolgreichen Einsatz des Titels bei lokalen Talentwettbewerben: „Dieser Song hat mich dazu inspiriert mit dem Singen anzufangen. An 15 aufeinanderfolgenden Abenden gewann ich mit diesem Song den Talentwettbewerb, und dann ließen sie mich nicht mehr singen, ließen mich nicht mehr die fünf Dollar gewinnen.“ Weblinks Heeby-Jeebies-Love (Take 1, 2 und 3) mit Tutti-Frutti-Ruf vom 9. Februar 1956 Langsame Version (Take 5) vom 15. Mai 1956 Langsame Versionen vom 15. Mai 1956 (Take 6, 7 und 8) Das alternative Take (Take 5001) vom 30. Juli 1956 Die offiziell veröffentlichte Version (Master) vom 30. Juli 1956 Einzelnachweise Little-Richard-Lied Lied 1956 Rock-’n’-Roll-Song Lied von John Marascalco
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bucciali%20TAV%2012
Bucciali TAV 12
Der Bucciali TAV 12 (alternativ auch 8-32 oder Type 7) ist das letzte Modell des französischen Automobilherstellers Bucciali. Der 1931 vorgestellte TAV 12, dessen Entstehungsgeschichte und Besonderheiten nicht vollständig geklärt sind, gilt als „sagenumwoben.“ Er war, für die damalige Zeit außergewöhnlich, frontgetrieben und hatte Aufsehen erregende Aufbauten, deren flache und lange Limousinenversion auch la flèche d’or („der goldene Pfeil“) genannt wird. Das Fahrzeug, von dem nur ein Exemplar bekannt ist, wurde noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in seine Einzelteile zerlegt. 40 Jahre später ließ es ein Sammler wieder aufbauen. Seit den frühen 1990er Jahren ist der TAV 12 wieder fahrbereit und wird von Zeit zu Zeit auf Ausstellungen gezeigt. Hintergrund Die Marke Bucciali geht auf Angelo („Buc“; 1889–1981) und Paul-Albert Bucciali (1887–1946) zurück. Die einer korsischen Familie entstammenden Bucciali-Brüder wurden im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer geboren und waren nach abgeschlossener Berufsausbildung in ihrer Heimatstadt zunächst als Klavier- und Orgelbauer tätig. Nach dem Ersten Weltkrieg gründeten sie die Société Bucciali Frères, die in Courbevoie bei Paris ansässig war und ab 1922 eine Reihe kleiner, konventionell konstruierter Sportwagen produzierte. Die zunächst unter der Marke Buc vermarkteten Automobile waren teilweise Einzelstücke; einige Modelle wurden aber auch in kleiner Serie von bis zu 100 Exemplaren (Buc AB 4-5) produziert. Vereinzelt erschienen Fahrzeuge von Buc bei französischen Motorsportveranstaltungen. Der Fahrzeugausstoß des Unternehmens belief sich bis 1926 je nach Quelle auf insgesamt 120, 150 oder 200 Exemplare. Das genügte nicht, um den Geschäftsbetrieb wirtschaftlich tragfähig zu machen. Im Hinblick darauf gaben die Bucciali-Brüder Ende 1925 die Fertigung konventionell konstruierter Automobile auf. Ab 1926 wurde die Société Bucciali Frères daraufhin zu einem Konstruktionsbüro für Automobiltechnik. Die Bucciali-Brüder beschäftigten sich nun in erster Linie mit der Entwicklung von Frontantriebs-Konstruktionen. Hierbei handelte es sich um ein für Automobile neues Antriebskonzept, das seit 1925 einige Aufmerksamkeit auf sich zog, nachdem ein von dem amerikanischen Ingenieur Harry Miller konstruierter frontgetriebener Rennwagen (Miller 122) bei den „Indianapolis 500“ überraschend erfolgreich gewesen war. Die Buccialis nutzten bei ihren Konstruktionen vielfach die Vorarbeiten anderer Ingenieure. Im ersten Frontantriebsauto, dem Bucciali TAV 1, waren Ideen des brasilianischen Ingenieurs Robert Dimitri Sensaud de Lavaud zu erkennen, spätere Entwicklungen hatten Ähnlichkeiten mit der Technik des US-amerikanischen Cord L-29 von 1929, des ersten in Serie produzierten Personenkraftwagens mit Frontantrieb. Beginnend mit dem Jahr 1926 stellte das Unternehmen, das nun ausdrücklich als Bucciali firmierte, auf jedem der jährlich im Oktober stattfindenden Pariser Autosalons eine Neukonstruktion vor, die zumeist eine Weiterentwicklung vorangegangener Konzepte war. In Einzelfällen wurden lediglich Fahrgestelle ausgestellt, zumeist aber waren die Chassis mit individuellen Karosserien versehen, die Angelo Bucciali entworfen hatte. Sie zeichneten sich überwiegend durch außergewöhnliche Proportionen aus, zu denen eine ungewöhnliche Länge und eine äußerst geringe Bauhöhe gehörten. Diese Gestaltungsform wurde zu einem Markenzeichen Buccialis. Üblicherweise waren die Fahrzeuge von Bucciali mit zugekauften Verbrennungsmotoren anderer Hersteller wie S.C.A.P., Continental oder Lycoming ausgerüstet; nur im Fall des Bucciali Double Huit von 1930 kündigte das Unternehmen einen selbst konstruierten 16-Zylinder-Motor an, der letztlich aber nicht verwirklicht wurde. Die meisten Bucciali-Modelle blieben Unikate; lediglich vom Bucciali TAV 30 entstanden nachweislich drei oder vier Exemplare. Das letzte Modell des Unternehmens war der TAV 12 von 1931, der nacheinander mit zwei Karosserien ausgestattet war. Die Bucciali-Brüder kündigten zwar regelmäßig an, ihre Frontantriebsmodelle in Serie herstellen zu wollen, angesichts des äußerst geringen Produktionsumfangs wird die Ernsthaftigkeit dieser Absicht in der Literatur allerdings bezweifelt. Die meisten Publikationen gehen vielmehr davon aus, dass es den Bucciali-Brüdern in erster Linie darum ging, ihre patentierten Frontantriebs-Lösungen an interessierte Serienhersteller zu verkaufen; in diesem Zusammenhang seien auch die Aufsehen erregenden, aber praxisfernen Karosserien der Buccialis zu sehen. Tatsächlich verkaufte Bucciali Nutzungsrechte einzelner Ideen an die US-amerikanische Peerless Motor Car Corporation; das Unternehmen fiel jedoch 1931 in Konkurs und wandte sich dem Bierbrauergewerbe zu, bevor es die Konzepte Buccialis umsetzen konnte. Nomenklatur Die Bezeichnung des Fahrzeugs ist, wie vielfach bei Bucciali-Modellen, unübersichtlich. Im Laufe der Jahre wurden verschiedene Bezeichnungen verwendet. Werksseitig hieß das Auto zunächst Bucciali 8-32, wobei die erste Ziffer für den ursprünglich vorgesehenen Achtzylindermotor stand und die letzten beiden Ziffern das Jahr 1932 bezeichneten, in dem es öffentlich vorgestellt werden sollte. Diese Bezeichnung war jedoch überholt, nachdem sich der Auftraggeber für einen V12-Motor entschieden hatte. Automobilhistoriker führten nachträglich die Bezeichnung TAV 12 ein. TAV stand für Traction Avant (= Frontantrieb), während die 12 je nach Quelle die Steuerklasse oder die Zylinderzahl bezeichnete. Alternativ wird der TAV 12 auch Type 7, das heißt also siebentes Modell von Bucciali, genannt. Geschichte des TAV 12 Produktion auf wechselvollen Kundenwunsch Der TAV 12 war der letzte von sieben Frontantriebswagen der Bucciali-Brüder und zugleich das einzige Automobil der Marke, das nicht vorrangig für Ausstellungszwecke, sondern im Auftrag eines Kunden entstand. Auftraggeber war Georges Roure, ein Geschäftsmann, der auf dem Pariser Autosalon 1930 den frontgetriebenen Bucciali Double Huit (Doppel-Acht) mit einem 16-Zylinder-Motor gesehen hatte. Im Laufe des Produktionsprozesses durchlief der Wagen zahlreiche konzeptionelle Änderungen. Roures Bestellung war ursprünglich auf einen Nachbau eines 1930 vorgestellten Cabriolets mit dem V16-Motor gerichtet. Die Bucciali-Brüder waren allerdings nicht in der Lage, kurzfristig einen funktionstauglichen V16-Motor bereitzustellen, denn eine solche Konstruktion gab es in Wirklichkeit noch gar nicht: Der 1930 ausgestellte V16-Motorblock war lediglich eine Attrappe ohne Innenleben gewesen. Roure orderte daraufhin stattdessen zunächst einen amerikanischen 8-Zylinder-Motor von Continental, stellte aber seine Bestellung, bevor dieser installiert worden war, ein weiteres Mal um und ließ letztlich einen 12-Zylinder-Motor des französischen Herstellers Aéroplanes G. Voisin einbauen. Die erste Version, die im Herbst 1931 erschien, war ein zweitüriges Cabriolet. Das Cabriolet war, anders als manche früheren Bucciali-Konstruktionen, zweifelsfrei fahrbereit. Es gibt Berichte über eine Promotionsfahrt Paul-Albert Buccialis aus dem November 1931. Bucciali überführte das Auto nach Nizza, wo es an einer Ausstellung teilnahm und im Hinblick auf seine aufwendige Technik einen Ehrenpreis erhielt. Ungeachtet dessen gab der Kunde das Cabriolet bald auf, da er mit der Linienführung des Aufbaus nicht einverstanden war. In den ersten Monaten des Jahres 1932 fertigte Bucciali daraufhin in Roures Auftrag eine große viertürige Limousine (französisch: Berline), die den Beinamen la flèche d’or erhielt. La flèche d’or war im April 1932 fertiggestellt. Im selben Monat übernahm der Auftraggeber Georges Roure das Auto. Für das Chassis berechnete Bucciali einen Preis von 130.000 Französischen Franc, die Karosserie kostete weitere 85.600 Franc. Roure verkaufte den Wagen wenig später an einen Pariser Bankier. Im Oktober 1932 wurde la flèche d’or auf dem Pariser Autosalon öffentlich gezeigt. Es war das letzte Mal, dass Bucciali einen Stand auf dieser Messe hatte. Neben dem TAV 12 war ein Cabriolet vom Typ TAV 30 zu sehen, dessen lange, niedrige Linien im Ganzen denen der Berline folgten, und das mit einem Reihenachtzylindermotor von Lycoming ausgestattet war. Einzelstück oder weitere Exemplare? La flèche d’or blieb vermutlich ein Einzelstück; jedenfalls ist heute nur ein einzelnes Fahrzeug dieses Typs bekannt. Eine einzelne Quelle behauptet zwar, dass 1932 zwei ähnliche Wagen mit Voisin-Motor entstanden; dafür gibt es jedoch keine Anhaltspunkte. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass im Sommer oder Herbst 1932 ein zwei Jahre altes Chassis vom Typ TAV 30, das anfänglich mit einer Roadster-Karosserie versehen war, für einen Kunden nachträglich einen an la flèche d’or erinnernden Aufbau erhielt. Dieses Fahrzeug war aber mit einem Achtzylinder-Motor von Lycoming ausgestattet. Belegt ist schließlich, dass die Bucciali-Brüder im Herbst 1932 mit der Konzeption einer weiteren Limousine für den Pariser Autosalon 1933 begannen; sie wurde aber nicht mehr realisiert, denn Anfang 1933 endete die Entwicklungsarbeit bei Bucciali aus finanziellen Gründen. Zerlegung und Wiederaufbau Der TAV 12 wurde in den 1930er Jahren regelmäßig von seinem Eigentümer benutzt, der allerdings nach einigen Jahren die Karosserie entfernen ließ. Der Aufbau wurde Ende der 1930er Jahre auf ein Bugatti-T46-Chassis montiert. Der von 1929 bis 1936 produzierte T 46 war der zweitgrößte Bugatti und galt in Anlehnung an die legendäre Luxuslimousine Type 41 als „Petite Royale“. Der Radstand des Bugatti war einen halben Meter kürzer als der des Bucciali, sodass die Karosserie im Bereich des Vorderwagens erheblich gekürzt werden musste. Der Bugatti mit der „La flèche d’or“-Karosserie wurde in der frühen Nachkriegszeit in die USA überführt. Das Bucciali-Fahrgestell hingegen blieb in Frankreich und galt einige Jahre lang als verschollen. Nach seiner Wiederentdeckung übernahm es ein französischer Sammler. 1976 kamen die Karosserie und das Bucciali-Chassis in die Hände eines amerikanischen Sammlers, der den Wiederaufbau des la flèche d’or veranlasste. Der Motor, das Getriebe, der Frontantrieb, die Aufhängung und die meisten Blechteile konnten vom Originalfahrzeug übernommen werden. Einige Chassisteile sowie die hinteren Kotflügel und die Motorhaube wurden hingegen neu angefertigt. Mehr als zehn Jahre später war der Wiederaufbau abgeschlossen. Seit den späten 1990er Jahren wird der TAV 12 wiederholt öffentlich gezeigt, unter anderem bei dem Pebble Beach Concours d’Elegance (2006). Gestalterische und technische Einzelheiten Karosserien Das Auto war anfänglich als Cabriolet eingekleidet, wenig später erhielt es den Aufbau einer viertürigen Limousine. Cabriolet Die erste Version, die im Herbst 1931 erschien, war ein zweitüriges Cabriolet. Das Fahrzeug hatte ein Stahlchassis mit einem 3734 mm langen Radstand, das bereits im Jahr zuvor für ein Exemplar des TAV 30 verwendet worden war. Anders als bei den übrigen TAV-Modellen ging der Entwurf der Karosserie nicht auf die Bucciali-Brüder zurück, sondern auf Émile Guillet, den Inhaber eines Karosseriewerks, der zeitweise Teilhaber Buccialis war. Sie galt als stilistisch nicht gelungen. Berline: „la flèche d’or“ In den ersten Monaten des Jahres 1932 fertigte Bucciali in Roures Auftrag eine große viertürige Limousine (französisch: Berline), die den Beinamen la flèche d’or erhielt. Die Karosserie war in Gemischtbauweise ausgeführt, sie bestand aus Stahlblechschalen, die auf einem Holzgerüst festgenagelt waren. Der Radstand der Limousine betrug 4089 mm; er war nur wenige Millimeter kürzer als der des Bugatti T41 „Royale“. Mit 6360 mm war der Wagen außergewöhnlich lang, die Aufbauhöhe betrug dagegen nur 1480 mm. Der Bucciali TAV 12 Berline war damit das niedrigste Auto seiner Zeit. Die Räder hatten einen Durchmesser von 24 Zoll. Der Entwurf der Karosserie ging auf Paul-Albert Bucciali zurück; die Blechteile wurden angeblich nach Buccialis Vorgaben bei Saoutchik in Neuilly-sur-Seine hergestellt. Auch die Motorhaube war niedrig. Ihre oberste Linie lag unterhalb des höchsten Punkts der Kotflügel, sodass die Motorhaube bei seitlicher Betrachtung teilweise von den Rädern und den Kotflügeln verdeckt wurde. Wie bei den früheren TAV-Modellen Buccialis war an den seitlichen Entlüftungsöffnungen der Motorhaube ein stilisierter Storch angebracht. Er nahm Bezug auf die Fliegerstaffel Escadrille des Cigognes (Storchengeschwader), in der Paul-Albert Bucciali am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Zu den besonderen stilistischen Merkmalen gehörte außerdem das Fehlen von Trittbrettern. Die großen Frontscheinwerfer waren vor dem Kühlergrill unmittelbar auf der vorderen Stoßstange positioniert. Am Wagenheck befanden sich zwei aufeinander angebrachte Reserveräder. Technik Der TAV 12 hatte ein Stahlchassis, Frontantrieb sowie vorn und hinten Einzelradaufhängung. Paul-Albert Bucciali hatte diese Konstruktion bereits 1928 für sich patentieren lassen. Beide Versionen des Autos wurden von einem 12-Zylinder-Motor angetrieben, den Bucciali von Voisin bezog. Dieser Schiebermotor des Typs H18 wurde in erster Linie im Voisin C18 eingebaut. Er hatte einen Hubraum von 4886 cm³. Das Gemisch wurde von vier Zenith-Vergasern aufbereitet. Die Leistung des Voisin-Motors wurde mit angegeben, andere Quellen sprechen von . Der Voisin-Motor, der eigentlich für ein Fahrzeug mit Heckantrieb ausgelegt war, wurde im Hinblick auf den Frontantrieb im Bucciali umgekehrt montiert, sodass das Schwungrad mit der Kupplung nun vorne lagen. Das Vierganggetriebe war eine Eigenkonstruktion Buccialis. Es lag vorne quer vor dem Motor, davor befand sich das Differential. Die vorderen Trommelbremsen waren innenliegend, das heißt, sie saßen am Differential und wirkten über die Antriebswellen. Der TAV 12 in Presse und Literatur Sowohl in den zeitgenössischen als auch in den aktuellen Medien wird die Besonderheit des Bucciali TAV 12 hervorgehoben. Bei seiner ersten zeitgenössischen Ausstellung in Paris bezeichnete ein Messebericht den Flèche d’or als „das modernste und fortschrittlichste Auto Frankreichs“ seiner Zeit. Rückblickend sehen ihn Autoren als eines der berühmtesten oder „geheimnisvollsten Automobile, die jemals produziert wurden“. Technische Daten Anmerkungen Literatur Gijsbert-Paul Berk: André Lefebvre, and the Cars He Created at Voisin and Citroën, Veloce Publishing Ltd, 2011, ISBN 978-1-84584-464-6 Griffith Borgeson: Das Märchen vom Storch, Biografie der Frontantriebs-Modelle, in: Motor Klassik, Hefte 4 und 5/1989. Eric Favre: Bucciali, la passion de la démesure, Geschichte der Marke Bucciali, in: La Gazoline, Ausgabe vom 26. Januar 2003 Christian Huet: Bucciali, ed. Christian Huet (Eigenverlag), 2004. Serge Bellu: L’Attraction des frères Bucciali. Markengeschichte und Vorstellung des Bucciali TAV 12, in: Automobiles Classiques Nr. 116 (September 2001), S. 68 ff. H. O. (Hans Otto) Meyer-Spelbrink: Der Flug der Störche. Die Frontantriebsmodelle von Bucciali. Oldtimer Markt, Heft 4/2016, S. 26 Weblinks Modellgeschichte des Bucciali TAV 12 mit zahlreichen Abbildungen auf der Internetseite www.conceptcarz.com Abbildungen des Bucciali TAV 12 auf der Internetseite www.coachbuild.com Limousine Einzelautomobil 1931
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https://de.wikipedia.org/wiki/Unimog%20406
Unimog 406
Der Unimog 406 ist ein Fahrzeug aus der von der Daimler-Benz AG gebauten Unimog-Reihe. Er wurde zwischen 1963 und 1989 im Mercedes-Benz-Werk Gaggenau insgesamt 37.069 Mal hergestellt. 406 ist die erste Baureihe mittelschwerer Unimogs. Im Vergleich zu den Baureihen Unimog 401 bzw. Unimog 411 haben die Fahrzeuge einen auf 2380 mm verlängerten Radstand sowie mehr als die doppelte Motorleistung. Anders als im ursprünglichen Unimog wurde kein Pkw-, sondern ein großvolumiger Nutzfahrzeugmotor eingebaut. Als erster Vertreter der mittelschweren Unimog-Modellfamilie hatte er ein völlig neues Erscheinungsbild. Spätere Unimog-Baureihen basieren teilweise technisch und optisch auf dem 406. Insgesamt gab es elf verschiedene Baumuster des 406, die in vier verschiedenen Modellvarianten (U 65 bis U 84) angeboten und mit zwei- oder viertüriger Kabine sowie als Cabrio geliefert werden konnten. Darüber hinaus gab es den 406 für Fremdhersteller als Triebkopf, eine Variante, bei der nur ein „halber“ Unimog geliefert wird, dem das Heck fehlt. Während seiner langen Produktionsphase wurde der Unimog 406 mehrmals technisch überarbeitet. Die erste Überarbeitung gab es bereits 1964, als der Vorkammer-Dieselmotor OM 312 durch den Direkteinspritzer OM 352 ersetzt wurde. Ab 1973 hatte der 406 Scheibenbremsen. Für viele Unimog-Liebhaber ist der 406 mit seinem Einsatzgebiet in Land- und Forstwirtschaft der klassische Unimog schlechthin. „Das Fahrzeug war ein Volltreffer und verkörperte die Bezeichnung Universal-Motor-Gerät von allen bisherigen Unimogs am besten.“ Geschichte Konzeption und Entwicklung Das ursprüngliche Unimogkonzept wurde sowohl von Kunden als auch von Anbaugeräteherstellern geschätzt. Anfang der 1960er Jahre kam allerdings die Nachfrage nach einer schweren Unimogbaureihe auf, die dem Trend leistungsstärkerer Schlepper folgte und durch eine Veränderung der deutschen Landwirtschaft von einer personalintensiven hin zu einer mechanisierten Arbeitsweise ausgelöst worden war. Das führte zum Ende des Schlepperbooms Mitte der 1960er Jahre, einer Nachfrage nach kleinen leistungsschwachen Schleppern. Der Anfang der 1960er Jahre angebotene leistungsstärkste Unimog Typ 411 hatte einen 34 PS (25 kW) starken Dieselmotor, der für einige Einsatzzwecke als zu leistungsschwach erachtet wurde. Analysten bei Daimler-Benz warnten davor, dass die jährliche Produktionsrate des Unimog 411 nach 1960 unter 3000 Fahrzeuge im Jahr fallen würde. Dieser Punkt war 1964 erreicht. Ebenso war abzusehen, dass die Produktion des militärischen Unimogs 404 rückläufig werden würde, da die Bundeswehr die meisten ihrer Regimenter und Bataillone mit einer ausreichenden Zahl von Fahrzeugen dieses Typs ausgestattet hatte. Deshalb entschied sich Daimler-Benz, einen leistungsfähigeren Unimog zu entwickeln: den 406. Im Jahr 1960 war das Lastenheft fertiggestellt. Der 406 sollte weiterhin ein land- und forstwirtschaftliches Fahrzeug sein, aber einen größeren Radstand, eine größere Höchstgeschwindigkeit, den gekröpften Rahmen des Unimog 404 und einen leistungsfähigeren Motor haben. Drei Aufbauvarianten waren geplant: Ein Cabrio, eine geschlossene Kabine und eine geschlossene Doppelkabine. Das ursprüngliche Konzept sah den Vierzylinder-Dieselmotor OM 314 mit Direkteinspritzung und einer Leistung von 54 PS (40 kW) vor. Da der Chefentwickler Heinrich Rößler diesen Motor ablehnte, wurde beschlossen, stattdessen den Sechszylindermotor OM352 einzubauen. Von Dunlop und Continental mussten speziell für den 406 neue Reifen entwickelt werden. Darüber hinaus war ein neues Hydrauliksystem für den Antrieb neuer Anbaugeräte vonnöten. Des Weiteren wurden für die gesteigerte Motorleistung Antriebsstrang und Getriebe neu konstruiert. Die neuen Fahrerhäuser erforderten den Bau neuer 1000-Megapond-Stahlblechpressen mit einer Kraft von 9.807 kN im Unimogwerk in Gaggenau. Die ersten Prototypen wurden 1961 getestet, Prototyp 1 war ein getarntes Fahrzeug ohne Unimog-Emblem und Mercedesstern. Er hatte bereits ein dem Serienmodell ähnelndes Fahrerhaus und die Stoßstange des Unimog 404. Der Prototyp Nr. 2 erhielt das Fahrerhaus des Serienmodells und ebenfalls die Stoßstange des 404. Die öffentliche Vorstellung des Unimog 406 fand auf der DLG-Ausstellung 1962 in München statt und wurde vom Daimler-Benz-Vorstand geleitet. Im Vorfeld der Präsentation am 20. Mai 1962 wurden viele Kleinigkeiten am Unimog kurzfristig geändert und es wurde viel improvisiert. Die Daimler-Benz AG teilte die Nutzfahrzeugproduktion im Werk Gaggenau im Jahr 1963 auf: Während die Lkw-Produktion in das neue Werk in Wörth umzog, blieb die Unimog-Produktion in Gaggenau. So konnte mehr Produktionskapazität für den Unimog 406 genutzt werden. Im ersten Produktionsjahr 1963 wurden 800 Unimog 406 produziert, von denen die ersten 100 Stück als Vorserienmodelle eingestuft wurden. Das erste Modell der Baureihe 406 war der U 65. Während der späten 1960er Jahre entwickelte sich der Unimog 406 zu einer beliebten Baureihe, obwohl der weniger leistungsfähige und preiswertere Unimog 403 mit einem kleineren Industriemotor von 54 PS (40 kW) und der Unimog 421 mit einem Pkw-Motor von 40 PS (29,5 kW) ab 1966 als Erweiterung der Unimog-Familie erhältlich waren. Jährliche Baumusteränderungen verbesserten die Qualität des Unimogs, die größten Produktionszahlen wurden in der ersten Hälfte der 1970er Jahre erreicht. Mit dem Beginn der Serienproduktion der schweren Baureihe mit den Baumustern 425 im Jahr 1974 und 435 im Jahr 1975 ließ die Nachfrage nach dem 406 stark nach. Die jährlichen Veränderungen wurden minimiert, und ab 1979 wurde der 406 nicht mehr nennenswert weiterentwickelt. Schon bald wurde der nun nur mehr mittelschwere 406 sehr unbeliebt und die jährlichen Produktionszahlen sanken während der gesamten 1980er Jahre durchschnittlich auf nur noch 380 Fahrzeuge. Im Jahr 1989 wurde die Fertigung nach 27 Produktionsjahren eingestellt. Jährliche Baureihenveränderung 1964 Wegen eines Mangels an Motoren des Typs OM 352 wurden die ersten 1766 Serienfahrzeuge sowie die Prototypen mit dem Vorkammermotor OM 312 ausgerüstet, der auf 65 PS (48 kW) gedrosselt wurde. Ab 1964 waren Motoren des Typs OM 352 in ausreichender Stückzahl vorhanden und wurden stattdessen eingebaut, ebenfalls auf 65 PS gedrosselt. Diese Leistung stellte sich für einige Anwendungsbereiche des Unimog 406 als nicht ausreichend heraus, sodass Daimler-Benz später entschied, leistungsfähigere Modelle anzubieten. Weitere Veränderungen 1964 waren eine Rockinger-Anhängerkupplung, eine Ausbuchtung für die Frontzapfwelle in der vorderen Stoßstange, ein neuer Drucklufttank mit nun 27 statt 20 Litern Fassungsvermögen, verstärkte Federn, neue Portalachsen sowie neue Felgen ohne die im 90°-Winkel zueinander stehenden vier Schlitze. 1965 Im Jahr 1965 begann die Produktion des Unimog 416 sowie der Triebkopfbaumuster 406.130 und 406.131. Der 406 wurde mit neuen Kotflügeln, einer neuen Kupplung und nun rechteckigen Rückleuchten ausgestattet. Um die hintere Zapfwelle gemäß den Bestimmungen der DIN- und ISO-Norm unterhalb der Anhängerkupplung anbringen zu können, bot Daimler-Benz ein Zapfwellenverlegungsgetriebe an. 1966 Für die Unimogherstellung war das Jahr 1966 bedeutend. Ein Kippmechanismus für das Fahrerhaus wurde eingeführt, sodass nun für Wartungsarbeiten das Fahrerhaus nach vorn geklappt werden konnte. Neu waren ferner die abnehmbare Motorhaube und eine neue Windschutzscheibe. Die Lüftungsschlitze für Heizung und Belüftung neben den Scheinwerfern wurden entfernt und durch Lüftungsschlitze bei den Blinkern ersetzt. Die Produktion des Modells U 65 wurde eingestellt, stattdessen kam der U 70 ins Programm, dessen Motor 70 PS (51 kW) leistet. Mit dem U 70 wurde auch die Doppelkabine zum ersten Mal angeboten. Der Antriebsstrang wurde überarbeitet; so wurden verstärkte Laufradvorgelege und neue Portalachsen eingebaut sowie das Schweißverfahren für die Schubrohre verbessert. Veränderungen am elektrischen System enthielten einen elektrischen Thermostat und eine neue Lichtmaschine mit einem externen Regler. Ebenso wurde der Hauptbremszylinder überarbeitet und Teile der Innenausstattung wurden ersetzt. 1967 Das Jahr 1967 brachte nur kleine Veränderungen mit sich. Die Sitze wurden ergonomischer gestaltet und der Rückspiegel überarbeitet. Außerdem wurden die Portalachsen modifiziert. 1968 1968 wurde das sogenannte F-Getriebe durch das G-Getriebe ersetzt (weitere Informationen dazu im Abschnitt Getriebe.) Darüber hinaus erhielt der 406 einen neuen Regler für das Pneumatiksystem, einen Ausgleichbehälter für den Ölkreislauf der Servolenkung und neue Außenspiegel. 1969 Mit den Modellveränderungen 1969 führte Daimler-Benz die klappbare Frontscheibe beim Cabrio ein und rüstete die Modelle mit geschlossenem Fahrerhaus mit größeren Lüftungsgittern aus. Das Modell U 80 wurde in die Modellpalette aufgenommen, bei allen Modellen wurden die Türen verstärkt. 1970 Das vorher eingebaute System der Servolenkung wurde durch ein hydraulisch unterstütztes Kugelmuttersystem ersetzt, ein mechanisches Lenksystem wurde weiterhin als Sonderausstattung angeboten. Neue Sicherheitsbestimmungen verlangten, dass der zunächst als Sonderzubehör angebotene Umsturzbügel beim Cabrio zur Serienausstattung gehörte. Darüber hinaus erhielten die Modelle mit geschlossenem Fahrerhaus zwei weitere hintere Scheiben. Der Hauptbremszylinder wurde erneut verstärkt. 1971 Im März 1971 wurde der U 80 durch den U 84 ersetzt. Er hat größere und rechteckige Blinker, neue Dreikammerrückleuchten, verstärkte Portalachsen und eine neue Ladepritsche aus Aluminium. 1972 Ab 1972 wurden die Lüftungsschlitze oberhalb der Windschutzscheibe entfernt und der Kühlmittelbehälter in Plastik ausgeführt. 1973 Die letzte große Veränderung gab es am 2. Juli 1973, als die Trommelbremsen durch Scheibenbremsen ersetzt wurden. Die Einführung der Scheibenbremsen brachte auch ein Zweikreisbremssystem mit sich und die serienmäßige Farbe der Räder wurde von Rot zu Schwarz geändert. Das Lenksystem wurde verstärkt und der Durchmesser des Auspuffrohres von 55 mm auf 70 mm vergrößert. 1974 bis 1989 Die wichtigsten Baureihenänderungen waren 1974 bereits vollzogen. 1974 wurde der Schalldämpfer der Auspuffanlage modifiziert, gefolgt von einer neuen Trittstufe am Fahrerhaus 1975 und einer Umstellung von Schubrad- auf Muffenschaltung des Getriebes im Jahre 1976. Das Allradgetriebe erhielt 1977 einen pneumatisch betätigten Schaltmechanismus, 1979 wurden als letzte große Änderung die Chromleisten am Kühlergrill entfernt. Von 1979 bis 1989 gab es am Unimog 406 keine großen Änderungen mehr. Baumuster des Unimog 406 Elf verschiedene Baumuster des Unimog 406 wurden angeboten. Dabei waren das Cabrio (Baumuster 406.120) und der Unimog mit geschlossener Kabine (406.121) die bedeutendsten, sie machen 96 % aller je gebauten Unimog 406 aus. Die Triebkopfvarianten des Unimog 406 hatten bis 1965 keine eigenständigen Baumusternummern, dann erhielten sie die Nummern 406.130, 406.131 und 406.133. Bereits 1968 wurden sie der Baureihe 416 zugeordnet. Jedes Unimogbaumuster wurde in verschiedenen Modellvarianten angeboten; es sind die vier Modelle U 65, U 70, U 80 und U 84 (später als U 900 bezeichnet). Die zweistellige Zahl steht dabei für die Motorleistung in DIN-PS, ein gegebenenfalls angehängtes T steht für Triebkopf. Das Modell U 100 mit 100 PS wurde nur in sehr geringer Stückzahl als Zugmaschine im Werkverkehr mit 40 km/h Höchstgeschwindigkeit gebaut. Eine genaue Übersicht, welche Modelle für welches Baumuster angeboten wurden, ist untenstehend: Baumusterübersicht Die Doppelkabine Ursprünglich war geplant, dass der Unimog 406 auch mit Doppelkabine als Ergänzung zum Cabrio und zur normalen Kabine angeboten würde. Die geschlossene Doppelkabine stellte Wackenhut in Nagold her. Mit diesem Fahrerhaus wurde hauptsächlich das Baumuster 406.145, ein Flugzeugschlepper, ausgestattet. Lediglich 353 Unimog 406 wurden mit Doppelkabine gebaut, 302 davon sind 406.145. Die Doppelkabine wurde jedoch auch für andere Unimog-Typen angeboten. Der weitaus häufiger mit einer Doppelkabine ausgestattete Unimog ist der 416, der wegen seines längeren Radstandes oft als Fahrgestell für Wohnmobile genutzt wurde. Weitere Fahrzeuge der Baureihe 406 Ursprünglich wurde der Unimog 406 nur mit einem 65 PS (48 kW) starken Motor angeboten, später stieg die Leistung auf bis zu 84 PS (62 kW); die Leistung der Serienfahrzeuge war auch nie größer. Einige Prototypen und Sonderanfertigungen wurden jedoch mit leistungsstärkeren Motoren angeboten. Der erste Prototyp einer Straßenzugmaschine für den Güternahverkehr und Werkverkehr war das Baumuster 406.200 A im September 1969. Dieses Fahrzeug hatte den langen Radstand des Unimog 416 und einen Motor des Typs OM 352 mit 100 PS (73,5 kW) Leistung. Das spätere Serienmodell dieses Prototyps war als Cabrio (416.140) und mit geschlossenem Fahrerhaus (416.141) lieferbar. Letzteres wurde 3496-mal gebaut. Für den Werkverkehr gab es die beiden Baumuster 406.142 und 406.143. Daimler-Benz entschied sich dazu, für diese Baumuster den normalen Motor mit 84 PS (62 kW) anzubieten, hatte jedoch zusätzlich Versionen mit 100 und 110 PS (73,5 und 81 kW) im Angebot. Von keinem der beiden Baumuster wurden mehr als 20 Stück gebaut, was den Unimog 406 mit mehr als 84 PS (62 kW) Motorleistung äußerst selten macht. Der Unimog 406 wurde als Fahrgestell für Zweiwegefahrzeuge eingesetzt. Die maximal zulässige Anhängelast betrug bis zu 300 t. Von Tractortecnic wurde das Kettenfahrzeug Unitrac unter anderem aus Teilen des Unimog 406 gebaut. Modellfamilie des Unimog 406 Mit der Einführung der Baureihe 406 legte Daimler-Benz den Grundstein für eine mittelschwere Modellfamilie, zu der insgesamt 94.215 gebaute Fahrzeuge aus acht Baureihen gehören, die zwischen 1962 und 1994 produziert wurden. Die Modellfamilie umfasst ähnliche Modelle mit unterschiedlichen Radständen und Motorisierungen, die alle entweder technisch oder optisch auf dem Unimog 406 basieren. 1965 wurde erstmals ein Modell mit langem Radstand angeboten, der Unimog 416. Er hat mit 2900 mm denselben Radstand wie die Langversion des Unimog 404. Der 416 war außerdem mit 3400 mm Radstand verfügbar. Später wurden die Triebkopfversionen des Unimog 406 auch der Baureihe 416 zugeordnet. Motoren mit 80–125 PS (59–92 kW) wurden für den 416 angeboten. Aus der Unimog-406-Familie ist der 416 das meistgebaute Modell mit 45.544 Einheiten, die zwischen 1965 und 1994 entstanden. Im März 1966 kam der Unimog 421 in das Modellprogramm, dessen Fahrwerkstechnik auf dem Unimog 411 basiert; das Fahrerhaus ist jedoch vom 406 abgeleitet. Er ist ein leistungsschwächeres Modell mit 40 PS (29 kW), das zu den leichten Baureihen gezählt wird. Im August 1966 wurde die Baureihe 406 durch den Unimog 403 ergänzt. Der Unimog 403 hat den ursprünglich für die Baureihe 406 vorgesehenen Dieselmotor OM 314 mit 54 PS (40 kW) und war als preisgünstigeres Modell in der Modellpalette platziert. Mit dem steigenden Bedarf an leistungsstarken Zugfahrzeugen bot Daimler-Benz die Baureihe 403 ab 1969 mit 66 PS (48 kW) und ab 1972 mit 72 PS (53 kW) an. Optisch und technisch gibt es zwischen dem Unimog 406 und dem 403 mit Ausnahme des Motors keinen Unterschied. Da Daimler-Benz auch eine preiswertere Variante mit langem Radstand anbieten wollte, wurde ab 1969 der Unimog 413 analog zum 416 angeboten. Mit dem zu schwach dimensionierten Motor war dieses Modell zwar preiswerter als der Unimog 416, aber nicht beliebt. Es wurden lediglich 633 Exemplare hergestellt. Die meisten militärischen Unimogs gehören zur Baureihe 404; aber auch einige Fahrzeuge der Unimog-406-Familie wurden zu militärischen Zwecken eingesetzt. Dies betrifft insbesondere die Baureihen 426 und 419. Der Unimog 426 entstand aus CKD-Kits, die in Gaggenau vorproduziert und zur Endmontage nach Argentinien verschifft wurden. Der Unimog 426 ist eine Lizenzproduktion des Unimog 416 und wurde vor allem für das argentinische, chilenische, peruanische und bolivianische Militär gefertigt, es entstanden 2643 Fahrzeuge. Für das US-Militär baute Daimler-Benz ab 1986 den Unimog 419. Insgesamt wurden 2416 Fahrzeuge hergestellt. Der Unimog 419 hat denselben Radstand wie der Unimog 406, ist aber mit einer leistungsstärkeren Version des Motors OM 352 ausgerüstet, die 110 PS (81 kW) leistet. Er wurde unter der Marke Freightliner verkauft und als Small Emplacement Excavator (SEE) (zu Deutsch in etwa Kleinbagger) eingestuft, der überwiegend als Pionierfahrzeug eingesetzt wurde. Das Baumuster 406.145 wurde überwiegend als Flugzeugschlepper bei der Bundeswehr eingesetzt. Technische Beschreibung Der Unimog 406 ist ein geländegängiges Mehrzweckfahrzeug mit vier gleich großen Rädern. Wie der Unimog 404 hat er einen Leiterrahmen mit Kröpfung. Vorder- und Hinterachse sind starr. Für den Antrieb von Zusatzgeräten sind vorne und hinten je eine Standardzapfwelle eingebaut, deren Drehzahl auf entweder 540 min−1 oder 1000 min−1 eingestellt werden kann. Sie können unabhängig voneinander eingeschaltet werden. Der 406 ist ein Fahrzeug mit Hinterradantrieb und zuschaltbarem Vorderradantrieb mit Differenzialsperren an beiden Achsen. Eine hydraulisch kippbare Pritsche ist auf dem hinteren Teil des Leiterrahmens aufgebaut. Anders als die ersten Unimogs hat der Unimog 406 keine 12-Volt-, sondern eine 24-Volt-Elektrik mit zwei 12-V-Blei-Säure-Akkumulatoren, die in einem Kasten auf der linken Seite des Leiterrahmens untergebracht sind. Fahrerhaus Daimler-Benz stellte den Unimog 406 mit Stoffverdeck, („Cabrio“), geschlossenem Fahrerhaus oder geschlossener Doppelkabine her; die Doppelkabine wurde von Wackenhut zugeliefert. Alle Fahrerhäuser einschließlich der Cabrioversion haben eine Dreipunktaufhängung. Sowohl Cabrio als auch geschlossenes Fahrerhaus haben zwei Sitze, die Doppelkabinenversion hat drei zusätzliche Sitze. Das Armaturenbrett, das Lenkrad, Hebel, die verstellbaren Sitze und weitere Teile wie Heizung und Belüftung ähneln der entsprechenden Ausstattung der Daimler-Benz-Lkw der 1960er Jahre. Die Fahrerhäuser galten als ergonomisch gestaltet und komfortabel. Cabriomodelle ab 1969 haben eine klappbare Windschutzscheibe, ab 1970 wurde ein Überrollbügel serienmäßig eingebaut, der vorher bereits als Sonderausstattung erhältlich war. Der Lufteinlass des Motors ist auf der linken Seite des Unimog 406, ein Schnorchel mit eingebautem Zyklon war auf Wunsch erhältlich. Dadurch werden die Wartungsintervalle des Luftfilters deutlich verlängert. Motor Die ersten Fahrzeuge waren mit dem OM 312 ausgestattet. Der OM 312 ist ein stehender, wassergekühlter Reihensechszylinder-Saugdieselmotor mit Vorkammereinspritzung und einem Hubraum von 4580 cm³, er ist auf 65 PS (48 kW) bei 2550 min−1 gedrosselt. Bereits 1964 wurde dieser Motor durch den OM 352, eine Weiterentwicklung des Vorkammermotors OM 322, ersetzt. Der OM 352 wurde bis 1989 für den Unimog 406 verwendet. Wie der OM 312 ist der OM 352 ein stehender Reihensechszylinder-Saugdieselmotor mit Wasserkühlung, hat aber Direkteinspritzung. Der Hubraum beträgt 5675 cm³, die Leistung betrug auch hier anfangs 65 PS (48 kW), wurde über den Produktionszeitraum dann schrittweise auf 70, 80 und 84 PS (51,5, 59 und 62 kW) erhöht. Lediglich einige wenige als Werkzugmaschinen konzipierte Serienfahrzeuge wurden auf Sonderwunsch ab Werk mit leistungsgesteigerten Versionen des OM 352 mit 100 bzw. 110 PS (73,5 bzw. 81 kW) ausgerüstet; sie sind jedoch äußerst selten. Fahrwerk und Antriebsstrang Der in der Mitte nach unten gekröpfte Leiterrahmen stützt sich auf starre Portalachsen vorn und hinten. Front- und Heck des Rahmens erlauben eine gewisse Verwindung, die Mitte ist steifer ausgebildet. Erreicht wird dies durch die Position der Querträger und Schweißnähte: Die Querträger sind nach innen gezogen und die Schweißnähte liegen so an Stellen, an denen das Material weniger stark beansprucht wird. Je zwei Querträger sind im hinteren Teil, an der Kröpfung sowie am vorderen Teil des Rahmens dicht beieinander eingeschweißt; zwischen den Querträgerpaaren ist großzügiger Freiraum bemessen. Durch die Portalachsen mit Radvorgelegen hat der Unimog auch mit kleinen Rädern eine große Bodenfreiheit. Die Achsen sind an Schubrohren und Panhardstäben geführt. Die Schubrohre sind am Getriebe in Kugelgelenken gelagert und starr mit den Differenzialgetrieben der Achsen verbunden. In den Schubrohren laufen die Antriebswellen, die das Drehmoment vom Getriebe auf die Achsen übertragen. Abgefedert werden die Achsen des Unimogs mit je zwei Schraubenfedern und hydraulischen Teleskopstoßdämpfern. Die Radaufhängung erlaubt besonders lange Federwege und daher eine große Achsverschränkung, was dem Unimog gute Geländegängigkeit ermöglicht. Serienmäßig wurde der U406 mit Reifen der Dimension 10,5–20″ geliefert. Als Sonderausstattung waren Reifen der Dimensionen 12,5–20″, 14,5–20″ und 22–20″ erhältlich. Getriebe Der 406 hat das vollsynchronisierte Viergang-Schieberad-Gruppengetriebe UG-2/27, das für ein Eingangsdrehmoment von 264,8 N·m (27 kp·m) ausgelegt ist. Angeboten wurde es in vier verschiedenen Ausführungen. Die Standardauslegung des Getriebes (F-Getriebe) wurde für die Modelle U 65 und U 70 eingesetzt. Sie hat zwei Gruppen zu je vier Gängen, die erste Gruppe kann jedoch nur im ersten und zweiten Gang genutzt werden, sodass letztlich sechs Vorwärtsgänge zur Verfügung stehen. Der Schalthebel hat dementsprechend ein Sechsgang-H-Schaltbild. Wenn vom zweiten in den dritten Gang geschaltet wird, wechselt das Getriebe automatisch von der ersten in die zweite Gruppe, es wird also in den ersten Gang zurückgeschaltet, während in die höhere Gruppe geschaltet wird. Dem Getriebe fehlt ein Rückwärtsgang, stattdessen ist ein Wendegetriebe mit einem separaten Schalthebel angeflanscht. Durch die Konstruktion des Getriebes kann das Wendegetriebe nur dann in die Rückwärtsfahrtrichtung geschaltet werden, wenn das Hauptgetriebe in der ersten Gruppe ist. Da in der ersten Gruppe nur mehr die ersten beiden Gänge zu nutzen sind, ergeben sich zwei Rückwärtsgänge. Das Standardgetriebe war für die Modelle U 80 und U 84 mit einem Vorschaltgetriebe (G-Getriebe) erhältlich. Das Untersetzungsgetriebe verdoppelt die Anzahl aller Gänge, sodass 2 × 6 Vorwärts- sowie 2 × 2 Rückwärtsgänge genutzt werden können. Der Schalthebel des Vorschaltgetriebes hat drei Positionen: „Hauptschaltgetriebe“, „Vorschaltgetriebe“ und „Leerlauf“. Zusätzlich zum Vorschaltgetriebe war ein Kriechganggetriebe lieferbar. Es kann mit den ersten beiden Gängen jeder Gruppe genutzt werden und hat zwei Kriechgänge, „Kriechgang“ und „Superkriechgang“, eine Leerlauf- und eine Hauptgetriebeposition. Wenn in die Hauptgetriebeposition geschaltet wird, kann das Hauptgetriebe ganz normal in allen sechs Gängen geschaltet werden. Insgesamt ergeben sich somit 2 × 6 + 2 × 4 Vorwärts- sowie 2 × 2 + 2 × 2 Rückwärtsgänge. 1976 wurde die Schieberadschaltung durch eine Muffenschaltung ersetzt. Die erste Gruppe des Getriebes war so vollständig nutzbar, sodass nun acht Vorwärts- und vier Rückwärtsgänge zu nutzen waren. Das Achtganggetriebe hat eine Viergang-H-Schaltkulisse und einen zusätzlichen Hebel zum Umschalten der Getriebegruppen. Je nach Getriebeausführung sind entweder eine Einscheibentrockenkupplung (üblicherweise Typ G 280 KR) oder eine Doppelkupplung eingebaut. Hydraulikanlage Daimler-Benz baute eine Hydraulikanlage der Firma WABCO aus Hannover ein. Sie ist robuster und leistungsfähiger als das Hydrauliksystem, das ab Beginn der 1960er-Jahre in den Unimog 411 eingebaut wurde und besteht aus sechs Hauptkomponenten: einer Zahnradölpumpe, einem Öltank, zwei Hydraulikzylindern und zwei Steuergeräten. Die ursprüngliche Hydraulikpumpe ist vom Typ 5 P 41-13 und hat eine Förderleistung von 32 l/min bei 150 bar Arbeitsdruck. Schon bald wurde diese Pumpe durch eine leistungsfähigere Version mit 40 l/min bei 180 bar ersetzt. Der Öltank ist im Frontbereich des Unimogs untergebracht, der gesamte Ölkreislauf hat ein Fassungsvermögen von 18 Litern. Die zwei Steuergeräte sind hinter dem Motor untergebracht, sie haben je einen Bedienhebel; die Bedienhebel sind an einer Stange unter dem Lenkrad montiert. Mit dem ersten Hebel kann der Fahrer wahlweise den Teleskopzylinder zum Abkippen der Pritsche oder den Hydraulikzylinder des Heckkrafthebers bedienen. Der zweite Hebel dient der Steuerung der Anbaugeräte. Ursprünglich war die Servolenkung an die Haupthydraulik angeschlossen. Später wurde eine eigenständige Pumpe für die Servolenkung und letztlich ein separater Ölkreislauf eingebaut. Das serienmäßige Servolenkungssystem ist ein Spindellenksystem des Typs ZF 19/74. Eine Kugelmutterumlauflenkung wurde als Sonderausstattung angeboten und gehörte ab 1973 zur Serienausstattung. Der Unimog 406 ist mit einer pneumatisch angesteuerten Hydraulikbremse (Bremsservo) ausgerüstet, zunächst mit Trommelbremsen, ab 1973 wurden serienmäßig Scheibenbremsen eingebaut, wofür die Bremsanlage umfassend modifiziert werden musste. Fahrzeuge für den Export wurden bis 1989 weiterhin wahlweise auch mit Trommelbremsen ausgestattet. Weder Prototypen noch das auf der DLG-Ausstellung 1962 präsentierte Modell hatten eine Regelhydraulik; das bedeutete, dass sich der Hydraulikhebel nicht fein abgestuft bedienen ließ, sondern entweder voller Druck oder gar kein Druck abgegeben wurde. Dies erschwerte die Bedienung einiger Anbaugeräte erheblich, sodass bald eine Regelhydraulik eingebaut wurde. Pneumatik Ebenso wie andere Unimogmodelle hat der Unimog 406 eine Pneumatikanlage; allerdings wird sie nicht für den Heckkraftheber, sondern hauptsächlich für die Bremsanlage eingesetzt. Außerdem wird mit Unterstützung der Pneumatik die Ausgleichsperre zugeschaltet. Die Pneumatikanlage besteht aus mehreren Teilen: einem Kompressor, der vom Motor angetrieben wird, einem Steuerventil vor der Hinterachse, einem Drucklufttank vor dem linken Hinterrad, dem Ventil für die Ausgleichsperre, dem Bremskraftverstärker und dem Hauptbremszylinder, der den Druck für die Bremsanlage sowohl für den Unimog als auch für eine Anhängerbremsanlage erzeugt. Mit zwei Schnellverschlüssen wird das pneumatische Bremssystem eines Anhängers an den Unimog angeschlossen, eine Leitung ist für den Bremsdruck, eine für das pneumatische Aktivieren der Bremse selbst. Anfangs hatte der Drucklufttank des Unimogs ein Volumen von 20 Litern; es wurde 1966 auf 27 Liter erhöht. Als Sonderausstattung war ein Zusatzkompressor erhältlich, der die Zeit zum Auffüllen des Anhängerdrucklufttankes reduziert. Lackierung Ursprünglich war der Unimog in Lkw-Grün lackiert (DB 6277), etwa 70 % aller je gebauten Unimogs haben diese Farbe. Insgesamt gab es in den 1970er Jahren sechs verschiedene Farben serienmäßig für den Unimog. Andere Farben waren auf Wunsch erhältlich. Serienmäßige Farben Sonderfarben Technische Daten Stückzahlen 37.069 Serienfahrzeuge, einschließlich 100 Vorserienfahrzeugen, eines Ausstellungsstücks, mindestens zwei fahrbereiter Prototypen 1961 und 1962 und eines weiteren fahrbereiten Prototyps im September 1969, wurden vom Unimog 406 gebaut. Leistungssteigerungen Der Dieselmotor OM 352 erbrachte in seiner Ursprungsversion aus dem Jahr 1963 eine Leistung von 93 kW und lieferte ein maximales Drehmoment von 353 N·m, später wurde die Leistung geringfügig auf 96 kW angehoben, das Drehmoment stieg auf 363 N·m. Der Unimog jedoch erhielt eine leistungsreduzierte Variante dieses Motors. Die ungedrosselten und leistungsgesteigerten Versionen dieses Motors wurden nie für den Unimog 406 angeboten, weil das Getriebe lediglich für ein Eingangsdrehmoment von 264,8 N·m (27 kp·m) ausgelegt ist. Um die Leistung des Unimogmotors auf 96 kW steigern zu können, müssen vorher Kupplung und Getriebe entsprechend modifiziert werden, um Schäden zu vermeiden. Der Motor benötigt einen Papierluftfilter statt des Ölbadluftfilters, einen neuen Ölfilter sowie eine andere Einspritzpumpe, da die serienmäßige Einspritzpumpe sich nicht auf die erhöhte Motorleistung einstellen lässt. Literatur Carl-Heinz Vogler: UNIMOG 406 – Typengeschichte und Technik. Geramond, München 2016, ISBN 978-3-86245-576-8. Daimler-Benz: Werkstatthandbuch Unimog 403, 406, 413, 416 und 417, Nr. 30 400 21 01. Anmerkungen Einzelnachweise Weblinks Unimogbaureihe Lkw-Modell U 406
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https://de.wikipedia.org/wiki/Spargelb%C3%BCndel
Spargelbündel
Das Spargelbündel, auch Ein Bund Spargel, Spargelbund, Spargel oder Spargel-Still-Leben ( oder ), ist ein 1880 in Öl auf Leinwand gemaltes Stillleben von Édouard Manet. Es hat eine Höhe von 46 cm und eine Breite von 55 cm. Dargestellt ist ein Bund Spargel auf grünem Blattwerk und weißer Unterlage vor dunklem Hintergrund. Das motivisch an niederländische Malerei des Barock erinnernde Bild gehört mit seiner impressionistischen Malweise zum Spätwerk Manets. Die Rezeptionsgeschichte ist für ein Stillleben ungewöhnlich umfangreich und vielfältig. Manets Spargelbündel diente dem Maler Carl Schuch als Vorbild für eigene Werke, es floss in das literarische Werk des Romanciers Marcel Proust ein und der Konzeptkünstler Hans Haacke nutzte die Provenienz des Gemäldes, um den Weg eines impressionistischen Bildes aus Frankreich durch verschiedene jüdische Sammlungen aufzuzeigen, bevor es 1968 mit Spenden deutscher Unternehmen für die Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums in Köln erworben wurde. Bildbeschreibung Manets Spargelbündel zeigt ein Motiv in Anlehnung an die traditionelle Stilllebenmalerei. Im Bildzentrum liegt ein Bündel weißer Spargelstangen im hellen Licht. Der Blick geht von der Seite auf das Spargelbündel, dessen violette Spitzen zum rechten Bildrand ausgerichtet sind. Es wird durch zwei dünne Weidenruten zusammengehalten, die zum Transport des Gemüses dienten. Der Spargelbund liegt auf einer Unterlage aus grünen Blättern, die von der linken Seite bis zur rechten unteren Bildecke reichen. Manets Biograf Théodore Duret spricht dabei von einem „lit d’herbes vertes“ (Bett aus grünen Blättern). Für den Kunsthistoriker Mikael Wivel präsentiert Manet den Spargel so, wie ein Gemüsehändler seine Ware zeigt. Unten links und mittig am rechten Bildrand ist ein bläulich-weißer Untergrund zu sehen, bei dem es sich um eine Tischdecke oder eine helle Marmorplatte handeln könnte. Auf diesem hellen Untergrund findet sich unten links die Signatur „Manet“. Die obere Bildhälfte nimmt ein schwarz-brauner Hintergrund ein, bei dem „die Farben samtig ineinander verwoben“ sind, wie der Autor Gotthard Jedlicka feststellt. In dieser Komposition fällt den grünen Blättern und den violetten Spargelspitzen die schwierige Aufgabe zu, die Spargelstangen kontrastreich vom Untergrund zu trennen, die beide in ähnlicher Farbgebung ausgeführt sind. Gotthard Jedlicka sieht in den dunklen Weidenruten eine Verbindung zu den Farben des Hintergrundes. Für ihn ergibt sich darüber hinaus ein erster Eindruck, bei dem die Spargelstangen gelb und die Spitzen violett erscheinen. Bei genauerem Blick seien sie hingegen „mit einem unbeschreiblichen Reichtum von Farbtönen gemalt“. Bei den Spargelstangen sieht Jedlicka im Gelb weitere Farbnuancen wie blaue, weiße, rosige und violette Töne und bei den Spitzen erkennt er Rot, Blau, Grün, Gelb und weitere Farben, wobei jede Spitze individuell gemalt sei. Für Jedlicka reicht Manets Pinselstrich vom „breiten und pastosen Auftrag bis zur feinsten Zeichnung in Strichen und Tupfen“. Der Museumsdirektor Gert von der Osten hebt hervor, Manets Stillleben sei mit „genialer Treffsicherheit ganz offen impressionistisch gemalt“. Manets Malweise bei diesem Bild wurde 2008 anlässlich der Ausstellung Impressionismus: Wie das Licht auf die Leinwand kam von Mitarbeitern des Kölner Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud eingehend untersucht. Bei der Betrachtung des Werkes im Durchlicht, bei der das Gemälde von hinten beleuchtet wird, konnte nachgewiesen werden, dass Manet die braune Farbe des Hintergrundes „altmeisterlich“ dünn auf die grau grundierte Leinwand aufgetragen hat. Er arbeitete dabei mit einem Flachpinsel und hat den Bereich der Spargelstangen ausgespart. Bei der Betrachtung des Gemäldes mit Hilfe eines Mikroskops wurde zudem die Malweise im Bereich des Spargels analysiert. Hier arbeitete Manet mit schmalem Pinsel und setzte die Striche nebeneinander und durchkreuzte sie. Im Gegensatz zur traditionellen Malerei vermischte er demnach die Farben nicht sorgfältig auf der Palette, sondern erst direkt auf der Leinwand. Der Eindruck der flüchtigen Malweise wird hierbei durch den teils pastosen Auftrag der Farbe noch verstärkt. Die „nass in nass vermalten Farben“ sind ein Zeichen dafür, dass Manet das Gemälde vermutlich innerhalb „einer einzigen Arbeitssitzung geschaffen“ hat. Manets zweites Spargelbild Manets Spargelbündel ist eng verbunden mit einem weiteren Gemälde des Künstlers, dem Bild Der Spargel im Pariser Musée d’Orsay, auf dem eine einzelne Spargelstange zu sehen ist. Zur Entstehung der beiden Bilder ist eine anekdotische Geschichte überliefert. Hiernach sah der Kunstsammler Charles Ephrussi das Gemälde Spargelbündel 1880 in Manets Atelier und verabredete mit dem Maler den Kauf des Bildes für 800 Franc, sandte ihm großzügigerweise jedoch 1000 Franc. Manet malte daraufhin das kleinformatige Bild Der Spargel und schickte es an Ephrussi. Dem Bild fügte er die Notiz bei „Il en manquait une à votre botte“ („Es fehlt noch eine in Ihrem Bündel“). Die beiden Bilder unterscheiden sich nicht nur in Motiv und Größe, sondern zudem in der Farbgebung und Ausführung. Während das Spargelbündel im altmeisterlichen Hell-Dunkel erscheint, wählte Manet bei der einzelnen Spargelstange eine für den Impressionismus typische helle Farbpalette. Ephrussi war der Letzte, der beide Spargelbilder Manets besaß. Bereits zu Lebzeiten gab er das Spargelbündel in den Kunsthandel, die Spargelstange erwarb nach seinem Tod 1905 die Kunsthandlung Bernheim-Jeune. Danach wurden die beiden Bilder nur selten gemeinsam ausgestellt. Hierzu gehören die Manetausstellungen 1989 in Charlottenlund und 2003/2004 in Madrid. Zuletzt waren beide Bilder in Ausstellungen 2017–2018 in Washington, D.C. und 2019 in Chicago vereint. Vorbilder Ein direktes Vorbild für Manets Spargelbündel ist nicht bekannt. Verschiedene Autoren sehen jedoch eine motivische Verwandtschaft zur niederländischen Stilllebenmalerei des Barock. So gibt es beispielsweise zusammengebundene Spargel in den aufwendigen Stilllebenkompositionen von Cornelis de Vos, Frans Snyders oder Jan van Kessel dem Älteren. Die größte Übereinstimmung des Motives – ein einzelnes Spargelbund auf einem Tisch vor dunklem Hintergrund – findet sich auf mehreren Bildern des niederländischen Malers Adriaen Coorte. Manet kannte zwar durch gelegentliche Reisen in die Heimat seiner Frau Suzanne einige Museen der Niederlande, aber Bilder von Coorte hatte er vermutlich nie gesehen. Sicher kannte er hingegen die Stillleben seiner Zeitgenossen Philippe Rousseau und François Bonvin, die wiederholt Spargelbündel in ihren Gemälden zeigten. Zudem war ihm das Motiv eines Spargelbündels aus der direkten Umgebung vertraut. Die Familie Manet hatte Landbesitz in Gennevilliers, das wie das benachbarte Argenteuil eine bekannte Spargelanbaugegend war. Spargel gehörte daher wahrscheinlich zu den im Hause Manet servierten Speisen und das Gemälde Spargelbündel entstand vermutlich während der Spargelsaison im April oder Mai 1880. Manets Stillleben Im Gesamtwerk Manets finden sich Stillleben in unterschiedlichen Werkphasen. Seine frühen Stillleben aus den 1860er Jahren zeigen eine deutliche Verwandtschaft zu Bildern der Barockmalerei. Hierzu gehören die 1866 entstandenen Gemälde Der Lachs (Shelburne Museum, Shelburne) und Stillleben mit Melone und Pfirsichen (National Gallery of Art, Washington, D.C.), die komplexe Arrangements aus verschiedenen Gegenständen aufweisen. Der Kunsthistoriker Emil Waldmann verglich Manets Stillleben mit den Werken älterer Künstler und merkte hierzu an: „In seiner Stillebenkunst, der schönsten Stillebenkunst, die es überhaupt gibt, trotz den Holländern, trotz Chardin und Courbet, feiert dieses unvergleichliche Malenkönnen […] Feste von unerhörtester, seltsamster Art.“ Im Gegensatz zu Manets frühen Stillleben stehen seine Darstellungen von Obst oder Gemüse in den letzten Lebensjahren. Zwischen 1880 und 1883 malte Manet wiederholt Bilder, in denen wenige gleiche Objekte oder Einzelstücke zum Sujet wurden. So entstanden Stillleben wie Die Zitrone (Musée d’Orsay, Paris) oder Apfel auf einem Teller (Privatsammlung). Für Mikael Wivel sind Manets späte Stillleben wie das Spargelbündel und Der Spargel keine „natures mortes“ (Stillleben, wörtlich tote Natur) im traditionellen Sinn, sondern individuelle Porträts eines Objektes. Manets Stillleben werden daher von Kunsthistorikern auch weniger als Vergänglichkeit symbolisierende Vanitas-Bilder gelesen, beim Spargelbündel fehlt eine solche Zuordnung gänzlich. Provenienz Kurz nach Fertigstellung des Gemäldes erwarb es 1880 der Bankier und Kunstsammler Charles Ephrussi, der 1000 Franc für das Bild zahlte (siehe Manets zweites Spargelbild). Ephrussi lieh das Bild wiederholt zu Ausstellungen aus: 1884 zur Manet-Gedächtnisausstellung in der Pariser École des Beaux-Arts, 1889 zur Weltausstellung in Paris und 1900 zur Exposition Centennale de l’Art Français im Rahmen der Pariser Weltausstellung. Zwischen 1900 und 1902 gab Ephrussi das Stillleben an den Pariser Kunsthändler Alexandre Rosenberg. Ob er es direkt an ihn verkaufte oder zunächst in Kommission gab, ist nicht belegt. Verschiedene Autoren wie der Kölner Museumsdirektor Gert von der Osten haben angenommen, der nächste Besitzer sei der Berliner Rechtsgelehrte Carl Bernstein gewesen. Bernstein war ein Cousin von Ephrussi und hatte 1882 die ersten Bilder des französischen Impressionismus nach Deutschland gebracht und seine Sammlung in Berlin gezeigt. Bernstein ist jedoch bereits 1894 verstorben, als sich das Bild noch im Besitz von Ephrussi befand. Carl Bernstein scheidet daher als Vorbesitzer aus. Das Spargelbündel kam spätestens 1903 nach Berlin. Der Kunsthändler Paul Cassirer hatte das Bild übernommen und stellte es im Mai 1903 in der VII. Kunstausstellung der Berliner Secession aus. Deren Präsident war der Berliner Maler Max Liebermann. Sicher hat er das Bild in dieser Ausstellung gesehen und die positive Besprechung des Bildes in der Zeitschrift Kunst und Künstler gelesen. Er kannte das Bild aber vermutlich schon früher, da er in Paris mit Ephrussi verkehrte. Liebermann erwarb das Gemälde schließlich am 6. April 1907 von Paul Cassirer für 24.300 Reichsmark. Wie aus Fotografien ersichtlich ist, fand das Bild seinen Platz in der Liebermann-Villa am Wannsee. Liebermann lieh das Bild zur Internationalen Kunstausstellung 1926 in Dresden und zur Manet-Ausstellung 1932 in Paris aus. Er blieb bis zu seinem Tod 1935 Besitzer des Bildes. Nach der so genannten „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 und dem wenige Wochen später erfolgten Reichstagsbrand entschied sich Liebermann – dessen Haus am Pariser Platz in Sichtweite des Reichstages stand – Teile seiner Kunstsammlung ins Ausland zu bringen. Unter dem Vorwand, die Bilder in Ausstellungen im Ausland zu zeigen, konnte der mit Liebermann befreundete Kunsthändler Walter Feilchenfeldt den Direktor des Kunsthauses Zürich, Wilhelm Wartmann, zur Aufnahme von 14 Bildern der Sammlung bewegen. Hierunter befand sich auch Manets Spargelbündel, das 1938 tatsächlich in der Ausstellung Honderd Jaar Franske Kunst im Amsterdamer Stedelijk Museum zu sehen war. Im selben Jahr gelang Liebermanns Tochter Käthe gemeinsam mit ihrem Mann Kurt Riezler und der Tochter Maria die Ausreise aus Deutschland. Sie konnten die zuvor in Zürich gelagerten Bilder der Sammlung Liebermann mit in die Vereinigten Staaten nehmen. Nach dem Tod von Liebermanns Frau Martha, die sich 1943 vor der geplanten Deportation ins KZ Theresienstadt das Leben nahm, erbte die inzwischen in New York City lebende Tochter Käthe das Spargelstillleben. Sie starb 1952, ihr Mann 1955. Die verbliebene Kunstsammlung Max Liebermanns ging in den Besitz ihrer in Northport lebenden Tochter Maria White über. Diese lieh das Bild 1966–1967 zur Manet-Retrospektive in Chicago und Philadelphia aus. Nach dem Tod von Konrad Adenauer 1967 initiierte der Bankenmanager Hermann Josef Abs in seiner Funktion als Vorsitzender des Wallraf-Richartz-Kuratoriums, des Fördervereins des Kölner Wallraf-Richartz-Museums, eine Spendenaktion, um dem Museum ein Gemälde zum Andenken an den früheren Kölner Bürgermeister und ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu überlassen. An der Spendenaktion beteiligten sich zahlreiche deutsche Unternehmen, darunter Banken, Handelsunternehmen und Industriebetriebe. Durch Vermittlung der Kunsthändlerin Marianne Feilchenfeldt, der Witwe von Walter Feilchenfeldt, erwarb Abs das Spargelstillleben von Manet aus dem Besitz von Maria White für 1.360.000 US-Dollar. Das Gemälde gelangte im selben Jahr als Dauerleihgabe des Kuratoriums in die Sammlung des Wallraf-Richartz-Museums. Da das Museum als eine der wenigen bedeutenden Kunstsammlungen der Bundesrepublik noch über kein Werk Manets verfügte, schloss der Neuzugang eine wichtige Lücke. Das Bild eines französischen Malers mit der Widmung zum Gedächtnis an Konrad Adenauer ist zugleich symbolisch mit dem Wirken des Kanzlers um die Deutsch-Französische Freundschaft verbunden. Rezeption Carl Schuch Schon früh hatte Manets Spargelbündel Einfluss auf andere Künstler. 1884 besuchten die Maler Karl Hagemeister und Carl Schuch in Paris die Manet-Gedächtnisausstellung in der École des Beaux-Arts, in der unter anderem das Spargelbündel zu sehen war. Hagemeister erinnerte sich später, wie die Werke Manets auf Schuch wirkten: „Den Spargel, die Rosen von Manet […] studierte er eingehend und hielt sie für einen Fortschritt gegen die Alten und Courbet.“ Schuch hat dann in seinen Pariser Jahren bis 1892 wiederholt ein Spargelbündel in seine Stillleben integriert, wie beispielsweise die Gemälde Äpfel auf Weiß; mit Körbchen, Zinnkrug und Spargelbund von 1884/1885 (Kaiser-Wilhelm-Museum, Krefeld) und Hummer, Zinnkanne und Spargelbund von 1884 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal) zeigen. Marcel Proust Charles Ephrussi, der erste Besitzer von Manets Spargelbündel, hatte im Frühjahr 1899 den Schriftsteller Marcel Proust zu Gast in seiner Wohnung. Proust sah dort Manets Spargelbündel und nahm es später als Anregung für verschiedene Passagen in seinem Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. So beschreibt er in dem Band In Swanns Welt Spargelstangen, „die wie mit Ultramarin und Rosa bemalt aussahen und deren Violett und Himmelblau getauchte Spitze nach dem anderen zu – das noch Spuren des nährenden Ackerbodens trug – lauter Abstufungen von irisierenden Farben aufwies, die nichts Irdisches hatten.“ Auch die Geschichte um Ephrussis Erwerb des Spargelbildes nahm Proust auf und ließ seine Romanfiguren über den Wert eines Spargelbildes diskutieren: „Swann hatte tatsächlich die Stirn, uns zum Kauf des Spargelbunds zu raten. Wir haben das Bild daraufhin sogar ein paar Tage im Haus gehabt. Es war nichts weiter als das darauf, ein Bund Spargel, genau wie der, den wir gerade schlucken, die Spargel von Herrn Elstir aber habe ich nicht geschluckt. Er verlangte dreihundert Francs dafür. Dreihundert Francs für ein Bund Spargel! Einen Louis d’or höchstens sind sie wert …“ Deutschsprachige Autoren Als Manets Spargelbündel 1903 in der Ausstellung der Berliner Secession gezeigt wurde, lobte der Kunstkritiker Emil Heilbut das Gemälde in der Zeitschrift Kunst und Künstler: „Dann folgt ein Bund Spargel, die in leuchtender Farbigkeit auf grünen Blättern liegen, ein Werk, das ganz wunderbar, nur fast zu schön ist. ein süsser Wohlklang der Farbe, die Vollkommenheit selbst.“ Später befand sich das Spargelbündel im Besitz des Malers Max Liebermann, der 1916 in einem Aufsatz für die Zeitschrift Kunst und Künstler erklärte, „ein Bund Spargel […] genügt für ein Meisterwerk“. In seiner 1912 erschienenen Manet-Biografie würdigte Julius Meier-Graefe das Werk: „Die Spargel, bei Liebermann, sind viel mehr als Spargel. Die Eigentümlichkeit der Materie, die nicht auf der Farbe allein, sondern auf Reaktionen unseres Tastsinns und allen möglichen anderen Sensationen beruht, ist hier nicht nur wiedergegeben, sondern verdoppelt. Es ist, als sammle sich der ganze sinnliche Apparat unseres Körpers in den Augen“. Der Berliner Museumsdirektor Hugo von Tschudi lobte Manets Stillleben des Spätwerks – wobei er auch das Spargelbündel erwähnte – und unterstrich, es gelänge dem Maler der Natur, „koloristische Reize von bisher ungeahnter Feinheit“ zu entschleiern. Der Kunsttheoretiker August Endell beschäftigte sich 1908 eingehend mit Manets Spargelbündel. Er sah in dem Bild eine „wunderbar vollendete Technik“ und bescheinigte dem Maler, er habe entdeckt, „daß ein Spargelbund, das bis dahin nur als eßbarer Gegenstand betrachtet wurde, ein kleines Wunderreich der zartesten, herrlichsten Farben ist, so schön und so reizvoll als die duftigste Blume, als die schönste Frau“. Endell führte anhand Manets Spargelbündel weiter den Unterschied zwischen dem „Gegenstand unseres Denkens“ und dem „Wahrnehmungsbild“ aus. Er unterschied: „Manet hatte nur gesehen den Spargel mit der Luft darüber und den Schatten, die anderen hatten nur eßbare Spargel gesehen ohne Farbe, ohne Schatten, ohne Luft, weil man das alles nicht essen kann.“ Für die Bildbetrachter, die in dem Werk mehr als essbaren Spargel sehen, sei es, so Endell, „eine Offenbarung, der Beginn eines neuen reicheren Lebens“. Für den Kunsthistoriker Gotthard Jedlicka gehört Manets Spargelbündel zu den „Prachtstücken“, die „für sich allein eine ganze Wand beanspruchen und beherrschen“. Manet sei es gelungen, „mit dem einfachen Motiv eines Spargelbündels auf einem Küchentisch“ „eine ganze Welt in unbeschreiblicher zeichnerischer und farbiger Fülle“ wiederzugeben. Hans Haackes Manet-Projekt ’74 Zum 150. Bestehen des Wallraf-Richartz-Museums fand in Köln die Ausstellung Projekt ’74 statt. Unter dem Motto „Kunst bleibt Kunst“ zeigten im Sommer 1974 neben dem Wallraf-Richartz-Museum weitere Kulturinstitutionen wie die Kunsthalle Köln und der Kölnische Kunstverein „Kunst am Anfang der 70er Jahre“. Zu dieser Ausstellung wurde auch der Künstler Hans Haacke eingeladen, der daraufhin sein Manet-Projekt ’74 einreichte. In einer Rauminstallation wollte er Manets Gemälde Spargelbündel auf einer Staffelei präsentieren und an den Wänden auf zehn Tafeln die sozialen und wirtschaftlichen Situationen der Personen darstellen, die das Bild seit seiner Entstehung besessen hatten. Obwohl das Projekt in Evelyn Weiss, seinerzeit Kuratorin für Moderne Kunst am Wallraf-Richartz-Museum, Manfred Schneckenburger, Direktor der Kunsthalle, und Wulf Herzogenrath, Direktor des Kunstvereins, prominente Fürsprecher hatte, wurde es von Gert von der Osten, dem Generaldirektor der Museen der Stadt Köln, abgelehnt, ohne die Details des Projektes zu kennen. Das Manet-Projekt ’74 wurde stattdessen in der Kölner Galerie von Paul Maenz gezeigt. Da das Originalbild von Manet dort nicht zur Verfügung stand, behalf sich Haacke mit einer Farbreproduktion in Originalgröße. Haacke hatte die Provenienz des Spargelbündels ermittelt und dabei herausgefunden, dass nach Manet alle weiteren Besitzer des Bildes und alle je am Verkauf des Bildes beteiligten Kunsthändler Juden waren. Er stellte die Lebensläufe der einzelnen Vorbesitzer dar, darunter die von Max und Martha Liebermann. Eine weitere Tafel war Hermann Josef Abs gewidmet. Der Vorsitzende des Wallraf-Richartz-Kuratoriums und langjährige Vorstandssprecher der Deutschen Bank hatte den Kauf des Gemäldes für das Museum initiiert. In seinem Lebenslauf listete Haacke aber nicht nur die Rolle von Abs in der Bundesrepublik, sondern auch seine zahlreichen Funktionen in der Zeit des Nationalsozialismus auf, bei der er eine unrühmliche Rolle „bei der „Arisierung“ jüdischen Vermögens gespielt hatte“. Die Journalistin Annika Karpowski merkte hierzu an: „Der vermeintlich generöse Mäzen, der Bankier Hermann Joseph Abs, stellte sich so als Nutznießer der Enteignung jüdischer Vermögen heraus.“ Die Nichtzulassung von Haackes Manet-Projekt ’74 bei der offiziellen Ausstellung der Stadt Köln löste zahlreiche Proteste anderer Künstler aus, darunter Daniel Buren und Sol LeWitt. Mit seiner Arbeit nahm Haacke frühzeitig spätere Diskussionen um Raubkunst und Provenienzforschung vorweg. Literatur Brigitte Buberl (Hrsg.): Cézanne, Manet, Schuch; drei Wege zur autonomen Kunst. Ausstellungskatalog Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund, Hirmer, München 2000, ISBN 3-7774-8640-X. Günter Busch (Hrsg.): Max Liebermann, Vision der Wirklichkeit, ausgewählte Schriften und Reden. Fischer, Frankfurt am Main 1993, ISBN 3-596-11686-4. Françoise Cachin, Charles S. Moffett und Juliet Wilson-Bareau: Manet: 1832–1883. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Anwerbepolitik%20der%20Bundesrepublik%20Deutschland
Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland
Durch die Anwerbepolitik der Bundesrepublik Deutschland wurden ab Mitte der 1950er-Jahre Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben und vermittelt. Die Bundesregierung verfolgte diese Politik bis wenige Jahre nach der ersten Ölkrise von 1973. Die hierfür grundlegenden Anwerbeabkommen wurden in den Jahren von 1955 bis 1968 mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien geschlossen. Auf Basis dieser Vereinbarungen gewährte Deutschland den ausländischen Arbeitnehmern einen zeitlich befristeten Aufenthalt im Land zum Zweck der Erzielung von Erwerbseinkommen. Mit weiteren Staaten wurden Anwerbeabkommen geschlossen, die der Erweiterung beruflicher Kenntnisse dienen sollten. Die Angeworbenen wurden Gastarbeiter genannt, wobei dieser Begriff ab den 1960er Jahren nach faktischem Wegfall der zeitlichen Befristung auch als Bezeichnung für Arbeitsmigranten im Allgemeinen populär wurde. Insgesamt kamen von 1955 bis 1973 etwa 14 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik, 11 bis 12 Millionen kehrten in ihre Herkunftsländer zurück. Am 23. November 1973 trat ein von der sozialliberalen Koalition verhängter Anwerbestopp in Kraft. Verlauf Erstes Anwerbeabkommen mit Italien Der Anstoß zu einer Vereinbarung, die Anwerbung von Italienern für die Erwerbsarbeit in der Bundesrepublik zu beginnen, kam aus Italien. Bernhard Ehmke, zuständiger Ministerialrat im Bundesarbeitsministerium, umriss am 9. November 1954 in einer Besprechung die Lage: „Intensiver… Drang des Auslandes, in der deutschen Wirtschaft Arbeitskräfte unterzubringen. [Kein Ministerbesuch vergeht,] bei dem diese Frage nicht Punkt 1 ist.“ Er nannte besonders Italien und Spanien. Insbesondere in Italien war die hohe Arbeitslosigkeit und die Sorge vor kommunistischen Unruhen zunehmend zu einem innenpolitischen Problem geworden. Nach einem Jahr italienischen Drängens setzte ein Bündnis aus Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, Auswärtigem Amt und Franz Josef Strauß als Bundesminister für besondere Aufgaben bei Bundeskanzler Konrad Adenauer durch, dass auf die italienischen Bitten einzugehen sei. Die Bündnispartner verfolgten dabei jeweils eigene Interessen. Der Bundeswirtschaftsminister sorgte sich um das Außenhandelsdefizit Italiens, das einen weiteren Absatz deutscher Güter in Italien bedrohte. Das Auswärtige Amt verfolgte die Verbesserung der Beziehungen nach der zuletzt zwischen beiden Seiten konfliktreichen Kriegszeit. Strauß wollte mit dem Eingehen auf die italienischen Bitten den Forderungen nach Lohnerhöhungen seitens deutscher Gewerkschaften entgegentreten. Bundesarbeitsminister Anton Storch dagegen hatte zunächst eine ablehnende Haltung und „hatte zwar in Anbetracht anhaltender Arbeitslosigkeit zunächst noch die öffentliche Meinung einschließlich der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften hinter sich, unterlag aber schon bald dem vom Auswärtigen Amt bereits während der Verhandlungen mit Italien generierten Primat der Außenpolitik.“ Einer der Gründe, die für ein Einlenken Storchs genannt werden, ist, dass Ehrhard das Abkommen mit Italien als „prophylaktisch“ darstellte: Es diene vor allem dafür, im eventuellen Fall eines Arbeitskräftemangels schnell Arbeitskräfte heranziehen zu können. Den Ausschlag für den Abschluss habe gegeben, dass sich im Herbst 1955 tatsächlich ein unerwarteter Bedarf an Arbeitskräften in der Landwirtschaft abgezeichnet habe; Storch habe daraufhin selbst auf einen baldigen Abschluss gedrängt. Am 20. Dezember 1955 wurde in Rom das erste Anwerbeabkommen geschlossen. Italien hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mit Belgien, Frankreich, der Schweiz, Großbritannien, Luxemburg, den Niederlanden und der Tschechoslowakei bilaterale Anwerbeabkommen geschlossen. Laut dem Historiker Roberto Sala orientierten sich die italienischen Behörden beim Abschluss dieser Abkommen am historischen Beispiel der Anwerbung von Italienern in das nationalsozialistische Deutschland, bei dem sämtliche Modalitäten der Anwerbung auf diplomatischer Ebene ausgehandelt und festgeschrieben wurden. Das deutsch-italienische Abkommen legte fest, dass die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (Vorläufer der Bundesagentur für Arbeit) in Italien gemeinsam mit der italienischen Arbeitsverwaltung Arbeitskräfte auswählen und anwerben solle. Eine Umfrage des Allensbacher Instituts vom März 1956 ergab, dass 55 % der befragten bundesrepublikanischen Bürger sich „dagegen“ aussprachen, „daß italienische Arbeiter nach Deutschland geholt werden“ „Dafür“ waren 20 %, „unter Umständen dafür“ waren 6 %. „Noch nicht davon gehört“ hatten 18 %. Von den 55 % ablehnenden Antworten gab die große Mehrheit (41 %) als Begründung an, es gebe genügend deutsche Arbeitskräfte. Bei der Anwerbung war der ökonomische Aufschwung der Nachkriegszeit von wesentlicher Bedeutung. Anfang der 1950er stieg die Industrieproduktion stark an, und nicht zuletzt durch die Gründung der Bundeswehr 1955 und die Wiedereinführung der Wehrpflicht (1956–57) sanken die Arbeitslosenzahlen merklich. Insbesondere in der Landwirtschaft und im Bergbau wuchs der Arbeitskräftebedarf. Die Zahl der Anwerbungen blieb jedoch in den ersten Jahren gering. Erst nachdem 1960 die Arbeitslosigkeit unter ein Prozent gefallen war und es mehr offene Stellen als Arbeitslose gab, also Vollbeschäftigung vorlag und die Industrien ihren Bedarf auch nicht mehr durch Zuwanderer aus Osteuropa und der DDR decken konnten, nahm die Zahl der Anwerbungen erstmals deutlich zu. Nachfolgende Anwerbeabkommen In den folgenden Jahren wurden nach dem Abkommen mit Italien vom 20. Dezember 1955 weitere Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und den Entsendeländern zur Reduzierung von deren Leistungsbilanzdefizit gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geschlossen: im März 1960 mit Spanien und mit Griechenland, am 30. Oktober 1961 mit der Türkei, danach mit Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien. Der Anwerbung lagen folgende Prinzipien zugrunde: staatliche Vermittlung (wobei parallel dazu andere Wege bestanden), das Inländerprimat (nur in den Bereichen durften Arbeitskräfte angeworben werden, in denen inländische Arbeitskräfte fehlten), die Tarifgleichheit (die angeworbenen Arbeitskräfte waren nach den gleichen Tarifen zu entlohnen wie Inländer mit vergleichbaren Tätigkeiten), das Rotationsprinzip (zu Beginn galten Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse nur für ein Jahr), eine permanente Kontrolle (Ausweisung von Vertragsbrüchigen, Verhinderung einer „kommunistischen Infiltration“). Bei der Anwerbung spielten neben ökonomischen Gründen auf bundesdeutscher Seite auch außenpolitische Motive eine Rolle. Die Initiative ging hierbei von den Entsendeländern aus. Dass in der Praxis sehr viele Arbeitsmigranten vermittelt wurden, wird demgegenüber weitgehend auf den Druck der Arbeitgeber und die Umsetzung durch die Behörden zurückgeführt. Auf Initiative der spanischen Diplomatie entstand das Abkommen mit Spanien, wobei die bundesdeutsche Regierung sich davon mehreres versprach. Einerseits bestand die Erwartung, dort Arbeitskräfte anwerben zu können, die dort aufgrund des wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses arbeitslos würden, nachdem auf Basis des Stabilitätsplans von 1959 – dem Plan de Estabilización – die franquistische Wirtschaftspolitik durch einen Wirtschaftsliberalismus ersetzt worden war. Andererseits ging es außenpolitisch darum, die Annäherung Spaniens an Westeuropa zu stützen. Es folgte ein Abkommen mit Griechenland, das sich seit 1955 darum bemüht hatte. Auch beim Anwerbeabkommen mit der Türkei ging die Initiative vom Entsendeland aus. Anton Sabel, Präsident der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, äußerte am 26. September 1960 gegenüber dem Arbeitsministerium, arbeitsmarktpolitisch sei eine Vereinbarung mit der Türkei in keiner Weise notwendig. Allerdings könne er nicht beurteilen, „wie weit sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen kann, da die Türkei ihre Aufnahme in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beantragt hat und als NATO-Partner eine nicht unbedeutende politische Stellung einnimmt.“ Die Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz weist darauf hin, dass die Türkei ihre NATO-Mitgliedschaft ebenso wie ihren Wirtschaftsaustausch mit Deutschland als Argumente für ein Anwerbeabkommen einbrachte. Der Historiker Johannes-Dieter Steinert führt den Erfolg der Bewerbung der Türkei auf ihre Rolle als NATO-Mitglied zurück, sieht aber für ein direktes Eingreifen anderer NATO-Partner keine Anhaltspunkte. Der Journalist Heribert Prantl bezeichnet das Abkommen mit der Türkei und die nachfolgenden Anwerbeabkommen als eine indirekte Folge des Mauerbaus, da durch den Stopp des Zustroms von Menschen aus dem Osten ab August 1961 von dort keine neuen Arbeitskräfte kamen, die in der Industrie hätten eingesetzt werden können. Dieser Einschätzung widerspricht der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser; zwischen dem Mauerbau und der Anwerbung türkischer Arbeitnehmer gebe es keinen Zusammenhang, weil ganz unterschiedliche Sektoren des Arbeitsmarktes betroffen gewesen seien, insbesondere bezogen auf das Qualifikationsniveau. Anfang der 1960er lehnte die Bundesregierung bereits zahlreiche Anfragen nach Anwerbeabkommen aus außereuropäischen Staaten ab. Die Abkommen mit der Türkei (1961), Marokko (1963) und Tunesien (1965) sahen verschärfte Bedingungen vor: Die Anwerbung war auf zwei Jahre beschränkt; die Gesundheitsprüfung diente bei Menschen aus der Türkei und Tunesien nicht nur zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit, sondern auch dem Seuchenschutz. Für türkische Arbeitsmigranten wurde mit Wirkung zum 30. September 1964 die Befristung, die zuvor auf Wunsch der Bundesrepublik sowie der Türkei eingeführt worden war, aufgehoben. Die Zahlen der Arbeitsmigranten aus Marokko und Tunesien blieben im Vergleich zur Türkei gering: Marokkaner und Tunesier zogen vielfach eine Auswanderung nach Frankreich vor. In Deutschland arbeiteten die meisten marokkanischen Arbeiter im Steinkohlenbergbau, andere in der metallverarbeitenden Industrie, dem Baugewerbe und der Landwirtschaft. Das Anwerbeabkommen mit Marokko beruhte vor allem auf dem Interesse deutscher Arbeitgeber des Bergbaus an marokkanischen Bergarbeitern aus der Rif-Region; auf diplomatischer Ebene ging es auch um eine engere Anbindung an den Westen. Außerdem schloss die Bundesrepublik Abkommen mit Südkorea für die Anwerbung von Bergarbeitern (1963) und Krankenschwestern (1971), wobei sowohl wirtschaftliche als auch außenpolitische Motive eine Rolle spielten. Am 10. September 1964 wurde der Portugiese Armando Rodrigues de Sá als millionster Gastarbeiter in Deutschland feierlich begrüßt. Zu diesem Zeitpunkt waren insgesamt 78 % der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland männlich, 22 % weiblich. Der Anteil der Frauen stieg dort im Zeitraum von 1960 bis 1973 von 15 % auf rund 30 %. Der Anteil der Erwerbstätigen war im Jahr 1970 unter ausländischen Frauen (55 %) deutlich höher als unter westdeutschen Frauen (29 %). In den 1960er Jahren erhielten die Gastarbeiter zumeist als un- oder angelernte Arbeiter einen Arbeitsplatz in der Industrie. Dabei arbeiteten sie vor allem in Bereichen, in denen schwere und schmutzige Arbeit verrichtet werden musste und wo das Schichtsystem, serielle Produktionsformen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen (Fließbandarbeit) sowie der Akkordlohn den Arbeitsalltag bestimmten. Zu Beginn wurden vor allem ungelernte Arbeitskräfte angeworben, später auch Facharbeiter. Man spricht auch von einer Unterschichtung der Arbeitswelt, da Migranten vor allem unbeliebte und schlecht bezahlte Arbeiten übernahmen und einheimische Arbeitnehmer in einer Art Fahrstuhleffekt höher bezahlte Stellen erreichen konnten. Nach allgemeiner Auffassung trugen die angeworbenen Arbeitskräfte aus dem Ausland erheblich zum deutschen „Wirtschaftswunder“ bei. Für die Unternehmen als Nachfrager von Arbeitskräften hatte die Rekrutierung von Gastarbeitern finanzielle Vorteile, weil aus ihrer Perspektive deutsche Arbeiter dieselben Arbeitsplätze nur mit erheblichen Lohnzugeständnissen angenommen hätten. Die zusätzlichen Arbeitskräfte fungierten als eine mobile Arbeitskraftreserve, zugespitzt auch als „industrielle Reservearmee“ bezeichnet. Im Umkehrschluss hatte die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften somit Einfluss auf das Lohnniveau von deutschen Anbietern von Arbeitskraft, insbesondere im Niedriglohnbereich. Frauen wurden meist für den Niedriglohnsektor oder für die damaligen Leichtlohngruppen angeworben. Um Widerstände in den Herkunftsländern gegen die Anwerbung von Frauen ins Ausland zu überwinden, wurden Frauen möglichst nur in Gruppen angeworben, wurden Arbeitsplätze und Unterkünfte vom Arbeitsamt vorab auf moralische Zuträglichkeit überprüft und wurde eine intensive Betreuung angestrebt, vorzugsweise durch die Caritas oder den Katholischen Mädchenschutz. Viele zogen dorthin, wo bereits Verwandte oder der Ehepartner lebten. Mütter zählten nicht zur vorrangigen Zielgruppe der Anwerbung, und kinderreiche Mütter wurden im Rahmen des Ermessens nicht angenommen. Schwangere hatten zwar prinzipiell Anspruch auf Mutterschutz und Kündigungsschutz, den Anspruch auf gleichberechtigte sozialstaatliche Teilhabe sprach die Bundesanstalt jedoch Arbeitgebern gegenüber nicht offen an. Ab 1969/1970 setzten die Anwerbekommissionen bei der Auswahl Schwangerschaftstests ein. Insgesamt war und blieb die Arbeitsmigration trotz gegenteiliger Bemühungen eng mit der Familienmigration verknüpft. Die Abkommen mit Italien, Spanien, Griechenland und Portugal enthielten jeweils eine Klausel zum Familiennachzug, die eine wohlwollende Prüfung eines Antrags auf Familiennachzug seitens der bundesdeutschen Behörden in Aussicht stellte. Die Abkommen mit der Türkei, Marokko, Tunesien und Jugoslawien enthielten hingegen keine solche Klausel. Bei dem Abkommen mit Portugal (1964) drängte das Innenministerium zunächst ebenfalls auf einen Ausschluss des Familiennachzugs, setzte dies aber nicht durch. Die Möglichkeit des Familiennachzugs wurde in den Jahren 1965/1966 durch Beschlüsse der Innenministerkonferenz weiter geregelt. Sie bestand für Ehegatten und minderjährige Kinder bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres, wurde zunächst aber nur wenig genutzt. Viele ausländische Arbeitskräfte „pendelten“ vielmehr, indem sie nach ihrem Aufenthalt in der Bundesrepublik wieder in ihr Herkunftsland zurückkehrten, um danach eine erneute Beschäftigung in Deutschland aufzunehmen. Die Innenministerien von Bund und Ländern vertraten im Vergleich zu anderen Ministerien eine restriktivere Position. Sie entwickelten Pläne, um den Aufenthalt im Land durch einen Rückkehrzwang und durch Hürden beim Familiennachzug zu begrenzen – ähnlich wie dies im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik geregelt gewesen war. Angesichts des wirtschaftlichen Interesses an der Arbeitsmigration setzten sie diese Pläne in den 1960er-Jahren jedoch nicht gegenüber anderen beteiligten Ressorts durch. Im Zuge der Rezession 1966/1967 kehrten viele Gastarbeiter in ihre Heimat zurück, da ihre Verträge nicht verlängert wurden. Etwa 100.000 jugoslawische Arbeitskräfte kamen von 1961 bis 1968 auf der Basis privater Verträge mit Arbeitgebern nach Deutschland. Nachdem die Bundesrepublik im Januar 1968 wieder diplomatische Beziehungen mit Jugoslawien aufgenommen hatte – 1957 waren die Beziehungen wegen der Hallstein-Doktrin abgebrochen worden –, wurde mit diesem Land im selben Jahr ein Anwerbeabkommen geschlossen. Dies geschah aus außenpolitischen Erwägungen und trotz ausdrücklicher Vorbehalte des Bundesarbeitsministeriums. Ab 1970 bildeten die Türken die größte Gruppe von Ausländern in der Bundesrepublik. Im November 1972 beendete ein Rundschreiben des Auswärtigen Amtes an deutsche Konsulate die Möglichkeit, ohne Einbeziehung der Anwerbekommission mit einem Arbeitsvisum einzureisen („zweiter Weg“). Im Jahr 1973, zur Zeit der Ölkrise und der damit verbundenen Wirtschaftsflaute, wurde ein Anwerbestopp von Gastarbeitern verhängt. Anwerbestopp 1973 Am 23. November 1973 verfügte die Regierung Brandt II durch einen Erlass des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMAS) aus Anlass der aktuellen Energie- und Wirtschaftskrise einen Anwerbestopp, unterzeichnet von Bundesarbeitsminister Walter Arendt. Der Erlass beendete die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer aus allen Anwerbestaaten mit Ausnahme Italiens und ordnete zugleich eine restriktive Praxis bei der Neuerteilung von Arbeitserlaubnissen an. Laut Abelshauser war für den Stopp nicht allein die konjunkturelle Krise relevant, also die Ölkrise von 1973 und ihre Folgen, sondern auch eine sich abzeichnende strukturelle Krise – die ersten Anzeichen einer „Krise der standardisierten Massenproduktion“, welche „der Nachfrage nach ungelernten Industriearbeitern dauerhaft die Grundlage entzog“. Andere sehen einen wesentlichen Grund für den Anwerbestopp darin, dass die Regierung sich der sozialen und politischen Kosten der Anwerbeprogramme stärker bewusst geworden sei. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps waren etwa 2,6 Millionen ausländische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik beschäftigt. Danach hielt die Zuwanderung auf einem niedrigen Niveau weiter an. Es handelte sich nunmehr weitgehend um nachziehende Ehepartner und Kinder. Mit einer Weisung zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vom 13. November 1974 nahm die Bundesanstalt für Arbeit bestimmte Branchen vom Anwerbeverbot aus. Es handelte sich dabei um die Branchen Bergbau, Fisch- und Konservenindustrie, Torfindustrie und Hotel- und Gaststättengewerbe. Da das Übereinkommen mit Südkorea in Artikel 1 vorsah, im Zusammenhang mit der Anwerbung „die beruflichen Kenntnisse der koreanischen Bergarbeiter zu erweitern und zu vervollkommnen“, wurde die Anwerbung koreanischer Bergarbeiter als „technische Entwicklungshilfe“ eingestuft und musste daher nicht unterbrochen werden. Aus Südkorea wurden über den offiziellen Anwerbestopp hinaus bis 1977 weiterhin Bergarbeiter, Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen angeworben. Ab dem 1. Dezember 1974 galt eine Arbeitsmarktzugangssperre: Bereits in der Bundesrepublik lebende Ausländer konnten von da an keine Arbeitserlaubnis mehr für eine erstmalige Beschäftigungsaufnahme erhalten. Ausnahmen galten diesbezüglich nur für bestimmte jugendliche Familienangehörige ausländischer Arbeitskräfte sowie in Bereichen mit hohem Arbeitskräftebedarf. Der „Anwerbestopp“ (1973) bedeutete für in Deutschland beschäftigte Arbeitsmigranten, dass ihnen nunmehr die Möglichkeit versperrt war, unter Kündigung des Arbeitsverhältnisses in die Heimat zurückzukehren und später wieder eine Arbeit in Deutschland aufzunehmen. Dieser Umstand, verstärkt durch eine Reduzierung des Kindergelds für nicht in Deutschland lebende Kinder (1975), führte in den 1970ern zu einem verstärkten Nachzug von Familienangehörigen, obwohl die Politik zunächst weiterhin an der dem „Rotationsmodell“ zugrunde liegenden Idee festhielt, dass der Aufenthalt von Gastarbeitern nur für eine beschränkte Zeit erfolgen solle. Da auf diesem Hintergrund das Thema einer Integrationspolitik von Seiten der Politik weitgehend ausgeklammert wurde, beschränkte sich die öffentliche Diskussion vornehmlich auf arbeitsmarkt- und verteilungspolitische Gesichtspunkte. Ungeachtet dieser Situation entwickelte sich die in den 1950er Jahren amtlich organisierte Arbeitswanderung gegen Ende der 1970er Jahre real zu einer „Einwanderungssituation“. Zum 1. Oktober 1978 ermöglichte eine Neuregelung des Aufenthaltsrechts („Verfestigungsregelung“) ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen unter bestimmten Bedingungen nach fünf Jahren ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalts den Zugang zur unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und nach acht Jahren zur Aufenthaltsberechtigung. Das Rotationsmodell, das „offiziell und offen“ ohnehin zu keinem Zeitpunkt praktiziert worden war, spielte gegen Ende der 1970er Jahre keine Rolle mehr; stattdessen setzte eine kontroverse Diskussion um die endgültige Rückkehr der ursprünglich Angeworbenen in ihre Heimatländer ein. 1980er: Rückkehrförderung, beginnende Integration, Mauerfall Im Jahr 1980 erreichten parallel dazu die Asylbewerberzahlen mit 92.918 Anträgen für 107.818 Personen einen ersten Höchststand. Es kam zu wachsender Arbeitslosigkeit und einem steigenden Ausländerzuzug; in Debatten in Politik und Medien wurden Arbeitsmigration und Asyl als „Ausländerthema“ vermengt und ideologisiert. Die Bundesregierung führte 1980 eine Visumpflicht für Türken ein. Zugleich bedeuteten die Beschlüsse 2/76 und 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei eine größere Freizügigkeit zur Erbringung wirtschaftlicher Dienstleistungen und für den Aufenthalt von Familienangehörigen. Gesellschaftlich wurde in Deutschland die Zuwanderung von Arbeitskräften aus Italien, Spanien, Griechenland und Portugal als notwendige Folge der europäischen Integration angesehen, nicht aber die Zuwanderung aus der Türkei. Helmut Kohl, der 1982 Bundeskanzler wurde, richtete die Ausländerpolitik auf drei Schwerpunkte aus: die Aufrechterhaltung des Anwerbestopps, die Einschränkung des Familiennachzugs und die Förderung der Rückkehrbereitschaft. Laut Protokollen der britischen Regierung hielt Kohl es für nötig, über die folgenden vier Jahre „die Zahl der Türken um 50 Prozent zu reduzieren“. Mit dem umstrittenen Rückkehrhilfegesetz (RückHG) zur finanziellen Förderung der Rückkehrbereitschaft ausländischer Arbeitnehmer versuchte die Bundesregierung 1983/84 eine Entlastung des Arbeitsmarktes zu erzielen, der von zunehmender Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war. Eine im Jahr 1984 durchgeführte Umfrage unter 2.000 Menschen, bei der Mehrfachnennungen möglich waren, die Rückkehrhilfe beantragten, zeigte, dass für alle außer den türkischen Rückkehrern die Arbeitsplatzprobleme der wesentlichste Grund für die Rückkehr war. Etwa die Hälfte der befragten türkischen Arbeitnehmer nannten Heimweh und Arbeitsplatzprobleme und jeder Dritte von ihnen gesundheitliche Probleme. Ausländerfeindlichkeit nannten rund 10 Prozent der Spanier und Griechen sowie jeder Vierte der Jugoslawen und Türken als Motive für die Rückkehr. Im Jahr 1984 bildeten türkische Staatsangehörige etwa 40 % der aus Deutschland fortziehenden Ausländer, hauptsächlich als Folge des Rückkehrhilfegesetzes; zuvor hatten sie 1976 und 1977 jeweils ein Viertel aller Fortzüge von Ausländern aus Deutschland dargestellt. Mitte der 1980er Jahre wurde viel für die Integration von Ausländern getan. Nach dem Mauerfall kam es jedoch für Einwanderer der ersten Generation verstärkt zu Erfahrungen gesellschaftlicher Ablehnung und einer wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit. Ereignisse wie die Ausschreitungen in Hoyerswerda, in Rostock-Lichtenhagen, in Mölln und in Solingen sowie die einsetzende Asyldebatte beförderten die Befürchtung einer Ausgrenzung als Ausländer. Ausblick Die Zeitspanne der Anwerbepolitik wird heute als eine von mehreren Phasen in der Geschichte der bundesdeutschen Zuwanderungspolitik aufgefasst, auch „Anwerbephase“ genannt. Für Nicht-EU-Bürger gilt der Anwerbestopp nach Maßgabe der einschlägigen ausländerrechtlichen Bestimmungen de facto bis heute, wenngleich er durch andere Möglichkeiten wie den Familiennachzug, die Aufenthaltserteilung zum Zweck des Studiums und die Öffnung legaler Zuzugswege für Fachkräfte teilweise relativiert wurde. In den 1980er Jahren traten Griechenland (1981), Portugal (1986) und Spanien (1986) der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei, mit der Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit für ihre Bürger. Ende der 1980er Jahre schloss die Bundesregierung Werkvertragsarbeitnehmerabkommen mit mittel- und osteuropäischen Staaten und der Türkei, wie sie heute mit Bosnien und Herzegowina, mit Nordmazedonien, mit Serbien und mit der Türkei bestehen ( BeschV). Durch die Anwerbestoppausnahmeverordnung (ASAV) vom 17. September 1998 und § 9 der Arbeitsgenehmigungsverordnung (ArGV) zu arbeitsgenehmigungsfreier Beschäftigung vom 17. September 1998, die Green-Card-Offensive (2000), das Aufenthaltsgesetz (2005) mit den dazu ergangenen Rechtsverordnungen und die Beschäftigungsverordnung (2013) wurden eng umgrenzte Möglichkeiten der Arbeitskräftezuwanderung für qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten geschaffen. Die Anwerbestoppausnahmeverordnung wurde 2008 durch das Gesetz zur Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente (ArbMINAG) grundlegend geändert. Im Abschlussbericht der Hochrangigen Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung von 2011 wurde betont, dass die Regelungen, die Fachkräftezuwanderung ermöglichten, formal Ausnahmen zum grundsätzlich geltenden Anwerbestopp waren. Die Konsensgruppe forderte, diese Systematik durch eine Neufassung des Aufenthaltsgesetzes umzukehren, um deutlich zu machen, dass Zuwanderung nach Deutschland explizit gewünscht und gefördert werde. Dieser „Paradigmenwechsel“ sei „unverzichtbar, um eine Einladungs- und Willkommenskultur bei uns zu entwickeln“. Die Anwerbestoppausnahmeverordnung wurde zum Ende 2011 aufgehoben. Weitere Möglichkeiten der Arbeitskräftezuwanderung für qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten schuf das zum 1. März 2020 in Kraft tretende Fachkräfteeinwanderungsgesetz (allgemeiner siehe auch: Bundesdeutsche Ausländerpolitik). Bis heute gelten in den Anwerbeabkommen geregelte sozial- und aufenthaltsrechtliche Vergünstigungen für Arbeitnehmer aus den Anwerbestaaten und ihre Familienangehörigen fort. Eine Regelung, der zufolge Kinder unter 16 Jahren aus den (ehemaligen) Anwerbestaaten von der Visum- und Aufenthaltserlaubnispflicht befreit waren, wurde im Januar 1997 durch eine Eilverordnung des Bundesinnenministeriums widerrufen. Zur Arbeitsmigration im Allgemeinen siehe die Kapitel: „Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Wiedervereinigung“ und „Entwicklungen nach der Wiedervereinigung und politische Debatte“ des Artikels „Arbeitsmigration“ Zwischenstaatliche Übereinkünfte Anwerbeabkommen der Bundesrepublik: Südeuropa und Mittelmeer-Anrainerstaaten Die folgenden Vereinbarungen wurden mit Staaten getroffen, die zu Südeuropa zählen oder an das Mittelmeer angrenzen. Als Muster diente das erste Abkommen mit Italien: 1955: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien (Kabinett Adenauer II / Antonio Segni) 1960: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Spanien (Kabinett Adenauer III / Francisco Franco) 1960: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Griechenland (Kabinett Adenauer III / Konstantinos Karamanlis) 1961: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei (Kabinett Adenauer III / Cemal Gürsel) 1963: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Marokko (Kabinett Adenauer V / Hassan II.) 1964: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Portugal (Kabinett Erhard I / Américo Tomás) 1965: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Tunesien (Kabinett Erhard I / Habib Bourguiba) 1968: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien (Kabinett Kiesinger / Mika Špiljak) Die Abkommen kamen häufig auf Initiative der Herkunftsländer zustande, die ihren Arbeitsmarkt entlasten und von Devisenerträgen profitieren wollten; für die Bundesrepublik bedeuteten sie einen volkswirtschaftlich gewünschten Zustrom an Arbeitskräften, insbesondere weil nach dem Mauerbau 1961 kaum noch Übersiedler aus der DDR kamen. Die Abkommen sollten eine staatliche Regulierung der Arbeitsmigration in Bezug auf Volumen und auf Qualifikation der Arbeitsmigranten gewährleisten. Für Ausländer gab es neben dem ersten Weg, der Anwerbung (Einreise und Prüfung durch die Anwerbungskommission), auch andere Wege, um für eine Erwerbstätigkeit in die Bundesrepublik zu kommen. Der zweite Weg war die Einreise mit einem konsularischen Sichtvermerk auf Grund eines existierenden Arbeitsangebots, wobei die Erteilung des Sichtvermerks eine Bewilligung durch die deutsche Polizei und die deutschen Arbeitsämter erforderte, die unter anderem prüften, ob ein geeigneter deutscher Arbeiter für die offene Stelle vorhanden war (Prinzip des Inländerprimats). Dieser Weg war durch einen Ratsbeschluss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OEEC) von 1953 untermauert, nach dem kein Arbeitnehmer daran zu hindern sei, einen Arbeitsvertrag direkt in der Bundesrepublik abzuschließen. Der dritte Weg war die Einreise mit einem Touristenvisum, um dann eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu beantragen. Durch drei Verordnungen vom August 1961, vom März 1964 und vom Oktober 1968 wurde die Freizügigkeit der Arbeitskräfte in der EWG eingeführt. In der Folge brauchten EWG-Arbeiternehmer ab dem 1. Januar 1962 keinen Sichtvermerk mehr zur Einreise, sondern es reichte ein Personalausweis. Das Anwerbeabkommen war von da an für italienische Arbeitnehmer weniger wichtig. (Siehe hierzu: Artikel „Italiener in Deutschland“, Abschnitt „Geschichte“.) Weitere Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Neben den bereits genannten Anwerbeabkommen gab es Anwerbeabkommen mit weiteren Staaten. Anfang der 1950er traf die Bundesregierung bilaterale Abkommen mit Österreich (1951), Belgien (1952), Spanien (1952) und Schweden (1953), die der Vervollkommnung von Berufs- und Sprachkenntnissen dienen sollten und auf wenige hundert Gastarbeitnehmer jährlich beschränkt waren (Österreich 500, Belgien 150, Spanien 150 und Schweden 250 pro Jahr). Außerdem vereinbarte sie zwecks Anwerbung von Bergleuten Programme zur befristeten Beschäftigung mit Südkorea, Japan und Chile, die – ebenso wie die Abkommen mit Marokko und Tunesien – im Wesentlichen auf zeitlich befristete Beschäftigungsprogramme zielten. Die Anwerbung aus Japan und Chile sowie die Anwerbung männlicher Arbeitskräfte aus Korea dienten dem Bergbau. Hintergrund der Anwerbung aus Japan waren zum einen der Arbeitskräftemangel, zum anderen die Rationalisierungsmaßnahmen im japanischen Bergbau in den 1950er Jahren. Mit Japan wurde im Jahr 1957 durch Notenwechsel eine auf drei Jahre befristete Beschäftigung von 500 japanischen Bergmännern in der Bundesrepublik vereinbart; hierfür wurden die Arbeitnehmer von ihren Stammbetrieben in Japan beurlaubt. Die Anwerbung aus Japan kam in den 1960ern im Zuge der Anwerbung anderer Gastarbeiter zum Erliegen. In den Jahren 1963 und 1971 wurden Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Südkorea geschlossen: Das Abkommen von 1963 regelte die Anwerbung von Bergmännern und das Abkommen von 1971 die Anwerbung von Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen. Die gesetzliche Grundlage für die Anwerbung südkoreanischer Bergleute waren drei Bekanntmachungen der Bundesregierung aus den Jahren 1964, 1970 und 1971. Bei der Anwerbung koreanischer Krankenschwestern und Krankenpflegehelferinnen lag anders als bei den übrigen Anwerbeabkommen die Verantwortung für die Auswahl der Arbeitskräfte nicht bei einer deutschen Behörde, sondern bei einer Organisation vor Ort, der Korean Overseas Development Corporation (KODCO). Vergleichbare Anwerbeabkommen anderer Staaten Vergleichbare Anwerbeprogramme führten auch andere europäische Staaten durch, etwa Belgien und die Niederlande. Bilaterale Abkommen über die Anwerbung stellten einen gewissen Schutz für die Auswanderer dar. Sie gaben den Entsendestaaten außerdem die Möglichkeit, über die Beteiligung ihrer Arbeitsämter die Auswanderung zu steuern – etwa indem im Inland benötigten Fachkräften zunächst eine Stelle im eigenen Land angeboten wurde. Eine innereuropäische Arbeitsmigration begann schon 1945/46, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, vor allem aus Italien. Mehrere Staaten schlossen bilaterale Verträge mit Italien ab, nach denen Arbeitskräfte von dort angeworben werden konnten. Aus der Bundesrepublik Deutschland wurden Arbeitskräfte ins außereuropäische Ausland angeworben: Australien schloss 1952 eine Wanderungsvereinbarung mit der Bundesrepublik ab, die eine Anwerbung von deutschen Arbeitskräften über die deutschen Arbeitsämter ebenso wie über eine Direktbewerbung bei den australischen Vertretern in der Bundesrepublik erlaubte. Eine 1953 veröffentlichte OEEC-Studie verglich die Anwerbepraktiken der verschiedenen Staaten. Sie ähnelten sich darin, dass bilaterale Abkommen der Massenanwerbung einer großen Zahl vergleichbar qualifizierter Fachkräfte dienten, wohingegen Einzelanwerbungen vor allem der Anwerbung höher qualifizierter Arbeitskräfte dienten. Zu Vertragsarbeitern in der DDR und zu Gastarbeitern in anderen Staaten (Österreich, Schweiz) siehe: Artikel „Gastarbeiter“, Abschnitt „Situation in der DDR“ und darauf folgende Abschnitte Europäische Abkommen zur sozialen Sicherheit Auf europäischer Ebene wurden am 11. Dezember 1953 vier Interimsabkommen geschlossen, die Deutschland unterzeichnete: ein Abkommen über Alters-, Hinterbliebenen- und Invalidenrenten (SEV-Nr. 012), ein Abkommen über Sozialversicherungsleistungen im Falle von Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und Arbeitslosigkeit sowie Familienleistungen (SEV-Nr. 013), zwei Zusatzprotokolle (SEV-Nr. 012A und 013A), die den persönlichen Gegenstandsbereich der beiden Abkommen auf Flüchtlinge ausdehnen. Diese Interimsabkommen wiesen noch einige Lücken auf, insbesondere für Menschen, die in mehr als zwei Staaten tätig gewesen waren. Zugleich mit den Interimsabkommen wurde das Europäische Fürsorgeabkommen (SEV-Nr. 014) geschlossen, das eine Gleichbehandlung der Bürger der Unterzeichnerstaaten mit Inländern vorsieht und ein weitgehendes Verbot, sie nur deswegen auszuweisen, weil sie sich in Not befinden. Dieses Ausweisungsverbot gilt, wenn der Hilfsbedürftige sich bereits fünf Jahre – bzw. zehn Jahre, falls er älter als 55 Jahre ist – im Inland aufgehalten hat. Dabei werden Zeiten, in der er Fürsorgeleistungen in Anspruch genommen hat, nicht mitgezählt. Auch hierzu wurde ein entsprechendes Zusatzprotokoll (SEV-Nr. 014A) abgeschlossen. Rechtsgrundlagen in der Bundesrepublik Deutschland Gesetzliche Grundlage für die Aufnahme der Arbeitsmigranten bildeten zwei Verordnungen aus der Zeit des Nationalsozialismus und der Weltwirtschaftskrise, die eine verstärkte staatliche Intervention in den Arbeitsmarkt ermöglichten: die Ausländerpolizeiverordnung (APVO) vom 22. August 1938, die die Gewährung von Aufenthaltserlaubnissen und den Erlass von Aufenthaltsverboten regelte: Das Bundesinnenministerium setzte die APVO im Jahr 1951 vorrangig aufgrund der Interessen der Landesinnenministerien an einer Kontrolle und Überwachung des Grenzverkehrs wieder in Kraft – mit der Änderung, dass eine unrichtige Angabe über die „Rassenzugehörigkeit“ nun nicht mehr als Grund für ein Aufenthaltsverbot galt. Die Inkraftsetzung geschah ohne Beteiligung des Parlaments, ebenso wie dies später beim Anwerbestopp der Fall war. die Verordnung über ausländische Arbeitnehmer (VOüAA) vom 23. Januar 1933, die als Fortentwicklung zweier vorangegangenen Verordnungen der 1920er Jahre der Zentralisierung der staatlichen Verfügungsmacht zur Kontrolle über die Ausländerbeschäftigung diente: Die VOüAA wurde 1952 nach Diskussionen in den zuständigen Arbeitsverwaltungsbehörden und weitgehend ohne inhaltliche Überprüfung wieder in Kraft gesetzt. Da die VOüAA noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten erlassen worden war, blieb dabei unberücksichtigt, dass der Erlass vom Präsident der Reichsarbeitsverwaltung Friedrich Syrup stammte, der danach in verantwortlicher Position mit der Organisation der NS-Zwangsarbeit befasst gewesen war. Später bildete das Ausländergesetz (AuslG) vom 28. April 1965 die Grundlage. Dieses wurde weitgehend ohne konträre Debatten verabschiedet und trat in weiten Teilen am 1. Oktober 1965 in Kraft. Von besonderer Bedeutung ist des Weiteren der 1973 erlassene Anwerbestopp. Zehn Jahre später sollte das Rückkehrhilfegesetz vom 28. November 1983 die Ausreise von arbeitslosen Arbeitsmigranten aus Deutschland fördern. Nichtstaatliche Akteure und Positionen Parteien Die Anwerbeprogramme wurden ab 1955 bis 1969 unter von den Unionsparteien angeführten Regierungen beschlossen. Um religiöse und kulturelle Heterogenität zu vermeiden, sollten die Abkommen gemäß den Vorstellungen von Bundesarbeitsminister Theodor Blank (CDU) auf europäische Staaten beschränkt sein. Später wurde davon abgewichen und dabei zur Bedingung gemacht, dass der Aufenthalt von Nicht-Europäern auf zwei Jahre begrenzt würde. Diese Einschränkung wurde wenige Jahre später aufgehoben. Der Anwerbestopp von 1973 wurde hingegen von SPD und FDP beschlossen, nachdem ab etwa 1972 einige Politiker der sozialliberalen Koalition – darunter Bundeskanzler Willy Brandt, Arbeitsminister Walter Arendt, Innenminister Hans-Dietrich Genscher und Wirtschaftsminister Helmut Schmidt – begonnen hatten, sich öffentlich Gedanken darüber zu machen, wie die Arbeitsmigration in die Bundesrepublik begrenzt werden könnte. Die Union sprach sich derweil gegen den Stopp aus: Sie befürwortete eine stärkere Regulierung, aber Fortführung der Anwerbepolitik. Die CDU erklärte sich in ihrem Grundsatzprogramm von 1978 als „zur sozialen Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in unsere Gesellschaft sowie zur Erhaltung ihrer kulturellen Eigenständigkeit und der Förderung ihrer Kontakte zum Heimatland“ verpflichtet. Familien sollten sich die Möglichkeit zur Rückkehr offenhalten können, und es seien Maßnahmen zu treffen, um eine gesellschaftliche Isolation der Kinder zu vermeiden. Im September 1979 veröffentlichte Heinz Kühn (SPD) als Leiter des im Jahr zuvor gegründeten Amtes des Ausländerbeauftragten der Bundesregierung ein Memorandum zur Situation der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien, in welchem er die Bundesrepublik als faktisches Einwanderungsland bezeichnete, die politische Verantwortung des Aufnahmelandes gegenüber den Arbeitsmigranten anerkannte und eine konsequente Politik der Integration skizzierte und einforderte. Die sogenannte Ausländerpolitik der SPD/FDP-Bundesregierung blieb jedoch weiterhin auf Konzepte zur sozialen Integration auf Zeit ausgerichtet. Im Ergebnis ihrer Koalitionsgespräche erklärten Union und FDP am 1. Oktober 1982: „Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“ Am Anwerbestopp hielten sie ausdrücklich fest. Ab 1982 machte Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) sich dafür stark, das Nachzugsalter für Kinder aus Nicht-EWG-Staaten – womit er sich ausdrücklich auf Nachzug aus der Türkei bezog – von 16 auf sechs Jahre zu senken. Er stieß dabei auf Widerstand innerhalb der Union, insbesondere seitens Arbeitsminister Norbert Blüm, und hatte damit letztlich keinen Erfolg. Außenpolitisch hatte auch die Türkei Druck ausgeübt, um eine Absenkung dieser Altersgrenze zu verhindern. Die Union verlangte in ihrem Wahlprogramm von 1986, dass „die Zahl der Ausländer nicht weiter zunimmt“ und plädierte darin zugleich erstmals ausdrücklich für eine Integration der in Deutschland lebenden Ausländer. Die FDP trug in den 1980er Jahren als Koalitionspartner die restriktive Politik der Union weitgehend mit. Die Ausländerbeauftragte Liselotte Funcke (FDP) trat im Juli 1991 unter Hinweis auf die mangelnden Ressourcen ihres Amtes zurück, um einen Anstoß für eine Grundsatzdiskussion zu geben; Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) wurde im November als ihre Nachfolgerin eingesetzt. Ende 1991 strich die CDU die Aussage „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ aus ihrem Dresdner Manifest. Die 1980 gegründete Partei Die Grünen sprach sich für eine liberale Ausländer- und Migrationspolitik aus. Angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Ausländer nach Jahren legalen Aufenthalts keine Rechtssicherheit über ihre langfristige Perspektive in Deutschland hatten, vertraten Die Grünen die Auffassung, dass „Einwanderer möglichst umfassend die gleichen Rechte und Pflichten wie deutsche Staatsangehörige erlangen sollten“, um dem Verfassungsgrundsatz der Gleichheit aller Bürger zu entsprechen – insbesondere die Gleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt, die freie politische Betätigung, die umfassende soziale Absicherung und die Chancengleichheit in der Ausbildung betreffend. Sie brachten 1984 einen gemeinsam mit betroffenen Ausländern erarbeiteten Gesetzentwurf für ein Niederlassungsrecht in den Bundestag ein. Arbeitgeber Anfang der 1950er Jahre herrschte ein Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik, vor allem in der Landwirtschaft und im Bergbau. Unternehmerverbände äußerten sich teils skeptisch gegenüber einer Anstellung von Ausländern. Nachdem die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung 1955 für das Folgejahr einen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf von 800.000 Menschen veranschlagt hatte, berichteten wirtschaftsnahe Medien über konkrete Vorteile von Anwerbemaßnahmen für Arbeitgeber. So verpflichteten Anwerbeabkommen sie zwar, ihren Arbeitern eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, doch seien die Standards niedrig und eine Unterbringung in Baracken ausreichend. Später sprachen sich Unternehmer stärker als alle anderen gesellschaftlichen Gruppen für Anwerbungen aus. Bergleuten wurden von vornherein die Sprachkenntnisse vermittelt, die notwendig waren, um sie unter Tage einsetzen zu können. Das Rotationsprinzip, nach dem Gastarbeiter auf Zeit nach Deutschland kommen und anschließend mit Ersparnissen und neu erworbenen technischen Kenntnissen wieder zurückkehren sollten, wurde zwar zu Beginn der Anwerbungen umgesetzt, wurde aber im Laufe der Zeit fallen gelassen, da die Wirtschaft auf die bereits eingearbeiteten Kräfte nicht verzichten wollte und viele Arbeitsmigranten bereitwillig blieben. In den verschiedenen Großunternehmen wurde die Anwerbung sehr unterschiedlich gehandhabt. So warb das Volkswagenwerk Wolfsburg lange Zeit ausschließlich männliche Arbeitskräfte aus Italien an und unterschied deutlich zwischen einer Stammbelegschaft einerseits und einer Randbelegschaft andererseits, welche weitgehend aus Arbeitsmigranten und deutschen weiblichen Arbeitskräften bestand. Das Werk kompensierte eine zunehmende Fluktuation der Italiener, die Mitte der 1970er Jahre bei jährlich 60 % lag, durch stetige Neuanwerbungen, bei denen die Hilfe des Vatikan bemüht wurde. Andere Unternehmen hingegen – beispielsweise die Ford-Werke in Köln – gingen mit der Zeit zu unbefristeten Arbeitsverträgen über. Arbeitsmigranten Insgesamt kamen von 1955 bis 1973 etwa 14 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik. Nach dem Anwerbestopp verstärkte sich der Familiennachzug aus der Türkei auch deshalb, weil die Arbeitsmigranten befürchteten, es könnten in Zukunft strengere Regelungen zur Familienzusammenführung erlassen werden. Einerseits blieb für die Gastarbeiterfamilien die Haltung zum Aufnahmestaat im Allgemeinen ambivalent; andererseits führte der wahrgenommene Wandel in den ehemaligen Heimatländern zur Erfahrung von Fremdheit in diesen Familien. Türkische Arbeitsmigranten stammten meist aus strukturschwächeren Regionen, oft aus dörflichen Verhältnissen, und kamen in einer städtischen Umgebung an. Zwischen der Freizügigkeit und Konsumorientierung in Deutschland und den traditionell geprägten Erziehungsvorstellungen der eingewanderten Familien konnte es zu Konflikten kommen. Von den 1950er bis in die 1970er Jahre kamen 11.000 Krankenschwestern aus Südkorea in die Bundesrepublik. Da es in ihrem Heimatland die Kategorie der Hilfsschwester nicht gab, hatten die Koreanerinnen teils einen Qualifikationsvorsprung vor ihren deutschen Kolleginnen. Langfristig blieben etwa 30 % der koreanischen Arbeitsmigrantinnen in Deutschland, 70 % zogen weiter oder nach Südkorea zurück. Nach der Rückkehr wurde südkoreanischen Krankenschwestern, die ihre Ausbildung in Deutschland abgeschlossen hatten, eine Anerkennung ihre Abschlüsse durch das US-amerikanisch geprägte Ausbildungssystem Südkoreas versagt. In Deutschland kämpften Krankenschwestern 1978 und Bergarbeiter 1979/1980 politisch für ein Bleiberecht und engagierten sich außerdem transnational für eine Demokratisierung Südkoreas. Laut einer repräsentativen Untersuchung war ein Großteil der im Herbst 1968 im Bundesgebiet beschäftigten ausländischen Arbeitskräfte verheiratet (71 % der Männer und 64 % der Frauen; aus Anwerbestaaten: 72 % der Männer und 74 % der Frauen). Die Mehrzahl der verheirateten Männer und der weitaus größte Teil der verheirateten Frauen lebten mit ihren Ehepartnern im Bundesgebiet (54 % der verheirateten Männer und 90 % der verheirateten Frauen; aus Anwerbestaaten: 58 % und 92 %). Während deutsche verheiratete Frauen und Mütter, sofern sie erwerbstätig waren, häufig gemäß dem Zuverdienermodell in Teilzeit arbeiteten, ging man bei Gastarbeiterinnen auch dann, wenn sie Kinder hatten, von Vollzeit-Arbeitskräften aus. Der Anteil derjenigen, die in Gemeinschaftsunterkünften lebten, verringerte sich mit der Zeit von etwa zwei Drittel (1962) auf 23 % (1972), 10 % (1980) und 6,6 % (1985). In den Jahrzehnten nach dem Anwerbestopp stieg die Anzahl der ausländischen Selbständigen von etwa 40.000 (Anfang der 1970er) auf etwa 220.000 (1993); viele von ihnen arbeiteten im Gastgewerbe. Beruflich selbständig machten sich vor allem Italiener, Griechen und Türken. Im Bereich des Handwerks waren Ausländer zunehmend in handwerksähnlichen Berufen tätig, für die im Gegensatz zu den Handwerksberufen keine Meisterprüfung oder Ausnahmegenehmigung erforderlich war. Im Jahr 1993 gab es bundesweit insgesamt 16.100 ausländische Betriebsinhaber in diesem Bereich, darunter vor allem Flickschneider (9.300 ausländische Betriebsinhaber) und Speiseeishersteller (2.100 ausländische Betriebsinhaber). Gewerkschaften In den Gewerkschaften gab es unterschiedliche Haltungen zur Anwerbung. Einerseits vertraten sie oft restriktive Positionen zur Migration. Andererseits war aus Sicht einiger Gewerkschaften eine regulierte Anwerbung mittels Abkommen einem weniger kontrollierten Zugang von Arbeitsmigranten vorzuziehen. Anfang der 1970er Jahre übten die Gewerkschaften angesichts steigender Arbeitslosigkeit gemeinsam mit Arbeitgeberverbänden und der staatlichen Arbeitsverwaltung zunehmend Druck auf die Bundesregierung aus, die Anwerbungen zu beenden, und nach dem Anwerbestopp von 1973 verhinderten sie dessen Lockerung. Von Anbeginn der Anwerbeabkommen warben Gewerkschaften um Arbeitsmigranten als Mitglieder, der DGB und IG Metall führten eigene Abteilungen für die „Ausländerarbeit“ ein. Die Interessen der Gewerkschaften blieben jedoch weithin auf einheimische Arbeitnehmer fokussiert, vor allem auch in Krisenzeiten, in denen die Befürchtung einer Konkurrenz um Arbeitsplätze in den Vordergrund rückte. Nach der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes im Jahr 1972 konnten erstmals auch Ausländer aus Nicht-EWG-Ländern in Betriebsräte gewählt werden. In den 1970er Jahren waren ausländische Arbeitnehmer zwar in einem vergleichbaren Ausmaß wie ihre deutschen Kollegen in Gewerkschaften organisiert, sie blieben in den Entscheidungsstrukturen aber unterrepräsentiert. Unter anderem wurden Arbeitsmigranten von den Gewerkschaften oft kurzfristige Interessen und mangelnde sprachliche und berufliche Kenntnisse unterstellt. Im Jahr 1973 beteiligten sich 300.000 Beschäftigte an ungefähr 400 nicht genehmigten Streiks, die oft die Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter betrafen. Als der wichtigste Arbeitskampf seitens der Arbeitsmigranten gilt der wilde Streik von 1973 in den Ford-Werken in Köln, in dem vor allem türkische Arbeitsmigranten streikten. Ebenfalls 1973 setzten sich Arbeiterinnen, vorwiegend Migrantinnen, im Vergaser-Unternehmen Pierburg in Neuss durch Streiks mit Erfolg gegen Leichtlohngruppen ein, unterstützt von der IG Metall, die sich mit den Streikenden solidarisch erklärte. Die Rolle der Gewerkschaften im In- und Ausland bei der Anwerbung sowie die betriebliche und gewerkschaftliche Organisation der Gastarbeiter sind bisher nur wenig untersucht. Wohlfahrtsverbände Ab den 1950er und 1960er Jahren boten die Wohlfahrtsverbände eine Ausländersozialberatung an, die eine Beratung zu alltagspraktischen Fragen wie Recht und Wohnungssuche ebenso wie Übersetzungsdienste und Rückkehrberatung umfasste. Gemäß dem Rotationsprinzip ging es dabei wenig oder gar nicht um eine soziale, berufliche und sprachliche Integration. Die Beratung wurde je nach Nationalität von verschiedenen Verbänden übernommen: Für Italiener, Spanier, Portugiesen und katholische Jugoslawen (vor allem Kroaten) von der Caritas, für Griechen von der Diakonie, für andere (vor allem Türken und Jugoslawen) von der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Ab 1984 traten vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) erlassene Grundsätze in Kraft, die die Ausländersozialberatung und die fachliche Qualifikation der Berater regelten. Diejenigen Dienste, „die vorhandenen allgemeinen öffentlichen oder freien Versorgungsinstanzen obliegen oder aufgrund gesetzlicher Vorgaben einzurichten sind“, sollten nicht mehr von den Sozialberatern ausgeführt werden. Die Beratung zielte fortan darauf, „die Ausländer in die Lage zu versetzen, ihr Leben selbständig zu gestalten“ und „zwischen den Ausländern und den vorhandenen allgemeinen Dienstleistungsangeboten und Maßnahmen in öffentlicher und freier Trägerschaft zu vermitteln“. Übersetzungstätigkeiten, Beratungsdienste für andere Institutionen sowie Steuer- und Rechtsberatung waren von da an ausgeschlossen. Die Ausländersozialberatung wurde 1998/1999 zur Migrationsberatung (MBE) umgestaltet und auf eine Integration ausgerichtet. Statistik Aufgrund der Freizügigkeitsregelungen der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft oder ohne besondere Vertragsgrundlage (Österreich, Schweiz, Großbritannien, USA) lebten und arbeiteten ausländische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik. Zahlenmäßig spielten diese Arbeitnehmer nur eine geringe Rolle gegenüber denen, die aufgrund von Anwerbeabkommen in die Bundesrepublik Deutschland einreisten. Anfang der 1970er Jahre lag die Zahl der beschäftigten ausländischen Arbeitnehmer deutlich über zwei Millionen. Insgesamt kamen von 1955 bis 1973 etwa 14 Millionen Gastarbeiter in die Bundesrepublik; ungefähr 11 bis 12 Millionen kehrten in ihre Heimatländer zurück. Viele blieben entgegen ihrer ursprünglichen Absicht. Südeuropa und Mittelmeer-Anrainerstaaten Beschäftigte ausländische Arbeitnehmer 1954–1990, Juni/Juli, nach GeschlechtDaten nach: „Jahreszahlen 1980“ und „Jahreszahlen 1990“ der Bundesanstalt für Arbeit (BA). Zahlen vor und nach 1974 sind nur bedingt vergleichbar.(1954–1972: nach Besitz bzw. Bedarf einer Arbeitserlaubnis. Für 1973 liegen keine Daten vor. 1975–1980: sozialversicherungspflichtig beschäftigte ausländische Arbeitnehmer gemäß Beschäftigtenstatistik der BA. 1984 sind in einem längeren Arbeitskampf befindliche Arbeitnehmer nicht mitgezählt.)1954–1960: Juli; 1961–1972 und ab 1974: Juni. Beschäftigte ausländische Arbeitnehmer 1954–1990, Juni/Juli, ausgewählte NationalitätenDaten nach: „Jahreszahlen 1980“ der Bundesanstalt für Arbeit. Zahlen vor und nach 1974 sind nur bedingt vergleichbar.(1954–1972: nach Besitz bzw. Bedarf einer Arbeitserlaubnis; 1975–1980: sozialversicherungspflichtig beschäftigte ausländische Arbeitnehmer gemäß Beschäftigtenstatistik der BA. 1984 sind in einem längeren Arbeitskampf befindliche Arbeitnehmer nicht mitgezählt.)1954–1960: Juli; 1961–1972 und ab 1974: Juni. Insgesamt wurden durch die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt 2,39 Millionen Arbeitskräfte in die Bundesrepublik vermittelt. Dies stellt nur einen Teil des Neuzugangs der ausländischen Arbeitskräfte dar, zumal die Gesamtzahl auch Zugänge aus Nicht-Anwerbestaaten umfasst. Auch aus den Anwerbestaaten konnten Arbeitnehmer zudem auf anderen Wegen legal zuwandern (zweiter Weg: mit entsprechendem Sichtvermerk; dritter Weg: mit einem Touristenvisum und Hoffnung auf Arbeitsaufnahme und auf nachträgliche Legitimierung des Aufenthalts). 1966–1973 durch Auslandsdienststellen derBundesanstalt vermittelte ausländische Arbeitnehmer,Daten nach: BAVAV (1969), BA (1972 und 1974).Überlappend dazu, Daten für 1970 bis 1973: Tabelle Nr. 39 „Die durch die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit vermittelten ausländischen Arbeitnehmer“, S. 43. Seit Bestehen einer beständig besetzten Dienststelle im betreffenden Land vermittelte ausländische Arbeitnehmer,Daten nach: Bundesanstalt für Arbeit, 1974. Weitere Staaten Aufgrund des bilateralen Programms zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Südkorea kamen insgesamt knapp 8.000 koreanische Bergleute und über 11.000 Krankenschwestern nach Deutschland. Im Ruhrgebiet arbeiteten zwischen 1957 und 1965 insgesamt 436 japanische Bergleute als Gastarbeiter. Wirkungsgeschichte Alterssicherung Eine 2013 veröffentlichte Studie stellte fest, dass die Altersarmut unter Ausländern über 65 Jahren 2011 bei 41,5 % lag. Dies wird teils darauf zurückgeführt, dass viele ehemalige Gastarbeiter niedrige Einkommen erhielten. Statistisch betrachtet sind unter türkischen Migranten die finanzielle Unterstützung durch Söhne und die informelle Pflege durch Töchter stärker ausgeprägt als in der allgemeinen Bevölkerung. Nachkommen Auf den Umgang mit Migrantenkindern waren Schulen nur wenig vorbereitet. In den 1950er und 1960er Jahren war ihre Zahl noch gering, so dass noch keine auf sie abgestimmten bildungspolitischen und pädagogischen Anstrengungen unternommen wurden. Zu Beginn der Anwerbungsprogramme wurden Kinder der Gastarbeiter typischerweise in separaten Klassen – sogenannten Ausländerklassen – unterrichtet und blieben vom Regelunterricht ausgeschlossen. Die Bundesländer entwickelten unterschiedliche Ansätze zur Beschulung der Kinder. Diese reichten von Berliner Modell eines gemeinsamen Unterrichts aller Kinder, gegebenenfalls ergänzt durch muttersprachlichen Unterricht, zum bayerischen Modell eines getrennten Unterrichts, bei dem ein Übergang aus einer muttersprachlichen Klasse in die Regelklasse nur bei ausreichenden Deutschkenntnissen und auf Antrag möglich war (siehe hierzu auch: „Ausländerpädagogik“ der 1960er bis 1980er Jahre). Die Nachkommen der Gastarbeiter sind in Deutschland einem erhöhten Druck zur Anpassung ausgesetzt, der sich unter anderem in der Forderung niederschlägt, dass Kinder noch vor der Einschulung über gute Deutschkenntnisse verfügen sollen. In den ersten Jahrzehnten fehlte eine frühzeitige Sprachförderung; lediglich im Rahmen von Modellprojekten – etwa in dem 1972 initiierten „Denkendorfer Modell“ der Fortbildungsstätte der baden-württembergischen evangelischen Landeskirche Kloster Denkendorf – wurden diese Kinder gezielt gefördert. Schüler ausländischer Staatsangehörigkeit besuchen überproportional häufig die Haupt- und Förderschulen. Sprachdefizite und fehlende Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Eltern wurden häufig als Lerndefizite interpretiert und zum Anlass genommen, Kinder von Einwanderern auf Sonderschulen zu verweisen (siehe auch: Artikel „Kinderarmut in den Industrienationen“, Abschnitt „Entkommen aus der Armutsfalle“). Teils räumten Schulsysteme Migrantenkindern Ausnahmen vom Fremdsprachenunterricht ein, ohne dass ihnen jedoch die Herkunftssprache als Fremdsprache angerechnet wurde, so dass ihnen die Möglichkeit, eine Hochschulzugangsberechtigung zu erwerben, verschlossen blieb. Einige Migrantenorganisationen gründeten Privatschulen, um den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Der griechische Staat finanzierte auf Grundlage bilateraler Abkommen in den 1970er und 1980er Jahren griechische Schulen in Deutschland, deren Abschlüsse in den meisten Bundesländern allerdings nicht als gleichwertig anerkannt wurden und die vielmehr auf ein Studium an griechischen Hochschulen vorbereiten sollten. Schwierigkeiten, die mit den nachfolgenden Generationen verbunden sind, gerieten in der Bildungspolitik erstmals in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, als nach dem Anwerbestopp der Kindernachzug zunahm. Eine Reihe dieser wahrgenommenen Probleme werden – etwa unter dem Gesichtspunkt der Bildungsbenachteiligung – bis in die Gegenwart genauer analysiert und diskutiert. Beispielsweise fanden sich für Nordrhein-Westfalen erhebliche regionale Unterschiede in den Anteilen der Überweisungen ausländischen Schüler auf Förderschulen sowie in den Schwerpunkten der sonderpädagogischen Förderung, was auf regionale Benachteiligungen nichtdeutscher Schüler deutete, die als institutionelle Diskriminierung interpretiert werden. Ansätze zur Lösung sind insbesondere eine Förderung bei der schulischen Bildung. Die „Ausländerpädagogik“ entwickelte sich ab den 1980ern zu einer interkulturellen Pädagogik, die eine von allen zu praktizierende distanzierte Reflexion von kulturellen Prägungen vorsieht. Eine Neuregelung des Ausländerrechts von 1991 und eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1993 erleichterten Ausländern der ersten und zweiten Generation den Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft. Ab 2000 konnten durch das neu eingeführte „Optionsmodell“ im Staatsangehörigkeitsgesetz zahlreiche ab 1990 in Deutschland geborene Nachkommen von Gastarbeitern die deutsche Staatsbürgerschaft durch Geburt erlangen. Ab dem Mikrozensus 2005 wurden Menschen mit Migrationshintergrund als eigene Kategorie erfasst. Um die Wende zum 21. Jahrhundert bildete die Gruppe der ehemaligen Gastarbeiter und ihrer Nachkommen den größten Teil der Bürger mit Migrationshintergrund in Deutschland. Weil diese Gruppe eine so große und kulturell sichtbare Einwanderergruppe ist, ist in der Forschung vom „Mythos der Rückkehr“ oder sogar von der „Illusion der Rückkehr“ gesprochen worden. Dies berücksichtigt nicht, dass eine große Mehrheit der Migranten tatsächlich zurückkehrte. In Deutschland ausgebildete Kinder türkischer Gastarbeiter haben auf Basis des Beschlusses ARB 1/80 einen bleibenden Rechtsanspruch auf den Aufenthalt zur Ausübung einer Beschäftigung in Deutschland. Studien, die in Deutschland unter Verwendung türkisch klingender Namen durchgeführt wurden, zeigten in den 2010er-Jahren eine Diskriminierung aufgrund des Namens bei der Arbeitssuche und auf dem Wohnungsmarkt auf. Die Türkische Gemeinde in Deutschland betonte anlässlich des 60. Jahrestags des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens, dass „die Leistung der ersten Generation“ türkischstämmiger Menschen in Deutschland weiterhin nicht wertgeschätzt werde und dass Defizite bei der Integration bis heute Wirkung zeigten. Die koreanische Community in Deutschland ist zu einem hohen Grad vernetzt. Ihre Netzwerke, die unter anderem auf Geselligkeit und Alltagshilfen ausgerichtet sind, haben zugleich die Niederlassungen koreanischen Firmen in Deutschland erleichtert und koreanischen Auslandsstudierenden Hilfen im Alltag gewährt. In der zweiten Generation der Deutsch-Koreaner haben 70 % Abitur oder einen Hochschulabschluss. Situation in den Herkunftsländern In den Herkunftsländern stellte sich die Frage, wie damit umzugehen wäre, wenn einmal viele Gastarbeiter zugleich zurückkehren sollten. Die Wirtschaft war auf ihre Ankunft nicht vorbereitet, und die Herkunftsländer zeigten sich an ihrer Reintegration wenig interessiert. Jugoslawien warb zwar um rückkehrende Facharbeiter, nicht aber um die zahlreichen Hilfsarbeiter; im Gegenteil wurde befürchtet, dass diese, nachdem sie im Gastland Wohlstand und Luxus trotz oft unwürdiger Lebensbedingungen kennengelernt hatten, das Heer der Arbeitslosen vergrößern und sozialen Unfrieden schüren würden. In Spanien war unter Franco die freie Bildung von Interessengruppen und Vereinigungen gesetzlich untersagt, so dass sich Rückkehrer kaum untereinander unterstützen konnten. Griechenlands Wirtschaft galt zwar als stark genug, im Falle einer plötzlichen Rezession in der Bundesrepublik 30.000 bis 35.000 Rückwanderer aufzunehmen, doch bestand wenig Interesse an ihnen. Umgekehrt hatten auch die Arbeitgeber im Gastland keine Veranlassung, sich in der Verantwortung zu sehen, ihre Arbeiter auf eine eventuelle spätere Selbständigkeit im Heimatland vorzubereiten, und es fehlte an gezielter technischer Hilfe. In vielen Fällen blieben die Gastarbeiter im Ausland, weil sie nicht genügend Geld hatten ansparen können. In Ausnahmefällen gelang eine Unternehmensgründung mit angespartem Startkapital oder durch Zusammenarbeit in Form einer Kooperative. Zu nennen ist die türkische Arbeitnehmergesellschaft Türksan, durch die das im Gastland erarbeitete Kapital im Heimatland zur Schaffung eigener Arbeitsplätze investiert werden sollte und die – unterstützt von der deutschen und der türkischen Regierung – letztendlich zur Gründung einer Teppichfabrik führte. Andere türkische Arbeitnehmergesellschaften (Türkyap, Türksal, Birsan) hatten weniger Erfolg. Vom 28. November 1983 bis zum 30. Juni 1984 gewährte das Rückkehrhilfegesetz zeitweilig die Möglichkeit einer finanziellen Hilfe bei der Rückkehr. Wer nicht Bürger eines EG-Staates war und mit dessen Herkunftsstaat kein bilaterales Sozialversicherungsabkommen bestand, was für Menschen aus Korea, Marokko, Portugal, Tunesien und der Türkei zutraf, musste hierfür seine Rentenansprüche aufgeben: Der Arbeitnehmeranteil wurde zinslos ausbezahlt, der Arbeitgeberanteil verblieb bei der deutschen Rentenkasse. Zudem wurde er von Rechts wegen grundsätzlich von einem Daueraufenthalt im Bundesgebiet ausgeschlossen. Das Wiedereingliederungshilfegesetz vom Februar 1986 gestattete die Nutzung eines deutschen Bauspardarlehens im Herkunftsland. Rezeption und Kritik Die Bezeichnung Gastarbeiter für Arbeitsmigranten wurde bereits Anfang der 1970er Jahre von einigen Soziologen als euphemistisch angesehen. Bei der rückblickenden Bewertung der Anwerbepolitik in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland wurden unterschiedliche Faktoren in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung genommen. Der Soziologe Friedrich Heckmann richtete beispielsweise den Blick auf Verschiebungen des sozialen Status sowie der Verbesserung der Qualifikation bei den deutschen Arbeitnehmern. Nach seiner Darstellung sei für deutsche Arbeitnehmer aufgrund der von Gastarbeitern besetzten Stellen, für die keine besonderen Qualifikationsanforderungen notwendig waren, der Aufstieg in qualifiziertere und beliebtere Positionen mit ermöglicht worden. Hedwig Richter und Ralf Richter kritisierten, dass nicht zuletzt die unkritische Zusammenarbeit von Sozialwissenschaftlern mit politischen Institutionen zu einem „Opfer-Plot“ in der Geschichte der Arbeitsmigration geführt habe, wobei die Migranten zu passiven Opfern stilisiert würden, ohne ihre Motive zu berücksichtigen. Das verhindere eine sachliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. Maßnahmen zur Integration seien auch deshalb oft wirkungslos geblieben, weil mangelnde Initiative der Migranten und ihr „Eigensinn“ diesen entgegen gestanden hätten. Dabei müsse allerdings zwischen Gruppen und Phasen des Aufenthaltes differenziert werden. Speziell bei italienischen Gastarbeitern der ersten Generation habe ein „Transfer süditalienischer politischer und kultureller Strukturen ins deutsche Unternehmen und in die deutsche Kommune“ stattgefunden. Laut Reinhold Weber und Karl-Heinz Meier-Braun sind aufgrund der Beschäftigung von ausländischen Arbeitskräften zahlreiche Deutsche in bessere berufliche Positionen gelangt: so seien 2,3 Millionen Deutsche vor allem aufgrund der Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer von Arbeiter- in Angestelltenpositionen aufgestiegen. Ausländer hätten auf schlechte Beschäftigungssituationen stärker als Deutsche mit Selbständigkeit reagiert. Zudem wurde, so Weber und Meier-Braun, die Rentenversicherung von den ausländischen Arbeitnehmern lange Zeit geradezu „subventioniert“: Den von den ausländischen Arbeitnehmern in die Rentenversicherung bezahlten Beträgen habe nur rund ein Zehntel an Leistungen gegenübergestanden. Am 31. August 2021 überreichten Bundeskanzlerin Angela Merkel, Integrationsstaatsministerin Annette Widmann-Mauz und Bundespräsident a. D. Christian Wulff als Vorsitzender des Stiftungsrats der Deutschlandstiftung Integration vier Menschen den Talisman der Deutschlandstiftung Integration: Anka Ljubek, Hoai Nam Duong, Yang-Hee Kim und Zeynep Gürsoy erhielten die Auszeichnung stellvertretend für die Menschen der ersten Einwanderungsgeneration aus den verschiedenen Anwerbeländern. Die Preisträger waren im Rahmen von Anwerbeabkommen der Bundesrepublik und der DDR nach Deutschland gekommen, waren dort langjährig berufstätig gewesen und hatten Kinder und Enkel, die in Deutschland in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, im Sozialwesen oder im Kulturbereich tätig waren. In der Schlagermusik wurde das Thema der Gastarbeiter aufgegriffen von Conny Froboess (Zwei kleine Italiener, 1962), Udo Jürgens (Griechischer Wein, 1974) und Karel Gott (Das Mädchen aus Athen, 1978). Türken erschufen in Deutschland eine neue Musikrichtung, die heute Gurbet Türküleri genannt wird. In den 1970er und 1980er Jahren wurden deutsch-türkische Themen im Kino aufgegriffen, meist in Form problemorientierter Filme; ab den 1990er-Jahren setzte eine vielfältigere Produktion sogenannter deutsch-türkischer Filme ein (siehe hierzu: Deutsch-türkisches Kino). Kritik an der Vorgehensweise der Politik Die Wirtschaftshistorikerin Heike Knortz sprach von einem Mangel an Diskussion und Transparenz während der politischen Anbahnung der Gastarbeiter-Anwerbung. Der Außenpolitik habe zu dieser Zeit nur ein regierungsinternes Gegengewicht gegenübergestanden, ein kritisches Gegengewicht seitens der Zivilgesellschaft habe gefehlt. Über zugrunde liegende außenpolitischen Motive habe nur die Schweizer Presse, nicht aber die inländische Presse berichtet. Als deutlich wurde, dass die Annahme eines vorläufigen Aufenthalts nicht der Realität entsprach, habe sich das Auswärtige Amt seiner Verantwortung entzogen. Zugleich habe es nicht auf den Abschluss weiterer Anwerbeabkommen verzichten wollen. Mangelnde Aufklärung der Öffentlichkeit über politische Hintergründe Der Historiker Johannes-Dieter Steinert berichtet, dass zunächst versucht worden war, das das durch einen Notenwechsel bestätigte Anwerbeabkommen mit der Türkei geheim zu halten, um keinen Präzedenzfall zu schaffen, der weitere Anfragen nach Anwerbeabkommen hätte nach sich ziehen können. In diesem Kontext seien Marokko, Tunesien, Algerien, Syrien und Ägypten häufig genannt worden, ferner auch Thailand, Somalia, Singapur und die Philippinen. Die Gesellschaft war, so Steinert, „nicht oder nur unzureichend über die Hintergründe und Ziele der deutschen Wanderungspolitik informiert“. Die Anwerbepolitik blieb Verschlusssache, und dies habe „wesentlich zu den bis heute anhaltenden Problemen beigetragen“. Steinert spricht von einer damaligen „abstrusen Angst, über Fragen der Wanderungs- und Integrationspolitik offen und öffentlich zu diskutieren“. Der mangelnde politische Wille sei in den 1950erm durch den „beruflich-sozial tendenziell deklassierenden“ Begriff „Gastarbeiter“ kaschiert worden. Auch die ausländischen Arbeitnehmer verblieben in permanenter Unsicherheit darüber, wie lange ihr Aufenthalt verlängerbar sein würde. Kritik an der ökonomischen Begründung der Anwerbung Während die in den 1960er und 1970er Jahren entwickelte ökonomische Begründung der Anwerbung aus dem Arbeitskräftemangel in der deutschen Industrie lange Zeit für den öffentlichen Diskurs bestimmend war, wird in der jüngeren Forschung dargestellt, dass die Hauptprofiteure die Unternehmen in bestimmten Wirtschaftszweigen gewesen seien. So heißt es in einem Aufsatz des WSI von 2014: „Aus ihrer Sicht weiteten Gastarbeiter das Arbeitsangebot aus, dämpften den Lohnanstieg und sorgten mit ihren niedrigen Stundenlöhnen dafür, dass das wirtschaftliche Wachstum bei hohen Gewinnen aufrechterhalten werden konnte. Allerdings konnten so auch unrentable Unternehmen weitergeführt werden. Investitionen in arbeitssparende Maschinen wurden vernachlässigt. Der Strukturwandel wurde vertagt, und als er dann doch einsetzte, waren die Arbeitsplätze der Ausländer überproportional betroffen.“ Knortz hebt hervor, dass es der Regierung nicht gelang, Rationalisierungen als Alternative zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zu stimulieren. Abelshauser betont, dass die Anwerbung vor allem auf die Massenproduktion ausgerichtet war, dass aber die Stärke der deutschen Wirtschaft vielmehr weiterhin in der „nachindustriellen Maßschneiderei von Maschinen und Anlagen“ liege, was vor allem einen Bedarf an hoch qualifizierten Facharbeitern bedeute. Kritik an den sozialen Folgen Die oftmals katastrophale soziale Situation von Gastarbeitern in Deutschland wurde besonders durch die 1985 erschienene Undercover-Recherche Ganz unten von Günter Wallraff ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Aus den in Deutschland verbliebenen Gastarbeitern bildete sich eine dauerhafte Unterschicht im Arbeits- und Wohnungsmarkt. Auch im Alter sind diese am unteren Rand der Gesellschaft überrepräsentiert und „erhalten deutlich niedrigere Renten als die Deutschen, tragen ein extrem hohes Armutsrisiko und wohnen bescheiden.“ Die Kultur und Sprache der Gastarbeiter wurden in Deutschland von Beginn an marginalisiert, auch mit akademischer Unterstützung wie etwa durch die Verfasser des Heidelberger Manifests von 1981, die vor einer angeblichen „Überfremdung“ der deutschen Sprache und des „Volkstums“ warnten. Auch die Mehrsprachigkeit der Nachkommen von Gastarbeitern wird bis heute kaum wertgeschätzt: "Migrationssprachen werden nicht als kulturelles oder wirtschaftliches Kapital wahrgenommen, selten sind sie positiv konnotiert, der Mehrheitsbevölkerung, wenn überhaupt, nur als „Integrationshemmnis“ ein Begriff." Zitat Im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration wird – auch übertragen auf Deutschland – häufig der Schweizer Schriftsteller Max Frisch zitiert, der 1965 unter dem Titel „Überfremdung“ ein Vorwort zu Dialogen des Dokumentarfilms „Siamo Italiani“ von Alexander J. Seiler verfasste. Darin heißt es bezogen auf die Schweiz und die dort tätigen Italiener: Ähnliches hatte Ernst Schnydrig, der Vorsitzende der Deutschen Caritas, bereits im Jahr 1961 geäußert: „Wir wollten Arbeitskräfte importieren – und es kamen Menschen.“ Frisch wird auch in Deutschland im Zusammenhang mit der Arbeitsmigration zitiert, beispielsweise um zu betonen, dass man deren menschlichen Aspekte lange Zeit außer Acht gelassen habe. Siehe auch Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland? Hellas-Express Ausländerprogramm der ARD Literatur Marcel Berlinghoff: Das Ende der „Gastarbeit“. Europäische Anwerbestopps 1970–1974. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-77668-6. Aytaç Eryılmaz, Cordula Lissner (Hrsg.): Geteilte Heimat. 50 Jahre Migration aus der Türkei. Klartext Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0640-2. Aytaç Eryılmaz, Mathilde Jamin (Hrsg.): Fremde Heimat – eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei. Klartext, Essen 1998, ISBN 3-88474-653-7 (deutsch und türkisch). Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47477-2. Hedwig Richter, Ralf Richter: Der Opfer-Plot. Probleme und neue Felder der deutschen Arbeitsmigrationsforschung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Nr. 1, Oldenbourg, München 2009, S. 61–97 (PDF; 485 kB). Roberto Sala: „Gastarbeitersendungen“ und „Gastarbeiterzeitschriften“ in der Bundesrepublik (1960–1975) – ein Spiegel internationaler Spannungen. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 366–387. Weblinks Migrationsmuseum Rheinland-Pfalz: Dauerausstellung zur Arbeitsmigration Einzelnachweise Arbeitermilieu Migrationssoziologie Politik (deutsche Nachkriegszeit) Wirtschaft (deutsche Nachkriegszeit)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nathalie%20%28Lied%29
Nathalie (Lied)
Nathalie ist ein französischsprachiges Chanson, dessen Text von Pierre Delanoë verfasst und das im Februar 1964 von Gilbert Bécaud, der auch die Musik dazu geschrieben hat, veröffentlicht wurde. Das 4:07 Minuten lange Lied erschien zunächst in Frankreich sowohl auf Vinyl-Single als auch als EP bei Pathé-Marconis Label La voix de son maître. Im Juli 1965 folgte in der Bundesrepublik Deutschland eine Doppelveröffentlichung des Chansons; Electrola gab gleichzeitig die französische (mit der B-Seite L’Orange) und eine deutschsprachige Fassung mit Nimm dir doch Zeit (Il faut marcher) als B-Seite heraus. Nathalie war nicht Bécauds kommerziell erfolgreichste Platte, aber sie wurde zu einem seiner international größten Erfolge, der auf kaum einer seiner Best-of-Kompilationen fehlt. Der politische Kontext der Entstehung und Veröffentlichung dieses Liebeslieds hat zu einer Rezeption geführt, die über den Bereich der Unterhaltungsmusik weit hinausreicht. Die Jahre 1964 und 1965 markieren den Übergang von der Hochzeit des Ost-West-Konfliktes hin zu einer anfangs noch sehr vorsichtigen, hauptsächlich auf kulturellem und touristischem Feld stattfindenden Öffnung der UdSSR speziell gegenüber Frankreich. Diese Gleichzeitigkeit ist eine Ursache dafür, dass das Lied insbesondere in Frankreich auch im 21. Jahrhundert noch Gegenstand von politik- und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen und Einordnungen ist. Eine zusätzliche Besonderheit dieses Chansons liegt darin, dass eine Transformation der fiktiven Person Nathalie in die Realität stattgefunden habe, wie es der Romanist Matei Chihaia, der auch vom „Faszinosum Nathalie“ spricht, formuliert hat: Nathalie gilt zudem als „repräsentatives Beispiel des ‚Systems Bécaud‘“, der in seinen Liedern gerne einfache Geschichten erzählte, in denen aber prägnante Charaktere dargestellt werden und die den Hörer aufgrund ihrer passenden, dichten Stimmung ansprechen. Dass die darin geschilderte Handlung für realistisch gehalten werden könnte, verdankt sie auch der für Bécauds gesanglichen Vortrag ebenfalls typischen Präsenz als Ich-Erzähler. Text und Musik Handlung und Text Der Song beschreibt in der Form der Ich-Erzählung, wie sich ein junger französischer Tourist im winterlichen Moskau in seine Stadtführerin namens Nathalie (die in Delanoës ursprünglicher Textfassung Natacha hieß) verliebt. Anfangs ist diese sehr formell und distanziert, führt ihn zu wichtigen Orten wie dem Roten Platz und dem Lenin-Mausoleum, erläutert dabei in nüchternen Worten die Bedeutung, die diese für die Oktoberrevolution aufweisen (wörtlich „elle parlait en phrases sobres de la révolution d’octobre“), während er ihren „schönen Namen“ und die blonden Haare anspricht und sich ausmalt, im – wohl fiktiven – Café Puschkin gemeinsam eine heiße Schokolade zu trinken. Im Lied entwickelt sich diese Beziehung dahin, dass beide nach dem offiziellen Besichtigungsprogramm zu Nathalies Studentenbude an der Moskauer Universität gehen, wo sie von einer Gruppe russischer Studenten erwartet werden, die viel über Frankreich wissen wollen, was Nathalie übersetzen muss. Die Stimmung wird zusehends feucht-fröhlicher („Moscou, les plaines d’Ukraine et les Champs d’Élysées, on a tout mélangé“ – „Moskau, das ukrainische Tiefland und die Champs d’Élysées, alles ging durcheinander“), man lacht, trinkt, singt und tanzt zusammen. Auch Nathalie selbst taut dort auf („plus question de phrases sobres“ – „keine nüchternen Sätze mehr“). Als ihre Kommilitonen spät nachts weggehen, bleibt der Franzose noch dort („quand la chambre fût vide … je suis resté seul avec mon guide“ – „als das Zimmer sich geleert hatte, bin ich mit meiner Fremdenführerin alleine dort geblieben“). Unausgesprochen bleibt in diesem Chanson, ob – und in welcher Intensität – seine Schwärmerei dann von ihr erwidert wird. Am Ende träumt der männliche Protagonist davon, dass Nathalie zu einem Gegenbesuch nach Paris kommt und er sie dort – dann mit vertauschten Rollen als ihr Stadtführer – gleichfalls mit Sehenswürdigkeiten und Kulturgütern vertraut macht. Laut Delanoë dauerte es rund ein Jahr, bis aus seinem Textentwurf eine Fassung entstand, die Bécaud akzeptierte; der Sänger forderte den Textautor auf, für den Einstieg, der zunächst „Qu’elle était jolie cette Russe rousse sur la place Rouge“ („Wie hübsch sie war, diese rotblonde Russin auf dem Roten Platz“) lautete, „ein stimmungsstarkes Sprachbild zu erfinden“. Das entstand schließlich mit den Worten „La Place Rouge était vide; devant moi marchait Nathalie. … La Place Rouge était blanche, la neige faisait un tapis“ („Der Rote Platz war leer; vor mir marschierte Nathalie. … Der Rote Platz war weiß, der Schnee hatte darauf einen Teppich ausgebreitet“). Erst daraufhin war Bécaud zufrieden, setzte sich an sein Piano und komponierte binnen weniger Stunden die Musik dazu. Das Sprachbild vom winterlichen Roten Platz entspricht einem bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert und namentlich seit Napoléons Russlandfeldzug 1812 im französischen Roman sehr verbreiteten Klischee von den „eingeschneiten russischen Landschaften“; gleichzeitig ist diese Kälte im Jahr 1964 eine Metapher für das politische Klima und Synonym für die kommunistische Herrschaft. Für Matei Chihaia erzählt dieser Text „eine komplexe Geschichte, ja, einen ganzen Roman und eine ganze Epoche, mit erstaunlich sparsamen sprachlichen Mitteln und ohne ein einziges überflüssiges Detail“. Dafür benötigt er nur zwei Szenen mit zusammen 42 Zeilen, auf dem Roten Platz und in Nathalies Zimmer, wobei er für die Erklärung, wie es zum überraschenden Übergang vom ersten zum zweiten Ort kommt, lediglich acht kurze Wörter braucht („J’ai pris son bras, elle a souri“ – „Ich nahm ihren Arm, sie hat gelächelt“). Das Chanson schließt mit vier Textzeilen des Rück- und Ausblicks, in denen die vorangehende euphorische einer traurigeren („Que ma vie me semble vide“ – „Mein Leben erscheint mir so leer“), zugleich aber auch optimistischen („Mais je sais qu’un jour à Paris“ – „Aber ich weiß, eines Tages in Paris“) Stimmung Platz macht. Dabei steht am Ende zweimal der langgezogen gesungene, auf der letzten statt wie üblich auf der ersten Silbe betonte Name Nathalie. Sprachlich spielt für Chihaia auch die Semantik dieses Textes eine wesentliche Rolle, weil sie wiederholt „die kulturellen Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westeuropa hervorhebt“. Gegliedert ist der Text in zehn Strophen à vier oder sechs Zeilen. Darin werden unterschiedliche Reimformen verwendet, beginnend mit zwei Strophen mit Kreuzreim, denen eine mit Paarreim und die vierte wieder mit Kreuzreim folgt. Ab der fünften Strophe – und damit inhaltlich ab dem Zeitpunkt, an dem sich das Geschehen in Nathalies Zimmer abspielt und auch musikalisch ein Tempo- und Stimmungswechsel stattfindet – ändert sich die Reimform von Strophe zu Strophe, werden auch noch Block-, Haufen- und Schweifreim verwendet, ehe Delanoë in den letzten Zeilen zum Kreuzreim zurückkehrt. Ein Reimpaar, die Wörter „vide“ und „guide“ (leer und Führerin), taucht dabei gleich vierfach auf; dies ist der Fall in der ersten, vierten, achten und letzten Strophe, was der textlichen Entsprechung eines Rondos nahe kommt. Musik und Instrumentierung Die in a-Moll gehaltene Melodie des Liedes, das mehrere Elemente französischer mit denen zeitgenössischer russischer Musik kombiniert und ohne einen Refrain auskommt, bewegt sich innerhalb eines engen Tonumfangs vom g der kleinen Oktave zum eingestrichenen c'. Es beginnt in langsamem Tempo. Dies steigert sich ab dem Zeitpunkt, an dem sich das Geschehen zusammen mit den russischen Studenten in Nathalies Zimmer abspielt, wie bei einem Kasatschok, partiell mit einem Hintergrundgesang unterlegt, der die Anmutung eines Kosaken-Chors vermittelt. Das Tempo der Musik folgt hier dem Tempo der geschilderten Ereignisse. Rhythmuswechsel und Beschleunigung (hier vom Vierviertel- zum Zweiertakt) stellen für den Historiker Didier Francfort sogar ein zentrales und „wiederkehrendes Merkmal der Russophilie“ im zeitgenössischen französischen Chanson dar, an dem man die „russische Seele“ der Musik wiedererkenne. Dieser Eindruck wird auch durch die Instrumentierung unterstrichen, indem beispielsweise Balalaikas, Bajan oder Akkordeon und Violinen verwendet werden. In dem Liedabschnitt, in dem Nathalie bei dem offiziellen Besichtigungsprogramm vor dem Franzosen hermarschiert, kommen Trommeln und Trompeten zum Einsatz, wodurch der Arrangeur – vermutlich Bécaud in Zusammenarbeit mit dem Orchesterleiter Raymond Bernard – nach dem eher nach Musette mit einer leicht jazzigen Note klingenden Einstieg, inhaltlich passend, klangliche Andeutungen einer Militärkapelle hinzufügt. Gesanglich spiegelt sich auch in diesem Chanson die große Bandbreite Gilbert Bécauds wider, der sowohl die verhaltene, leise, als auch die nervös-spontane, ekstatische Interpretation beherrscht, die ihm Beinamen wie „Monsieur 100.000 Volt“ und „Der singende Verrückte“ (le fou chantant) eingetragen hat. Die Begleitung auf der Schallplatte stammt vom Orchester Raymond Bernard. Erfolge und Beliebtheit Ein Nummer-eins-Hit wurde Nathalie in Frankreich allerdings nicht, stieß im Gegenteil anfangs sogar eher auf ein „schwaches Interesse“ bei den Plattenkäufern. Dies ist freilich wenig verwunderlich, denn die ganz hohen Verkaufszahlen „erreichte kaum einer der renommiertesten Chansonniers jemals, nicht einmal Chevalier, Trenet, Gréco, Piaf, Patachou“. Dafür nahm die Zahl neugeborener Mädchen, die diesen Rufnamen erhielten, schon ab dem zweiten Halbjahr 1964 in Frankreich sprunghaft zu. Der Kleine Larousse der Vornamen schreibt dazu, dass sich Nathalie damals „mit der Geschwindigkeit eines Tsunamis“ an die Spitze der beliebtesten Mädchennamen gesetzt habe – acht von hundert Französinnen trugen ihn –, für mehr als ein Jahrzehnt in Mode blieb und somit „eine Epoche geprägt“ habe. In den Deutschen Charts war Bécauds Single in der Übersetzung von Kurt Hertha erst 1965, dann aber für 22 Wochen vertreten, in denen das Chanson als höchste Position Rang 17 erreichte. Dieser Erfolg führte auch dazu, dass im deutschen Fernsehen unter dem Titel Monsieur 100.000 Volt ab 1967 mehrere von Truck Branss produzierte Bécaud-Konzerte ausgestrahlt wurden. In den wallonisch-belgischen Ultratop 50 schaffte es die Single bis auf Platz 8, in den niederländischen Top 30 des Muziek Expres war sie im November 1964 auf Rang 27 vertreten. Auf einigen kleineren Märkten wie dem türkischen oder dem chilenischen soll das Lied ebenfalls sehr populär gewesen sein. In der DDR brachte Amiga Nathalie 1970 als Single (B-Seite: Et maintenant) heraus, wenn auch in der Schreibweise Natalie (ohne h), 1980 dann eine gleichnamige Langspielplatte. Allmusic.com nennt Nathalie einen „enormen Hit“ und Bécauds „wahrscheinlich zweitbekanntesten Song“ hinter Et maintenant, ohne diese Einschätzung allerdings weiter zu begründen. Bei Spotify ist die französischsprachige Fassung des Chansons Bécauds mit Abstand am häufigsten aufgerufener Titel (bis Anfang Januar 2019: 7,2 Millionen Aufrufe), gefolgt von Et maintenant (zwei Versionen mit zusammen 5,2 Millionen) und L’important c’est la rose (2,0 Millionen). Dies sind Indizien einer über Jahrzehnte anhaltenden, internationalen und generationsübergreifenden Beliebtheit („Evergreen“), wie beispielsweise die 1971 geborene Sängerin Suzie Kerstgens 2015 feststellte: Nathalie gehöre zu den Liedern, „die vor unserer Pubertät geschrieben und interpretiert worden sind, und die man immer wieder im Kopf hat, weil sie schon zu Hause bei den Eltern auf Vinylsingles liefen“. Kontext der Entstehung und Einordnung Der Erfolg von Nathalie fällt politisch-historisch in die Ära der Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges, in der sich kurz nach Mauerbau (1961) und Kubakrise (1962) mit dem Abkommen zum Stopp von Atomtests (1963) – dem die vierte Atommacht Frankreich aber nie beigetreten ist – eine vorsichtige Entspannung der internationalen Lage anbahnte. Hingegen befanden sich die französisch-russischen Beziehungen nicht erst seit dem Indochinakrieg (1946–1954) noch auf einem Tiefpunkt; der im Bürgertum Frankreichs verbreitete Antisowjetismus entsprach der Einstellung von Textautor Pierre Delanoë, der mit dem Chanson „eine unmögliche Liebe im Schrecken der Sowjetherrschaft“ beschreiben wollte, ohne die Schönheit des Landes und die positiven Eigenschaften der einfachen Russen zu bestreiten. Damit betrat er keineswegs Neuland, denn eine positive Darstellung einzelner Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs wurde auch von anderen thematisiert – und im westlichen Europa breit akzeptiert. Dafür stehen beispielhaft die Romanze zwischen James Bond und Tatiana Romanova im Film James Bond 007 – Liebesgrüße aus Moskau von 1963 oder die Figuren des Tevje in Anatevka (Uraufführung des Musicals 1964, daraus der britische Top-Ten-Hit If I Were a Rich Man 1967, gesungen von Topol) beziehungsweise der Lara Antipowa in Doktor Schiwago (1965). Ein weiteres Beispiel, diesmal nicht auf den Stereotyp von der „schönen Russin“, dafür auf die Schönheiten des russischen Naturraumes bezogen, ist die Akzeptanz von Alexandra und ihren Liedern wie Sehnsucht (Das Lied der Taiga) (1968) in der Bundesrepublik Deutschland. Und für das französische Chanson konstatiert Didier Francfort sogar eine „natürliche Zuneigung zum Russischen“, die in den 1960er Jahren ihren Kulminationspunkt erreicht habe. Die Möglichkeit zu einer Verbesserung der außenpolitischen Beziehungen eröffnete sich aber erst ab Mitte 1963 und einhergehend mit dem Wechsel von Nikita Chruschtschow zu Leonid Breschnew an der Spitze der KPdSU (Oktober 1964). Sie entwickelte sich zunächst allerdings ganz überwiegend im kulturellen und touristischen Bereich. Anfang 1965 schaltete die staatliche sowjetische Agentur Intourist in der französischen Tageszeitung Le Monde zum ersten Mal eine Annonce für Urlaubsreisen in die UdSSR. Die dortigen Fremdenführer waren dabei in der Post-Stalin-Ära jung, ganz überwiegend weiblich und akademisch gebildet – ein Abbild der fiktiven Nathalie. Nur eine Woche nach Bécauds Konzert in Moskau (siehe das Kapitel hierunter) fand dort eine öffentliche Jazz-Session statt, was nicht mehr möglich gewesen war, seit Chruschtschow diese Musikrichtung anlässlich des Weltjugendfestivals 1962 als „internationale Entartung“ (dégénérescence cosmopolite) abqualifiziert hatte. Es dauerte dann aber noch über ein Jahr, ehe auch Präsident Charles de Gaulle zu einem Staatsbesuch nach Moskau reiste. Insofern war, so der Historiker Thomas Gomart, Leiter des Institut français des relations internationales, dieses Chanson früher Bestandteil einer vorsichtigen Annäherung zwischen dem Frankreich der Fünften Republik und der Sowjetunion. Der Einschätzung von Gesa Ufer, Bécaud sei hiermit eine mehr oder minder vorsätzliche Symbiose von poetischem Liebeslied und der politischen Utopie einer system- und grenzenüberschreitender Freizügigkeit eingegangen, widersprechen allerdings andere. So formuliert beispielsweise Bertrand de Labbey, Artmedia-Chef und Bécauds späterer Herausgeber, es habe „eher eine poetische als eine politische Konnotation“ bestanden, zumal der Künstler im Unterschied zu anderen Chansonniers „nicht zu den politisch engagierten Sängern gehört“ habe. Siegfried Rupprecht interpretiert Bécauds Lieder insgesamt als „dichterische Träume“ und „Plädoyers für Freundschaft, Toleranz und universales Harmoniestreben“, aber gleichfalls nicht als politische Chansons. Laut Delanoë soll Nathalie dem Sänger anfangs sogar „zu politisch“ und angesichts des Kalten Kriegs unpassend gewesen sein. Bécaud äußerte auch seine Verwunderung darüber, dass manche Nathalie als ein „kommunistisches Lied“ bezeichnet haben. Und sein damaliger, langjähriger Deutschland-Manager und persönlicher Freund Hans R. Beierlein ist der Auffassung, der französische Chansonnier habe einfach eine Geschichte „von normalen Menschen in einer normalen Stadt“ erzählt. Er habe dabei – als Nebeneffekt – dem deutschen Schlager neue Impulse vermittelt, nicht nur in seiner Bedeutung für die Karriere der Sängerin Alexandra, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass deutsche Textautoren daran gesehen hätten, dass man auch „schwierige Worte wie ‚Oktoberrevolution‘“ in der Unterhaltungsmusik verwenden kann. Musikalisch ist der Erfolg von Nathalie eher untypisch für ein Jahr, in dem einerseits die britische Beatmusik ihren globalen Siegeszug begann, andererseits beispielsweise in Deutschlands Bravo-Jahrescharts 1964 auf den 20 ersten Plätzen 15 deutsch- und fünf englischsprachige Titel rangierten und sich drittens junge französische Rock- und Yéyé-Sänger wie Johnny Hallyday, Dick Rivers, Sheila, Eddy Mitchell oder Sylvie Vartan, die sich häufig englischsprachige Künstlernamen gaben, musikalisch wie textlich stark in Richtung der USA orientierten. Insbesondere die Musikkonsumenten und Plattenkäufer der Babyboom-Generation folgten auch in Frankreich diesen neuen Trends, hingen diesen Jugendidolen und nicht mehr den musikalischen Vorlieben ihrer Eltern an. Bécaud bringt Nathalie nach Moskau Im Zuge der vorstehend skizzierten Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik wurde Gilbert Bécaud für Ende April 1965 von der Volksbildungsministerin Jekaterina Furzewa offiziell nach Moskau eingeladen, um ein Konzert im Großen Saal des Kongresspalasts zu geben; zudem war eine Fernsehaufzeichnung geplant. Es ist weder zu beweisen noch von der Hand zu weisen, dass die relativ frische Popularität des Lieds mit dafür verantwortlich war, dass gerade Bécaud als erster französischer Chansonnier seit 1960 (damals Charles Aznavour) eine solche Einladung erhielt. Außerdem galt Bécaud schon „seit Anfang der 1950er Jahre jenseits unserer Grenzen [als] echter Botschafter des französischen Chansons“, wie der spätere Vorsitzende der Französischen Kommunistischen Partei, Georges Marchais, rückblickend resümierte. Gilbert Bécaud flog am 22. April 1965 in die Sowjetunion und kehrte am 17. Mai nach Paris zurück. Bei seiner Ankunft wurde dem Künstler eine offizielle persönliche Begleiterin zugeteilt, die blond war und den Namen Nathalie getragen haben soll. Das hinderte die russischen Zensoren freilich nicht daran, den Vortrag dieses in ihren Augen vermutlich politisch brisanten Chansons für die Fernsehsendung erst nach Bécauds Drohung, gar nicht aufzutreten, wenn man ihm sein Programm vorschreiben wolle, und nach gründlicher Textanalyse durch einen staatlichen Übersetzer freizugeben. In Moskau soll er, da das offizielle Besichtigungsprogramm genügend Raum dafür ließ, einem mitreisenden Reporter des Klatschblattes Paris Match zufolge nach dem von Delanoë erfundenen Café Puschkin gesucht haben, allerdings vergeblich. Denn tatsächlich wurde ein Café dieses Namens in der russischen Hauptstadt erst 1999 aus Anlass von Alexander Puschkins 200. Geburtstag eröffnet. Dies geschah dann aber unter expliziter Bezugnahme auf dieses Lied, und Bécaud gab Nathalie als Ehrengast der Einweihungsfeier zum Besten. Diesen Vorgang charakterisierte die französische L’Humanité als „Wiederauferstehung Nathalies“ und überschrieb ihren Artikel mit den Worten „Wenn das Volkslied eine Legende erschafft“. Gleichzeitig mit Bécauds Moskau-Reise besuchte der sowjetische Außenminister Andrei Gromyko erstmals die französische Hauptstadt. Deswegen befürchtete der sehr medienbewusste Chansonnier, dass die einheimische Presse seiner Tournee in die UdSSR nur wenig Aufmerksamkeit schenken könnte. Um dem entgegenzusteuern, lud er einen ganzen Tross illustrer Pariser Persönlichkeiten (in Frankreich als „Tout-Paris“ bezeichnet) für einige Tage zu seiner eigenen Unternehmung ein, was 40 bis 50 von ihnen annahmen. Darunter waren Gunter Sachs, Porfirio Rubirosa, Marcel Bleustein-Blanchet, Elsa Martinelli, Pierre Cardin, Ira von Fürstenberg, Marcel Achard, Jacqueline de Ribes, Bernard Buffet, Hélène Rochas, Régine, Curd Jürgens und Bécauds PR-Agent Georges Cravenne, der über diese Reise einen Kurzfilm mit dem Titel „Nathalie“ drehte. Der eigentliche Erfinder von Nathalie, Pierre Delanoë, fehlte in Moskau allerdings: Cravenne hatte ihn nicht einmal eingeladen. Teile von Cravennes Filmaufnahmen, in denen Bécaud mit einer blonden Frau über den Roten Platz schlendert, finden sich in einem Nathalie-Musikvideo wieder, das beispielsweise der belgische TV-Sender La Une deutlich später ausstrahlte. Die in Frankreich veröffentlichten Fotos des Pariser Jet Sets vor lauter roten Fahnen – in Moskau wie in Leningrad, wohin die Reisegruppe einen Abstecher unternommen hatte, waren die Straßen anlässlich der Paraden zum 1. Mai damit geschmückt – stießen übrigens nicht nur auf Zustimmung. Cravenne erhielt kurz nach seiner Rückkehr einen Anruf des gaullistischen Premierministers Georges Pompidou, der ihn mit den Worten „Sind Sie das, der einen internationalen Skandal provoziert hat?“ begrüßt haben soll. Diese Kritik ist allerdings auch vor dem innenpolitischen Hintergrund der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zu sehen. Für Matei Chihaia ergab sich bei Gromykos Paris-Aufenthalt ein Spiegelbild der Nathalie-Geschichte, indem dieser zwischen den offiziellen Programmpunkten (Gespräche und Arbeitsessen mit dem ehemaligen Botschafter in Moskau, Louis Joxe, Staatspräsident de Gaulle und Regierungschef Pompidou) den touristischen Höhepunkten der Stadt einen dreiviertel Tag widmete und auf den Champs-Élysées mit ihren Cafés, Museen und Geschäften flanierte. Für den Romanisten entsprach dies dem, was Nathalie bei ihrem Gegenbesuch in der französischen Hauptstadt hätte tun sollen, weshalb auch dies ein Teil der Vorgänge sei, in denen die Fiktion des Lieds – kein Jahr nach seiner Veröffentlichung – zur Wirklichkeit geworden ist. Nathalies Bedeutung im weiteren Verlauf von Bécauds Karriere Nathalie hat Gilbert Bécaud bis an sein Lebensende begleitet, und das nicht nur, weil das Publikum das Chanson bei Konzerten regelmäßig von ihm forderte. 1983, also 19 Jahre nach Erscheinen dieses Liedes, brachte er mit La fille de Nathalie eine Art musikalischer Fortsetzung heraus; erneut stammte der Text von Pierre Delanoë. Darin wird ein Briefwechsel zwischen dem Franzosen und Nathalies 1964 geborener Tochter, die in Leningrad studiert, geschildert. Die weiter oben als offen bewertete Frage nach der Intensität ihrer Beziehung 1964 in Moskau wird somit zumindest aus der Rückschau beantwortet. Im Verlauf des Jahres 1991 litt Bécaud vorübergehend unter einer Sinnkrise, die sich auf verschiedene Aspekte seines Lebens bezog. Er befürchtete, dass er nur noch in Routine gefangen sei, und klagte: „Ich habe die Nase voll, kann Nathalie nicht mehr singen – seit 30 Jahren jeden Abend! Ich muss sie neu erfinden, um wieder Lust darauf zu bekommen“. Diese Selbstzweifel hielten allerdings nicht sehr lange an. Zwei Jahre später beispielsweise sang er diesen Song bei einem Konzert gemeinsam mit den Chören der Armee der Ukraine, den ehemaligen Chören der Roten Armee, und 1999 in Moskau anlässlich der Eröffnung des zur Realität gewordenen Café Puschkin. Ein letztes Mal spielte Nathalie beim Chorfestival „Les Fous Chantants d’Alès-en-Cévennes“ in der ersten August-Woche 2001 eine wesentliche Rolle in Bécauds Leben. Diese jährliche Veranstaltung war diesmal ausschließlich seinen Liedern gewidmet und er hatte zugesagt, dort mitzusingen. Dieses Versprechen konnte er allerdings nicht einhalten, denn der Sänger war von einem Lungentumor befallen und wenige Tage zuvor ins Krankenhaus eingeliefert worden. So mussten die Choristen beim Abschlusskonzert im örtlichen Stade Pierre Pibarot ohne ihn auskommen. Dabei wurde „Nathalie, von 1.000 Stimmen bewegt vorgetragen, zum Höhepunkt eines aufwühlenden Ereignisses“. Nur rund vier Monate später starb Gilbert Bécaud. Coverversionen und spätere Bezugnahmen Zahlreiche andere Interpreten haben dieses Lied später ebenfalls aufgenommen, auf Französisch beispielsweise Adamo, Richard Anthony, Freddy Birset, Patrick Bruel, Yves Duteil, Rummelsnuff, Sanseverino und Shy’m. Ebenso wurde es in etliche andere Sprachen übersetzt; dazu zählen unter anderem Spanisch (auch von Bécaud gesungen, mit Arrangement und Orchestrierung, die vom Original stark abweichen), Englisch (Rod McKuen), Niederländisch (Lia Dorana), Finnisch (Tapani Perttu), Serbo-kroatisch (Vice Vukov), Deutsch (neben Bécaud selbst auch Peter Alexander und Dietmar Schönherr, Mitte der 1970er Costa Cordalis sowie in der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung (1990) Keimzeit, Gerhard Schöne, Konrad Wissmann und Klee), Türkisch (Özdemir Erdoğan), Italienisch (Nicola Arigliano), Hebräisch und Persisch. Eine russische Gesangsfassung scheint allerdings nicht zu existieren. Zu den Olympischen Winterspielen 2014 im russischen Sotschi veröffentlichte die Frankokanadierin Anne Gibeault einen gegen die homophobe Politik unter Putin gerichteten Film unter dem Titel Nathalie en Russie, in dem Schwule und Lesben zu einer Instrumentalversion von Nathalie tanzen. Ebenfalls rund ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung nahm sogar ein Gericht in den Vereinigten Staaten Bezug auf das Chanson. In einem Prozess um das Text-Urheberrecht an Elton Johns Song Nikita, den der Autor eines Natasha betitelten Lieds angestrengt hatte, begründete es sein 2013 ergangenes Urteil unter anderem mit der Feststellung: Hätten Delanoë und Bécaud 1964 den Titel Nathalie und die Story „Mann (West) liebt Frau (Ost)“ schützen lassen, hätten sie alle späteren Songs und Videoclips, die dieses Thema behandeln, verhindern können. Möglicherweise enthält auch Udo Lindenbergs 1989 erschienenes Natalie aus Leningrad eine geistige Anleihe bei Delanoës Text. Zumindest weist es in den ersten Strophen eine Reihe von Ähnlichkeiten bezüglich der Handlung auf: Auch Leningrad ist weiß, Natalie zeigt ihm ihre Stadt, wo sie natürlich über den Newski-Prospekt statt über den Roten Platz gehen, und er verliebt sich dabei in sie. Literatur zu diesem Lied Matei Chihaia: „Fiction et vérité de « Nathalie »“ in: Timo Obergöker / Isabelle Enderlein (Hrsg.): La chanson française depuis 1945. Intertextualité et intermédialité., Martin Meidenbauer, München 2008, ISBN 978-3-89975-135-2, S. 185–201 „Nathalie“ in: Fabien Lecœuvre: 1001 histoires secrètes de chansons. Éd. du Rocher, Monaco 2017, ISBN 978-2-268-09672-8, S. 423 Pierre Saka: La Grande Anthologie de la chanson française. Le Livre de Poche, Paris 2001, ISBN 978-2-253-13027-7 (Liedtext auf S. 349–351) Bécaud-Biographie Annie und Bernard Réval: Gilbert Bécaud. Jardins secrets. France-Empire, Paris 2001, ISBN 978-2-7048-0930-1 zum Genre Chanson insgesamt Pierre Saka: 50 ans de chanson française. France Loisirs, Paris 1994, ISBN 2-7242-5790-1 Gilles Verlant (Hrsg.): L’encyclopédie de la Chanson française. Des années 40 à nos jours. Éd. Hors Collection, Paris 1997, ISBN 2-258-04635-1 Gilles Verlant: L’Odyssée de la Chanson française. Éd. Hors Collection, Paris 2006, ISBN 978-2-258-07087-5 Weblinks Text des Chansons auf Französisch bei songtexte.com und auf Deutsch bei lyrix.at Mai 1964: Bécaud singt Nathalie live (offizielles Video, aus den Beständen des INA) bei YouTube April/Mai 1965: Cravenne-Film (gekürzt) mit Bécaud und einer Nathalie-Darstellerin von La Une, bei YouTube Einzelnachweise und Anmerkungen Chanson (Lied) Lied 1964 Lied von Kurt Hertha
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https://de.wikipedia.org/wiki/Orly%20%28Chanson%29
Orly (Chanson)
Orly ist ein Chanson des belgischen Chansonniers Jacques Brel in französischer Sprache. Es wurde am 5. September 1977 aufgenommen und am 17. November desselben Jahres auf Brels letzter Langspielplatte bei Disques Barclay veröffentlicht. Das Album des nach langer künstlerischer Pause aus der Südsee zurückgekehrten Chansonniers wurde ein öffentliches Ereignis in Frankreich. Orly gilt als eines der herausragenden Chansons auf Brels letzter Veröffentlichung. Das Lied handelt von einem Liebespaar, das sich auf dem Flughafen Paris-Orly voneinander verabschiedet. Ungewöhnlich für Brels Œuvre ist die Beobachterrolle, die der Erzähler einnimmt, und der nicht vorrangig männliche Blickwinkel, der sich am Ende auf die verlassene Frau richtet. Orly lässt sich nicht nur als trauriges Liebeslied, sondern mit seinen Anspielungen auf Krankheit und Tod auch als Abschied des todkranken Chansonniers vom Leben interpretieren. Im Refrain zieht Brel das Fazit, dass das Leben keine Geschenke verteile. Mit der Namensnennung seines Kollegen Gilbert Bécaud verweist er auf dessen ungleich optimistischeres Chanson Dimanche à Orly über Fernweh am Flughafen. Text und Musik Sonntags in Orly: Über zweitausend Menschen strömen durch den Flughafen, doch der Erzähler hat nur Augen für zwei, ein Liebespaar, das im Regen steht und sich so fest umarmt, dass die Körper verschmelzen. Unter Tränen beteuern sie ihre Liebe, doch machen sie einander keine Versprechungen, die sie nicht halten können. Schließlich trennen sich ihre Körper ganz langsam, halten sich wieder, bis sich der Mann abrupt abwendet und von einer Treppe verschluckt wird. Zurück bleibt die Frau, mit offenem Mund, schlagartig gealtert, als sei sie ihrem Tod begegnet. In der Vergangenheit hat sie schon öfter Männer verloren, doch dieses Mal ist es die Liebe, die sie verloren hat. Sie fühlt sich zerbrechlich, wie zum Verkauf bestimmt. Der Erzähler versucht ihr zu folgen, doch dann wird auch sie von der Menge verschluckt. Der Refrain lautet: Was sich etwa übersetzen lässt als: „Das Leben macht keine Geschenke. Und in Gottes Namen (auch stärker: Verdammt nochmal), es ist traurig sonntags in Orly, ob mit oder ohne Bécaud.“ Die Verse nehmen sich einige Freiheiten bezüglich der Reime, befolgen aber streng das Versmaß von halben Alexandrinern. Die Melodie ist ausgesprochen monoton. Sie beginnt mit dem Wechsel zweier einfacher Akkorde auf einer sanft angeschlagenen Gitarre, die laut Hubert Thébault die Wirkung eines Herzschlags erzeugt. Es handelt sich um Tonika und Dominantseptakkord in c-Moll zur ersten und dritten Viertelnote eines Drei-Viertel-Takts. Während sich Brel so die erste Strophe hindurch alleine begleitet, setzt das von seinem langjährigen Arrangeur François Rauber geleitete Orchester erst nach dem ersten Refrain explosionsartig ein. Die vier akzentuierten Einsätze wirken dabei „wie ein akustisches Ausrufezeichen“. Ab der zweiten Strophe geben die Streicher den Rhythmus vor, während die Bläser in der dritten Strophe das für Brel charakteristische Crescendo unterstützen. Ulf Kubanke spricht von einem „verweht hallenden Bläserecho“, Hubert Thébault erinnern die Fanfaren der Trompeten an eine Corrida. Wie es für die Zusammenarbeit von Brel und Rauber typisch war, hatte Brel von Beginn an genaue Vorstellungen zum musikalischen Stil und der Instrumentierung, so etwa auch zur Trompetenstimme, ließ Rauber dann jedoch die Details ausarbeiten. Hintergrund und Entstehungsgeschichte Im Mai 1967 gab Brel mit gerade einmal 38 Jahren seine Abschiedsvorstellung als Chansonnier auf der Bühne. Im Folgejahr erschien eine letzte Langspielplatte, anschließend trat Brel nur noch in einem Musical und verschiedenen Filmen auf. Im November 1974 musste sich der an Lungenkrebs erkrankte Sänger einer Operation unterziehen, bei der ein Teil seiner Lunge entfernt wurde. Noch im Dezember des Jahres brach er mit seiner Geliebten Maddly Bamy zu einer Atlantiküberquerung per Segelschiff auf. Wenige Wochen zuvor hatte er sich von einer anderen Geliebten namens Monique verabschiedet, die er niemals wiedersah. Eddy Przybylski vermutet diese Trennung auf einem Flughafen (nicht in Orly, doch mit dem Pariser Flughafen als Reiseziel) als biografischen Hintergrund des Chansons Orly. Brels Reise führte ihn über mehrere Zwischenstationen auf die Marquesas-Inseln, wo er sich im Juni 1976 auf Hiva Oa dauerhaft niederließ. Auf der Insel, auf der schon Paul Gauguin seine letzten Jahre verbracht hatte, fand Brel noch einmal die Inspiration für siebzehn neue Chansons über „ein paar Dinge, die mir seit fünfzehn Jahren durch den Kopf gehen“. Im August 1977 überraschte Brel seine alten Weggefährten mit einer kurzfristigen Rückkehr nach Paris. Vor der französischen Öffentlichkeit, in der Gerüchte über den sterbenskranken Chansonnier kursierten, versteckte er sich in einem kleinen Hotel nahe der Place de l’Étoile. Im Gepäck hatte er eine Kassette mit Probeaufnahmen seiner neuen Chansons. Gérard Jouannest kritisierte die Monotonie der Melodien, doch François Rauber schmückte sie mit seinen Arrangements aus. Für die Plattenaufnahmen hatte Eddie Barclay ein Studio in der Avenue Hoche angemietet. Brel nahm die Lieder gemeinsam mit einem von Rauber geleiteten Orchester auf, jedoch nie mehr als zwei Chansons pro Arbeitssitzung, die in wenigen Takes abgeschlossen sein mussten. Brels Stimme hatte nachgelassen, er konnte höchstens drei Stunden am Stück singen, bevor er eine Pause machen musste. Die angespannte Stimmung im voll besetzten Studio versuchte er mit Witzen über seinen fehlenden Lungenflügel aufzulockern. Orly gehörte mit Jojo zu den ersten beiden Chansons, die Brel am 5. September aufnahm. Als Brels letzte Platte am 17. November 1977 veröffentlicht wurde, löste dies ein enormes Echo in der Öffentlichkeit aus. Die Platte trug keinen Titel, das Cover zeigte nur die vier Buchstaben seines Nachnamens vor einem blauen Wolkenhimmel. Barclay machte keine herkömmliche Werbung, sorgte jedoch gerade mit einer demonstrativen Geheimhaltung, der Auslieferung verschlossener Container samt zeitgleicher Öffnung der Zahlenschlösser, für einen besonderen Werbecoup, der die Erwartungen in die Höhe schnellen ließ und für 1 Million Vorbestellungen sorgte. Brel, der Paris bereits Richtung Südsee verlassen hatte, war verärgert über den Rummel. Er lebte noch ein gutes halbes Jahr in Hiva Oa, bis sich sein Gesundheitszustand so weit verschlechtert hatte, dass er im Juli 1978 erneut nach Paris zurückkehren musste, dieses Mal für eine Chemotherapie. Drei Monate später starb er am 9. Oktober 1978 in Bobigny bei Paris an Herzversagen. Interpretation Liebe und Trennung Laut Maddly Bamy beschrieb Brel Orly als „une belle chanson d’amour“ („ein schönes Liebeslied“). Für Sara Poole steht es in einer Reihe mit Chansons wie Ne me quitte pas oder Madeleine, die kraftvoll und dramatisch die Verzweiflung und das Ausgeliefertsein an tiefe Leidenschaften heraufbeschwören. Monique Watrin erinnert die „Mini-Tragödie“ Orly an den frühen, leidenschaftlichen Brel aus dem Jahr 1959, dem Jahr also, in dem er mit Ne me quitte pas das „Liebeslied des Jahrhunderts“ (laut Frédéric Brun) geschrieben hat. Aus Sicht seines Chanson-Kollegen Serge Lama hat Brel überhaupt nur vier wirkliche Liebeslieder geschrieben: Ne me quitte pas, La chanson des vieux amants, Orly und Jojo. Für Anne Bauer ist Orly gar das „einzige Chanson von Brel, in dem es eine Liebe ohne Vorbehalte, ohne Hintergedanken und ohne Lüge gibt“. Orly beschreibt die schmerzliche Trennung eines Paares, das sich zwar liebt, aber wegen nicht ausgeführter Umstände nicht zusammenbleiben kann. Anders als in Chansons wie Je ne sais pas (1958) oder La Colombe (1959) vollzieht sich die Trennung nicht auf einem Bahnsteig, sondern inmitten der Menschenmenge auf einem betriebsamen Flughafen. Und ebenfalls anders als bei früheren Chansons hält sich Brel vollkommen aus dem Geschehen heraus und beschränkt sich darauf, zu beschreiben, was er sieht. Dabei bedient er sich quasi-filmischer Stilmittel und richtet das Objektiv abwechselnd auf das Paar als Ganzes und die einzelnen Personen, ihr Verhalten, ihre Gesten, ihre Blicke und ihre Tränen, mit denen er ein desillusioniertes Bild der menschlichen Existenz zeichnet. Als eine Art Leitmotiv dienen die einleitenden Zeilen „Ils sont plus de deux mille / Et je ne vois qu'eux deux“ („Sie sind über zweitausend und ich sehe nur sie beide“), die im Verlauf der ersten beiden Strophen zweimal wiederholt werden. Sie dienen der Fokussierung, richten den Blick des Erzählers vom Allgemeinen auf das Besondere. Zu Beginn zeigt Brel das Paar als Einheit mit Ausdrücken wie „eux deux“, „ces deux“, „tous les deux“ und „ils“ („sie beide“, „diese beiden“ „alle beide“ und „sie“). Er erweckt im Zuhörer das Bild einer sehr engen, innigen Vereinigung. Diese wird noch verstärkt durch die äußeren Umstände, den Regen, der beide einhüllt und sich in ihren Tränen widerspiegelt, sowie das gemeinsame Feuer, das in beiden brennt. Bei den ersten, widerstrebenden Versuchen der Trennung erinnert die aufeinander bezogene Bewegung der beiden Körper an Naturelemente, an Ebbe und Flut. Das Paar hebt sich von der umgebenden Menschenmenge ab, nicht nur durch den Fokus des Betrachters, sondern auch indem es eine Liebe lebt, die den anderen unverständlich bleibt, von ihnen verurteilt wird. Es ist eine Liebe, die um ihre Begrenzungen weiß, die keine falschen Versprechungen braucht und durch das Hindernis zwischen den Liebenden noch wächst. Mit der Trennung des Paares treten die Einzelwesen hervor. Beide bewältigen den Schmerz auf ihre eigene Art und Weise, die für Watrin typische Geschlechterrollen transportiert. Zuerst wird der Mann als eigenständige Person erkennbar. Hierbei arbeitet Brel mit einer Syllepse, bei der erst im Rückbezug korrigiert wird, dass es alleine der Mann gewesen ist, der seinen Schmerz in „gros bouillons“ („dicker Brühe“) herausweint. Diese Kombination der Redewendungen „bouillir à gros bouillons“ („schnell kochen“) und „pleurer à chaudes larmes“ („sich die Augen ausweinen“), assoziiert für Sara Poole gleichermaßen dicke Tränen, verzweifeltes, unkontrolliertes Schluchzen und eine leidenschaftliche, fiebrige Hitze. Der Mann ist auch der Erste, der das Leiden nicht mehr erträgt, weder das eigene noch das der Partnerin. Er flieht in Aktivität und vollzieht brüsk die zuvor immer wieder aufgeschobene Trennung. Zurück bleibt die Frau. Wie zuvor bei den Tränen des Mannes greift Brel auch bei ihrem Schmerz zu Hyperbeln, zum Stilmittel der Übertreibung und einer laut Patrick Baton regelrechten Explosion der Zeit: „Ses bras vont jusqu'à terre / Ça y est elle a mille ans“ („Ihre Arme gehen bis zum Boden / Es ist soweit, sie ist tausend Jahre alt“). Laut Hubert Thébault waren die Abschiede von Liebenden in Brels Chansons schon immer so herzzerreißend und endgültig wie der Tod. Nach dem Verlust der Liebe meint die Frau ihrem eigenen Tod zu begegnen. Der Verbindung von Liebe und Tod folgt ein symbolischer Kreis, als sie sich alleine um sich selbst dreht. Sie verweigert die Anerkennung der Realität und malt sich unmögliches Glück aus, um ihr Leben aufrechtzuerhalten. Am Ende fühlt sie sich „à vendre“ („zu verkaufen“), denn noch weniger als an die ewige Liebe glauben Brels Chansonfiguren an die ewige Treue. In der Vokabel liegt für Watrin aber auch die Möglichkeit eines Lebens ohne den anderen, die Eröffnung einer neuen Dimension der eigenen Zukunft. Laut Sara Poole gibt es in der Trennung des Paares keine Gewinner. Beide leiden gleichermaßen. Ungewöhnlich in Orly ist allerdings, dass zum ersten Mal in Brels Œuvre nicht der Mann, sondern die Frau als Verlassene dargestellt wird, als Opfer, dem Mitgefühl und Mitleid des Chansonniers zuteilwird. Poole findet die Darstellung der Verlassenen ungleich berührender als etwa den vergeblich wartenden Verehrer mit seinem Blumenstrauß in Madeleine. Sie wie auch Michaela Weiss halten die Empathie dieses Chansons dem häufig geäußerten Vorwurf der Misogynie in Brels Chansons wie etwa Les biches entgegen. Marc Robine fragt bezüglich dieses Vorwurfs: „mais comment peut-on encore y croire après avoir écouté Orly?“ („wie kann man daran noch glauben, nachdem man Orly gehört hat?“) Für Bruno Hongre und Paul Lidsky ist es die letzte Botschaft Brels, nach dem ausschließlich männlichen Blickwinkel seiner Chansons am Ende das gebrochene Herz einer Frau in einer solchen Intensität nachempfunden zu haben. Krankheit und Tod Brel selbst wies 1978 in einem Gespräch mit seinem Freund, dem Mediziner Paul-Robert Thomas, auf eine andere, persönlichere Lesart des Chansons hin: Die zurückgelassene, versteinerte Frau blickt laut Sara Poole einer Zukunft entgegen, aus der Sinn und Leben gewichen sind, nachdem der Mann von der Treppe „verschluckt“ worden ist („Bouffé“). Für Brels Tochter France und André Sallée ist es eine Treppe in die Finsternis, die den Mann verschlingt, als werde er von einer Krankheit aufgezehrt. Diese Krankheit erkennt Jean-Luc Pétry auch in der Gegenüberstellung des Paares mit der umgebenden Menschenmenge: Die mageren Körper der Liebenden befinden sich inmitten gesunder, wohl genährter Flugreisender, die zu Voyeuren ihres Schmerzes werden. Die gute Konstitution der Umstehenden wirft ihnen der Erzähler mit Bezeichnungen wie „adipeux en sueur“ („schwitzende Fette“) oder „bouffeurs d’espoir“ („Hoffnungsträger“, wörtlich: „Hoffnungsfresser“) regelrecht vor, so unanständig wirkt ihre Gesundheit neben dem leidenden Paar. Sébastien Ministru führt in seiner Interpretation für die RTBF weiter aus: „L’escalier, c’est la mort.“ („Die Treppe, das ist der Tod.“) Es sei explizit vom Verschwinden des Mannes die Rede, und dies in einem Vokabular, das nicht einer Abflughalle entstammt, sondern einem Sterbezimmer: dürre Körper, sabbernde Worte, Kummer, Tränen, ein Schrei, eine unruhige Hand wie ein letzter Ausbruch des Lebens. In all dem stecke die Beschreibung eines Todeskampfes, der letzten Atemzüge eines Sterbenden. Es sei ein Abschiedsgruß des todkranken Brel, der elf Monate nach Veröffentlichung seines letzten Albums verstarb. Mit oder ohne Bécaud Im Refrain von Orly verweist Brel auf ein berühmtes Lied seines Chanson-Kollegen Gilbert Bécaud aus dem Jahr 1963: Dimanche à Orly. Dessen Text stammt von Pierre Delanoë, die Musik von Bécaud. Es handelt von den hoffnungsfrohen Phantasien eines kleinen Angestellten, der jeden Sonntag zum Flughafen Paris-Orly fährt, um den Flugzeugen zuzusehen und von fernen Ländern zu träumen. Eines Tages, so hofft er, wird er selbst in einem solchen Flugzeug sitzen. Der Refrain beginnt mit den Versen: Die Übersetzung lautet etwa: „Ich gehe am Sonntag nach Orly. Auf dem Flughafen sieht man Flugzeuge in alle Länder fliegen. Für den Nachmittag… habe ich etwas zum Träumen.“ Bécauds Lied, vierzehn Jahre vor Brels Orly entstanden, kündet von einer Zeit, in der der Flughafen noch vor dem Eiffelturm Frankreichs größte Besucherattraktion war. Nach Einweihung des Terminals Orly Süd 1961 kamen täglich neben 10.000 Reisenden ebenso viele Besucher, um den Tag in Restaurants, Kinos, Einkaufspassagen und auf drei Besucher-Terrassen zu verbringen. Der Flughafen, ein „riesiges Monument aus Glas und Stahl“ („vaste monument de glaces et d’acier“) stand für Modernität und Mondänität, konnte man doch zuweilen auch einen Blick auf die reisenden Stars erhaschen. Die romantisierende Stimmung von Dimanche à Orly fasst der Physiker Jeremy Bernstein zusammen: „The cheer is relentless.“ („Der Jubel ist erbarmungslos.“) Und er schließt an, dass dies Brel auf die Nerven gegangen sein muss. Laut André Gaulin handelt es sich bei Brels Orly um eine regelrechte „Anti-Version“ des Vorgängers von Bécaud. Chris Tinker führt aus, dass das Leben auch dann grausam und tragisch sein könne, wenn die heiteren Chansons von Brels Zeitgenossen aus dem Lautsprecher rieseln. Bécaud fühlte sich von Brels namentlicher Erwähnung nicht gerade geehrt. Claude Lemesle urteilte, es sei eine „unnötige Anspielung“ („l’inutile allusion“) auf den Kollegen, für die sich Brel später telefonisch entschuldigt hätte. Der niederländische Journalist Pieter Steinz hingegen goutierte gerade den Comic Relief, die komische Erleichterung, mit der die Melancholie von Orly durch einen „witzigen musikalischen Verweis“ auf den Chansonnier-Kollegen relativiert wird. Rezeption Während Brels letzte Langspielplatte in der französischen Kritik auf eine große Bandbreite von sehr unterschiedlichen Rezensionen traf (von ablehnend bis sehr positiv), wurde das Chanson Orly häufig positiv aus dem Gesamtwerk herausgehoben. So kritisierte etwa Jacques Marquis in Télérama die nachlassenden Texte und veraltete Musik, ordnete Orly aber unter „trois ou quatre beaux titres“ („drei oder vier schöne Titel“) auf der Platte ein. Danièle Heymann fand in L’Express durchgängig lobende Worte über Brels Veröffentlichung, erteilte aber Orly besonderes Lob als „la plus belle chanson de rupture depuis Les Feuilles mortes“ („das schönste Chanson über Trennung seit Les Feuilles mortes“). Auch rückblickend hielt Ulf Kubanke in seiner Besprechung in laut.de Orly für den „Höhepunkt des Albums“. Und Gilles Verlant bezeichnete Orly gemeinsam mit La ville s’endormait und Les marquises als „trois des plus belles chansons jamais écrites par Brel“ („drei der schönsten Chansons, die Brel jemals geschrieben hat“). Brels älterer Bruder Pierre Brel sah in Orly das beeindruckendste Chanson aus dem gesamten Repertoire seines jüngeren Bruders. Claude Lemesle bezeichnete es als „chef-d’œuvre“ („Meisterwerk“). Jérôme Pintoux urteilte: „Une chanson mélo, pathétique. Un peu trop longue peut-être.“ („Ein melodramatisches, pathetisches Chanson. Ein bisschen zu lang vielleicht.“) Pieter Steinz schrieb 1996: „Het is het droevigste afscheidslied dat ik ken.“ („Es ist das traurigste Abschiedslied, das ich kenne.“) So wählte der an ALS erkrankte Steinz das Lied 2015, ein Jahr vor seinem Tod, auch als musikalische Untermalung für seine eigene Trauerfeier aus. Orly wurde in mehr als 30 Coverversionen auf Tonträger eingespielt. Darunter befinden sich Übertragungen ins Afrikaans, Englische, Italienische, Niederländische und Russische. Loek Huisman übertrug das Lied unter dem Titel Flugplatz ins Deutsche. Die Fassung sang 1989 Michael Heltau auf dem Album Heltau – Brel Vol 2 ein. Das französische Original interpretierten unter anderem Dominique Horwitz (1997 auf Singt Jacques Brel und 2012 auf Best of Live – Jacques Brel), Vadim Piankov (1998 auf Chante Jacques Brel, 2001 auf Brel... Barbara und 2009 auf Vadim Piankov interprète Jacques Brel), Anne Sylvestre (2000 auf Souvenirs de France), Pierre Bachelet (2003 auf Tu ne nous quittes pas), Florent Pagny (2007 auf Pagny chante Brel und 2008 auf De part et d’autre), Laurence Revey (2008 auf Laurence Revey) und Maurane (2018 auf Brel). Literatur Jacques Brel: Tout Brel. Laffont, Paris 2003, ISBN 2-264-03371-1, S. 355–357 (Abdruck des Textes). Jean-Luc Pétry: Jacques Brel. Textes et Chansons. Ellipses, Paris 2003, ISBN 2-7298-1169-9, S. 60–67. Hubert Thébault: Orly. In: Christian-Louis Eclimont (Hrsg.): 1000 Chansons françaises de 1920 à nos jours. Flammarion, Paris 2012, ISBN 978-2-08-125078-9, S. 547–548. Monique Watrin: Brel. La quête du bonheur. Sévigny, Clamart 1990, ISBN 2-907763-10-5, S. 212–216. Weblinks „Orly“, les adieux de Jacques Brel à la vie… bei RTBF vom 30. November 2017. Einzelnachweise Jacques Brel Chanson (Lied) Lied 1977
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https://de.wikipedia.org/wiki/Heegner-Punkt
Heegner-Punkt
Heegner-Punkte (benannt nach Kurt Heegner) sind Zahlen, die quadratische Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten lösen und die mit Punkten auf geometrischen Figuren, nämlich Modulkurven, verknüpft werden können. Die mittels der Verknüpfung gegebenen Punkte auf Modulkurven werden ebenfalls Heegner-Punkte genannt und sind Gegenstand der arithmetischen Geometrie. Sie spielen eine bedeutende Rolle in der Theorie der elliptischen Kurven und in der Klassenkörpertheorie. Heegner-Punkte unterscheiden sich von den namensähnlichen Heegner-Zahlen. Die als Heegner-Punkte bezeichneten Lösungen der quadratischen Gleichung sind komplexe Zahlen mit ausschließlich positivem Imaginärteil. Beispielsweise ist die Zahl ein Heegner-Punkt, da sie den positiven Imaginärteil besitzt und die Gleichung erfüllt. Die Lösungen werden verwendet, um Punkte zu erzeugen, die die komplizierteren Gleichungen von Modulkurven oder elliptischen Kurven erfüllen. Der Mehrwert dieser Methode liegt darin, dass Heegner-Punkte anhand der quadratischen Gleichung einfach bestimmt werden können. Die damit erzeugten Punkte geben letztlich einige Auskunft über Fragestellungen aus der Zahlentheorie. Kurt Heegner verwendete sie, um Fragen der Zerlegung von Zahlen in elementarere multiplikative Bausteine nachzugehen, die analog zur Theorie der Primzahlen sind. Indirekt sind Heegner-Punkte in Ideen involviert, die Kreiszahl auf viele Stellen nach dem Komma zu ermitteln. Sie sind ein Ausgangspunkt für den Chudnovsky-Algorithmus, mit dessen Hilfe bis heute (Stand 2023) über 100 Billionen Dezimalstellen von berechnet wurden. Besondere Prominenz erhalten Heegner-Punkte im Themenkreis rund um die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer, eines der sieben Millennium-Probleme der Mathematik. Sie spielten die Schlüsselrolle bei der Frage, warum diese bis heute im Allgemeinen unbewiesene Hypothese nur in ganz bestimmten Fällen mit den bisher errungenen Erkenntnissen bewiesen werden konnte. Dies sind genau die Fälle, in denen die zugehörigen elliptischen Kurven – dies sind die Gegenstände der Vermutung – einen „unmittelbaren Bezug“ zu Heegner-Punkten haben. Über die Betrachtung unendlich vieler Heegner-Punkte gleichzeitig, sogenannter Heegner-Systeme, konnte Victor Kolyvagin in Kombination mit Resultaten von Benedict Gross und Don Zagier im Jahr 1988 zeigen, dass die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer im Falle der analytischen Ränge und wahr ist. Bis heute gelten Heegner-Punkte als Objekte mathematischen Interesses, auch bei der Verwendung von Algorithmen, also rechnerischen Verfahren. Wichtige Beiträge zu deren Erforschung lieferten Bryan Birch, Henri Darmon, Peter Swinnerton-Dyer, Benedict Gross, Kurt Heegner, Winfried Kohnen, Victor Kolyvagin, Barry Mazur, Heinrich Weber, Zhang Wei, Don Zagier und Shou-Wu Zhang. Grundlegende Einordnung Über Kurven und rationale Punkte Eine algebraische Kurve ist im Prinzip eine große Familie von Punkten, die alle eine gemeinsame algebraische Relation erfüllen. Das bedeutet, dass es eine Gleichung zu Null gibt, in der ausschließlich addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert wird, die von allen Punkten gleichzeitig erfüllt wird. Ein Beispiel ist die Gleichung ( wird lediglich mit sich selbst multipliziert und anschließend wird 1 vom Ergebnis subtrahiert), die genau von gelöst wird. Somit bildet die Familie die „Vorstufe“ einer Kurve, obgleich zwei Punkte noch nicht eine „kurvige“ Anschauung hervorrufen. Ein erstes nicht-triviales und häufig genanntes Beispiel einer Kurve ist der Kreis mit Radius 1 und Mittelpunkt  in der Zahlenebene, der genau durch die Punkte gegeben ist, welche die Relation erfüllen. Es können also auch Punkte mit mehr als einer Koordinate Kurven bilden, und tatsächlich wird es auch erst hier „reichhaltiger“. Dass die reellen Lösungen der Gleichung einen Kreis bilden, kann mit dem Satz des Pythagoras bewiesen werden. Von Interesse ist, dass eine eigentlich geometrische Figur wie der Kreis von einer algebraischen Relation herrührt. Auch anderen Gebilden wie Geraden, Ebenen, Hyperbeln etc. liegen algebraische Gleichungen zugrunde. Während der Kreis erst durch Betrachtung aller reellen Zahlen „lückenlos“ entstehen kann, so liegt etwa auf dem Kreis, da ist es für die Zahlentheorie von Interesse, Punkte auf Kurven zu finden, die ganz besonders „einfach“ sind. Damit sind zum Beispiel rationale Punkte gemeint, die neben der ohnehin schon restriktiven Kurvenlage die Eigenschaft haben sollen, dass ihre Koordinaten durch Quotienten ganzer Zahlen beschrieben werden können. So ist es eine klassische Frage der Zahlentheorie, welche rationalen Punkte auf dem Kreis liegen. Zum Beispiel ist kein rationaler Punkt, da man weiß, dass die Quadratwurzel aus 2 keine rationale Zahl ist. Beispiele für rationale Punkte sind , da aber auch sowie . Diese Punkte leiten sich aus den pythagoreischen Tripeln ab, also nicht-trivialen ganzen Zahlen mit . Es kann über elementare Methoden gezeigt werden, dass es unendlich viele primitive pythagoreische Tripel gibt, also solche, die nicht ganze Vielfache anderer Tripel sind, weshalb der Kreis tatsächlich „übersät“ mit rationalen Punkten ist, siehe dazu auch in den Artikel Gruppe der rationalen Punkte auf dem Einheitskreis. Allgemein gelten quadratische Kurven hinsichtlich rationaler Punkte als weitgehend verstanden. Bereits durch dieses Beispiel wird eine Synthese aus Geometrie (Figuren, hier ein Kreis), Algebra (Gleichungen, die nur Grundrechenarten verwenden) und Zahlentheorie (rationale Zahlen) erkennbar. Elliptische Kurven Bei Weitem nicht so zugänglich sind sogenannte elliptische Kurven (über den rationalen Zahlen), die allgemein in der Form mit rationalen Zahlen beschrieben werden können. Während der geometrischen Figur des Kreises eine quadratische Gleichung zugrunde lag, handelt es sich bei einer elliptischen Kurve um eine kubische Gleichung (also mit Termen hoch 3). Das Besondere an elliptischen Kurven ist, dass man aus zwei bereits bekannten (rationalen) Punkten und über eine Verknüpfung einen neuen rationalen Punkt berechnen kann, genauso wie man aus zwei ganzen Zahlen mit der Addition eine neue ganze Zahl erzeugen kann. Bei der Addition eines rationalen Punktes zu sich selbst können zwei Situationen eintreten: Entweder der betrachtete Punkt ist von endlicher Ordnung und schließt einen endlichen Zyklus, d. h., irgendwann tritt die Situation ein und es geht von vorne los, oder es entstehen bis ins Unendliche immer neue Punkte, was vergleichbar mit der Erzeugung aller natürlicher Zahlen durch ist. In diesem Fall sagt man, dass unendliche Ordnung hat. Gelegentlich spricht man bei Punkten endlicher Ordnung auch von trivialen und bei welchen mit unendlicher Ordnung auch von nicht-trivialen Punkten. Die Theorie der elliptischen Kurven ist äußerst umfangreich, zahlentheoretisch im Zusammenhang mit dem großen Satz von Fermat von Bedeutung und wird von Mathematikern wie Henri Cohen auf den Umfang vieler tausend Seiten (in moderner mathematischer Sprache) geschätzt. Trotz ihrer Strukturen sind manche ihrer Eigenschaften bis heute nicht geklärt. So kennt man bis heute keinen allgemeinen Algorithmus, der endlich viele rationale Punkte liefert, mit deren Hilfe alle anderen rationalen Punkte auf der Kurve durch Verknüpfung gewonnen werden können (eine positive Antwort auf die starke Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer würde jedoch einen solchen Algorithmus liefern). Jedoch können Heegner-Punkte in manchen Fällen dabei helfen, nicht-triviale rationale Punkte zu erzeugen. Was elliptische Kurven über den rationalen Zahlen, neben ihrer Fähigkeit einer Punktaddition, so in den Fokus des Interesses rückt, ist die Tatsache, dass sie die einzigen Kurven sind, die endlich, aber auch unendlich viele rationale Punkte haben können. Elliptische Kurven haben nämlich das Geschlecht und nach der Vermutung von Mordell, bewiesen von Gerd Faltings, haben Kurven von Geschlecht mit einem rationalen Punkt bereits unendlich viele rationale Punkte, während Kurven von Geschlecht stets nur endlich viele rationale Punkte haben können. Für seine Leistung wurde Faltings 1986 mit der Fields-Medaille geehrt. Parametrisierung von elliptischen Kurven Die Eigenschaft einer elliptischen Kurve, über den komplexen Zahlen ein Donut zu sein, kann dadurch erklärt werden, wie sich diese parametrisieren lässt. Eine Parametrisierung ist eine Abbildung von einem „einfachen“ Parameterobjekt in ein „kompliziertes“ Zielobjekt, mit dessen Hilfe durch Einsetzen von beliebigen Eingaben (Parametern) des Parameterobjekts beliebige nicht-triviale Teile des Zielobjekts erzeugt werden können. Mit „einfach“ ist gemeint, dass das Parameterobjekt in erster Linie ein „bekanntes Parameterobjekt“ ist, über das genügend Wissen vorhanden ist und aus dessen Vorrat nun nacheinander Werte eingesetzt werden, um damit ein anderes (unbekanntes, komplizierteres oder strukturell anspruchsvolleres) Objekt aufzubauen. Oft handelt es sich sowohl bei den Ein- als auch bei den Ausgaben um Punkte, die in ihrer Kollektion ein geometrisches Objekt darstellen. Ein Beispiel einer Parametrisierung ist die des Kreises: Das „einfache“ Parameterobjekt ist hierbei das Intervall , also alle reellen Zahlen zwischen 0 und 1, über dessen Inhalt wir kanonisch verfügen, und das „komplizierte“ Zielobjekt der Kreis, wobei eine mögliche Abbildung ist. Nach dem Satz des Pythagoras ist unabhängig von der Eingabe , womit aufgrund der Periodizität und Stetigkeit von Sinus und Kosinus der gesamte Kreis erzeugt wird. Nutzt man die Veranschaulichung der komplexen Zahlen (mit reellen Zahlen ) als Punkte , vereinfacht sich die Parametrisierung zu Für den Zusammenhang zwischen Sinus, Kosinus und der komplexen Exponentialfunktion siehe auch Eulersche Formel. Aus geometrischer bzw. topologischer Sicht wird das Intervall , ein „Faden“ mit einer Längeneinheit, an beiden Enden genommen und zu einem Kreis zusammengeschlossen. Das Besondere an der Kreisparametrisierung ist, dass sie von einer transzendenten Funktion generiert wird, nämlich . Dabei bedeutet transzendent, dass es kein allgemeines Prinzip gibt, die Funktionswerte durch endlich viele Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen oder Divisionen aus den Eingaben und festen Zahlen zu erzeugen. Unter diesen Umständen ist eigentlich zu erwarten, dass die Funktionswerte unter rationalen Eingaben keine besondere Struktur haben (es ist zwar ein Körper, aber es wird nicht gefordert, dass dieser unter unendlich vielen algebraischen Operationen immer noch abgeschlossen sein muss). Erschwerend machen die algebraischen Zahlen im asymptotischen Sinne 0 % aller komplexen Zahlen aus, weshalb ein „Zufall“ ausgeschlossen wäre. Tatsächlich aber kann mittels Potenzgesetzen gezeigt werden, dass jeder der Werte mit rationalen Zahlen eine algebraische Zahl ist, nämlich der Gleichung genügt. Die Algebraizität überträgt sich dann auf die einzelnen Komponenten und . Demnach sind alle rationalen Zahlen in gewisser Weise die „Heegner-Punkte des Kreises“, da diese unter der Parametrisierung algebraische Punkte auf dem Kreis erzeugen. Beispielsweise ist wobei auf dem Einheitskreis liegt (siehe oben). Bei der Parametrisierung einer Menge von Punkten , die alle gemeinsam eine Gleichung erfüllen, also einer elliptischen Kurve, wird im Prinzip genauso verfahren. Da diese mittels elliptischer Funktionen erfolgt, werden statt reeller Werte dieses Mal komplexe Zahlen in die Parameterfunktionen eingesetzt. Gesucht ist auch hier ein Funktionenpaar und , ähnlich wie Sinus und Kosinus, sodass für jedes aus den komplexen Zahlen gilt. Nach Einsetzen eines Wertes lassen sich auch dann Koordinaten der Kurve abschreiben. Auch hier bedient man sich periodischer Funktionen, die jedoch von vornherein auf den komplexen Zahlen definiert werden. Als solche ordnen sie jedem Punkt einer Ebene (= jeder komplexen Zahl) eine komplexe Zahl zu. Als passende Objekte bieten sich die Weierstraßschen ℘-Funktionen an. Diese Form der Parametrisierung ist aus Sicht der Funktionentheorie elementar, gibt aber noch keine Auskünfte über rationale Punkte auf der Kurve. Dafür muss eine andere, weit schwierigere, Parametrisierung betrachtet werden, siehe unten. Definition von Heegner-Punkten über quadratische Gleichungen und Beispiele Heegner-Punkte sind komplexe Zahlen mit positivem Imaginärteil, die irgendeine quadratische Gleichung der Form mit ganzen Zahlen lösen. Es wird stets davon ausgegangen, dass und als größten gemeinsamen Teiler die haben. Wegen der Lösungsformel/Mitternachtsformel drückt sich die Lösung mit positivem Imaginärteil der quadratischen Gleichung durch aus, wobei im letzten Schritt gesetzt wurde. Die Zahl unter der Wurzel, nämlich wird als negativ gefordert, da sonst die Wurzel keine imaginäre Zahl erzeugen würde. Sie heißt auch die Diskriminante des Heegner-Punktes und wird manchmal als notiert. Darüber hinaus ist es entscheidend, Heegner-Punkten, neben ihrer Diskriminanten, weitere Daten zuzuordnen. Dies geschieht, um sie bei späteren Rechnungen mit passenden Objekten in Verbindung bringen zu können. Ferner sind diese Daten Teil der vollständigen Definition eines Heegner-Punktes und geben Auskunft darüber, auf welcher geometrischen Figur er später „gefunden“ werden kann. Zum einen hat man das Level von , das aus der Gleichung abgelesen werden kann. Es ist eine positive ganze Zahl , die teilt, sodass der größte gemeinsame Teiler von und gleich ist. Es hat die Eigenschaft, dass der Heegner-Punkt die gleiche Diskriminante hat wie . Eine sehr wichtige Eigenschaft von Heegner-Punkten des Levels und der Diskriminante ist, dass jede aus diesen umgeformte Zahl mit ganzen Zahlen , sodass gilt, wieder ein Heegner-Punkt von Level und Diskriminante ist. Dabei handelt es sich um eine Transformation mittels sog. Kongruenzuntergruppen. Es ist sogar möglich, mit all diesen Punkten zu identifizieren, da all diese wichtigen Eigenschaften nach der Transformation erhalten bleiben. Man nennt zwei miteinander identifizierte Punkte äquivalent. Beispielsweise sind auf Ebene von Level 1 die Punkte , und zueinander äquivalent. Jedoch sind und nicht äquivalent bei Level 11, jedoch noch und . Generell steigt die Anzahl der möglichen Äquivalenzklassen mit dem Level an. Dadurch wird motiviert, dass nur ein kleiner Teil von Heegner-Punkten auf der oberen Halbebene überhaupt betrachtet werden muss, da die dazu äquivalenten wegfallen. Man sagt auch, dass man die Klassen zueinander äquivalenter Punkte betrachtet. Dieses Identifizierungs-Prinzip lässt sich durch ein bekannteres Beispiel veranschaulichen: Es ist möglich eine beliebige reelle Zahl mit allen Zahlen zu identifizieren, die von der Form sind, wobei eine ganze Zahl ist. Somit hätten und dieselben „Eigenschaften“. Nach Berücksichtigung dieser Äquivalenz ist es ausreichend, das Intervall statt ganz zu studieren und 1-periodische Funktionen wie behandeln äquivalente Punkte gleich. Der auf dem rechten Bild gezeigte graue Bereich ist eine Fläche, auf der die Klassen bezüglich Level 1 zusammengefasst sind – jedoch wäre auch jeder andere von blauen Linien umrandete Bereich wählbar. Es ist daher naheliegend, Funktionen auf der oberen Halbebene zu betrachten, die beim Wechsel zwischen zueinander äquivalenten (Heegner-)Punkten bzw. zwischen verschiedenen Identifizierungsbereichen ihren Wert nicht ändern, so wie seinen Wert beim Wechsel von zu nicht ändert. Für die Level-1-Klassen ist eine solche invariante Funktion die sog. j-Funktion. Zum Beispiel ist usw. Und genau wie aus einen Kreis – durch Biegen und an beiden Enden verkleben – parametrisiert, formt aus dem Level-N-Identifizierungsbereich eine Modulkurve. Diese nennt man auch . Unter dieser Abbildung verwandeln sich Heegner-Punkte mit Level zu Punkten auf der entsprechenden Modulkurve, werden aber weiterhin so bezeichnet. Als Kurven bestehen Modulkurven aus Punkten, die eine algebraische Gleichung lösen, siehe unten. Die Anzahl der Klassen von Heegner-Punkten unter obiger Identifizierung hängt nach fester Wahl einer Diskriminante eng mit der Klassenzahl des Körpers zusammen. Fixiert man eine Diskriminante, so liegen außerdem stets nur endlich viele Heegner-Punkte des betrachteten Levels und dieser Diskriminante in einem Identifizierungsbereich. Es gilt, dass die Anzahl „im Wesentlichen“ genau der Klassenzahl entspricht – hier wurden jedoch gewisse Transformationen ähnlich zu denen der Kongruenzuntergruppen noch nicht berücksichtigt, die ebenfalls Heegner-Punkte auf solche mit gleichen Eigenschaften senden. Diese nennt man auch Involutionen. Da sie aber nicht Teil der Kongruenzuntergruppen sind, werden die dadurch verwandten Punkte auch nach der Identifizierung durch die Kongruenzuntergruppe noch unterschieden. Erst nach erneuter Identifizierung von Klassen, die mit Involutionen auseinander hervorgehen, sind es schließlich genau so viele Klassen wie die Klassenzahl von . Der bereits in der Einleitung gezeigte Punkt ist ein Heegner-Punkt mit Level 1, denn es gilt Ein Beispiel für einen Heegner-Punkt mit Level 3 ist der mit der quadratischen Form mit Diskriminante korrespondiert. Ferner ergibt sich, dass zum Beispiel auch ein Heegner-Punkt mit Level 3 und Diskriminante  ist, denn . Von Modulkurven zu elliptischen Kurven: Eine Veranschaulichung Die Parametrisierung , mit der Weierstraßschen ℘-Funktion, beschreibt zwar die Figur einer elliptischen Kurve, bringt aber keine zahlentheoretischen Informationen. Um rationale Punkte auf einer elliptischen Kurve konstruieren zu können, müssten einfache Punkte auf der Periodenmasche bekannt sein, sodass die Koordinaten rational sind. Solche hypothetischen „Heegner-Punkte“ gibt es im Allgemeinen jedoch nicht, bzw. sie können nicht einfach erraten werden. Dank des Modularitätssatzes, der nach längerer Zeit von Andrew Wiles und anderen bewiesen werden konnte, ist allerdings bekannt, dass es noch eine weitere Art gibt, elliptische Kurven , die über den rationalen Zahlen definiert sind (also mit ), zu parametrisieren. Auch in diesem Falle ist die Funktion, die bei der Abbildung eine Rolle spielt, periodisch und transzendent. Jedoch ist die Abbildung deutlich komplizierter als die Variante mittels der Weierstraßschen ℘-Funktionen. Beim Parameterobjekt handelt es sich um die obere Halbebene, also alle komplexen Zahlen mit positivem Imaginärteil. Dafür wird der Führer der elliptischen Kurve ausgerechnet, eine positive ganze Zahl. Dieser sagt aus, dass die elliptische Kurve von der Modulkurve parametrisiert wird: Da die parametrisierende Funktion auf der oberen Halbebene unter Substitution mit ganzen Zahlen auf der elliptischen Kurve unverändert bleibt, ist dies mathematisch sinnvoll. Zwar wirkt das Parameterobjekt jetzt viel komplizierter, aber im Gegensatz zur elliptischen Kurve bzw. Periodenmasche können auf diesem Objekt manche algebraischen Punkte (ggf. sogar rationale Punkte) direkt erraten werden – die sog. Heegner-Punkte. Der Schlüssel zu der Erkenntnis, dass die Punkte mit einem Level-N-Heegner-Punkt algebraische Koordinaten haben, ist, dass sich die quadratische Gleichung zu umformen lässt. Aus den Invarianzeigenschaften von kann argumentiert werden, dass es dann bereits ganze Zahlen gibt, sodass ist. Ähnliches gilt für . Die von Wiles vorhergesagte direkte, transzendente Parametrisierung kann damit in zwei, in der Theorie, einfachere Abbildungen zerlegt werden, von denen die erste eine Zwischenparametrisierung der Modulkurve vorsieht. Dadurch wird der algebraische Charakter der Gesamtabbildung an den Heegner-Punkten sichtbar. Durch die Unterteilung geht die Abbildung von der oberen Halbebene in die Modulkurve und von der Modulkurve in die elliptische Kurve anstatt von der oberen Halbebene direkt in die elliptische Kurve: Parametrisierung der Modulkurve analog zur elliptischen Kurve: Über die j-Funktion werden Punkte von der oberen Halbebene mittels abgebildet, die eine Gleichung lösen, wie in etwa . Dabei ist eine bestimmte natürliche Zahl, die auch Führer der späteren elliptischen Kurve genannt wird. Abbildung von Punkten auf der Modulkurve, die also jene sehr komplizierte Gleichung lösen, auf Punkte der elliptischen Kurve mit Führer , die die Gleichung lösen. Hier kommen keine Funktionen wie Sinus, Kosinus, ℘ oder j ins Spiel, sondern es handelt sich um eine schlichte algebraische Abbildung. Das bedeutet, dass Punkte , die die Gleichung der Modulkurve erfüllen, auf Punkte abgebildet werden, die die Gleichung der elliptischen Kurve lösen, wobei und Polynome in zwei Variablen sind. Ein Beispiel für eine algebraische Abbildung wäre von der Kurve auf die Normalparabel . Es war eine der großen Leistungen von Andrew Wiles zu erklären, dass die (parametrisierende) Abbildung zwischen Modulkurve und elliptischer Kurve algebraisch ist. Dies ist bemerkenswert, weil die Funktion auf der oberen Halbebene transzendent war. Es ist in der Praxis schwierig, sowohl die Gleichung der Modulkurven als auch die Polynome und explizit anzugeben, da diese mit steigendem Führer schnell kompliziert werden. Es wird daher bei berechnenden Algorithmen stets der Weg von der oberen Halbebene direkt in die elliptische Kurve gewählt, siehe unten. Zusammenfassend: Da algebraische Punkte auf der Modulkurve mittels Heegner-Punkten und der j-Funktion „direkt ausgerechnet“ werden können und die folgende algebraische Abbildung von der Modulkurve in die elliptische Kurve die Algebraizität beibehält, werden durch dieses Verfahren algebraische Punkte auf der elliptischen Kurve generiert. Dies ist der analoge Teil zum Kreis – hier konnten mittels der transzendenten Funktion direkt algebraische Werte auf dem Kreis ausgerechnet werden (also spielt das Intervall hier die Rolle der oberen Halbebene). Es ist selbst in der Praxis unüblich, die Gleichungen, die eine Modulkurve definieren, hinzuschreiben, da diese sog. modular equations sehr schnell sehr kompliziert werden. Bereits im Fall findet man Durch einen einzelnen Heegner-Punkt wird zunächst noch kein rationaler Punkt auf der elliptischen Kurve geboren. Auch im Gegensatz zum Kreis stammen Heegner-Punkte nicht aus den rationalen Zahlen, sondern liegen, wenn in der oberen Halbebene und nicht auf der Modulkurve startend, in einem quadratischen Körper mit einer ganzen Zahl . Dann ist die betreffende Diskriminante. Werden jedoch mehrere verwandte Heegner-Punkte geschickt miteinander verrechnet, kann in manchen Fällen gewährleistet werden, dass die damit erzeugten Punkte auf der elliptischen Kurve sogar rational sind. Die Anzahl der Heegner-Punkte, die benötigt wird, hängt dabei von der Klassenzahl des quadratischen Körpers ab, in dem sie liegen. Die betrachtete Parametrisierung kann also, mitsamt diesem Prinzip, als eine verallgemeinerte Version von angesehen werden. Der Modularitätssatz und Heegner-Punkte Es ist bei der Berechnung rationaler Punkte auf elliptischen Kurven nicht sinnvoll, über die Gleichungen zu gehen, die Modulkurven definieren, siehe oben, sondern stattdessen wird direkt von der oberen Halbebene aus parametrisiert. Mittels der Parametrisierung von Wiles werden Heegner-Punkte, also Lösungen quadratischer Gleichungen mit positivem Imaginärteil, durch die Funktion auf einen Wert gesendet, der auf der zur elliptischen Kurve gehörigen Periodenmasche liegt. Von dort aus kann über Anwendung der entsprechenden ℘-Funktionen auf ein Tupel gesendet werden, sodass . Gleichzeitig haben diese ausgewählten und beide gute algebraische Eigenschaften, erfüllen für sich genommen also eine algebraische Gleichung. Im besten Falle handelt es sich bei um einen rationalen Punkt. Aus den Daten kann, das konnte Wiles zeigen, mittels eines Algorithmus die Parametrisierung gewonnen werden. Für diesen ist es zunächst wichtig, dass beide rational sind. Zum Beispiel trifft dies bei der Kurve zu. Für die Konstruktion von muss über Primzahlen betrachtet werden. Das bedeutet, dass bei einer Primzahl nur noch mit den Restklassen bei Teilung durch gerechnet wird. Zum Beispiel ist modulo , da durch teilbar ist, also sowohl als auch nach Division mit den gleichen Rest lassen. Bei der Konstruktion von muss die Gleichung nur noch unter Aspekten der Restgleichheit betrachtet werden, aber theoretisch für alle Primzahlen nacheinander. Beispielsweise hätte man für nur zu prüfen, ob die vier Punkte auf der modulo reduzierten Kurve liegen, da und die einzigen Reste modulo sind. Durch Einsetzen in oberer Reihenfolge in findet man , wobei die Aussagen und modulo beide wahr sind, da die Restklassen übereinstimmen. Also liegen hier 2 Punkte auf der Kurve. Ähnlich kann modulo beliebiger Primzahlen verfahren werden, und damit wird eine Folge ganzer Zahlen über die Lösungsanzahlen erzeugt. Aus dieser Folge kann wiederum eine Folge ganzer Zahlen ermittelt werden, welche die Funktion kodiert, die später zum Aufbau der Parametrisierung eingesetzt werden kann. Sie entsteht durch Bilden der Fourierreihe . Außerdem konnte Wiles beweisen, dass diese Funktion nicht nur, wegen der Fourierreihe, periodisch ist, sondern sogar noch weitere Transformationseigenschaften hat. Diese Transformationseigenschaften machen zu einer Modulform und erlauben es, dafür zu benutzen, auf der oben beschriebenen Modulkurve Integrale auszurechnen. Setzt man in das Integral einen Heegner-Punkt ein, wobei der Punkt unendlich weit oben auf der oberen Halbebene ist, ist das Ergebnis zunächst eindeutig bestimmt. Die Summe als Ergebnis des Integrals wurde durch summandenweise Anwendung des Fundamentalsatzes der Analysis und der Regel, dass Stammfunktion von ist, gewonnen. Man will jedoch nicht mehr die obere Halbebene, sondern die Modulkurve betrachten, denn Wiles’ Parametrisierung ist eine zwischen algebraischen Kurven und nur als solche kann sie eine algebraische Abbildung darstellen. Demnach müsste das Integral eigentlich unverändert bleiben, wenn man statt Heegner-Punkte einsetzt, die mit nach Verbiegen und Falten von Fundamentalbereichen zu einem Donut identifiziert werden. Man kann zeigen, dass die Eindeutigkeit als komplexe Zahl zwar verloren geht, jedoch wieder hergestellt wird, falls man das Ergebnis auf einer Periodenmasche sieht und es egal ist, welche Masche genau gewählt ist. Diese Periodenmasche gehört im Regelfall genau zur zu Beginn betrachteten expliziten elliptischen Kurve. Damit liegt das Ergebnis aber schon auf der betrachteten elliptischen Kurve und hat dort gute Eigenschaften. Einordnung der zahlentheoretischen Bedeutung Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer Im Umfeld der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer, benannt nach Bryan Birch und Peter Swinnerton-Dyer, spielen Heegner-Punkte eine wichtige Rolle. Diese Vermutung trifft eine Aussage über den sog. Rang einer elliptischen Kurve über den rationalen Zahlen. Der Rang ist eine nicht-negative ganze Zahl und beschreibt die Größenordnung der Anzahl rationaler Punkte auf einer elliptischen Kurve. Ein Rang von 0 bedeutet dabei, dass nur endlich viele rationale Punkte auf der Kurve liegen. Das hat zur Konsequenz, dass jeder rationaler Punkt endliche Ordnung haben muss, also bei beliebig häufiger Addition mit sich selbst in ein sich wiederholendes Muster verfällt. Ab Rang 1 haben die Kurven stets unendlich viele Punkte. Dennoch kann hier noch zwischen dem Ausmaß des Unendlichen differenziert werden. Je höher der Rang, desto „mehr“ Punkte hat die Kurve. Das Ausmaß der Häufigkeit wird daran bemessen, wie viele Punkte benötigt werden, um alle Punkte der Kurve durch Addieren und Subtrahieren dieser ausgewählten Punkte zu erzeugen. Ganz in diesem Sinne hat die Menge der unendlich vielen ganzzahligen 2-Tupel Rang 2, denn man benötigt zwei Punkte, um additiv alle Punkte durch Addieren und Subtrahieren zu gewinnen, etwa und , zum Beispiel ist durch komponentenweise Addition. Hingegen hat nur den Rang 1, da jede ganze Zahl durch Additionen oder Subtraktionen der mit sich selbst erzeugt werden kann – also nur einem Element. Die eigentliche Vermutung sagt aus, dass der Rang einer elliptischen Kurve über den rationalen Zahlen aus deren „analytischen Daten“ abgelesen werden kann. Damit ist genau die von Wiles erzeugte Modulform gemeint, die ein Objekt der komplexen Analysis und „nicht der Algebra“ ist. Aus kann die sog. L-Funktion der zugehörigen elliptischen Kurve berechnet werden: Sie entsteht auch aus den Zahlen Es handelt sich hierbei um eine sog. Dirichletreihe. Diese lässt sich nach Wiles zu einer für alle komplexen Zahlen gültigen Funktion ausweiten. Die Vermutung sagt aus, dass die Nullstellenordnung von im Punkt gerade dem Rang von entspricht. Sie gehört zu den wichtigsten Problemen der Mathematik und verbleibt bis heute ungeklärt. Jedoch konnte dieses Problem im Falle der Ränge 0 und 1 mit Hilfe von Heegner-Punkten gelöst werden. Den Durchbruch lieferte die Kombination zweier mathematischer Aufsätze, der eine von Benedict Gross und Don Zagier, der andere von Victor Kolyvagin. Die Leistung von Gross und Zagier bestand darin, zu erkennen, dass sich die kanonische Höhe der durch Heegner-Punkte konstruierten rationalen Punkte auf einer elliptischen Kurve durch L-Funktionen an der Stelle ausdrücken lässt. Dabei ist die kanonische Höhe ein Maß für die Komplexität eines Punktes auf der Kurve. Für die Definition der kanonischen Höhe definiert man zuerst eine naive Höhe, die jedem Punkt zuordnet, wie schwierig die in ihm enthaltenen rationalen Zahlen sind. Beispielsweise ist eine „einfachere“ rationale Zahl als , da die benötigten Zahlen bei den vollständig gekürzten Brüchen im ersten Fall kleiner waren. Man schreibt dann als naive Höhe des Punktes und hätte rein exemplarisch durch logarithmischen Zuwachs in der größten auftauchenden Zahl Die kanonische Höhe von wird nun definiert durch wobei also im rechten Bruch der Parameter gegen Unendlich strebt. Die Idee ist, dass die kanonische Höhe für einen sich in der Addition ständig wiederholenden Torsionspunkt einfach ist, da sich dann der Zähler des Bruchs wiederholt und damit beschränkt ist, während der Nenner wegen immer größer wird. Andersherum kann gezeigt werden, dass im Falle eines Punktes unendlicher Ordnung ein Wert größer als heraus kommt, da die Summen , , usw. immer kompliziertere rationale Komponenten enthalten. Gross und Zagier konnten beweisen, dass bis auf einen Vorfaktor der Größe entspricht. Hat nun eine Nullstelle der Ordnung 1 in , dann hat ihre Ableitung keine Nullstelle in . Victor Kolyvagin zeigte aber, dass wenn der durch Heegner-Punkte generierte rationale Punkt unendliche Ordnung hat, die Kurve tatsächlich schon den Rang 1 hat. Aus der Formel von Gross und Zagier kann dieses Szenario dann aber anhand der L-Funktion abgelesen werden, nämlich nur dann, wenn die L-Funktion die Ordnung 1 in hat, und somit ist die von Birch und Swinnerton-Dyer vorhergesagte Beziehung zwischen Rang und Nullstellenordnung einer L-Funktion hier hergestellt. Körper und Klassenzahlen In der Mathematik ist man an Mengen interessiert, die bezüglich möglichst vieler Strukturen abgeschlossen sind. Eine Menge erhält dann zusätzliche Struktur, wenn es Verknüpfungen zwischen ihren Elementen gibt. Betrachtet man zum Beispiel die Menge der ganzen Zahlen , so fällt auf, dass diese unter den Verknüpfungen Addition und Multiplikation abgeschlossen ist: Addiert oder multipliziert man zwei ganze Zahlen, wird das Ergebnis wieder eine ganze Zahl sein und man hat die ursprüngliche Menge nicht verlassen. Noch strukturierter ist es jedoch, wenn man auch dividieren darf. Dies wird in den ganzen Zahlen jedoch nicht immer möglich sein, da zum Beispiel keine ganze Zahl ist. Daher muss hier der Bereich erweitert werden, um auch eine Abgeschlossenheit unter Division zu erhalten. Im Falle von gelangt man damit zu den rationalen Zahlen . Es muss noch gefordert werden, dass es eine „0“ und eine „1“ gibt (neutrale Elemente der Addition und Multiplikation), sodass man mit der Tatsache/Regel für alle Zahlen eine algebraische Struktur erhält, die auch Körper genannt wird. Natürlich ist nicht der einzige Körper. So ist die Menge der reellen Zahlen ebenfalls ein Körper, da auch hier die oben beschriebenen Regeln gelten. Jedoch gibt es weit mehr reelle als rationale Zahlen, weshalb viele Fragestellungen der Zahlentheorie, gerade bezogen auf Zerlegung von Zahlen in „elementarere Zahlen“, hier nicht mehr sinnvoll sind. In der Zahlentheorie interessiert man sich daher besonders für Körper, die dem der rationalen Zahlen viel mehr ähneln als die reellen Zahlen. Denkbar ist es, sich einzelne nicht-rationale Zahlen hinzuzunehmen, und daraus durch Bilden aller möglichen Summen, Produkte und Quotienten einen neuen Körper zu konstruieren. So ist zum Beispiel die Menge , bestehend aus allen Zahlen der Form mit rationalen Zahlen , wieder ein Körper. Man spricht bei einer solchen Erweiterung der rationalen Zahlen von einem Zahlkörper. Die Klassenzahl und damit Heegner-Punkte kommen dort ins Spiel, wo es darum geht, die ganzen Zahlen als Verwandten der rationalen Zahlen zu sehen, da letztere gewissermaßen durch Quotientenbildung aus ihnen hervorgehen. Auch bei Zahlkörpern kann man solche zugehörigen „ganzen Zahlen“ finden, jedoch müssen diese nicht mehr nur sein, sondern können weitere Elemente enthalten. Ganze Zahlen im Körper wären in etwa im Gegensatz zu allgemeinen Körperelementen wie Auch bei Arten verallgemeinerter ganzer Zahlen kann untersucht werden, ob es eine (bis auf Elemente wie einfache Vorzeichen und natürlich Reihenfolge) eindeutige Zerlegung in „Primzahlen“ gibt. In ist dies bekanntermaßen der Fall, zum Beispiel ist mit den Primzahlen und , und es gibt keine anderen Zerlegungsmöglichkeiten, außer Vorzeichen- und Reihenfolgenwechsel wie zum Beispiel . Also ist gewissermaßen zahlentheoretisch „gutartig“ – es gibt nur eine Klasse von Zerlegungsmöglichkeiten. Im Falle beliebiger Zahlkörper kann es aber passieren, dass es in deren ganzen Zahlen keine eindeutige Zerlegbarkeit mehr in „Primzahlen“ (allgemeiner Primelemente genannt) gibt. Ein Beispiel für fehlende Eindeutigkeit ist mit den vier Primelementen in den ganzen Zahlen von . Für die letzte Umformung kann als Differenz zweier Quadrate geschrieben werden, was sich dann zum Produkt aus Summe und Differenz der beiden Basen und faktorisieren lässt. Es kann nun gemessen werden, wie stark die Situation vom „Idealfall“ einer eindeutigen Zerlegbarkeit abweicht. Dieser Fehler wird als Klassenzahl des Zahlkörpers bezeichnet und ist eine natürliche Zahl. Zum Beispiel hat der Körper der rationalen Zahlen die Klassenzahl 1. Die Bestimmung der Klassenzahl eines Zahlkörpers ist im Allgemeinen ein sehr schwieriges Unterfangen und es gibt bis heute viele ungelöste Probleme in diesem Bereich. Heegner-Punkte können (indirekt) dazu verwendet werden, die Klassenzahl einiger Körper zu bestimmen. Es lässt sich zum Beispiel zeigen, dass die einzigen quadratischen Zahlkörper mit imaginären Zahlen, in denen eine eindeutige Zerlegung in Primelemente existiert, genau die Körper sind. Explizites Beispiel für das Vorgehen zur Konstruktion eines rationalen Punktes Möchte man versuchen, einen nicht-trivialen rationalen Punkt auf einer elliptischen Kurve über den rationalen Zahlen mittels Heegner-Punkten zu finden, ist der Ausgangspunkt die Gleichung der Kurve. Dabei ist für die Rationalität des erzeugten Punktes wichtig, dass alle Heegner-Punkte eines Levels und einer bestimmten Diskriminante auf der Modulkurve einfließen. Dabei wurden Äquivalenzen bezüglich Involutionen schon berücksichtigt, was bedeutet, dass immer (Klassenzahl) Punkte in den Algorithmus gepackt werden. Es wird exemplarisch das Beispiel gewählt. Der erste Schritt ist, das Level dieser Kurve zu bestimmen. Dieses ist eine positive ganze Zahl und bestimmt nachher darüber, welche Heegner-Punkte für die Konstruktion in Frage kommen können – nämlich solche, die gleiches Level wie die Kurve haben. Das Level der elliptischen Kurve gibt die eindeutige Zahl, sodass die von Wiles genannte Parametrisierung von der Modulkurve in die Kurve existiert. Es kann mittels eines Algorithmus von John T. Tate aus den Koeffizienten der algebraischen Gleichung von berechnet werden. Im Falle von erhält man . Nun müssen systematisch zum Level passende Diskriminanten durchgegangen werden, die in die Formel von Gross und Zagier eingesetzt werden, um numerisch zu prüfen, ob für die kanonische Höhe des späteren rationalen Punktes herauskommt oder nicht. Zum Beispiel liefert die Formel für ein Ergebnis sehr nahe an , weshalb hier höchstwahrscheinlich ein Torsionspunkt herauskommt, der trivial ist. Bei kommt jedoch nicht heraus, also kann diese Diskriminante gewählt werden. Gesucht sind nun Heegner-Punkte des Levels und Diskriminante . Die Klassenzahl von ist 4, weshalb theoretisch 4 nicht zueinander äquivalente Heegner-Punkte gebraucht werden, jedoch kann der Algorithmus dies auf die 2 Punkte und reduzieren. Dahinter verbirgt sich ein Rechentrick, der Symmetrien zwischen je zwei betrachteten Punkten ausnutzt. Diese lösen die quadratischen Gleichungen und . Für die weiteren Rechnungen muss die zu zugehörige Modulform numerisch hinreichend gut ermittelt werden. Dann werden die Punkte und in die Parametrisierungen eingesetzt und durch eine Umformung wird alles in die Form gebracht, als wenn alle 4 inäquivalenten Punkte eingesetzt worden wären. Das Ergebnis ist nun Teil der Periodenmasche zur elliptischen Kurve, kann jedoch mittels auf die eigentliche Kurve transportiert werden. Der durch diese Heegner-Punkte konstruierte rationale Punkt ist schließlich Dieser rationale Punkt beweist nach einem Satz von Tunnell, dass es zu ein rechtwinkliges Dreieck gibt, das ausschließlich rationale Seitenlängen und den Flächeninhalt  hat. Das zugeordnete rechtwinkelige Dreieck, berechnet von Don Zagier, hat die Seitenlängen ( Katheten, Hypotenuse): , und Geschichte Webers Algebra Der Grundstein der Theorie um Heegner-Punkte wurde bereits 1908 in Heinrich Webers Werk Lehrbuch der Algebra gelegt. In diesem beschäftigte Weber sich intensiv mit der j-Funktion und ihrer Verbindung zur Klassenkörpertheorie. Er gilt als Entdecker der Theorie der komplexen Multiplikation. Komplexe Multiplikation bezieht sich dabei auf elliptische Kurven, auf denen Punkte nicht nur ganzzahlig vervielfacht werden können, etwa , sondern wo es auch eine Multiplikation mit bestimmten imaginären Zahlen gibt, also exemplarisch . Die Theorie der komplexen Multiplikation, wie sie von Weber entwickelt wurde, gibt Auskunft über den Körper, in dem lebt, wenn ein Ideal eines gegebenen komplexen quadratischen Rings ist. Zum Beispiel bewies Weber die Identität im Rahmen dieser von erzeugten Körpererweiterungen. Während es sich bei der Eingabe von um den Heegner-Punkt (hier in der Schreibweise ) handelt, ist die rechte Seite als Verkettung von Wurzelausdrücken und ganzen Zahlen eine algebraische Zahl, löst also eine algebraische Gleichung. Adjungiert man diese Zahl zu dem zur Diskriminante des Heegner-Punkts gehörigen quadratischen Zahlkörper hinzu, ergibt sich die abelsche Körpererweiterung des Zahlkörpers . Dieses Programm wurde von Weber jedoch in größerer Allgemeinheit als nur zur vollen Modulgruppe verfolgt und später von Heegner wieder aufgegriffen. Jedoch kam die Theorie der Modulfunktionen ziemlich abrupt völlig aus der Mode. Erich Hecke und Robert Alexander Rankin leisteten zwar wichtige Beiträge, jedoch geht aus den damaligen Publikationen hervor, dass die meisten Mathematiker ein halbes Jahrhundert lang kaum wussten, dass die Theorie der Modulfunktionen überhaupt jemals existiert hatte. Die Arbeit von Heegner Im Jahr 1952 veröffentlichte Kurt Heegner eine Arbeit in der Mathematischen Zeitschrift, innerhalb der er sich mit dem Problem kongruenter Zahlen und elliptischer Kurven beschäftigte. Heegner, ein erfolgreicher Elektroingenieur, der sich aber auch in Mathematik habilitiert hatte, war mit Webers Lehrbuch zur Algebra gut vertraut. Er gab zunächst eine historische Einführung zu kongruenten Zahlen. Eine positive ganze Zahl heißt kongruent, falls sie als Fläche eines rechtwinkligen Dreiecks mit rationalen Seiten in Erscheinung tritt (Heegner nannte solche Dreiecke Harpedonapten-Dreieck). In seinem Aufsatz zitierte er im Anschluss verschiedene Dinge von Weber und bewies einige Theoreme, die zeigen, dass das Problem kongruenter Zahlen für bestimmte Familien von lösbar ist. Schließlich löste er plötzlich das klassische Problem der Charakterisierung aller imaginär-quadratischen Zahlkörper mit Klassenzahl 1. Zu Heegners Nachteil gab es 1952 niemanden mehr, der Webers Algebra ausreichend gut beherrschte, um seine Leistung zu würdigen. Heegners Arbeit war schwer zu folgen, was womöglich ein weiterer Grund war, weshalb sich zu seiner Zeit niemand im Detail damit beschäftigte. Es wurde außerdem davon ausgegangen, dass seine Beweisführungen zum Klassenzahlproblem lückenhaft seien, und, obwohl seine Arbeit über kongruente Zahlen mittlerweile als korrekt anerkannt ist, blieb lange Zeit unentdeckt, dass Heegner den Grundstein einer fundamentalen neuen Methode gelegt hatte – der analytischen Realisierung abelscher Erweiterungen imaginär-quadratischer Zahlkörper, analog zum Kronecker-Weber-Fall über . Heegner starb in dieser Ungewissheit. Entwicklung ab den 1970er Jahren Es war Bryan Birch, der in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren erstmals Heegner-Punkte auf modularen elliptischen Kurven systematisch untersuchte. Auf der Grundlage der von ihm gesammelten numerischen Beweise stellte er fest, dass die sog. Höhen dieser Punkte mit ersten Ableitungen am zentralen kritischen Punkt der Hasse-Weil-Zetafunktion der elliptischen Kurve zusammenzuhängen schienen. Die von Birch initiierte Arbeit sollte eine wichtige Rolle in der Zahlentheorie der nächsten zwei Jahrzehnte spielen und so grundlegende Fragen wie das Gaußsche Klassenzahlproblem und die Birch- und Swinnerton-Dyer-Vermutung beleuchten. Das Studium der Heegner-Punkte nahm Mitte der 1980er Jahre dank zweier Durchbrüche Fahrt auf. Der erste Durchbruch war die Gross-Zagier-Formel, die die Beobachtungen von Birch bestätigte und die Höhen der Heegner-Punkte mittels der ersten Ableitung am zentralen Punkt einer zugehörigen Rankin-L-Reihe ausdrückte. Der zweite kam einige Jahre später, als Victor Kolyvagin zeigte, wie sog. Heegner-Systeme auf einer elliptischen Kurve die Größe und Struktur deren Selmer-Gruppe kontrollieren. Zusammengenommen führten diese beiden Erkenntnisse zu einem vollständigen Beweis der Birch- und Swinnerton-Dyer-Vermutung (in ihrer etwas schwächeren Form, die eine Gleichheit zwischen dem Rang der elliptischen Kurve und der Ordnung ihrer L-Reihe bei vorschreibt) für alle modularen elliptischen Kurven über , deren L-Funktion höchstens eine einfache Nullstelle bei hat. Die Methode erbrachte einen Beweis der sog. Schafarewitsch-Tate-Vermutung auch für diese Kurven. Der Unterbeweis der Shimura-Taniyama-Vermutung von 1994 zeigte, dass die Ergebnisse von Gross und Zagier sowie von Kolyvagin bedingungslos für alle elliptischen Kurven über den rationalen Zahlen gelten. Definition Heegner-Punkte auf der oberen Halbebene können nach Bryan Birch wie folgt definiert werden. Der Wert ist ein CM-Punkt (CM = complex multiplication), d. h., er ist Lösung einer quadratischen Gleichung der Form mit ganzen Zahlen , für die gilt. Haben den größten gemeinsamen Teiler 1, so definiert eine binäre quadratische Form. Gilt außerdem , so ist die Form positiv definit. Für ist dadurch dann eindeutig bestimmt und man nennt die (ganzzahlige) Diskriminante von . heißt nun Heegner-Punkt mit Level  (mit einer natürlichen Zahl ), falls . Die Diskriminante besitzt eine Zerlegung in Faktoren mit der sog. Fundamentaldiskriminante des Zahlkörpers . Dabei ist die größte Quadratzahl, sodass gilt. Die ganze Zahl wird auch als Führer des Heegner-Punktes bezeichnet. Aus der Definition wird ersichtlich, dass CM- und Heegner-Punkte stark verwandt miteinander sind, obgleich ein Heegner-Punkt stets mit einem Level  gekoppelt ist. Dies ermöglicht später eine Definition auf der Modulkurve . Mit dieser Modifizierung wird es dann zweckmäßig, sich einen Heegner-Punkt als eine Klasse von CM-Punkten vorzustellen. Benedict Gross definiert Heegner-Punkte anders: Ist eine Modulkurve, so ist (gedanklich) jeder Punkt auf ein Diagramm zweier elliptischer Kurven und , wobei der Kern der Isogenie isomorph zu ist. Dies hat den Hintergrund, dass Modulkurven auch Modulräume sind und in diesem Fall jeder Punkt einer Isogonie zwischen zwei elliptischen Kurven entspricht. Konkret können die Kurven (über ) durch resp. und die Isogenie als die Einschränkung der Identität zwischen Überlagerungen beschrieben werden. Man nennt einen solchen Punkt nun Heegner-Punkt von Level , falls zusätzlich gilt, dass sowohl als auch komplexe Multiplikation haben als auch denselben Endomorphismenring, also für eine Ordnung in einem imaginär-quadratischen Zahlkörper . Es gilt damit für ein , das auch der Führer des Heegner-Punktes genannt wird. Die Zahl wird gleichsam Führer der zugehörigen Ordnung genannt. In einigen Anwendungen, zum Beispiel bei Henri Darmon, werden Heegner-Punkte auch mit den Punkten assoziiert, die auf elliptischen Kurven entstehen, nachdem die Parametrisierung auf die (Heegner-)Punkte angewendet wurde (siehe unten). Diese Schreibweise ist vor allen Dingen dann in Gebrauch, wenn Eigenschaften von Heegner-Punkten als Herleitung für Eigenschaften der elliptischen Kurve herangezogen werden, in etwa im Kontext mit Heegner-Systemen. Fundamentale Eigenschaften Invarianzeigenschaften Der Level eines Heegner-Punktes muss nicht eindeutig sein. So haben beispielsweise alle Heegner-Punkte den Level 1, da offensichtlich stets gilt. Interessant sind die Fälle höheren Levels. So kann man zum Beispiel einfache Methoden angeben, aus einem Heegner-Punkt mit Level  beliebig viele neue Heegner-Punkte mit Level  zu konstruieren. Zuerst wird beobachtet, dass sich die oben definierte Diskriminante unter unimodularer Transformation nicht ändert. Das bedeutet: Ist , also eine ganzzahlige Matrix mit Determinante gleich 1 (die volle Modulgruppe operiert auf der oberen Halbebene durch Möbius-Transformation), so ist Also ist, wenn ein Heegner-Punkt mit Level 1 ist, auch ein Heegner-Punkt mit Level 1. Für höhere Level kann ähnlich, jedoch nur selektiver vorgegangen werden. Da die Erhaltung der Level-N-Eigenschaft mit steigenden Werten  zunehmend „schwieriger“ ist, können hier nur noch bestimmte Matrizen diese Eigenschaft stabil halten. Alle Matrizen aus der Kongruenzuntergruppe erfüllen dies – es muss daher nur die Eigenschaft vorausgesetzt werden. Ist also ein Heegner-Punkt mit Level  und eine Matrix, so ist wieder ein Heegner-Punkt mit Level , und sowohl als auch haben die gleiche Diskriminante. Die Eigenschaft, dass sowohl Diskriminante als auch Level eines Heegner-Punktes mit Level  unter Transformationen erhalten bleiben, ist für die Zahlentheorie von äußerster Wichtigkeit. Sie erlaubt, das Konzept des Heegner-Punktes (mit Level ) auf der Modulkurve zu definieren, da alle entscheidenden Eigenschaften jedes Elements in der Klasse unter invariant bleiben. Über Möbiustransformation operiert die Gruppe auf der oberen Halbebene zuzüglich der sog. Spitzen , also , und der Quotient ist die Menge aller Klassen von Punkten, die über die Operation äquivalent sind. Existenz und die Heegner-Hypothese Es ist nicht klar, ob zu gegebenem Level und Führer ein Heegner-Punkt existiert. Um die Existenz zu gewährleisten, muss die sog. Heegner-Hypothese erfüllt sein: Diese ist eine Annahme an die zu gehörige Ordnung . Sie besagt, dass es ein Ideal gibt, sodass Dies ist ein Isomorphismus von Gruppen. Dieser kann so interpretiert werden: Das Ideal ist so wählbar, dass in der Gruppe der gebrochenen Ideale, wobei der Heegner-Punkt zu der Isogenie korrespondiert. Andersherum hat die Isogenie einen Kern, der isomorph zu ist. Es kann damit gezeigt werden, dass die Heegner-Hypothese hinreichend und notwendig für die Existenz von Heegner-Punkten ist. Die Führer von Heegner-Punkten Neben dem Level , das sich auf die Wahl der Modulkurve bezieht, besitzen Heegner-Punkte nach ihrer Definition eine weitere Kenngröße, ihren sog. Führer. Dieser wird oft als (vom englischen conductor) bezeichnet. Dessen Bedeutung liegt in der Konstruktion sog. Ringklassenkörper (ring class fields) , gewisser abelscher Erweiterungen des imaginär-quadratischen Grundkörpers . Diese haben die Eigenschaft, dass der durch den einzelnen Heegner-Punkt konstruierte Punkt auf der zugehörigen elliptischen Kurve zunächst über definiert ist. Weitere Details hierzu sind in diesem Artikel im Abschnitt über Klassenkörpertheorie beschrieben. In manchen Anwendungen von Heegner-Punkten ist es bedeutsam, zu einem Level ganze (unendliche) Systeme von Heegner-Punkten zu betrachten, sog. Heegner-Systeme. Dabei werden die Punkte mit oder alternativ beschriftet, wobei deren Führer bezeichnet und erfüllt. Heegner-Systeme existieren nur unter bestimmten Bedingungen. Mehr Details finden sich in diesem Artikel unter Heegner-Systeme. Von besonderem Interesse ist der Fall , in dem die gewählte Diskriminante von sogar eine Fundamentaldiskriminante ist. Der zugehörige Ringklassenkörper ist dann der Hilbertsche Klassenkörper von , also dessen maximal unverzweigte abelsche Erweiterung. Charakterisierung Neben der gegebenen Definition können quadratisch irrationale Heegner-Punkte über elementare Zahlentheorie charakterisiert werden. Ist ein quadratisch irrationaler CM-Punkt der oberen Halbebene mit zugehöriger binärer quadratischer Form , so ist er genau dann ein Heegner-Punkt mit Level , wenn und . Aus dieser Charakterisierung kann gefolgert werden, dass, falls ein Heegner-Punkt mit Level  und Diskriminante  ist, auch ein Heegner-Punkt mit Level  und Diskriminante  ist. Der Operator wird auch als Fricke-Involution bezeichnet. Werden Level und Diskriminante (mit den nötigen Eigenschaften) fixiert, so gibt es Heegner-Punkte auf der Kurve . Dabei bezeichnet die Anzahl der verschiedenen Primfaktoren von . Die Punkte werden durch die Gruppenoperation von auf permutiert, wobei die Gruppe der verschiedenen Involutionen auf bezeichnet. Praktischer Nutzen Berechnung von Pi Heegner-Punkte des Typs mit natürlichen Zahlen können dabei helfen, Reihen zu finden, die sehr schnell gegen die Kreiszahl konvergieren, wie die Brüder David und Gregory Chudnovsky herausfanden. Für den nach ihnen benannten Chudnovsky-Algorithmus nutzten sie des Weiteren aus, dass der Wert von für diese Zahlen größtmöglich ganzzahlig ist, weshalb für die schnellste Konvergenz erzielt wird. Durch die rasche Konvergenz, also eine starke Annäherung der Reihe schon nach wenigen ihrer Glieder an die Zahl , kann mit einer vorgegebenen Genauigkeit in vergleichsweise wenigen Schritten berechnet werden. Kryptographie Heegner-Punkte spielen eine bedeutende Rolle im Gebiet der Grundlagenforschung rund um elliptische Kurven (insbesondere solcher mit sog. komplexer Multiplikation). Elliptische Kurven werden im Rahmen der Elliptic Curve Cryptography (ECC) bei der Verschlüsselung von Nachrichten angewandt. Dabei wird die fehlende Effizienz bei der Berechnung diskreter Logarithmen mit Computern ausgenutzt, was ein Brechen des Kryptosystems sehr schwierig macht. Erzeugen Heegner-Punkte rationale Punkte unendlicher Ordnung, ist gewährleistet, dass eine relativ große Anzahl rationaler Punkte auf der betrachteten elliptischen Kurve liegen wird. Wegen der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer besteht (vermutlich) ein enger Zusammenhang zwischen dem globalen und lokalen Fall, also der Anzahl von Punkten elliptischer Kurven über den rationalen Zahlen und sog. endlichen Körpern, wobei eine große Anzahl von Punkten im globalen Fall die Anzahl der Punkte in den lokalen Fällen tendenziell erhöht. Dies folgt aus einer Formel, die ein „Lokal-Global-Prinzip“ etabliert: Ist eine über den rationalen Zahlen definierte elliptische Kurve, eine Primzahl und die Anzahl der Punkte auf der zu reduzierten Kurve , so soll gelten: mit einer Konstanten und dem Rang der elliptischen Kurve ; bezeichnet den endlichen Körper mit Elementen. Die Formel drückt asymptotische Äquivalenz aus, also strebt der Quotient beider Seiten gegen , wenn die natürliche Zahl unbegrenzt wächst. Numerische Rechnungen stützen diese unbewiesene Behauptung. Eine große Zahl von Punkten im lokalen Fall erlaubt schließlich eine große Auswahl an Möglichkeiten für Geheimtexte und macht eine Brute-Force-Attacke zur Entschlüsselung der Nachrichten sehr zeitaufwendig. Daher sind elliptische Kurven mit dieser Eigenschaft gute Kandidaten für Verschlüsselungsverfahren. Im Jahr 2003 entwickelte David Kohel einen Algorithmus, der mittels Heegner-Punkten auf Modulkurven die Anzahl von Punkten auf elliptischen Kurven über endlichen Körpern abzählt. Dazu werden -adische Lifts (das sind Objekte, die von einer Abbildung von einem „über der Modulkurve liegenden Objekt“ in die Modulkurve auf Heegner-Punkte gesendet werden) dieser Heegner-Punkte verwendet, wobei eine kleine Primzahl ist. Um Kryptosysteme über elliptische Kurven implementieren zu können, sind Algorithmen, die die Anzahl von Punkten auf elliptischen Kurven (über endlichen Körpern) zählen, von großer Wichtigkeit. Kohel gab auch explizite Ausführungen zu den Fällen . Bedeutung für die Zahlentheorie Analytische Anwendungen Eine unmittelbare Konsequenz der Formel von Gross und Zagier (siehe unten) ist die Erkennung einer ersten (und derzeit noch einzigen) Klasse von L-Funktionen, deren Ordnung bei nachweislich ist. Diese Beispiele entstehen durch das Auffinden elliptischer Kurven  über , deren L-Funktion aufgrund des Vorzeichens in ihrer Funktionsgleichung in ungerader Ordnung verschwindet, und deren zugehöriger Heegner-Punkt auf von endlicher Ordnung ist, sodass auch ist. Die Existenz einer solchen L-Funktion gibt effektive untere Grenzen für das Wachstum der Klassenzahlen imaginär-quadratischer Körper. Vor einer Arbeit von Dorian Goldfeld waren solche Schranken nur aufgrund der möglichen Existenz von Siegelnullstellen (ineffektiv) bekannt. Goldfelds effektive Lösung des Gaußschen Klassenzahlproblems war eine der frühen Anwendungen der Formel von Gross und Zagier. Lösungen diophantischer Gleichungen und Sylvesters Problem Mit Hilfe der Theorie der Heegner-Punkte können Vermutungen über bestimmte diophantische Gleichungen attackiert werden. Dies betrifft unter anderem Gleichungen des Typs Ein Problem, das nach Sylvester benannt ist, fragt, welche Primzahlen als Summe zweier rationaler Kuben geschrieben werden können. Es fragt also nach der Struktur von . Zum Beispiel ist Mittels Heegner-Punkten können in den Fällen stets nicht-triviale Lösungen konstruiert werden. Dabei macht man sich zunutze, dass die Mordell-Weil-Gruppe im Falle stets torsionsfrei ist. Ein bis heute unveröffentlichter Beweis dieser Methode stammt von Noam Elkies aus dem Jahr 1994. Elkies konnte sogar beweisen. Anwendung auf elliptische Kurven und Klassenkörpertheorie Vorbereitung Elliptische Kurven Elliptische Kurven über einem (algebraisch abgeschlossenen) Körper sind glatte projektive Kurven von Geschlecht 1 mit einer Gruppenstruktur und mit einem ausgezeichneten -rationalen Punkt , der das neutrale Element der Gruppe ist. Für Körper der Charakteristik ungleich 2 und 3 kann eine solche Kurve stets als eine „normalisierte“ affine Gleichung geschrieben werden, mit und . Jeder elliptischen Kurve  über mit Level  kann eine L-Funktion zugeordnet werden, die als analytisches Objekt alle arithmetischen Eigenschaften kodiert. Diese besitzt eine Darstellung als Euler-Produkt: wobei die für Primzahlen mit good reduction gegeben sind durch und die Menge der Lösungen modulo bezeichnet. Für Primzahlen mit bad reduction wird eine ähnliche Definition gewählt. Falls die Koeffizienten der Kurve keine ganzen Zahlen sind, muss dafür zunächst eine elementare Umformung über projektive Koordinaten vorgenommen werden. L-Funktionen können auch für den Fall elliptischer Kurven über beliebigen Zahlkörpern  definiert werden. Andrew Wiles und anderen gelang mit dem Beweis des Modularitätssatzes die Bestätigung der Aussage, dass zu einer ganzen Funktion fortgesetzt werden kann und einer Funktionalgleichung genügt: Tatsächlich korrespondiert mit einer Modulform von Gewicht 2, deren Level mit dem Führer der elliptischen Kurve identisch ist. Insbesondere ist eine sog. Hecke-Eigenform bezüglich der Kongruenzuntergruppe . Formelhaft ergibt sich der Zusammenhang zwischen und via klassischer Mellin-Transformation: Die Funktionalgleichung lautet dann wobei das Vorzeichen eine wichtige Rolle für die Arithmetik von spielt. Beispielsweise verschwindet mit gerader/ungerader Ordnung in , falls den Wert bzw. annimmt. Schreibweise für Heegner-Punkte über Idealklassen Es sei eine Fundamentaldiskriminante und ein imaginär-quadratischer Zahlkörper. Als solcher hat er einen Ganzheitsring, der mit bezeichnet werden soll. Dieser besteht aus allen Elementen , die Lösung eines monischen Polynoms mit ganzen Koeffizienten sind, also für irgendwelche erfüllen. Ein äußerst wichtiges Resultat der algebraischen Zahlentheorie ist nun, dass die Menge aller gebrochenen Ideale, also aller endlich erzeugten -Moduln , eine Gruppe unter der Multiplikation ist. Diese Gruppe wird natürlich unendlich groß sein. Identifiziert man jedoch zwei gebrochene Ideale dann miteinander, wenn sie sich bloß um ein Hauptideal als Faktor unterscheiden (im Falle der gebrochenen Ideale sind das genau alle Ideale , sodass mit einem und einem Hauptideal ), und schaut sich die dadurch entstehende Gruppe von Klassen an, so ist diese endlich. Die Elementanzahl der Klassengruppe heißt dann auch Klassenzahl des Körpers und wird oft mit bezeichnet. Die soweit beschriebenen Resultate gelten jedoch nicht nur für quadratische Körper, sondern allgemein für alle Zahlkörper. Im Folgenden ist mit Ideal stets allgemein ein gebrochenes Ideal gemeint. In den anderen Fällen wird ausdrücklich ganzes Ideal gesagt. Um den Zusammenhang zwischen Heegner-Punkten und quadratischen Zahlkörpern zu fassen, müssen folgende Dinge nacheinander durchdacht werden. 1. Im Falle imaginär-quadratischer Zahlkörper mit Fundamentaldiskriminante  gilt, zusätzlich zu oben, der Satz, dass die Klassengruppe gleichmächtig mit der Menge der Klassen binär quadratischer Formen mit Diskriminante ist. Die 1:1-Korrepondenz zwischen den beiden Mengen ist wie folgt gegeben: Ist auf der einen Seite ein Ideal, ordnet man diesem die binäre quadratische Form zu mit Dabei bezeichnet die sog. Norm des Ideals , die für ganze Ideale durch die Anzahl der Elemente des Quotienten definiert ist. Für beliebige Ideale kann sie durch multiplikative Fortsetzung berechnet werden, da es für alle Ideale eine eindeutige Zerlegung in Primideale gibt. Ist auf der anderen Seite eine binäre quadratische Form gegeben, so wird durch das zugehörige Ideal konstruiert. Dass es sich hierbei tatsächlich um eine wohldefinierte Bijektion handelt, kann elementar nachgerechnet werden. 2. Es gibt wiederum eine 1:1-Korrespondenz zwischen Klassen (bezüglich ) von Heegner-Punkten mit Diskriminante , Level  und Paaren , mit Werten , sodass für jedes gilt, dass , Idealklassen . Auf der einen Seite gibt es in eine positiv definite binäre quadratische Form mit und (beachte, dass , da ). Zu diesen Daten korrespondiert der Heegner-Punkt Es sollte bemerkt werden, dass, falls die unimodulare Transformation mit Lösung der entsprechenden Form ist, dann ebenfalls , aber auch erfüllt ist, womit die Zuordnung auf Klassen von Punkten wohldefiniert ist. Ist auf der anderen Seite eine entsprechende Klasse von Heegner-Punkten  gegeben, so sind je zwei Repräsentanten Lösung von Formen , sodass und . Man setze und . Auch bei der Wahl des Repräsentantenideals spielt die Wahl des Repräsentanten keine Rolle, da mit und der Teilerfremdheit von bzw. gefolgert wird. Der Hauptsatz der komplexen Multiplikation Heegner-Punkte sind unter anderem bei der Konstruktion bestimmter Punkte auf elliptischen Kurven von Interesse. Dabei wird ausgenutzt, dass es eine Parametrisierung von der Modulkurve in eine elliptische Kurve (mit Führer ) gibt. Im Gegensatz zu der (sehr simplen) Parametrisierung über die Weierstraßsche ℘-Funktion hat die Eigenschaft, nicht nur eine holomorphe Abbildung zwischen kompakten Riemannschen Flächen, sondern auch ein Morphismus zwischen Kurven über den rationalen Zahlen zu sein. Werden also Punkte über einem gewissen Erweiterungskörper von nach transportiert, so liegen diese sogar in , sind also wieder über definiert. Nun liegen aber Heegner-Punkte mit Level  gerade im Bereich der Modulkurve , weshalb es von Interesse ist, die entsprechenden Bildpunkte auf der Kurve  zu studieren. Der Hauptsatz der komplexen Multiplikation macht nun eine Aussage über die algebraische Natur dieser Bildpunkte . Modulare Parametrisierung einer elliptischen Kurve Um den Hauptsatz der komplexen Multiplikation formulieren und dessen Konsequenzen verstehen zu können, muss die modulare Parametrisierung einer elliptischen Kurve bekannt sein. Zu einer elliptischen Kurve  existiert eine Modulform vom Gewicht 2 bezüglich der Kongruenzuntergruppe . Eine Modulform ist grob gesagt eine holomorphe Funktion auf der oberen Halbebene, die sich holomorph in die Spitzen fortsetzen lässt und Invarianzeigenschaften unter der Operation einer Kongruenzuntergruppe auf ihre Argumente hat. Es ist sogar eine sog. Spitzenform, das bedeutet, dass in allen Spitzen verschwindet. Als solche besitzt auf ganz eine Entwicklung als Fourier-Reihe: Es soll davon ausgegangen werden, dass alle Koeffizienten von ganze Zahlen sind – diese entsprechen den Koeffizienten der L-Reihe . Rein komplex-analytisch betrachtet ist eine holomorphe Differentialform auf der kompakten riemannschen Fläche und ihr Kurvenintegral ist unabhängig von der Wahl des Integrationsweges zwischen und . Für alle Werte kann es explizit durch mit berechnet werden. Als Modulform von Gewicht 2 bezüglich erfüllt die Transformationsformel Aus dieser Eigenschaft kann mittels Substitution eine Periodeneigenschaft des Integrals gefolgert werden: Das erste Integral der rechten Seite liegt stets in einem Gitter (dies ist nicht trivial, kann aber mit Hilfe der Wirkung von Hecke-Operatoren gezeigt werden). Dies induziert eine holomorphe Abbildung und mittels der zu gehörigen Weierstraßschen ℘-Funktion ergibt sich durch einfache Verkettung . Bei dieser Auswertung kann es jedoch theoretisch passieren, dass eine nicht-triviale Konstante auftritt, die sog. Maninsche Konstante . Es wird vermutet, dass stets gilt, dies kann aber nicht allgemein gezeigt werden. Jedoch stimmt diese Vermutung für den Fall, dass quadratfrei ist. Allgemein muss damit der Term berechnet werden. Hilbertsche Klassenkörper und Ringklassenkörper Beim Studium der Bildpunkte eines Heegner-Punktes mit Führer tauchen auch sog. Hilbertsche Klassenkörper auf. Ist ein imaginär-quadratischer Zahlkörper gegeben, kann gezeigt werden, dass eine endliche abelsche Erweiterung von existiert mit der Eigenschaft, dass die Galois-Gruppe kanonisch isomorph zur Klassengruppe ist. Die zugehörige Abbildung wird manchmal mit (nach Emil Artin) bezeichnet, also Jedes Ideal in wird in zu einem Hauptideal. Es kann gezeigt werden, dass, wenn ein imaginär-quadratischer Körper ist und eine elliptische Kurve mit , der Körper gleich dem Hilbertschen Klassenkörper von ist. Hierbei bezeichnet die j-Invariante von . Ist also ein Heegner-Punkt mit Diskriminante gleich der Fundamentaldiskriminante von , so ist ein Erzeuger von über . Die Wirkung der Galois-Gruppe auf den Wert ist dabei Gegenstand der sog. Shimura-Reziprozität. Die Resultate können auf Heegner-Punkte mit Führern verallgemeinert werden. Dazu ist es notwendig, die Theorie des Hilbertschen Klassenkörpers auf Ringklassenkörper passend zu verallgemeinern. Hürden entstehen aber u. a. beim Begriff der Klassengruppe einer quadratischen Ordnung. Diese werden dadurch umgangen, dass nur noch passende (proper) Ideale, zum Beispiel bei der Bildung einer allgemeinen Klassengruppe , betrachtet werden. Das sind solche, für die die Gleichheit gilt. Der Ringklassenkörper zu ist die eindeutig bestimmte abelsche Erweiterung von , dass alle Primideale in , die verzweigt in sind, bereits teilen und ferner der Artin-Isomorphismus gilt. Zu jedem passenden Ideal in einer Ordnung gibt es ein eindeutig bestimmtes , sodass für jedes passende Ideal erfüllt ist und das zu konjugierte Ideal bezeichnet. Diese Beziehung gibt schließlich über den von der Klassenkörpertheorie vorhergesagten Isomorphismus vor. Ist ein Heegner-Punkt mit zugehöriger quadratischer Ordnung , so ist . Hat eine elliptische Kurve allgemein komplexe Multiplikation, so ist der Wert eine ganz-algebraische Zahl. Als Konsequenz ist die j-Invariante für Heegner-Punkte ganz-algebraisch. Mit Hilfe der j-Invariante, angewendet an Heegner-Punkten in der Form kann gezeigt werden, dass es genau 9 verschiedene negative quadratfreie Zahlen  gibt, sodass die Klassenzahl 1 hat. Ein von David A. Cox ausgeführter Beweis nutzt zudem einige Modulfunktionen, die auf Heinrich Weber zurückgehen. Formulierung des Hauptsatzes und Anwendung auf Heegner-Punkte Ist ein Heegner-Punkt zu einer Fundamentaldiskriminante , der sich mit einem Paar identifizieren lässt, so kann mit dem Hilbertschen Klassenkörper  von  das Folgende gesagt werden: Es ist stets (das Bild ist also ein Punkt , dessen Koordinaten in  liegen, also insbesondere algebraische Zahlen sind). Außerdem gelten die Rechenregeln: Für alle gilt Mit der Fricke-Involution gilt , wobei und Zu guter Letzt folgt mit der komplexen Konjugation Bewiesen wurde der Satz von Max Deuring und Goro Shimura. Er untermauert das „Wunder“ der komplexen Multiplikation, da von einer transzendenten Funktion normalerweise nicht ohne Weiteres zu erwarten ist, dass sie algebraische Zahlen auf algebraische Zahlen abbildet. Der Hauptsatz kann als eine Verallgemeinerung jenes Prinzips für gesehen werden, dass die transzendente Funktion , die nach der Eulerschen Formel an reellen Argumenten den Kreis mit Radius 1 parametrisiert, an rationalen Stellen algebraische Werte liefert. Die erste Formel des Hauptsatzes liefert explizite Ausdrücke für die Konjugierten unter der Galois-Gruppe und wird auch als Shimura-Reziprozität bezeichnet. Mit ihrer Hilfe kann über die Spurformel ein Punkt  aus allen Konjugierten von  berechnet werden: Dieser Punkt wird von der Galois-Wirkung fixiert gelassen und liegt daher sogar in . Im Fall, dass der -Faktor der elliptischen Kurve den Wert hat, kann zudem wegen die Gleichheit gezeigt werden, woraus schließlich folgen muss. Über eine ähnliche Argumentation kann gezeigt werden, dass, falls , der Punkt ein Torsionspunkt ist. Die Formel von Gross und Zagier Der Hauptsatz der komplexen Multiplikation liefert zwar ein Verfahren zur Konstruktion eines Punktes , jedoch bleibt die Frage offen, ob es sich dabei um einen „trivialen“ Torsionspunkt handelt. Auch sind die Berechnungen der Spurformeln ohne detaillierte Kenntnisse über die Idealklassen schwierig zu beantworten. Die Formel von Gross-Zagier liefert einerseits ein Kriterium, das entscheidet, ob ein durch Heegner-Punkte gefundener Punkt tatsächlich nur ein Torsionspunkt ist, und andererseits Techniken, die eine algorithmische Berechnung vereinfachen. Höhen Der entscheidende Punkt in der Formel von Gross und Zagier ist, dass die Höhe von explizit durch berechenbare Konstanten angegeben wird. Dabei ist die Höhe nach folgendem Prinzip definiert: Zuerst wird ein Maß definiert, wie „kompliziert“ eine rationale Zahl ist (dieses wird auch einfach als Höhe (height) bezeichnet). Dabei setzt man für einen vollständig gekürzten Bruch : Es ist zu beachten, dass die Komplexität eines Bruchs in diesem Fall nicht vom Absolutwert von abhängt, sondern vielmehr von der Größe von Nenner und Zähler. So ist die Zahl wegen „sehr einfach“, während die benachbarte Zahl mit „deutlich komplizierter“ ist. Das Maß wird dazu verwendet, die kanonische Höhe (canonical height) eines Punktes  zu definieren. Dabei reicht es wegen des algebraischen Zusammenhangs zwischen und aus, die -Koordinate zu betrachten. Damit setzt man und schließlich für die kanonische Höhe Dabei bezeichnet die -fache Summe des Punktes mit sich selbst. Es kann gezeigt werden, dass dieser Wert stets existiert und nicht-negativ ist. Ist ein Torsionspunkt, also von endlicher Ordnung, gilt also für eine gewisse endliche Zahl an Summanden, so folgt damit offenbar , da der Ausdruck periodisch ist. Weniger auf der Hand liegt die Tatsache, dass sich diese Aussage umkehren lässt: Ist , so muss bereits ein Torsionspunkt gewesen sein. Aussage der Formel von Gross und Zagier Die Formel von Gross und Zagier liefert nun die kanonische Höhe eines Punktes , gewonnen über Heegner-Punkte nach dem Hauptsatz, in Termen von zu den elliptischen Kurven zugehörigen -Funktionen an der Stelle . Ist die Kurve gegeben, so bezeichnet den quadratischen Twist von bezüglich einer Fundamentaldiskriminanten . Hat die Reihenentwicklung so kann gezeigt werden, dass mit dem Jacobi-Symbol . Die Formel von Gross und Zagier lautet nun: Ist und , so gilt explizit Für muss die rechte Seite noch mit einem Faktor multipliziert werden. Aus diesen Tatsachen folgt zusammen mit der Arbeit von Kolyvagin, dass die Heegner-Punkt-Methode genau für den Fall funktioniert, dass  den Rang 1 hat. Version über Heegner-Divisoren In einer folgenden Arbeit von Gross, Kohnen und Zagier ist die Höhenformel in etwas anderer Gestalt gegeben. Dort konnte eine Verallgemeinerung mittels der Theorie der Jacobiformen erreicht werden. Grob gesprochen sagt der Satz von Gross-Kohnen-Zagier aus, dass Höhen zu Heegner-Divisoren die Koeffizienten einer Gewicht-2-Jacobiform beschreiben. Heegner-Punkten können sog. Heegner-Divisoren zugeordnet werden. Dafür wird in erster Linie der Satz von Abel verwendet. Ist eine kompakte Riemannsche Fläche mit Geschlecht , so können wir auf dieser die Gruppe aller Divisoren betrachten. Ein Divisor ist hierbei nichts anderes als eine endliche formale Summe ganzzahliger Vielfacher von Punkten auf . Betrachtet werden nun die sog. Nulldivisoren , welche die Eigenschaft haben, dass die Summe der ganzen Koeffizienten aller Punkte den Wert hat. Die Menge der sog. Hauptdivisoren , welche die Null- und Polstellen einer meromorphen Funktion auf bilden, ist eine Untergruppe von . Nach dem Satz von Abel gibt es nun einen Isomorphismus zwischen der Jacobi-Varietät von und dem Quotienten , der eine Untergruppe der Picard-Gruppe ist: wobei ein Basispunkt ist. Es ist zu erwähnen, dass die Varietät ein höherdimensionaler komplexer Torus mit einem Gitter ist und damit eine Gruppenstruktur trägt. Explizit ist sie durch gegeben, wobei den Vektorraum der global holomorphen Differentialformen auf und die Untergruppe ist, deren Elemente ein Differential auf ganzzahlige Linearkombinationen von dessen Integralen über die (bis auf Homotopie) möglichen geschlossenen Kurven schickt (Periodengitter). Als Folgerung des Satzes von Abel gibt es nun eine injektive Abbildung , falls . Ist ein Punkt, so kann man diesem die Divisorklasse zuordnen. Ist nun eine Modulkurve von Geschlecht und Level , so gibt es eine Abbildung der Form , wobei eine Spitze von ist. Da eine algebraische Kurve ist, können deren Heegner-Punkte zu einer festen Diskriminante mit Punkten über dem Hilbertschen Klassenkörper identifiziert werden, da . Es gibt für festes und mit () genau solcher Punkte , und diese definieren einen Divisor , der als Punkt in aufgefasst werden kann – es ist zu beachten, dass ebenfalls eine algebraische Kurve, definiert über , ist. Dieses Prinzip bleibt erhalten, wenn statt die Kurve gewählt wird, nachdem die Fricke-Involution herausgeteilt wurde. Dies hat den Vorteil, dass der entsprechende Divisor invariant unter ist und damit über definiert ist. Die Formel von Gross und Zagier gibt nun ein Verfahren an, die Höhenpaarung (mit zwei Parametern ) explizit zu berechnen, wobei eine Heckeeigenform (Neuform mit Führer ) bezüglich und die sog. -Komponente des Divisors ist. Dabei ist zu beachten, dass es eine Isogenie der Jacobischen Varietät in direkte Summanden der Form mit gibt. Dabei sind die Unteralgebra der von generierten Heckealgebra, die auf 0 abbildet, und die Anzahl der Teiler von . Die direkte Summe läuft dabei über Äquivalenzklassen von Eigenformen, wobei zwei Eigenformen äquivalent sind, falls sie durch (koeffizientenweise) Konjugation einer Einbettung auseinander hervorgehen. Hier ist der von den Koeffizienten einer normalisierten Eigenform erzeugte Zahlkörper. Die Formel bringt nun die Höhe in Verbindung mit Koeffizienten von Jacobiformen. Es wird die Formel mit () bewiesen, wobei eine Jacobiform bezeichnet, die mit über eine Abbildung zusammenhängt. Weiter wird bewiesen, dass alle -Komponenten von auf einer gemeinsamen Geraden in liegen und deren Positionen über Koeffizienten einer Jacobiform bestimmt werden. Dieser Zusammenhang wird über die Formel mit unabhängig von und mit ausgedrückt. Dementsprechend hat der Unterraum , der von allen -Komponenten von Heegner-Divisoren erzeugt wird, je nach oder Dimension 1 bzw. 0. Die Arbeiten von Gross, Kohnen und Zagier wurden 1997 (1999 veröffentlicht) von Richard Borcherds anderweitig bewiesen und gleichzeitig auf höherdimensionale Quotienten hermitescher symmetrischer Räume verallgemeinert. Heegner-Systeme und der Satz von Kolyvagin Motivation Ist eine elliptische Kurve über den rationalen Zahlen und ein Zahlkörper (mit einem algebraischen Abschluss ), so ist es aus zahlentheoretischer Sicht von Interesse, die Mordell-Weil-Gruppe der -rationalen Punkte auf und die Shafarevich-Tate-Gruppe zu verstehen. Ist für eine ganze Zahl  mit die Untergruppe einer Gruppe gemeint, sodass für jedes ist, so ist die folgende Sequenz exakt: Durch Bilden der Galois-Kohomologie mit entsteht daraus folgende exakte Sequenz: aus der schließlich die kurze exakte Sequenz hervorgeht (descent sequence). Nun kann nach dem Lokal-Global-Prinzip verfahren werden. Daraus definiert sich schließlich: Dabei entspricht jedes einer Stelle von . Jedes Element der Gruppe korrespondiert zu einer Klasse homogener Räume über  – damit sind glatte Kurven gemeint, auf denen die algebraische Gruppe  eine Operation über  definiert. Die Klassen werden über mit der Wirkung von kompatible Isomorphismen festgelegt. Dabei ist eine Klasse genau dann trivial, falls irgendwelche -rationalen Punkte besitzt. Werden die hinteren Kohomologiegruppen in oberer exakter Sequenz passend eingeschränkt, ergibt sich die erneut exakte Sequenz Hierbei bezeichnet die sog. -Selmer-Gruppe. Diese wird wie folgt definiert: Während gut bekannt ist, dass die -Selmer-Gruppe stets endlich ist (woraus folgt, dass die Gruppen stets endlich sind, was ein wichtiger Schritt im Beweis ist, dass endlich erzeugte abelsche Gruppen sind), verbleibt die Shaferevich-Tate-Gruppe allgemein mysteriös. Es wird vermutet, dass sich die Gruppen und nur von einer von unabhängigen endlichen Größe unterscheiden und in unendlich vielen Fällen sogar gleich sind. Das wäre gegeben, wenn endlich wäre, doch dies verbleibt bis heute unbewiesen. Die Endlichkeit von ist Teil der (starken) Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer und wäre zahlentheoretisch von großer Bedeutung: Ihre Größe kodiert nach der Definition, wie stark das Hasse-Minkowski-Prinzip bei der elliptischen Kurve scheitert. Heegner-Systeme können nun, im Gegensatz zu den kohomologischen Methoden, dazu verwendet werden, und gleichzeitig zu studieren, indem die Größe der Selmer-Gruppen beschränkt wird. In seinen einführenden Lecture Notes über Euler-Systeme (einem verallgemeinerten Konzept, dem sich Heegner-Systeme unterordnen), betont Barry Mazur die Bedeutung der Heegner-Systeme und gibt über den Vergleich zur Kohomologie folgende „Anschauung“: Definition von Heegner-Systemen Heegner-Systeme sind Kollektionen von Heegner-Punkten , sodass den Führer besitzt. Wegen der Heegner-Hypothese ist es dabei wichtig anzunehmen, dass Führer und Level teilerfremd sind. Es ist zu beachten, dass dabei Heegner-Punkte als Punkte auf einer elliptischen Kurve (nach Anwendung der Parametrisierung) interpretiert werden. Dies ist pragmatisch, weil Heegner-Systeme ihre wichtigsten Anwendungen auf dieser elliptischen Kurve (und nicht als Teil der Modulkurve) haben. Es gilt stets , mit dem entsprechenden Ringklassenkörper . Außerdem müssen noch folgende technischen Bedingungen erfüllt sein: 1. Das System ist nur mit solchen Zahlen beschriftet, für die gilt, siehe oben. 2. Für eine Primzahl, die nicht über zerfällt, gelten die Regeln: Hierbei sind die Ringklassenkörper von mit Führer  und zu Primidealen bezeichnen die entsprechenden Frobenius-Elemente. Die Zahlen sind die Koeffizienten der L-Funktion von und tauchen im Kontext von Hecke-Operatoren auf, die auf der entsprechenden elliptischen Kurve wirken. 3. Ein Element wird als Reflexion (reflection) bezeichnet, falls seine Einschränkung auf nicht die Identität ist. Es kann gezeigt werden, dass alle Reflexionen aufgrund dieser Eigenschaft von der Ordnung 2 sind. Nun soll es stets ein Element geben, sodass also bis auf ein Element im Torsionsteil von . Dabei ist der Faktor in der Funktionalgleichung betreffend der zur elliptischen Kurve gehörigen L-Funktion. Ein Heegner-System wird dann als nicht-trivial bezeichnet, falls nicht jeder Punkt ein Torsionspunkt ist. Zusammenhang zur Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer Zu einem zunächst beliebigen Zahlkörper kann jeder elliptischen Kurve eine L-Funktion zugeordnet werden über wobei das Produkt über alle endlichen Primstellen von (also alle Primideale) geht, die lokalen Euler-Faktoren gegeben sind durch und die Norm bezeichnet. Hierbei sind die gerade die Koeffizienten der L-Funktion im Fall . Ist eine quadratische Erweiterung, so zerfällt mit dem sog. quadratischen Twist  der Kurve . Mittels eines Twists mit einem Charakter erhält man zu jedem Ringklassenkörper mit Führer  und die L-Funktion wobei die getwisteten Euler-Faktoren ähnlich zu definiert werden können. Diese L-Funktion besitzt eine analytische Fortsetzung in die ganze komplexe Zahlenebene und erfüllt eine Funktionalgleichung. Nun zerfällt die L-Funktion in die Faktoren über alle Charaktere woraus, falls gilt, schon für alle betrachteten Charaktere folgt. Damit ist über , wobei den Erweiterungsindex der Körper bezeichnet, mit der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer die Relation zu vermuten. Aufgrund dessen wird vermutet, dass, falls ist, ein nicht-triviales Heegner-System zu hinzugefügt werden kann. Der Satz von Kolyvagin Heegner-Systeme dienen dazu, den Satz von Kolyvagin zu beweisen. Dabei macht man sich zunutze, dass diese die Mordell-Weil-Gruppe und die Selmer-Gruppe kontrollieren. Der Satz besagt, dass, falls der durch das System ausgezeichnete Punkt kein Torsionspunkt ist, bereits Folgendes gilt: Die Mordell-Weil Gruppe ist von Rang 1, sodass eine Untergruppe von endlichem Index erzeugt. Die Shafarevich-Tate-Gruppe von ist endlich. Das ist insofern erstaunlich, als zum Beispiel die Endlichkeit der Shafarevich-Tate-Gruppe im Allgemeinen alles andere als geklärt und Gegenstand tiefer Vermutungen (wie der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer) ist. Der Satz von Kolyvagin lässt sich, zusammen mit dem Ergebnis von Gross und Zagier, zur Lösung der Birch-und-Swinnerton-Dyer-Vermutung für die Fälle kombinieren. Ist dies erfüllt, so kann bereits gefolgert werden, und in beiden Fällen ist die Shafaervich-Tate-Gruppe endlich. Der Beweis, in den beide Resultate einfließen, nutzt technische Eigenschaften der mit einem Charakter getwisteten L-Funktionen . Beziehungen zu Modulfunktionen und singuläre Moduli Es gibt zahlreiche Verbindungen zwischen Heegner-Punkten und Modulformen. So nimmt die j-Invariante, eine Modulfunktion von Gewicht 0, an Heegner-Punkten stets algebraische Werte an. Hintergrund dieser Aussage ist, dass es für jede natürliche Zahl  ein (bis auf Vorzeichen symmetrisches) Polynom vom Grade gibt, wobei die klassische Teilerfunktion bezeichnet, sodass (also in die konstante Nullfunktion) für jede ganzzahlige Matrix  mit Determinante  ist. Der Grad wird über die Konstruktionstechnik klarer, wobei die Menge aller ganzzahligen Matrizen mit Determinante  bezeichnet, auf der von links operiert und im Quotienten genau Klassen bildet. Die Gültigkeit einer solchen Identität kann über die Tatsache gezeigt werden, dass die Koeffizienten der linken Seite in holomorphe Modulfunktionen von Gewicht 0 (und daher bereits Polynome in ) sind. Wegen der Fourier-Entwicklung von sind die Koeffizienten von zudem als rationale Zahlen wählbar. Jeder Heegner-Punkt  wird von einer Matrix mit ganzzahliger Determinante fixiert. Damit folgt bereits und damit ist Nullstelle eines nicht-trivialen Polynoms mit rationalen Koeffizienten. Also ist algebraisch – das Argument gilt auch, falls , da die Funktionen und niemals identisch sind. Diese Werte werden traditionell auch als singuläre Moduli (englisch singular moduli) bezeichnet. Dieser Umstand kann weiter präzisiert werden über Einführung des sog. Klassenpolynoms (class polynomial) Dabei besteht aus allen Heegner-Punkten mit Führer 1 und Diskriminante , auf denen die Gruppe operiert. Übrig bleibt ein Polynom vom Grade . Es kann gezeigt werden, dass sogar und stets irreduzibel ist. Damit nimmt insbesondere an der Stelle einen ganzzahligen Wert an, nämlich , da und es daher nur eine Klasse von Heegner-Punkten zu dieser Diskriminante gibt. Daraus entsteht die mit einem Computer leicht zu zeigende Kuriosität Die Identität kann dazu verwendet werden, die äußerst schnell konvergierende Reihe herzuleiten, vergleiche auch Chudnovsky-Algorithmus. Mit diesem ist eine sehr schnelle Berechnung von möglich: Bis heute (Stand August 2021) sind mit dieser Methode über 62 Billionen Stellen nach dem Komma berechnet worden. Mit Hilfe einer Formel von Sarvadaman Chowla und Atle Selberg können singuläre Moduli auch auf den Fall von Modulformen mit algebraischen Koeffizienten „übertragen“ werden. Die Aussage ist, dass, falls ein imaginär-quadratischer Zahlkörper ist, eine nur von diesem Körper abhängige „Periode“ existiert, sodass für jede Modulform  mit algebraischen Koeffizienten für alle gilt. Ein möglicher Wert von kann explizit berechnet werden als wobei der Charakter bezüglich der Diskriminante  des Zahlkörpers , die Klassenzahl, die Anzahl der Einheiten im Ganzheitsring  und die Gammafunktion bezeichnet. Diese Formel wurde 1949 von Chowla und Selberg publiziert, war aber bereits 1897 von Matyáš Lerch entdeckt worden. Algorithmische Nutzung Für elliptische Kurven des Rangs 1 mit Führer  über den rationalen Zahlen kann mit Hilfe der Formel von Gross und Zagier ein Algorithmus angegeben werden, um rationale Punkte unendlicher Ordnung zu konstruieren. Es wird von einer elliptischen Kurve in verallgemeinerter Weierstraßgleichung ausgegangen mit mit Diskriminante , j-Invariante und ganzzahligen Koeffizienten . Es wird außerdem benötigt. Formulierung der Heegner-Punkte-Methode Das Verfahren lautet wie folgt: 1. (Berechnung notwendiger Genauigkeit) In diesem ersten Schritt wird berechnet, auf wie viele Nachkommastellen alle darauffolgenden Hauptberechnungen stimmen müssen. Ist bekannt, dass hinreichend gute Genauigkeit vorliegt, kann dieser Schritt übergangen werden. Berechne das Produkt mit Hilfe der Formel von Birch und Swinnerton-Dyer: Dabei bezeichnet den sog. Regulator, die reelle Standardperiode der elliptischen Kurve (über als Torus betrachtet), das Produkt der Tamagawa-Zahlen von (einschließlich ) und die Shafarevich-Tate-Gruppe der elliptischen Kurve. Der Wert sollte effizient mittels berechnet werden. Alle späteren Rechnungen müssen auf mindestens Stellen genau getätigt werden, wobei mit falls und sonst. 2. (Schleife über Fundamentaldiskriminanten) In diesem Teil des Algorithmus muss eine passende Fundamentaldiskriminante bestimmt werden. Aus dieser werden dann später geeignete Heegner-Punkte berechnet . Prüfe für absteigende Fundamentaldiskriminanten folgende Bedingungen: * ist ein Quadrat modulo * Es ist für alle Primzahlen * Der Wert ist nicht 0. Für dessen Berechnung kann die schnell konvergente Reihe verwendet werden. Ist irgendeine dieser Bedingungen nicht erfüllt, fahre mit der nächsten Fundamentaldiskriminanten fort. Falls aber doch, fixiere , sodass , und berechne den Wert mit Dabei ist die Anzahl unterschiedlicher Primfaktoren in der Zerlegung von . Dieser numerische Wert von sollte sehr nahe an einer ganzen Zahl oder an einer rationalen Zahl mit verhältnismäßig kleinem Nenner sein. In letzterem Fall sollten entsprechende Vielfache von gewählt werden, sodass Ganzzahligkeit erreicht wird – bezeichne die ganze Zahl dann wieder als . 3. (Liste von Klassen quadratischer Formen) Berechne eine Liste von Repräsentanten positiv definiter quadratischer Formen mit Diskriminante , sodass und (dies ist stets möglich). Fasse Listenelemente und paarweise zusammen, wenn letzteres äquivalent zu ist. 4. (Hauptrechnung) Berechne die komplexe Zahl mittels der Formel und verwende die Tatsache, dass die Paarungen aus Schritt 3 die Relation erfüllen. Für die nötige Genauigkeit sollten stets mindestens Summanden in den Reihen verwendet werden. 5. (Bestimmung des rationalen Punktes) Bezeichnet den Exponenten der Gruppe , so wird und definiere . Für jedes ganzzahlige Paar definiere Berechne , wobei den Isomorphismus zwischen und bezeichnet. Wurde alles mit hinreichend guter Genauigkeit durchgeführt, liegt eines der erkennbar nahe an einer rationalen Zahl . Falls nicht, erhöhe die Genauigkeit und vollziehe die vorherigen Schritte erneut. Falls ja, berechne unter Nutzung der Weierstraß-Gleichung den entsprechenden Koordinatenteil , der von der Form ist und beende den Algorithmus. Hintergründe des Algorithmus Da mit steigendem Level die Reihen für an den Heegner-Punkten immer langsamer konvergieren, wird die Methode ab Größenordnungen im Bereich mit heutigen Rechenmitteln als unbrauchbar eingestuft. Die einzelnen Schritte des Algorithmus können wie folgt gerechtfertigt werden: 1. Die kanonische Höhe eines Punktes misst nicht nur, ob er ein Torsionspunkt ist, sondern ist auch mit dessen Höhe verknüpft, also jenem Maß, das die Komplexität der rationalen Zahl misst. Dies wird über die Ungleichung ersichtlich. Gleichzeitig ist die kanonische Größe über die Formel von Gross und Zagier und die Formel der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer zu der Größe verwandt, obgleich noch eine geringfügige Abhängigkeit von der Diskriminante  gegeben ist. Für die Wahl von reicht der kompensatorische Summand 10 in der Anzahl von  Dezimalstellen aus. 2. Da die betrachtete Kurve  den Führer  hat, wird sie durch parametrisiert. Demnach sind Heegner-Punkte des Levels  von Relevanz. Dazu müssen aber wegen der weiter oben beschriebenen Beziehung von Heegner-Punkten zu Idealklassen imaginär-quadratischer Zahlkörper Diskriminanten der Art mit einem gewählt werden. Der Regulator ist im Rang-1-Fall gleich dem Wert , wobei ein Erzeuger der Mordell-Weil-Gruppe ist. Da damit die Form mit einem Torsionspunkt hat, gilt , und es kann aus einer Kombination der Formel von Gross und Zagier mit der Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer der folgende Ausdruck vorgeschlagen werden: Dabei ist die Anzahl der Einheiten des Ganzheitsrings von . Diese Formel soll sogar für den Fall gelten, fordert jedoch als zusätzliche Bedingung für alle . Sie ist allerdings nur eine Vermutung und bis heute unbewiesen. Es ist im Falle der betrachteten Kurve bekannt, dass endlich und eine Quadratzahl ist. 3. Das paarweise Anordnen hilft dabei, den großen Rechenaufwand in 4. im Optimalfall zu halbieren. Es ist für die Konvergenzgeschwindigkeit zudem essentiell, die Werte minimal zu wählen. Ein Unteralgorithmus, der die Berechnung der geforderten Liste von Klassen quadratischer Formen realisiert, wird im Detail von Henri Cohen und Christophe Delaunay beschrieben. 4. Dies ist gerade die Anwendung der bereits oben erwähnten Spurformel. Dieser Schritt benötigt mit Abstand die meiste Zeit. 5. Die komplexe Zahl sollte nicht einfach über die Weierstraßsche -Funktion auf die Kurve abgebildet werden, da dies eine sehr hohe Genauigkeit erfordern würde, die entsprechende rationale Zahl zu erkennen. Stattdessen ist es ratsam, nicht direkt , sondern gleich einen Erzeuger  der Gruppe (modulo Torsion) zu generieren. Daher wird das in Schritt 2. berechnete benutzt. Die Torsionspunkte von sind gerade die Punkte aus (modulo ). Praktisches Beispiel In seiner Monographie über Rationale Punkte auf modularen elliptischen Kurven nimmt Henri Darmon als Grundlage für eine Rechendemonstration die elliptische Kurve mit Führer . Der Heegner-Punkt mit Level wird gewählt. Entweder durch Zählen von Punkten auf der Kurve modulo oder über die Identität kann die normierte Hecke-Eigenform von Gewicht 2 bezüglich der Kongruenzuntergruppe (also auf ) gefunden werden, wobei die Dedekindsche Eta-Funktion bezeichnet. Die numerische Auswertung des Eichler-Integrals liefert für 1000 Summanden: und nach Anwendung der Weierstraß-Parametrisierung den Punkt auf 35 Dezimalstellen genau. Verallgemeinerungen Heegner-Punkte auf Shimura-Kurven Heegner-Punkte können auch auf Shimura-Kurven definiert werden. Diese Kurven erscheinen, ähnlich wie die Modulkurve , als Quotient der oberen Halbebene mit einer diskret operierenden Gruppe . Im Unterschied zu müssen dem Quotienten nicht noch eine endliche Zahl an Punkten (die sog. Spitzen) hinzugefügt werden, damit die Kurve zu einer kompakten Riemannschen Fläche wird: Es kann gezeigt werden, dass der Quotient für solche Kurven stets kompakt ist. Dies vereinfacht auf der einen Seite die Definition einer Modulform auf bezüglich , da einzig für alle (und natürlich Holomorphie) gefordert werden muss. Auf der anderen Seite steht ohne Spitzen jedoch keine kanonische Fourier-Entwicklung zur Verfügung. Von besonderem Interesse sind hierbei diskrete Gruppen , die mit einer Faktorisierung assoziiert sind, sodass , quadratfrei und aus einer geraden Anzahl von Primzahlen besteht. Die Zuordnung erfolgt über Quaternionen-Algebren und wird von Henri Darmon im Detail beschrieben. Bezüglich der Gruppen werden besonders die Räume studiert, die (wie im klassischen Fall) über das Wedge-Produkt von Differentialformen auf natürlicherweise die Struktur eines Hilbertraums tragen. Auch hier lassen sich Hecke-Operatoren definieren. Da für die kommutieren und selbstadjungiert sind, ist der Raum unter der Wirkung dieser Operatoren diagonalisierbar, d. h., es kann eine orthonormale Basis von simultanen Hecke-Eigenformen gefunden werden. Ist nun eine simultane Eigenform, so kann dieser über die lokalen Euler-Faktoren für Primzahlen, die nicht teilen, eine L-Funktion zugeordnet werden. Auch für solche Modulformen gilt der Modularitätssatz: Für eine elliptische Kurve mit Führer gibt es eine eindeutige Eigenform , sodass für alle . Dies kann aus dem (klassischen) Modularitätssatz selbst und einem Satz von Hervé Jacquet und Robert Langlands gefolgert werden, der besagt, dass für jede Neuform von Gewicht 2 bezüglich mit eine Eigenform gefunden werden kann, sodass (bis auf endlich viele Euler-Faktoren). Auf Basis dessen können weitere Parametrisierungen einer elliptischen Kurve bestimmt werden. Außerdem ist auch hier die Wahl von Heegner-Punkten möglich, obgleich diese wegen der völlig anderen Gruppenform keine Lösungen von quadratischen Gleichungen sind. Mit Hilfe dieser Punkte kann ein Analogon zum Hauptsatz über komplexe Multiplikation für Shimura-Kurven formuliert werden. Höherdimensional Heegner-Punkte lassen eine Reihe höherdimensionaler Analogien zu, wie z. B. die arithmetischen Zyklen bei Shimura-Varietäten „vom orthogonalen Typ“. In einer Arbeit gibt Stephen Kudla einen Überblick über sein weitreichendes Programm, in dem er die Höhen (im Sinne Arakelovs) dieser Zyklen mit den Ableitungen der zugehörigen Eisenstein-Reihen in Beziehung setzt; obwohl in dieser Richtung noch enorm viel Mathematik entwickelt werden muss, sind bereits beträchtliche Fortschritte erzielt worden (zum Beispiel durch Tonghai Yang, durch den einer der einfachsten Fälle von Kudlas Programm ausgearbeitet wurde). Vermuteter Spezialfall des Stark-Heegner-Falls Heegner-Punkte können als Analogon der elliptischen Kurve von speziellen Einheiten wie circular oder elliptic units betrachtet werden, deren Logarithmen auf erste Ableitungen der Artinschen L-Funktion bei zurückgeführt werden, so wie die Höhen der Heegner-Punkte erste Ableitungen der Rankin-L-Reihe über die Formel von Gross und Zagier kodieren. Ein Artikel von Bertolini, Darmon und Green beschreibt mehrere weitgehend auf Vermutungen basierende analytische Konstruktionen von Punkten vom „Heegner-Typ“, die als Analogon der elliptischen Kurve von Stark-Einheiten angesehen werden könnten. Aus diesem Grund wurde der Begriff „Stark-Heegner-Punkte“ geprägt, um sie zu beschreiben. Literatur Jan Hendrik Bruinier, Gerard van der Geer, Günter Harder, Don Zagier: The 1-2-3 of Modular Forms. Lectures at a Summer School in Nordfjordeid, Norway, Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg. Henri Cohen: Number theory. Volume I: Tools and Diophantine Equations. Springer, 2007. Henri Darmon: Rational points on modular elliptic curves. Regional Conference Series in Mathematics, American Mathematical Society, Number 101. Henri Darmon, Shou-Wu Zhang (Hrsg.): Heegner Points and Ranking L-Series. Cambridge University Press, 2004. Kurt Heegner: Diophantische Analysis und Modulfunktionen. Mathematische Zeitschrift 56, 227–253. Einzelnachweise Zahlentheorie Algebraische Geometrie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Trommelwolf
Trommelwolf
Der Trommelwolf (Hygrolycosa rubrofasciata) ist eine Spinne aus der Familie der Wolfspinnen (Lycosidae). Er ist paläarktisch verbreitet und grundsätzlich hygrophil (feuchtigkeitsliebend), bewohnt dabei aber eine Vielzahl geeigneter Habitate (Lebensräume). Der Trommelwolf ist neben der in Griechenland endemischen Art H. strandi einer von zwei in Europa vorkommenden Sumpfwölfen (Hygrolycosa) und außerdem Spinne des Jahres 2022. Bei dem Trommelwolf handelt es sich um eine tagaktive Wolfspinne, die, wie die meisten Arten der Familie, als freilaufender Lauerjäger und demzufolge ohne ein Spinnennetz vorzugsweise verschiedene Insekten erlegt. Die Spinne erhält ihren Trivialnamen durch das markante Balzverhalten des Männchens, bei dem es mit dem Opisthosoma (Hinterleib) auf trockene Blätter trommelt und dabei ein charakteristisches Schnurrgeräusch erzeugt, das auch noch aus einer Entfernung von mehreren Metern für das menschliche Gehör wahrnehmbar ist. Einige Zeit nach der Paarung fertigt das Weibchen einen Eikokon an, den es nach Eigenart der Familien an den Spinnwarzen angeheftet permanent mit sich herumträgt. Die geschlüpften Jungtiere verbleiben anfangs – für Wolfspinnen atypisch – nicht auf dem Opisthosoma des Muttertiers, sondern an den Resten des Kokons, ehe sie sich verselbstständigen und über mehrere Fresshäute (Häutungsstadien) heranwachsen. Die ungewöhnliche Balz sowie der anfängliche Verbleib der Jungtiere waren mitunter Gründe, weshalb der Trommelwolf von der Arachnologischen Gesellschaft (AraGes) zur Spinne des Jahres 2022 gekürt wurde. Ein anderer Grund ist, dass damit auf die von ihm bewohnten und gefährdeten Habitate und insbesondere auf das Austrocknen der Moore aufmerksam gemacht werden soll. Auch soll damit die bisher nicht ganz geklärte Verbreitung der Spinne näher in den Fokus geraten. Merkmale Das Weibchen des Trommelwolfs erreicht nach Sven Almquist (2005) eine Körperlänge von 4,5 bis 6,9 Millimetern, wobei der Durchschnittswert 5,5 ± 0,7 Millimeter ist. Das Männchen kann 4,9 bis 5,6 Millimeter lang werden. Der grundsätzliche Körperbau der Art gleicht dem anderer Sumpfwölfe (Hygrolycosa). Sexualdimorphismus Wie viele andere Spinnen weist auch der Trommelwolf einen ausgeprägten Sexualdimorphismus (Unterschied der Geschlechter) auf. Dieser kann sich mitunter in der Größe der Geschlechter bemerkbar machen, da das Weibchen der Art im Regelfall größer als das Männchen wird. Die optischen Hauptunterschiede beider Geschlechter liegen jedoch in der Farbgebung. Weibchen Der Carapax (Rückenschild des Prosomas bzw. Vorderkörpers) des Weibchens ist nach Almquist 2,44 bis 3,03 Millimeter und durchschnittlich 2,85 ± 3,03 Millimeter lang sowie 1,79 bis 2,13 und durchschnittlich 2,11 ± 0,18 Millimeter breit. Das Verhältnis zwischen Länge und Breite des Carapax beläuft sich laut demselben Autor beim Weibchen auf 1,28 bis 1,43 und dabei durchschnittlich auf 1,35 ± 0,04 Millimeter. Er ist außerdem um 13° geneigt. Beim Weibchen ist der Carapax leicht gelbbraun gefärbt und mit zwei rötlichen ab den posterior (vorgesetzt) lateralen (seitlichen) Augen beginnenden Bändern versehen. An den Flanken befinden sich braune Punkte. Die Färbung der Ränder ist rotbraun. Die Cheliceren (Kieferklauen) des Weibchens sind rotgelb und frontal mit dunkleren Linien versehen. Das Sternum (Brustschild des Prosomas) besitzt eine leicht gelbliche Färbung und an den Flanken dunkelrote Punkte. Die Beine des Weibchens sind gelbbraun gefärbt. Die Femora (Schenkel) und die Patellae (Glieder zwischen den Femora und den Tibien) erscheinen heller und haben braune Punkte. Das Opisthosoma (Hinterleib) des Weibchens hat dorsal (oberhalb) eine blasse rotbräunliche Grundfarbe. Anterior (vorne) befindet sich auf dieser Seite ein ebenfalls blasser Lanzettfleck und posterior (hinten) verläuft dort ein breites median (mittig) angelegtes Band, das braun gefärbt ist und Reihen weißer Punkte enthält. Die Flanken des Opisthosomas sind ebenfalls geblasst und besitzen schwarze Punkte. Ventral (unten) hat es eine gelbweiße Farbgebung. Beim Weibchen befinden sich an diesem Bereich des Opisthosomas anders als bei dem der meisten Wolfspinnen (Lycosidae) keine Setae (chitinisierte Haare) mit apikalen (von der Körpermitte entfernt liegenden) Noppen. Männchen Das Männchen hat nach Almquist 2,33 bis 2,68 Millimeter Körperlänge und ist 1,78 bis 1,95 Millimeter breit. Die Neigung des Carapax beträgt beim Männchen 5°. Der Carapax des Männchens ist ähnlich wie beim Weibchen gelbbraun, aber nicht aufgehellt. Je zwei dunkelbraune breite Bänder verlaufen lateral auf diesem Körperteil. Submarginal (unterrandig) befinden sich auf dem Carapax des Männchens ebenfalls dunkelbraune Punkte. Die gleiche Farbgebung haben die Ränder des Carapax. Die Cheliceren des Männchens sind gelbbraun und tragen frontal dunkelbraune Bänder. Das Sternum ist gelbbraun, an dessen Rand sind große, dunkle und gerundete Punkte. Die Beine sind wie beim Weibchen gelbbraun, die Femora und die Patellae unterscheiden sich beim Männchen lediglich dadurch, dass diese dunkelbraun gefärbt sind. Die Femora der Pedipalpen tragen beim Männchen dunkelbraunen Ringe, während die Patellae und die Tibien (Schienen) eine braune Färbung haben. Stark herausstechende gelbweiße Punkte befinden sich auf der braunen Dorsalseite des Opisthosomas. Der Lanzettfleck ist anders als beim Weibchen gelbbraun gefärbt. Die Seiten des Opisthosomas tragen beim Männchen gelbweiße Streifen. Die Ventralseite des Opisthosomas ist gelbbraun gefärbt mit kleinen dunkelbraunen Punktierungen. Diese Fläche ist verdickt und hat mehrere spezialisierte Setae. Beide Eigenschaften dienen dem Revierkampf. Genitalmorphologische Merkmale Ein einzelner Bulbus (männliches Geschlechtsorgan) des Trommelwolfs wird unter anderem durch sein Cymbium (erstes und vorderstes Sklerit bzw. Hartteil des Bulbus) charakterisiert, dessen Spitze mit mehreren Makrosetae (längeren Setae) bedeckt ist. Das Tegulum (zweites und mittleres Sklerit) hat eine spitz zulaufende Apophyse (chitinisierter Fortsatz) und der gekurvte Embolus (drittes und letztes Sklerit) besitzt eine teilweise transparente Lamina (Gewebeschicht) auf seiner konkaven Fläche. Die Platte der Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) ist beim Trommelwolf länger als breit. Teile des weiblichen Geschlechtsapparats der Art sind durch das Integument (äußere Körperhülle) bereits von außen erkennbar. Die Kopulationsöffnungen der Epigyne befinden sich posterior an zwei medianen Rissen. Die Kopulationskanäle sind vergleichsweise kurz. Die Spermatheken (Samentaschen) zeichnen sich mitunter durch ihre lange und teilweise kurvige Gestalt aus. Der breitere Teil der Samentaschen ist zwiebelförmig und mit Knoten ausgestattet. Verwechslung mit dem Gewöhnlichen Stachelbein Der Trommelwolf ähnelt dem Gewöhnlichen Stachelbein (Zora spinimana) aus der Familie der Wanderspinnen (Miturgidae), das eine ähnliche Färbung wie der Trommelwolf hat und ähnliche Habitate bewohnt. Sonst gibt es in Mitteleuropa keine weitere Spinnenart, die dem Trommelwolf ähnelt. Vorkommen Das Verbreitungsgebiet des Trommelwolfs erstreckt sich von Europa über Russland bis nach Südsibirien. In Europa ist die Art flächendeckend verbreitet und wurde bislang in Kontinentaleuropa lediglich in Portugal, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, dem Kosovo, Nordmazedonien, Griechenland, Moldau und dem europäischen Teil der Türkei sowie auf den Inselgruppen Franz-Josef-Land und Spitzbergen, der russischen Doppelinsel Nowaja Semlja, Island, der Insel Irland und den Mittelmeerinseln nicht nachgewiesen. In Österreich ist der Trommelwolf in Höhen von bis zu 800 Metern über dem Meeresspiegel anzutreffen. Auf Großbritannien ist die Art überwiegend in den Distrikten West Suffolk, King’s Lynn and West Norfolk, der Grafschaft Suffolk sowie in der Grafschaft Cambridgeshire in England nachgewiesen. Weitere Funde des Trommelwolfs auf der Insel gab es vereinzelt im ebenfalls zu Suffolk zählenden Distrikt East Suffolk, in der Landschaft New Forest und der Grafschaft Hampshire sowie früher im Landschaftspark Sherwood Forest und in den Grafschaften Nottinghamshire und Lincolnshire. Lebensräume Der Trommelwolf ist eine hygrophile (feuchtigkeitsliebende) Art und bewohnt unter anderem Moore, Sümpfe, Feuchtwiesen oder feuchte Wälder. Außerdem bewohnt er Niedermoore mit Buschwerk. In Großbritannien wurde die Art auch in Bruchwäldern in der Nähe von Fahrwegen nachgewiesen. Häufigkeit und Gefährdung Die Häufigkeit des Trommelwolfs variiert je nach geographischer Lage. In Mitteleuropa ist die Art weitverbreitet, im Norden deutlich häufiger als im Süden. Die Populationsdichte kann mitunter hoch sein, sodass auf einem Quadratmeter eine zweistellige Individuendichte vorkommen kann. Die Exemplare werden aufgrund der versteckten Lebensweise oftmals übersehen. Die Populationsgefährdung der Spinne wird je nach Land und Region unterschiedlich aufgefasst. In der Roten Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands bzw. der Roten Liste und Gesamtartenliste der Spinnen Deutschlands (2016) wird der Trommelwolf in der Kategorie 3 (gefährdet) gelistet, da die Art dort als selten gilt. Langfristig sind die Bestände der Art in Deutschland als mäßig zurückgehend zu werten. Für kurzfristige Analysen sind keine ausreichenden Daten vorhanden. Eine Änderung der Bestandswertigkeit der vorherigen Roten Liste (1996), in der der Trommelwolf in gleicher Kategorie gelistet wurde, erfolgte demzufolge nicht. In Österreich gilt die Art als vom Aussterben bedroht. In der Roten Liste Großbritanniens (2017) wird der Trommelwolf ähnlich wie in Deutschland nach IUCN-Maßstab in der Kategorie EN (Endangered bzw. gefährdet) aufgeführt. In der Roten Liste der Spinnentiere (Arachnida) Norwegens (2015) sind die Bestände der Art in der Kategorie NT (Near Threatened bzw. potenziell gefährdet) und in der Roten Liste der Spinnen Tschechiens (2015) in der Kategorie VU (Vulnerable bzw. verletzlich) erfasst. Lebensweise Der Trommelwolf zählt zu den tagaktiven Vertretern der Wolfspinnen (Lycosidae). Die terrestrische (bodenbewohnende) Art hat eine recht versteckte Lebensweise und hält sich beispielsweise in Moospolstern oder in Streuschichten auf, während sie sich im Winter gelegentlich unter am Boden liegenden Holzstücken aufhält. Jagdverhalten und Beutespektrum Der Trommelwolf legt wie die meisten Wolfspinnen kein Spinnennetz an, sondern erlegt Beutetiere freilaufend als Lauerjäger. Diese werden dann mit den gut entwickelten Augen wahrgenommen und direkt angesprungen. Ein mittels der Cheliceren verabreichter Giftbiss setzt das Beuteobjekt außer Gefecht. Die Hauptbeute stellen Insekten dar. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus des Trommelwolfs entspricht grundsätzlich dem anderer Wolfspinnen (Lycosidae). Die Phänologie (Aktivitätszeit) ausgewachsener Individuen liegt bei beiden Geschlechtern im Zeitraum zwischen März und November. Fortpflanzung Die Fortpflanzungszeit des Trommelwolfs beginnt zumindest im Süden Finnlands während der Schneeschmelze Ende April oder Anfang Mai und dauert mehrere Wochen. Paarungen finden dort an sonnigen Tagen statt. Ein geschlechtsreifes Weibchen verlegt anscheinend Wegfäden, die mit arteigenen Pheromonen (Botenstoffen) versehen werden, mit denen wohl das Männchen zu einem Weibchen gelockt wird. Der Begattung geht ein charakteristisches Balzverhalten voraus. Bei der Balz trommelt das Männchen mit seinem Opisthosoma auf trockene Blätter und erzeugt dabei ein charakteristisches Schnurrgeräusch, das bereits ausgeführt wird, wenn es versteckte und noch nicht wahrgenommene Weibchen aufsucht. Das dabei entstehende Geräusch ist für menschliche Ohren bis zu einer Entfernung von mehr als fünf Metern hörbar. Unklar ist, ob die Kommunikation zwischen den Geschlechtspartnern von der Luft oder vom Substrat ausgehenden Schwingungen geschieht. Ein paarungswilliges Weibchen wird durch die Kommunikation des Männchens stimuliert und signalisiert seine Bereitschaft zur Paarung, indem es mit seinem Körper vibriert, diese Vibrationen werden auf den Bodengrund übertragen. Bis zur eigentlichen Begattung setzen Männchen und Weibchen diese Kommunikation jeweils abwechselnd fort. Das Paarungsverhalten des Trommelwolfs ist bislang nicht dokumentiert. Revierkämpfe zwischen Männchen und intrasexuelle Selektion Begegnen sich zwei Männchen, führen diese einen Revierkampf durch, bei denen die Rivalen andersartige Trommelgeräusche als bei der Balz erzeugen. Dabei kommt die Verdickung der Ventralseite des Männchens mitsamt der dort befindlichen Setae zur Erzeugung dieser Geräusche zum Einsatz. Die von diesen Revierkämpfen ausgehende intrasexuelle Selektion wird maßgeblich von dem jeweiligen Körpergewicht der Männchen und der Intensität der von ihnen ausgehenden Trommelbewegungen beeinflusst, wobei zumeist das größere und aktivere Männchen den Konflikt als Gewinner verlässt, da dieses auch die höhere Rate an Trommelbewegungen ausführen kann. Diese Form des agonistischen Verhaltens zeigt die Fähigkeit des Revierkampfes bei den Männchen des Trommelwolfs und das neben der jeweiligen Körpergröße auch die Bereitschaft zum Revierkampf diese Fähigkeit beeinflusst. Außerdem verringern weniger dominante Männchen ihre Intensität der Balz, was darauf hindeutet, dass Revierkämpfe die Selektion von Weibchen verringern können. Die Effektivität dieser Interaktionen auf die sexuelle Selektion ist jedoch nicht genau bekannt und kann auch von geringem Umfang sein. Intersexuelle Selektion Die Intersexuelle Selektion (Partnerwahl durch Angehörige des anderen Geschlechts) wird beim Trommelwolf auch durch die Intensität der Trommelbewegung beeinflusst und ein Weibchen bevorzugt Männchen mit erhöhter Intensität und auch Lautstärke der Trommelbewegungen. Da das Weibchen außerdem schneller auf ein balzendes Männchen mit höherer Trommelrate reagiert, wird vermutet, dass dieses einen Mindestwert an der Intensität aufweist und auch aktiv zwischen balzenden Männchen wählt und die Wahl eines passenden Geschlechtspartners verlängern kann, unabhängig davon, ob bereits paarungswillige Männchen verfügbar sind oder nicht. Neben der Trommelfrequenz ist auch die Länge der Balz beim Männchen wiederholbar und weist eine hohe Variabilität auf. Ebenso ist dessen Lautstärke einigermaßen konstant, wobei die tatsächliche Wahrnehmung der Lautstärke durch das Weibchen von den Unterschieden der Entfernung und des Substrats beeinflusst wird. Sowohl die Länge der eigentlichen Balz als auch die Lautstärke korrelieren mit der Rate, mit der das Männchen die Balz ausführt. Die Frequenz und die Länge der Trommelbewegungen dienen als dynamische Eigenschaften deshalb höchstwahrscheinlich als Indikatoren, die das Weibchen über die Eignung des Männchens als Geschlechtspartner aufklären. Im Gegensatz dazu sind die Intensität, die Symmetrie oder die Höchstlautstärke der Balz des Männchens keine Faktoren, die Einfluss auf die Wahl der Weibchen haben, da all diese Faktoren eine geringe Wiederholbarkeit und/oder geringe Variabilität haben. Außerdem stehen sie in keinem Zusammenhang mit anderen Merkmalen des Männchens wie dem Körpergewicht, der Frequenz der Balz oder der Mobilität. Die Intensität der Vibrationen könnte allerdings als statisches Merkmal in Bezug auf die Artenerkennung wirken. Beim Trommelwolf gibt es keine Korrelation zwischen der Vibrationsfrequenz und der Körpermasse, und die Körpergröße von Männchen scheint kein intersexueller Beeinflussungsfaktor zu sein. Damit bildet die Art im Tierreich eine Ausnahme. Größere Männchen haben einen kleinen, aber signifikanten Überlebensvorteil gegenüber kleineren. Die Überwinterung wird beim Männchen des Trommelwolfs vermutlich nicht durch sein Gewicht beeinflusst. Allerdings verlieren größere Männchen während des Überwinterns proportional mehr Gewicht als kleinere Männchen. Dies deutet darauf hin, dass größere Männchen aufgrund ihres entsprechend höheren Körpergewichts während der Überwinterung möglicherweise einen zusätzlichen Energieverbrauch haben. Dies bedeutet aber auch, dass größere Männchen die Kapazität haben, mehr Energie als kleinere zu verbrauchen. Voraussetzungen für die Balz Das Balzverhalten des Trommelwolfs ist gut erforscht und außerdem erwies sich die Intensität des Trommelns des Männchens als Indikator für dessen Lebensfähigkeit. Mehrere Voraussetzungen sind für die Funktionalität der Balz jedoch Voraussetzung, darunter deren Variation und Wiederholbarkeit. So gibt es bei der Art eine beträchtliche individuelle Wiederholbarkeit und Variabilität bezüglich der Trommelgeschwindigkeit, die sich auf die Partnerwahl auswirken. Wäre eine derartige phänotypische Variation (physiologische Eigenschaften und ggfs. Verhaltensmerkmale betreffende Eigenschaften) in der sexuellen Signalisierung nicht gegeben, dann träfe Gleiches auch für die Selektionsfähigkeit zu. Auch die intraindividuelle Wiederholbarkeit ist relevant, da die Balz sonst kein Indikator für den Zustand des Männchens wäre. Ein weiterer Faktor ist der Aufwand bei der Balz. Dieser kann etwa physiologischer Natur sein, wie etwa ein erhöhter Energieverbrauch während der Balz, da die Trommelbewegungen beim Männchen mit einem höheren Energieaufwand einhergehen können. Beim Trommeln ist die Stoffwechselrate 22-mal höher als in Ruhe und viermal höher als bei normaler Bewegung. Während des Trommelns wird der Stoffwechsel beim Männchen um das Zweiungzwanzigfache wie bei Inaktivität und um das Vierfache während einer Fortbewegung erhöht. Die Rate des Stoffwechsels je Gewichtseinheit steht während der Balz in Korrelation zur absoluten Körpermasse, nicht jedoch während anderer Aktivitäten. Größere Männchen können scheinbar maximal 12-mal innerhalb einer Minute Trommelbewegungen ausführen, ehe sie die maximale Stoffwechselrate erreichen. Kleinere Männchen können im Gegensatz dazu maximal 39-mal in einer Minute trommeln. Dennoch ist kein Zusammenhang zwischen dem Körpergewicht und der Trommelfrequenz nachweisbar, sodass größere Männchen imstande sind, den höheren, durch das Trommeln entstandenen, Aufwand auszugleichen. Durch die Balz, die auch als physiologische Tätigkeit gewertet wird, kann auch die Wahrscheinlichkeit der Sterblichkeit erhöht werden, da das Erhöhen der Trommelfrequenz mitunter mit einem Gewichtsverlust einhergehen kann. Nach bisherigen Kenntnissen weisen aktiver trommelnde Männchen höhere Überlebenschancen auf. Zusätzlich kann ein Risiko in Form eines Aufwands in Form von Prädation (Erbeuten) des Männchens auftreten. Dies rührt daher, dass sich durch die Suche nach einem Geschlechtspartner seitens des Männchens auch die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens mit Prädatoren (Fressfeinden) erhöht. Ferner sind vor allem aktiver trommelnde Männchen verschiedenen Antagonisten ausgesetzt. Ein Männchen kann diesen Nachteil ausgleichen, indem es bei der Präsenz von Fressfeinden seine Balzaktivität reduziert. Weitere Voraussetzungsfaktoren der Balz sind die Abhängigkeit vom körperlichen Zustand und von differenziellen Aufwänden, etwa dem Nahrungsbedarf. Ein Männchen hält seine Trommelfrequenz höher, wenn das Nahrungsangebot höher ist und umgekehrt, sodass Männchen auf verschiedene Art und Weise dazu in der Lage sind, den für die Balz notwendigen Aufwand zu erbringen. Insgesamt ist das Überleben von balzenden Männchen konditionsabhängig und äußert sich in einer verminderten Lebensfähigkeit, sofern es sich in einem gesundheitlich schlechteren Zustand befindet. Indirekter genetischer Nutzen für die Nachkommen Der Fakt, dass das Weibchen des Trommelwolfs ein Männchen mit höherer Trommelfrequenz als Geschlechtspartner bevorzugt, rührt mitunter daher, dass sich diese Präferenz indirekt als genetischer Vorteil für die Nachkommen auswirken kann, obgleich die Balz des Männchens keine direkten Vorteile bezüglich der Fruchtbarkeit oder der Überlebenschancen des Weibchens hat. Tatsächlich haben die Nachkommen eines Weibchens höhere Überlebenschancen, sollte die Wahl auf ein Männchen mit höherer Trommelrate fallen und die ohnehin eher geringe Überlebenswahrscheinlichkeit kann erhöht werden, wenn der Aufwand bei der Partnerwahl des Männchens gering ausfällt. Das Weibchen kann sich einfacher mit einem Männchen mit einer überdurchschnittlichen körperlichen Gesundheit paaren, indem es eher passiv auf ein zufälliges Trommelsignal reagiert, das mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von einem Männchen in besserem Zustand ausgehen kann. Dennoch scheint diese aktive Selektion des Weibchens diesen Vorteil nur geringfügig zu erhöhen. Die Paarung mit Männchen in besserem Zustand rührt auch von den vielen Revierkämpfen oder der hohen Varianz der Balz her. Der für das Weibchen notwendige Aufwand der Partnerwahl kann derart gering sein, dass sich seine Wahl auf effektiver balzende Männchen selbst mit kleiner ausfallenden Vorteilen im Bezug auf die Lebensfähigkeit der Nachkommen evolutionär entwickeln könnte. Eiablage und Schlupf sowie anfänglicher Verbleib der Jungtiere Der einige Zeit nach der Paarung vom Weibchen angefertigte Eikokon enthält etwa 60 Eier und wird, wie bei Wolfspinnen üblich, an den Spinnwarzen angeheftet ununterbrochen mit sich geführt. Nach etwa drei bis vier weiteren Wochen schlüpfen die Nachkommen aus dem Kokon. Anders als bei anderen Vertretern dieser Familie halten sich die geschlüpften Jungtiere meistens nicht auf dem Opisthosoma ihrer Mutter, sondern an den Resten des Kokons auf. Neben den Arten A. ebicha und A. fujiii aus der Gattung der Wühlwölfe (Arctosa) und der ebenfalls zu den Sumpfwölfen (Hygrolycosa) zählenden Art H. umidicola ist der Trommelwolf einer von vier Wolfspinnen (Lycosa) mit dieser Eigenschaft. Bei dem Verhalten handelt es sich vermutlich um eine Anpassung an die vom Trommelwolf bewohnten Feuchtbiotope. Durch kleinere Wassertropfen, die auf der Fläche des Opisthosomas und den Setae zurückbleiben, kommt es wahrscheinlich zu erschwerenden Bedingungen für die Ansammlung der Jungtiere. Die vom Muttertier gespannten Fäden, die eine Schicht über der Oberfläche bilden und den Jungtieren eine gute Möglichkeit zum Halt bieten, können wahrscheinlich nicht an der feuchten Fläche des Opisthosomas oder den Setae anhaften. Durch Feuchtigkeit können die Setae zusammenkleben und die Fähigkeit, sich an das Opisthosoma des Muttertiers zu haften, beeinträchtigen. Alternativ können sich die Jungtiere auch direkt auf dem Opisthosoma des Muttertiers aufhalten. Dauer des Heranwachsens Die Jungtiere verbleiben normalerweise einen Tag beim Muttertier und häuten sich dabei. Sie erlangen das Adultstadium im Herbst und überwintern mindestens einmal. Im Süden Finnlands beispielsweise benötigen die Jungtiere je nach Umweltbedingungen für gewöhnlich zwei bis drei Jahre für das Heranreifen. Die letzte Häutung der heranwachsenden Individuen findet im Herbst vor der Paarungszeit des folgenden Frühjahrs statt. Männliche Jungtiere ähneln den kryptisch bräunlich weiblichen. Erst mit dem Wuchs der letzten Fresshaut (Häutungsstadium) haben sie das für ausgewachsene Spinnen typische Erscheinungsbild. Ausgewachsene Männchen sterben während der Paarungszeit oder unmittelbar danach. Weibchen überleben vereinzelt bis in die nächste Paarungszeit. Systematik Die Systematik des Trommelwolfs wurde mehrmals geändert. Der Artname ist eine abgeänderte Zusammensetzung aus den lateinischen Wörtern rubro für rot und fascia für Binde und deutet auf die teilweise rötlichen Bänderungen der Art hin. Der Trommelwolf ist außerdem die Typusart der Sumpfwölfe (Hygrolycosa). Die Art wurde bei ihrer 1865 von Gustav Heinrich Emil Ohlert durchgeführten Erstbeschreibung eines Weibchens in die Gattung der Erdwölfe (Trochosa) untergegliedert und erhielt die Bezeichnung T. rubrofasciata. Von verschiedenen Autoren erhielt die Spinne unterschiedliche Bezeichnungen sowie deren Umstellungen. Die heute gängige Bezeichnung H. fasciata wurde zuerst 1908 von Friedrich Dahl verwendet und ist seit einer weiteren Anwendung 1959 durch Jacobus Theodorus Wiebes die heutige Bezeichnung des Trommelwolfs. Auszeichnung zur Spinne des Jahres 2022 Der Trommelwolf wurde von der Arachnologischen Gesellschaft (AraGes) zur Spinne des Jahres 2022 gewählt, um sowohl auf sein markantes Balzverhalten und die unübliche Art der Jungtiere, sich anfangs auf dem Opisthosoma ihres Muttertieres aufzuhalten, als auch auf den Rückgang seiner bevorzugten Habitate aufmerksam zu machen. Insbesondere soll dabei auf das Austrocknen der Moore hingewiesen werden, die als Speicher von Kohlenstoff in Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels eine immer wichtigere Rolle einnehmen. Ein weiteres Ziel für die Wahl des Trommelwolfs als Spinne des Jahres ist außerdem das Erlangen von Daten über die Verbreitung der Spinne. Die Koordination der Wahl lag beim Naturhistorischen Museum Wien in Zusammenarbeit mit der Arachnologischen Gesellschaft und der European Society of Arachnology (ESA). An der Wahl waren 84 Arachnologen aus 27 europäischen Ländern beteiligt. Einzelnachweise Literatur Weblinks Hygrolycosa rubrofasciata bei Global Biodiversity Information Facility Hygrolycosa rubrofasciata beim Rote-Liste-Zentrum Hygrolycosa rubrofasciata bei der British Arachnological Society Hygrolycosa rubrofasciata bei araneae - Spiders of Europe SPINNE DES JAHRES 2022 von Christoph Hörweg Hygrolycosa rubrofasciata beim Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V. Wolfspinnen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Chester-Beatty%20Akbar-n%C4%81ma
Chester-Beatty Akbar-nāma
Das Chester-Beatty Akbar-nāma oder Zweite Akbar-nāma ist eine illustrierte Handschrift des Akbar-nāma, also der von Abu 'l-Fazl verfassten Dynastie- und Regierungsgeschichte des Mogulherrschers Akbar. Das Manuskript wurde um 1600 am Mogulhof in Agra angefertigt. Der größere Teil der Handschrift, nämlich der zweite Band und ein Teil des dritten Bandes mit insgesamt 61 Miniaturen, werden in der Chester Beatty Library in Dublin unter der Signatur Ms In 0.3 verwahrt. Daher rührt der Name Chester-Beatty Akbar-nāma. Der erste Band des Manuskriptes befindet sich in der British Library unter der Signatur Ms. Or. 12988 und enthält 39 Illustrationen. Die Handschrift ist unvollendet und reicht nur bis zum Jahre 1579. Es ist nicht bekannt, ob der Rest des Buches verlorengegangen ist oder ob es überhaupt jemals fertiggestellt wurde. Das Chester-Beatty Akbar-nāma wird auch als Zweites Akbar-nāma bezeichnet, weil es später entstanden ist als das Erste oder Victoria-and-Albert-Akbar-nāma. Der am Mogulhof hoch geschätzte Kalligraph Muhammad Husain Kaschmīrī, der von Akbar mit dem Titel Zarrīn Qalam (persisch für „Goldener Stift“) ausgezeichnet worden war, hat das Werk kopiert. Das verzierte Kopfstück auf Folio 1v und die Illuminationen auf dem Rand derselben Seite stammen von Ustad Mansur. Etwa 25 Maler waren an der Illustration beteiligt, von denen neben Mansur auch Laʿl, Sur Das und Dharm Das bereits aus früheren Handschriften bekannt sind. Eine neue Generation von Künstlern, zu denen Manohar, Govardhan und Daulat gehören, sie alle Söhne von Malern des Mogulateliers, treten in dieser Handschrift sehr deutlich neben die alten Meister. Das Chester-Beatty Akbar-nāma ist die letzte historische Handschrift aus Akbars Regierungszeit. Es vereinigt in sich verschiedene Malstile, die einerseits aus den exquisiten Manuskripten der späten 1590er Jahre bekannt sind, andererseits aber schon Merkmale der frühen Jahangir-Zeit tragen. Das Zweite Akbar-nāma steht also gleichsam auf der Schwelle zu einer neuen Ästhetik in der Mogulmalerei. Es bildet überdies einen Kulminationspunkt in dem langjährigen Bestreben der Künstler, die dargestellten Personen zu porträtieren und dadurch zugleich stärker zu individualisieren. In den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts sind die beiden Bände des Zweiten Akbar-nāma nach Europa gelangt. In Paris hat der berüchtigte Kunsthändler George Demotte mit dem Ziel der Gewinnmaximierung zahlreiche Bilder aus den Bänden herausgelöst und einzeln verkauft. Einige davon hat er außerdem aus ihren Folios herausgeschnitten und auf Dekorrahmen aus dem Farhang-i Jahāngīrī, einem Mogul-Lexikon von 1608, geklebt, um damit die Attraktivität der Bilder zu steigern. Diese Seiten finden sich heute in Sammlungen auf der ganzen Welt. Äußere Gestalt Die Anordnung des Textes entspricht, anders als beim Victoria-and-Albert-Akbar-nāma, der endgültigen Unterteilung des Akbar-nāma in drei Bände. Eine Nummerierung in Rot innerhalb der Textfelder reicht bis 511. Der Teilband in der British Library besitzt noch 163, der in der Chester Beatty 271 Blätter. Es wurde also ein beträchtlicher Teil der Folios entnommen. Beiden Teilbänden gemeinsam ist die Größe des Schriftfeldes mit etwa 24 × 12,5 cm. Es umfasst 22 Zeilen und wird von roten, grünen, blauen und goldenen Linien umrahmt. Der Text ist im Duktus des Nastaʿlīq geschrieben. Die Größe der Illustrationen entspricht in etwa der des Schriftfeldes. Sofern die Bilder von Textzeilen begleitet werden, sind sie entsprechend kleiner. Ihr Format unterscheidet sich also von dem des deutlich größeren Victoria-and-Albert-Akbar-nāma, das ein durchschnittliches Bildmaß von 32,5 × 19,5 cm aufweist. Anders als in der früheren Handschrift werden keine Textblöcke in die Miniaturen eingeschoben. Wenn sich die Illustrationen den Raum mit Textzeilen teilen müssen, stehen diese ober- und/oder unterhalb des Bildes. Der Band in der British Library Im ersten Teil behandelt der Autor Abu 'l-Fazl Akbars Vorfahren von Adam bis Humayun. Dieser Band ist im Besitz der British Library. Er umfasst 163 von ehemals 176 Folios, in denen noch 39 von ehemals 52 Illustrationen und zwei dekorative Eröffnungsseiten enthalten sind. Die Folios haben eine durchschnittliche Größe von 40,5 × 27,5 cm. Der bemalte Lackeinband ist im Qadscharenreich entstanden und trägt die Jahreszahl 1249 (1833/4). Es war wahrscheinlich bei dieser Neubindung im 19. Jahrhundert, dass insgesamt sieben Folios vertauscht worden sind. Der Band in der Chester Beatty Library Das zweite Buch dieses Akbar-nāma, das mit der Thronbesteigung Akbars 1556 beginnt und mit dem Jahr 1572 endet, sowie ein kleiner Teil des dritten Buches bis zum Jahre 1579 werden in der Chester Beatty Library in Dublin aufbewahrt. Die 271 Folios, alle in einem Band zusammengebunden, enthielten beim Kauf von Sir Alfred Chester Beatty nur noch 61 Miniaturen. Insgesamt 59 Bilder waren zuvor aus der Handschrift herausgelöst und einzeln verkauft worden. Der Beginn von Band 2 (Fol. 1v) und der von Band 3 (Fol. 177v) ist durch je eine Schmuckseite gekennzeichnet. In der Chester Beatty Library hat man von den 61 Illustrationen 58 aus der Handschrift entfernt; sie werden einzeln ausgestellt. Nur drei Bilder (Fol. 177r, 212r und 212v) sind im Manuskript verblieben. Der Chester-Beatty-Teil des 2. Akbar-nāma ist nach Einschätzung von Linda Leach im 18. Jahrhundert von Muhammad Zamān ʿAbbāsī, der im Inneren des Vorderdeckels signiert, neu eingebunden worden. Bei dieser Gelegenheit habe man auch die Folios neu eingerahmt. Sie weisen nun eine Größe von 43 × 26 cm auf. Der Ledereinband zeigt Szenen mit Rehen, Löwen, Kranichen und anderen Tieren in einer Landschaft. Sieben einzelne Miniaturen des Zweiten Akbar-nāma erstand Chester Beatty bei späteren Gelegenheiten. Sie alle wurden von dem Kunsthändler George Joseph Demotte (1877–1923) mit Rahmen aus dem mogulzeitlichen Lexikon Farhang-i Jahāngīrī versehen und haben einschließlich Umrandung eine Größe von durchschnittlich 34,2 × 22,4 cm. Zahlreiche Museen und private Sammler besitzen weitere Bilder des 2. Akbar-nāma. Die Datierung des Manuskripts und andere Jahresangaben Über die Frage der Datierung gehen die Meinungen der Fachleute auseinander. Die Handschrift besitzt kein Kolophon, das eindeutig über die Entstehungszeit Auskunft geben könnte. Auf Folio 134v im Band der British Library befindet sich jedoch eine Inschrift, aus der G. M. Meredith-Owens erstmals das Ilāhī-Jahr 47 gelesen hat, also das 47. Regierungsjahr Akbars (1602-03). Man hat deshalb lange Zeit allgemein angenommen, dass das Zweite Akbar-nāma um 1602–1603 entstanden ist. Im Jahre 1987 hat John Seyller jedoch eine weitere Datumsangabe in der Chester Beatty-Handschrift entdeckt und die bereits bekannte im Band der British Library neu übersetzt. Die undeutlich geschriebene Jahreszahl auf Fol. 134v hat er als 40 oder 42 interpretiert und die in der Chester Beatty Library auf Fol. 27v (Ms In 03.27) als Ilāhī-Jahr 42. Daraus ergab sich eine frühere Datierung in die Zeit von 1596 bis 1598. Ein Teil der Fachwelt folgt Seyllers Datierung, ein anderer verortet die Handschrift weiterhin in das Jahr 1602–1603. Jahresangaben aus späterer Zeit zusammen mit einem Hinweis auf den Schreiber befinden sich auf Fol. 1r des ersten Bandes. Dort konstatiert ein Autograph von Jahangir, dass das Buch am 3. Februar 1619 (17. Safar 1028) vollendet wurde. Auf demselben Blatt teilt eine Notiz von Shah Jahan mit, dass das Buch am Tag seiner Thronbesteigung im Jahre 1037/1628 in die kaiserliche Bibliothek übernommen wurde. Beide Inschriften sind aufgrund von Reparaturen heute überklebt und lassen sich nur unter Infrarotlicht lesen. Der Weg über Persien nach Europa Das Zweite Akbar-nāma gelangte, vermutlich nach der Plünderung Delhis 1739 durch Nader Shah, nach Persien. Dort wurden Schäden an der Handschrift ausgebessert und die beiden Teile des Manuskriptes danach mit neuen Einbänden versehen. Wie genau die Bände schließlich nach Europa und in die Hände des zwielichtigen Kunsthändlers George J. Demotte gekommen sind, lässt sich nicht sicher bestimmen. Ihr Weg war wahrscheinlich ähnlich wie der des berühmten Großen Ilkhanidischen Shāhnāma von ca. 1330, das ebenfalls durch die Hände von Demotte gegangen ist und dadurch schwersten Schaden genommen hat. Dieses Shāhnāma hatte sich ehemals im Besitz der königlich-kadscharischen Bibliothek befunden, war aber, wie auch mehrere andere Handschriften, von Mitgliedern des königlichen Haushaltes verkauft worden, die damit ihr Budget aufgebessert haben. Seit 1908 sind zumindest einige dieser Handschriften von Shemavan Malayan, einem Schwager von Hagop Kevorkian, in Teheran angekauft und dann vor allem über Demotte in den westlichen Kunsthandel gebracht worden. Auch das Zweite Akbar-nāma war zunächst im Besitz von Georges Demotte und gehörte spätestens seit 1912 dem Londoner Buchhändler Bernard Alfred Quaritch, der das Geschäft seines Vaters Bernard Quaritch weiterführte. Nach einer Ausstellung durch den Buchhändler im Jahre 1912 war Band 1 erst 1966, nach dem Ankauf des Werkes durch die British Library, wieder öffentlich zu sehen. Band 2 und den kleinen Teil von Band 3 hatte Chester Beatty bereits 1923 von Quaritch erworben. Der Kalligraph Aus Jahangirs Notiz auf Folio 1r des ersten Bandes geht hervor, dass der Kalligraph Muhammad Husain al-Kashmīrī mit der Niederschrift des Zweiten Akbar-nāma betraut war. Muhammad Husain gehörte zu den am meisten geschätzten Kalligraphen am Mogulhof. Seinen Ehrentitel Zarrīn Qalam (Goldstift) hatte Akbar ihm verliehen. Abu 'l-Fazl erwähnt ihn im Āʾīn-i Akbarī. Zu den von Muhammad Husain kopierten Werken, die alle im Duktus des Nastaʿlīq geschrieben sind, gehört neben anderen das Gulistān von Saʿdī (RAS Persian 258). Die Randgestaltung der Eröffnungsseiten Alle Folios der Handschrift sind sichtbar nachträglich mit neuen, besonders breiten Rändern versehen worden. Zumindest für den Band in der British Library muss das auf jeden Fall vor 1619 geschehen sein, denn die erwähnte Notiz Jahangirs auf Fol. 1r erstreckt sich bis über den Rand und datiert vom 3. Februar 1619 (17. Safar 1028). Ein Manuskript so bald nach seiner Fertigstellung neu zu rahmen ist eher ungewöhnlich. Jeremiah Losty (1945–2021) ging davon aus, dass es umfangreiche Pläne für eine neue Randgestaltung gab, nachdem bereits ein großer Teil der Handschrift fertig war. Das Projekt kam aber, wahrscheinlich durch den Tod Akbars, unerwartet früh zum Erliegen, so dass nicht mehr als die erste Doppelseite, Fol. 1v–2r mit Randillustrationen verziert werden konnte. Diese wird auf etwa 1605 datiert. Losty hält eine Entstehung unter Jahangir für unwahrscheinlich. Dieser hatte Abu 'l-Fazl 1602 ermorden lassen und vermutlich kein Interesse, das Werk seines Erzfeindes durch aufwendige Illustrationen aufzuwerten. Die Datierung auf 1605 ist aber letztlich nur eine Vermutung. Eine spätere Entstehung in den ersten Jahren nach dem Thronwechsel kann nicht ausgeschlossen werden. Folio 1v von Mansur Folio 1v zeigt ein kunstvolles Kopfstück über dem Textfeld. Am Farbton des Papiers ist erkennbar, dass diese Illumination bereits vor der Neuumrandung entstanden ist. Auf der Umrahmung sind Landschaftselemente mit Pflanzen, Tieren und Menschen in Gold zu sehen. Ganz oben sitzt ein Betender auf einer Bodenerhebung unter einem kleinen Baum. Er hält eine Gebetskette und ist in Andacht versunken. Ihm zugewandt steht weiter unten ein Mann mit einem Buch in der Hand. Drei weitere Männer haben sich in der Landschaft niedergelassen, die sich über den rechten Rand in Höhe des Textfeldes erstreckt. Ihre Kleidung und zum Teil auch ihre Gesichter sind mit blassen Farbtönen versehen. Eine winzige Signatur auf der rechten Interkolumnie identifiziert die Seite als „Werk von Mansur“ (ʿamal-i Mansūr). Dieser Maler ist nach neueren Erkenntnissen nicht nur, wie man früher dachte, für das illuminierte Kopfstück verantwortlich, sondern auch für die Illustration im Rahmenbereich. Er setzt hier die Art der Randgestaltung fort, die im größeren Umfang erstmals in den poetischen Handschriften aus der Zeit von 1595 bis 1598, zum Beispiel einer Khamsa von Nizami, bekannt ist. Von Mansur stammt auch die Eröffnungsseite im Ersten Akbar-nāma. Folio 2r von Daulat Auf der linken Eröffnungsseite, Folio 2r, finden sich ebenfalls Landschaftsdarstellungen in Gold, die von Menschen und Engeln belebt sind. Ganz oben schweben zwei Engel, von denen einer die timuridische Krone herabbringt, der andere eine Schale, deren Inhalt als Flammen des göttlichen Lichtes gedeutet werden. Ein Betender, der am linken Rand kniet, blickt zu den Engeln hinauf. Ein geöffnetes Buch liegt vor ihm. Am unteren Rand hockt rechts ein Derwisch, ebenfalls mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich, während links ein junger Mann eine Wasserflasche herbeibringt. Die Randgestaltung ist gewiss mit Bezug zum begleitenden Text gewählt worden. Dieser ist schwer zu illustrieren, denn darin geht es um die Bedeutung der Sprache und die Unmöglichkeit, die Erhabenheit Gottes auch nur zu erfassen, geschweige denn, dafür passende Worte zu finden. Der wahrhaft Weise, der im Herzen das unbegreifliche Wesen Gottes ahnt, ziehe es vor, zu schweigen. Im weiteren Verlauf des Textes wird Akbar schließlich selbst als gottgleiches Wesen geschildert. Die Figuren auf diesem Blatt sind, anders als auf der gegenüberliegenden Seite, mit kräftigen Farben koloriert – eine Neuerung. Ebensolche Figuren finden sich auch auf Rändern der Jahangir-Alben, die in der Zeit von 1605 bis 1608 von dem Maler Daulat signiert wurden. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass auch Folio 2r von Daulat stammt. Bei Akbars Tod muss sich das Manuskript noch in den höfischen Werkstätten befunden haben. Möglicherweise war für die Maler nicht klar, wie damit zu verfahren war, so dass das unvollendete Werk einige Jahre dort gelegen hat. Ob in dieser Zeit irgendwelche Arbeiten daran ausgeführt wurden und wenn ja, welche, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Ausnahme ist der Rand einer Doppelseite, Fol. 55v-56r, der aus unbekanntem Grund mit stilisierten goldenen Blumen – Hibiskus, Iris und Mohn – dekoriert wurde. Stilistische Ähnlichkeiten mit anderen Handschriften lassen vermuten, dass diese Ausgestaltung aus der Zeit um 1615 stammt. Erst nach weiteren vier Jahren ist das Buch Jahangir vorgelegt worden. In seiner Inschrift von 1619 erklärt er die Arbeiten an dem Manuskript endgültig für abgeschlossen und bestimmt den Eingang in die kaiserliche Bibliothek. Die Maler Anders als bei den anderen historischen Mogul-Handschriften wurden die Illustrationen zum Chester-Beatty Akbar-nāma im Wesentlichen nicht von einem Team von Malern, sondern von einzelnen Künstlern angefertigt. Dieselben Künstler, die sich um die farbliche Ausgestaltung (ʿamal) kümmerten, hatten vorher selbst das Bild entworfen (ṭarḥ). Lediglich für die Gesichter wichtiger Persönlichkeiten kamen ab und an zusätzliche Spezialisten zum Einsatz. Die Namen der Maler, die unterhalb der Bilder vermerkt waren, wurden bei der oben erwähnte Neurahmung übernommen. Dennoch sind heute viele Bilder nicht zuordenbar, weil sie von Demotte ausgeschnitten wurden und die Namen damit verlorengegangen sind. Die genaue Anzahl der Beteiligten lässt sich daher heute nicht mehr ermitteln. Soweit bekannt, waren 25 Künstler im Einsatz. Zu den wichtigsten Malern gehört Laʿl, der schon im Ersten Akbar-nāma die meisten Kompositionen beigesteuert hat. Mit mindestens 20 Bildern steht er auch hier an der ersten Stelle der Beiträger. Sein Sohn Daulat, der seit etwa 1598 aktiv ist, hat nicht nur die Randillustrationen auf Fol. 2r angefertigt, sondern noch drei weitere Miniaturen. Der Generationswechsel im Zweiten Akbar-nāma ist auch bei weiteren Malerfamilien zu beobachten. So war zum Beispiel Basawan nicht mehr im Team. Er ist, wahrscheinlich aus Altersgründen, seit 1598 nicht mehr im Mogulatelier nachweisbar. Dass ein Meister seines Kalibers nicht unter den Künstlern des Zweiten Akbar-nāma ist, wertet Linda Leach als wichtiges Indiz gegen eine Datierung der Handschrift auf 1596–98. Wäre sie zu dieser Zeit entstanden, hätte er, so argumentiert sie, als einer der bedeutendsten Maler im kaiserlichen Atelier, gewiss an der Gestaltung dieses Buches teilgenommen. Stattdessen erlangt nun sein Sohn Manohar größere Bedeutung. Im Ersten Akbar-nāma war er nur bei einem Bild (Nr. 155) für die Koloration verantwortlich. Hier ist er nun mit mindestens fünf Miniaturen vertreten und zeichnet außerdem in einem Bild für seinen Kollegen Farrukh Chela die Gesichter der wichtigen Persönlichkeiten. Govardhan, Sohn des weniger prominenten Malers Bhavani Das, tritt hier erstmalig in Erscheinung und gestaltet gleich fünf Miniaturen, zwei davon im nīm-qalam-Stil. In seiner Teilnahme sieht Linda Leach ein weiteres Argument gegen eine frühere Datierung. Würde die Handschrift nämlich von 1596–98 stammen, wäre nicht erklärbar, so Leach, warum Govardhans Name in allen anderen illustrierten Handschriften der späten 1590er fehlt. Zu den altgedienten Malern, die am Zweiten Akbar-nāma beteiligt sind, gehört Dharm Das. Er war schon bei der Illustration des Dārāb-nāma dabei und hat im Ersten Akbar-nāma fünf Bilder als Kolorist ausgestaltet. Er hat seine Fähigkeiten im Laufe der Zeit perfektioniert und steuert hier mindestens elf Miniaturen bei. Die Illustrationen Bildzählungen Die Illustrationen im ersten Band werden von insgesamt drei Nummernfolgen außerhalb des Rahmens begleitet: eine rote indische Nummer unten am linken Bildrand, eine weitere rechts außen an der Unterkante und drittens eine mit Bleistift geschriebene arabische Zahl etwa in der Mitte unter der Miniatur. Diese Nummerierungen bezeugen den sukzessiven Schwund der Bilder. Die früheste Zählung ist die auf der rechten Seite, die bis 50 reicht. Zu diesem Zeitpunkt fehlten bereits die Bilder 18 und 29. Als die zweite Zahlenfolge links neben den Illustrationen hinzugefügt wurde, waren vier weitere Bildseiten verschwunden, nämlich 4, 5, 43 und 50, so dass nur noch 46 Miniaturen gezählt werden konnten. Bei der Inventarisierung in der British Library kam schließlich die letzte Nummernfolge in der Mitte dazu. Da in der Zwischenzeit weitere sieben Folios die Handschrift verlassen hatten, reicht diese Zählung nur noch bis 39. Im zweiten Band waren bei der ersten Zählung noch alle 120 Illustrationen vorhanden, bei der zweiten Zählung zeigte sich der Verlust von fünf Miniaturen. Da es heute nur noch 61 Bildseiten im Chester-Beatty-Teil des Zweiten Akbar-nāma gibt, müssen weitere 54 zu späterer Zeit entnommen worden sein. Dazu gehören mehr als 40 Miniaturen, die einen Rahmen aus dem Farhang-i Jahāngīrī besitzen. Das Bildprogramm im Vergleich zum Victoria-and-Albert Akbar-nāma Die Illustrationen beziehen sich auf Ereignisse bis zum Jahr 1579. Danach bricht das Zweite Akbar-nāma ab. Nach heutigem Wissensstand existieren keine Bilder, die Begebenheiten nach 1579 darstellen. Die Anzahl der Bilder ist im Vergleich zum Ersten Akbar-nāma etwas geringer. Die Zeit vom 5. bis zum 22. Regierungsjahr wird bei der früheren Handschrift mit 115, in der späteren mit 87 Illustrationen wiedergegeben. Das Zweite Akbar-nāma besitzt also, zumindest für den zur Verfügung stehenden Vergleichszeitraum, fast 25 Prozent weniger Bilder. Anders als beim Ersten Akbar-nāma liegen im Chester-Beatty Akbar-nāma auch die Illustrationen zu Ereignissen vor 1560 vor. Das Bildprogramm der Handschrift ist somit, von wenigen Unsicherheiten abgesehen, bis zum Jahr 1579 vollständig bekannt. Ein Überblick über die hier verwendeten Miniaturen zeigt, dass sie dem Betrachter, über die Freude an der Kunst hinaus, eine Kurzfassung des Akbar-nāma liefern. Die Bilder vermitteln in unterhaltsamer Form die wichtigsten Botschaften des Textes, sowohl in historischer als auch in ideologischer Hinsicht. Zunächst geht es um Grundsätzliches im Hinblick auf Akbars Legitimation: Der Padischah ist in besonderer Weise mit Adam (Bild 3) verbunden, dessen „göttliches Licht“ über die Generationen an Akbar weitergegeben wurde und in ihm kulminiert. Überdies steht er in der Nachfolge der berühmten Eroberer Timur (Bild 7 und 8) und – mit Einschränkung – Chingiz Khan (Bild 6). Seit frühester Kindheit sind seine herausragenden geistigen (Bild 35) und körperlichen (Bild 30) Fähigkeiten offenbar, die weit über die Begabungen Gleichaltriger hinausgehen. In diese Kategorie gehören auch die Berichte von Akbars Wundertätigkeit, die seine übernatürlichen Kräfte erahnen lassen sollen. Die zugehörigen Bilder zeigen seine Macht über das Tierreich, zum Beispiel über das Pferd Hayran (Bild 68) und den Elefanten Fath-i Mubarak (164). Der größte Teil der Miniaturen illustriert historische Ereignisse. Für die Zeit Baburs werden die Eroberung von Kabul (Bild 9) und sein großer Sieg gegen die afghanische Lodi-Dynastie (Bild 10) sowie gegen die vereinigten Rajputen in der Schlacht von Khanwa (Bild 13) hervorgehoben. Nach nur sechs Bildern wenden sich die Maler bereits Humayuns Regierungszeit zu. Er führt die indischen Eroberungen fort, dehnt das Reich nach Gujarat aus (Bilder 16–20) und versucht, die afghanische Herrschaft von Sher Khan in Bihar und Bengalen zu brechen (Bilder 21–25). Seine Kriegszüge sind jedoch nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt, denn nach seiner verheerenden Niederlage in der Schlacht von Chausa bleibt ihm nur noch die Flucht in das Safavidenreich von Shah Tahmasp. Wo Abu 'l-Fazl bereits eine geschönte Fassung von Humayuns Aufenthalt in Persien präsentiert, zeigen die zugehörigen Illustrationen ein noch glänzenderes Bild: ein königlicher Empfang in Herat (Bild 26), ein Gastmahl mit Shah Tahmasp (Bild 27), gemeinsame Jagden (Bild 28) und weitere Festlichkeiten (Bild 29). Mit safavidischer Hilfe gelingt Humayun die Rückeroberung von Kandahar (Bilder 31–33). Sein weiteres Vordringen wird in erster Linie von seinen Brüdern gestoppt, allen voran Mirza Kamran (Bilder 38–42 und 45–49). Erst nachdem sich Humayun in dem Bruderkampf endgültig durchgesetzt hat, kann er die Eroberung Indiens angehen, die durch seinen plötzlichen Tod ein jähes Ende findet. Sein zwölfjähriger Sohn Akbar besteigt 1556 den Mogulthron (Bilder 53–54), die Führung des Reiches liegt aber noch in der Hand des Generalissimus' Bairam Khan. Dieser leitet den jungen Herrscher erfolgreich durch die Kämpfe gegen die afghanischen Prinzen, die in der Nachfolge Sher Shah Surs ihre Interessen verteidigen (Bilder 59–62, 65–66). Trotz seiner großen Verdienste strebt der heranwachsende Akbar danach, sich von Bairam Khan zu befreien. Dessen Absetzung stellt einen bedeutenden Einschnitt dar, der mit drei Bildern angemessen gewürdigt ist (Bild 73, 77–78). Der Usbekenaufstand (ca. 1561–67), der zu den größten Gefahren für Akbars frühe Herrschaft gehörte, enthielt in Ersten Akbar-nāma noch 19 Bilder und war damit die dort am umfangreichsten illustrierte Episode. In der späteren Handschrift schrumpft diese gefährliche Phase auf fünf Illustrationen zusammen (Bilder 100–102, 104, 105). Die Einnahme der strategisch bedeutsamen Rajputenfestungen von Mewar, Chitor und Ranthambhor, wird im früheren Manuskript mit insgesamt neun Bildern gefeiert. Im Beatty-Akbar-nāma gibt es zu jeder Burg zwar nur eine Doppelseite, dafür werden aber noch andere Kämpfe gegen die verschiedenen Rajputenclans thematisiert: gegen die Rathor von Marwar (155/156), die Bundela von Orchha (165) und weitere gegen die Sisodiya von Mewar, die seit 1572 von Rana Pratap Singh angeführt wurden (157/158 und 167/168). Beide Akbar-nāmas porträtieren den Feldzug nach Gujarat 1572–73 mit etwa zwölf Bildern, wobei die wichtigen Schlachten von Sarnal (Bild 122–123), Patan (Bild 124–125), Tulamba (Bild 131–132) und Ahmadabad (Bild 133–134) je zwei Seiten erhalten. Hinsichtlich der übrigen Szenen zu Gujarat unterscheiden sich die Manuskripte. Die militärischen Aktivitäten in Bengalen ab 1574 treten im Zweiten Akbar-nāma mit 16 Miniaturen (Bilder 142–153, 155, 156, 159, 160) erheblich stärker in den Vordergrund als im Ersten Akbar-nāma, das die Kämpfe im Osten nur durch zwei Bilder repräsentiert. Vergleicht man Erstes und Zweites Akbar-nāma, so fallen zwei Bildthemen auf, die in den beiden Handschriften deutlich unterschiedlich akzentuiert werden. So hat die Sicherung der Nachfolge erheblich an Bedeutung gewonnen: Während das Erste Akbar-nāma nur dem ältesten Sohn Salim eine Doppelseite und seinem Bruder Murad eine Einzelillustration widmet, erhalten in der Beatty-Handschrift alle drei Söhne eine Doppelseite (Bilder 110–113 und 118–119). Zusätzlich folgt noch eine zweiseitige Darstellung der Beschneidungsfeierlichkeiten (Bilder 137–138). Das heißt, dass sich die Anzahl Miniaturen, die sich der dynastischen Nachfolge widmen, in der späteren Handschrift mehr als verdoppelt hat. Im Gegensatz dazu hat die Jagd, der königliche Sport schlechthin, nicht mehr die herausragende Stellung, die sie noch im Ersten Akbar-nāma hatte. Dort waren es 15 Bilder, die sich dem Thema widmen, im Zweiten Akbar-nāma sind es nur noch acht. Stilistische Aspekte Leach sieht mehrere unterschiedliche Malweisen im Zweiten Akbar-nāma vereint: 1. Der Stil der Luxushandschriften von 1595 bis 1598 Von etwa 1595–1598 wurde eine Anzahl von Handschriften am Hof in Lahore angefertigt, die heute als Höhepunkt der Mogulmalerei gelten. Es handelt sich um persische poetische Klassiker, beispielsweise Nizamis und Amir Khusraus Khamsa oder das Baharistān von Jami, die mit dem besten Papier, den kostbarsten Pigmenten und mit höchster technischer Vollendung aufwarten. Anders als die historischen Handschriften, wie das Tīmūr-nāma, Chingīz-nāma oder Akbar-nāma, besaßen sie nur wenige, dafür umso kunstvollere, kleinere Illustrationen, die gewöhnlich das Werk eines einzelnen Meisters waren. Ein großer Teil dieser Bilder bezeugt, dass die europäischen Methoden der Modellierung und der räumlichen Tiefe, die zum großen Teil durch Bilder jesuitischer Missionare in Indien bekannt waren, inzwischen zum Vokabular der Mogulmalerei gehörten. Die Farben sind leuchtend, die Figuren vergleichsweise klein. 2. Nīm-qalam-Stil Bei Bildern im nīm-qalam-Stil (pers. halber Stift) handelt es sich im Grunde um Zeichnungen mit Farbtönungen in Braun und gelegentlichen Akzentuierungen in mehr oder weniger kräftigen Farben und/oder Gold. Diese Malweise war zwar grundsätzlich schon seit langem bekannt, kam aber im frühen 17. Jahrhundert besonders in Mode und zeichnet auch andere Handschriften aus, wie zum Beispiel das Nafahāt al-ʿuns, das um 1603 am Mogulhof angefertigt wurde. Das Chester-Beatty Akbar-nāma besitzt aber mehr nīm-qalam-Miniaturen als jedes andere Manuskript der Mogulzeit. Die Bilder mit reduziertem Farbauftrag waren naturgemäß schneller fertigzustellen. Die Annahme liegt deshalb nahe, dass man auf diese Weise das Projekt schneller zu Ende führen wollte. Dagegen spricht jedoch, dass auf die Gruppe der nīm-qalam-Bilder Illustrationen in einem weiteren, farbigen Malstil folgen, und die Handschrift überdies im weiteren Verlauf besonders großzügig mit vielen doppelseitigen Kompositionen ausgestattet ist. Nīm-qalam dürfte also eher aufgrund seines ästhetischen Wertes verwendet worden sein und nicht aus ökonomischen Gründen. 3. Die farbigen Miniaturen der späten Akbar-Zeit Die Bilder dieser Gruppe stellen die jüngste stilistische Entwicklung innerhalb des Zweiten Akbar-nāma dar. Hier sind die dargestellten Personen größer als in den Bildern der erstgenannten Stils. Außerdem unterscheidet sich die neue Farbigkeit deutlich von der im British Library-Band. Die Palette wird insgesamt kühler, nun häufiger mit transparenten Blau- und Grüntönen. Das entspricht der Trendwende, die Losty in den Handschriften für Akbar ab der Jahrhundertwende erkannte, und die zeitgleich ebenso in den Werken für Akbars Nachfolger Jahangir festzustellen ist. Die Betrachtung der einzelnen Illustrationen zeigt, dass die Übergänge zwischen den Stilen fließend sind. Porträts Ansätze für ein erstes Interesse an der Portraitkunst finden sich bereits in den 1560ern. Allerdings gibt es so gut wie keine Beispiele dafür in der Buchmalerei, sondern fast nur auf Einzelstudien. Erst im Victoria-and-Albert-Akbar-nāma wird erstmals auf einer Buchillustration (Nr. 197) die Anwesenheit bestimmter Höflinge durch ihre beschrifteten Porträts bezeugt. Die naturgetreue Wiedergabe von Gesichtern blieb ein wichtiges Anliegen der Mogulmaler, das im Zweiten Akbar-nāma mit seinen vielen identifizierbaren historischen Gestalten einen ersten Höhepunkt erreichte. Dabei geht es nicht nur um die Wiedergabe wichtiger Persönlichkeiten, sondern um ein grundsätzliches Interesse an der Individualisierung der Dargestellten. Die Fortschritte, die die Maler in der Zeit zwischen den beiden Akbar-nāmas gemacht haben, wird besonders deutlich im Vergleich einer Szene, die in beiden Handschriften illustriert wurde: die Bestrafung von Hamid Bakari. Er hatte während einer großen Treibjagd auf ein anderes Mitglied des Hofes geschossen und musste, weil seine Hinrichtung mehrfach fehlschlug, mit rasiertem Kopf auf einem Esel rückwärts sitzend um das Jagdfeld reiten. Bei dem Bild von Miskin im Ersten Akbar-nāma (Bild-Nr. 135) befindet sich Hamid Bakari oben rechts auf der Seite und erscheint eher nebensächlich im Vergleich zum Hauptgeschehen, nämlich Akbars Jagd. Bei der späteren Interpretation der Szene ist er unten links im Bild zu sehen. Durch die hohe Individualisierung, die ihm der Maler, wahrscheinlich Manohar, verliehen hat, nimmt er nun aber eine erheblich zentralere Stellung für den Betrachter ein. Er wird zu einem Charakter, den man mit Sympathie und Mitleid betrachtet, so wie es die Männer tun, die ihn umgeben. Es geht dem Künstler also um die glaubhafte Darstellung menschlicher Interaktion. Ziel ist hier nicht mehr nur die Wiedergabe von Handlungen und Gesten, sondern die Porträtierung von Persönlichkeiten und das Sichtbarmachen von Gedanken. Milo Beach bezeichnet diese Entwicklung als die entscheidende Veränderung in der Mogulmalerei der späten Akbar-Zeit. Die Illustrationen des ersten Bandes im Einzelnen Illustrationen des zweiten Bandes im Einzelnen Illustrationen des dritten Bandes im Einzelnen Weblinks Akbar-nāma-Text British Library, Or. 12988 British Library Akbar-nāma, Images online Chester-Beatty-Library, Akbar-nāma viewer.cbl.ie Akbar-nāma-Text Chester Beatty Library, Ms. In 03 Literatur Abu-l-Fazl: The Akbar Nāma. Translated from the Persian by Henry Beveridge. 3 Bde. Low Price Publications, Delhi 1993. (Repr. Bibliotheca Indica 138. 3 Vols. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Americium
Americium
Americium (; Elementsymbol Am) ist ein chemisches Element mit der Ordnungszahl 95. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Actinoide (7. Periode, f-Block) und zählt auch zu den Transuranen. Americium ist neben Europium das einzige nach einem Erdteil benannte Element. Es ist ein leicht verformbares radioaktives Metall silbrig-weißen Aussehens. Von Americium gibt es kein stabiles Isotop. Auf der Erde kommt es ausschließlich in künstlich erzeugter Form vor. Das Element wurde erstmals im Spätherbst 1944 erzeugt, die Entdeckung jedoch zunächst nicht veröffentlicht. Kurioserweise wurde seine Existenz in einer amerikanischen Radiosendung für Kinder durch den Entdecker Glenn T. Seaborg, den Gast der Sendung, der Öffentlichkeit preisgegeben. Americium wird in Kernreaktoren gebildet, eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 100 g des Elements. Es wird als Quelle ionisierender Strahlung eingesetzt, z. B. in der Fluoreszenzspektroskopie und in Ionisationsrauchmeldern. Das Americiumisotop 241Am wurde wegen seiner gegenüber Plutonium (238Pu) wesentlich längeren Halbwertszeit von 432,2 Jahren zur Befüllung von Radionuklidbatterien (RTG) für Raumsonden vorgeschlagen, welche dann hunderte Jahre lang elektrische Energie zum Betrieb bereitstellen würden. Geschichte Americium wurde im Spätherbst 1944 von Glenn T. Seaborg, Ralph A. James, Leon O. Morgan und Albert Ghiorso im 60-Zoll-Cyclotron an der Universität von Kalifornien in Berkeley sowie am metallurgischen Laboratorium der Universität von Chicago (heute: Argonne National Laboratory) erzeugt. Nach Neptunium und Plutonium war Americium das vierte Transuran, das seit dem Jahr 1940 entdeckt wurde; das um eine Ordnungszahl höhere Curium wurde als drittes schon im Sommer 1944 erzeugt. Der Name für das Element wurde in Anlehnung zum Erdteil Amerika gewählt – in Analogie zu Europium, dem Seltene-Erden-Metall, das im Periodensystem genau über Americium steht: The name americium (after the Americas) and the symbol Am are suggested for the element on the basis of its position as the sixth member of the actinide rare-earth series, analogous to europium, Eu, of the lanthanide series. Zur Erzeugung des neuen Elements wurden in der Regel die Oxide der Ausgangselemente verwendet. Dazu wurde zunächst Plutoniumnitratlösung (mit dem Isotop 239Pu) auf eine Platinfolie von etwa 0,5 cm2 aufgetragen; die Lösung danach eingedampft und der Rückstand dann zum Oxid (PuO2) geglüht. Nach dem Beschuss im Cyclotron wurde die Beschichtung mittels Salpetersäure gelöst, anschließend wieder mit einer konzentrierten wässrigen Ammoniaklösung als Hydroxid ausgefällt; der Rückstand wurde in Perchlorsäure gelöst. Die weitere Trennung erfolgte mit Ionenaustauschern. In ihren Versuchsreihen wurden der Reihe nach vier verschiedene Isotope erzeugt: 241Am, 242Am, 239Am und 238Am. Als erstes Isotop isolierten sie 241Am aus einer Plutonium-Probe, die mit Neutronen bestrahlt wurde. Es zerfällt durch Aussendung eines α-Teilchens in 237Np. Die Halbwertszeit dieses α-Zerfalls wurde zunächst auf 510 ± 20 Jahre bestimmt; der heute allgemein akzeptierte Wert ist 432,2 a. Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. Als zweites Isotop wurde 242Am durch erneuten Neutronenbeschuss des zuvor erzeugten 241Am gefunden. Durch nachfolgenden raschen β-Zerfall entsteht dabei 242Cm, das zuvor schon entdeckte Curium. Die Halbwertszeit dieses β-Zerfalls wurde zunächst auf 17 Stunden bestimmt, der heute als gültig ermittelte Wert beträgt 16,02 h. Erstmals öffentlich bekannt gemacht wurde die Entdeckung des Elements in der amerikanischen Radiosendung Quiz Kids am 11. November 1945 durch Glenn T. Seaborg, noch vor der eigentlichen Bekanntmachung bei einem Symposium der American Chemical Society: Einer der jungen Zuhörer fragte den Gast der Sendung, Seaborg, ob während des Zweiten Weltkrieges im Zuge der Erforschung von Nuklearwaffen neue Elemente entdeckt wurden. Seaborg bejahte die Frage und enthüllte dabei auch gleichzeitig die Entdeckung des nächsthöheren Elements, Curium. Americium (241Am und 242Am) und seine Produktion wurde später unter dem Namen Element 95 and method of producing said element patentiert, wobei als Erfinder nur Glenn T. Seaborg angegeben wurde. In elementarer Form wurde es erstmals im Jahr 1951 durch Reduktion von Americium(III)-fluorid mit Barium dargestellt. Vorkommen Americiumisotope entstehen im r-Prozess in Supernovae und kommen auf der Erde wegen ihrer im Vergleich zum Alter der Erde zu geringen Halbwertszeit nicht natürlich vor. Heutzutage wird jedoch Americium als Nebenprodukt in Kernkraftwerken erbrütet; das Americiumisotop 241Am entsteht als Zerfallsprodukt (u. a. in abgebrannten Brennstäben) aus dem Plutoniumisotop 241Pu. Eine Tonne abgebrannten Kernbrennstoffs enthält durchschnittlich etwa 100 g verschiedener Americiumisotope. Es handelt sich dabei hauptsächlich um die α-Strahler 241Am und 243Am, die aufgrund ihrer relativ langen Halbwertszeiten in der Endlagerung unerwünscht sind und deshalb zum Transuranabfall zählen. Eine Verminderung der Langzeitradiotoxizität in nuklearen Endlagern wäre durch Abtrennung langlebiger Isotope aus abgebrannten Kernbrennstoffen möglich. Zur Beseitigung des Americiums wird derzeit die Partitioning & Transmutation-Strategie untersucht. Gewinnung und Darstellung Gewinnung von Americiumisotopen Americium fällt in geringen Mengen in Kernreaktoren an. Es steht heute in Mengen von wenigen Kilogramm zur Verfügung. Durch die aufwändige Gewinnung aus abgebrannten Brennstäben hat es einen sehr hohen Preis. Seit der Markteinführung 1962 soll der Preis für Americium(IV)-oxid mit dem Isotop 241Am bei etwa 1500 US-Dollar pro Gramm liegen. Das Americiumisotop 243Am entsteht in geringeren Mengen im Reaktor aus 241Am und ist deshalb mit 160 US-Dollar pro Milligramm 243Am noch wesentlich teurer. Americium wird über das Plutoniumisotop 239Pu in Kernreaktoren mit hohem 238U-Anteil zwangsläufig erbrütet, da es aus diesem durch Neutroneneinfang und zwei anschließende β-Zerfälle (über 239U und 239Np) entsteht. Die angegebenen Zeiten sind Halbwertszeiten. Danach wird, wenn es nicht zur Kernspaltung kommt, aus dem 239Pu, neben anderen Nukliden, durch stufenweisen Neutroneneinfang (n,γ) und anschließenden β-Zerfall 241Am oder 243Am erbrütet. Das Plutonium, welches aus abgebrannten Brennstäben von Leistungsreaktoren gewonnen werden kann, besteht zu etwa 12 % aus dem Isotop 241Pu. Deshalb erreichen erst 70 Jahre, nachdem der Brutprozess beendet wurde, die abgebrannten Brennstäbe ihren Maximalgehalt von 241Am; danach nimmt der Gehalt wieder (langsamer als der Anstieg) ab. Aus dem so entstandenen 241Am kann durch weiteren Neutroneneinfang im Reaktor 242Am entstehen. Bei Leichtwasserreaktoren soll aus dem 241Am zu 79 % 242Am und zu 10 % 242mAm entstehen: zu 79 %: zu 10 %: Für die Erbrütung von 243Am ist ein vierfacher Neutroneneinfang des 239Pu erforderlich: Darstellung elementaren Americiums Metallisches Americium kann durch Reduktion aus seinen Verbindungen erhalten werden. Zuerst wurde Americium(III)-fluorid zur Reduktion verwendet. Dieses wird hierzu in wasser- und sauerstofffreier Umgebung in Reaktionsapparaturen aus Tantal und Wolfram mit elementarem Barium zur Reaktion gebracht. 2 AmF3 + 3 Ba -> 2 Am + 3 BaF2 Auch die Reduktion von Americium(IV)-oxid mittels Lanthan oder Thorium ergibt metallisches Americium. 3 AmO2 + 4 La -> 3 Am + 2 La2O3 Eigenschaften Im Periodensystem steht das Americium mit der Ordnungszahl 95 in der Reihe der Actinoide, sein Vorgänger ist das Plutonium, das nachfolgende Element ist das Curium. Sein Analogon in der Reihe der Lanthanoiden ist das Europium. Physikalische Eigenschaften Americium ist ein radioaktives Metall. Frisch hergestelltes Americium ist ein silberweißes Metall, welches jedoch bei Raumtemperatur langsam matt wird. Es ist leicht verformbar. Sein Schmelzpunkt beträgt 1176 °C, der Siedepunkt liegt bei 2607 °C. Die Dichte beträgt 13,67 g·cm−3. Es tritt in zwei Modifikationen auf. Die bei Standardbedingungen stabile Modifikation α-Am kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der mit den Gitterparametern a = 346,8 pm und c = 1124 pm sowie vier Formeleinheiten pro Elementarzelle. Die Kristallstruktur besteht aus einer doppelt-hexagonal dichtesten Kugelpackung (d. h.c.p.) mit der Schichtfolge ABAC und ist damit isotyp zur Struktur von α-La. Bei hohem Druck geht α-Am in β-Am über. Die β-Modifikation kristallisiert im kubischen Kristallsystem in der Raumgruppe  mit dem Gitterparameter a = 489 pm, was einem kubisch flächenzentrierten Gitter (f.c.c.) beziehungsweise einer kubisch dichtesten Kugelpackung mit der Stapelfolge ABC entspricht. Die Lösungsenthalpie von Americium-Metall in Salzsäure bei Standardbedingungen beträgt −620,6 ± 1,3 kJ·mol−1. Ausgehend von diesem Wert erfolgte die erstmalige Berechnung der Standardbildungsenthalpie (ΔfH0) von Am3+(aq) auf −621,2 ± 2,0 kJ·mol−1 und des Standardpotentials Am3+ / Am0 auf −2,08 ± 0,01 V. Chemische Eigenschaften Americium ist ein sehr reaktionsfähiges Element, das schon mit Luftsauerstoff reagiert und sich gut in Säuren löst. Gegenüber Alkalien ist es stabil. Die stabilste Oxidationsstufe für Americium ist +3, die Am(III)-Verbindungen sind gegen Oxidation und Reduktion sehr stabil. Mit dem Americium liegt der erste Vertreter der Actinoiden vor, der in seinem Verhalten eher den Lanthanoiden ähnelt als den d-Block-Elementen. Es ist auch in den Oxidationsstufen +2 sowie +4, +5, +6 und +7 zu finden. Je nach Oxidationszahl variiert die Farbe von Americium in wässriger Lösung ebenso wie in festen Verbindungen:Am3+ (gelbrosa), Am4+ (gelbrot), AmVO2+ (gelb), AmVIO22+ (zitronengelb), AmVIIO65− (dunkelgrün). Im Gegensatz zum homologen Europium – Americium hat eine zu Europium analoge Elektronenkonfiguration – kann Am3+ in wässriger Lösung nicht zu Am2+ reduziert werden. Verbindungen mit Americium ab Oxidationszahl +4 aufwärts sind starke Oxidationsmittel, vergleichbar dem Permanganat-Ion (MnO4−) in saurer Lösung. Die in wässriger Lösung nicht beständigen Am4+-Ionen lassen sich nur noch mit starken Oxidationsmitteln aus Am(III) darstellen. In fester Form sind zwei Verbindungen des Americiums in der Oxidationsstufe +4 bekannt: Americium(IV)-oxid (AmO2) und Americium(IV)-fluorid (AmF4). Der fünfwertige Oxidationszustand wurde beim Americium erstmals 1951 beobachtet. In wässriger Lösung liegen primär AmO2+-Ionen (sauer) oder AmO3−-Ionen (alkalisch) vor, die jedoch instabil sind und einer raschen Disproportionierung unterliegen: 3 AmO2^+ + 4 H^+ -> 2 AmO2^2+ + Am^3+ + 2 H2O Zunächst ist von einer Disproportionierung zur Oxidationsstufe +6 und +4 auszugehen: 2 Am (V) -> Am (VI) + Am (IV) Etwas beständiger als Am(IV) und Am(V) sind die Americium(VI)-Verbindungen. Sie lassen sich aus Am(III) durch Oxidation mit Ammoniumperoxodisulfat in verdünnter Salpetersäure herstellen. Der typische rosafarbene Ton verschwindet in Richtung zu einer starken Gelbfärbung. Zudem kann die Oxidation mit Silber(I)-oxid in Perchlorsäure quantitativ erreicht werden. In Natriumcarbonat- oder Natriumhydrogencarbonat-Lösungen ist eine Oxidation mit Ozon oder Natriumperoxodisulfat gleichfalls möglich. Biologische Aspekte Eine biologische Funktion des Americiums ist nicht bekannt. Vorgeschlagen wurde der Einsatz immobilisierter Bakterienzellen zur Entfernung von Americium und anderen Schwermetallen aus Fließgewässern. So können Enterobakterien der Gattung Citrobacter durch die Phosphataseaktivität in ihrer Zellwand bestimmte Americiumnuklide aus wässriger Lösung ausfällen und als Metall-Phosphat-Komplex binden. Ferner wurden die Faktoren untersucht, die die Biosorption und Bioakkumulation des Americiums durch Bakterien und Pilze beeinflussen. Spaltbarkeit Das Isotop 242m1Am hat mit rund 5700 barn den höchsten bisher (10/2008) gemessenen thermischen Spaltquerschnitt. Damit geht eine kleine kritische Masse einher, weswegen 242m1Am als Spaltmaterial vorgeschlagen wurde, um beispielsweise Raumschiffe mit Kernenergieantrieb anzutreiben. Dieses Isotop eignet sich prinzipiell auch zum Bau von Kernwaffen. Die kritische Masse einer reinen 242m1Am-Kugel beträgt etwa 9–14 kg. Die Unsicherheiten der verfügbaren Wirkungsquerschnitte lassen derzeit keine genauere Aussage zu. Mit Reflektor beträgt die kritische Masse noch etwa 3–5 kg. In wässriger Lösung wird sie nochmals stark herabgesetzt. Auf diese Weise ließen sich sehr kompakte Sprengköpfe bauen. Nach öffentlichem Kenntnisstand wurden bisher keine Kernwaffen aus 242m1Am gebaut, was mit der geringen Verfügbarkeit und dem hohen Preis begründet werden kann. Aus denselben Gründen wird 242m1Am auch nicht als Kernbrennstoff in Kernreaktoren eingesetzt, obwohl es dazu prinzipiell sowohl in thermischen als auch in schnellen Reaktoren geeignet wäre. Auch die beiden anderen häufiger verfügbaren Isotope, 241Am und 243Am können in einem schnellen Reaktor eine Kettenreaktion aufrechterhalten. Die kritischen Massen sind hier jedoch sehr hoch. Sie betragen unreflektiert 57,6–75,6 kg bei 241Am und 209 kg bei 243Am, so dass sich durch die Verwendung keine Vorteile gegenüber herkömmlichen Spaltstoffen ergeben. Entsprechend ist Americium rechtlich nach Abs. 1 des Atomgesetzes nicht den Kernbrennstoffen zugeordnet. Es existieren jedoch Vorschläge, sehr kompakte Reaktoren mit einem Americium-Inventar von lediglich knapp 20 g zu konstruieren, die in Krankenhäusern als Neutronenquelle für die Neutroneneinfangtherapie verwendet werden können. Isotope Von Americium sind 16 Isotope und 11 Kernisomere mit Halbwertszeiten zwischen Bruchteilen von Mikrosekunden und 7370 Jahren bekannt. Es gibt zwei langlebige α-strahlende Isotope 241Am mit 432,2 und 243Am mit 7370 Jahren Halbwertszeit. Außerdem hat das Kernisomer 242m1Am mit 141 Jahren eine lange Halbwertszeit. Die restlichen Kernisomere und Isotope haben mit 0,64 µs bei 245m1Am bis 50,8 Stunden bei 240Am kurze Halbwertszeiten. 241Am ist das am häufigsten erbrütete Americiumisotop und liegt auf der Neptunium-Reihe. Es zerfällt mit einer Halbwertszeit von 432,2 Jahren mit einem α-Zerfall zu 237Np. 241Am gibt nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,35 % die gesamte Zerfallsenergie mit dem α-Teilchen ab, sondern emittiert meistens noch ein oder mehrere Gammaquanten. 242Am ist kurzlebig und zerfällt mit einer Halbwertszeit von 16,02 h zu 82,7 % durch β-Zerfall zu 242Cm und zu 17,3 % durch Elektroneneinfang zu 242Pu. Das 242Cm zerfällt zu 238Pu und dieses weiter zu 234U, das auf der Uran-Radium-Reihe liegt. Das 242Pu zerfällt über die gleiche Zerfallskette wie 238Pu. Während jedoch 238Pu als Seitenarm beim 234U auf die Zerfallskette kommt, steht 242Pu noch vor dem 238U. 242Pu zerfällt durch α-Zerfall in 238U, den Beginn der natürlichen Uran-Radium-Reihe. 242m1Am zerfällt mit einer Halbwertszeit von 141 Jahren zu 99,541 % durch Innere Konversion zu 242Am und zu 0,459 % durch α-Zerfall zu 238Np. Dieses zerfällt zu 238Pu und dann weiter zu 234U, das auf der Uran-Radium-Reihe liegt. 243Am ist mit einer Halbwertszeit von 7370 Jahren das langlebigste Americiumisotop. Es geht zunächst durch α-Strahlung in 239Np über, das durch β-Zerfall weiter zu 239Pu zerfällt. Das 239Pu zerfällt durch α-Strahlung zu Uran 235U, dem offiziellen Anfang der Uran-Actinium-Reihe. Die Americiumisotope mit ungerader Neutronenzahl, also gerader Massenzahl, sind gut durch thermische Neutronen spaltbar. → Liste der Americiumisotope Verwendung Für die Verwendung von Americium sind vor allem die beiden langlebigsten Isotope 241Am und 243Am von Interesse. In der Regel wird es in Form des Oxids (AmO2) verwendet. Ionisationsrauchmelder Die α-Strahlung des 241Am wird in Ionisationsrauchmeldern genutzt. Es wird gegenüber 226Ra bevorzugt, da es vergleichsweise wenig γ-Strahlung emittiert. Dafür muss aber die Aktivität gegenüber Radium ca. das Fünffache betragen. Die Zerfallsreihe von 241Am „endet“ für den Verwendungszeitraum quasi direkt nach dessen α-Zerfall bei 237Np, das eine Halbwertszeit von rund 2,144 Millionen Jahren besitzt. Radionuklidbatterien 241Am wird wegen besserer Verfügbarkeit von der ESA zur Befüllung von Radionuklidbatterien (RTG) von Raumsonden untersucht. Der Leistungsabfall über eine Missionsdauer von 15 bis 20 Jahren ist mit 3,2 % deutlich geringer als bei Einheiten auf Basis von 238Pu mit 15 %. Die ESA plant, ab Mitte der 2020er Radionuklidbatterien in Missionsstudien zu berücksichtigen. Neutronenquellen 241Am als Oxid mit Beryllium verpresst stellt eine Neutronenquelle dar, die beispielsweise für radiochemische Untersuchungen eingesetzt wird. Hierzu wird der hohe Wirkungsquerschnitt des Berylliums für (α,n)-Kernreaktionen ausgenutzt, wobei das Americium als Produzent der α-Teilchen dient. Die entsprechenden Reaktionsgleichungen lauten: Derartige Neutronenquellen kommen beispielsweise in der Neutronenradiographie und -tomographie zum Einsatz. Ionisator Neben dem häufig verwendeten 210Po als Ionisator zur Beseitigung von unerwünschter elektrostatischer Aufladung kam auch 241Am zum Einsatz. Dazu wurde z. B. die Quelle am Kopf einer Bürste montiert mit der man langsam über die zu behandelnden Oberflächen strich und dadurch eine Wiederverschmutzung durch elektrostatisch angezogene Staubpartikel vermeiden konnte. Herstellung anderer Elemente Americium ist Ausgangsmaterial zur Erzeugung höherer Transurane und auch der Transactinoide. Aus 242Am entsteht zu 82,7 % Curium (242Cm) und zu 17,3 % Plutonium (242Pu). Im Kernreaktor wird zwangsläufig in geringen Mengen durch Neutroneneinfang aus 243Am das 244Am erbrütet, das durch β-Zerfall zum Curiumisotop 244Cm zerfällt. In Teilchenbeschleunigern führt zum Beispiel der Beschuss von 241Am mit Kohlenstoffkernen (12C) beziehungsweise Neonkernen (22Ne) zu den Elementen Einsteinium 247Es beziehungsweise Dubnium 260Db. Spektrometer Mit seiner intensiven Gammastrahlungs-Spektrallinie bei 60 keV eignet sich 241Am gut als Strahlenquelle für die Röntgen-Fluoreszenzspektroskopie. Dies wird auch zur Kalibrierung von Gammaspektrometern im niederenergetischen Bereich verwendet, da die benachbarten Linien vergleichsweise schwach sind und so ein einzeln stehender Peak entsteht. Zudem wird der Peak nur vernachlässigbar durch das Compton-Kontinuum höherenergetischer Linien gestört, da diese ebenfalls höchstens mit einer um mindestens drei Größenordnungen geringeren Intensität auftreten. Sicherheitshinweise und Gefahren Einstufungen nach der CLP-Verordnung liegen nicht vor, weil diese nur die chemische Gefährlichkeit umfassen, welche eine völlig untergeordnete Rolle gegenüber den auf der Radioaktivität beruhenden Gefahren spielt. Eine chemische Gefahr liegt überhaupt nur dann vor, wenn es sich um eine dafür relevante Stoffmenge handelt. Da von Americium nur radioaktive Isotope existieren, darf es selbst sowie seine Verbindungen nur in geeigneten Laboratorien unter speziellen Vorkehrungen gehandhabt werden. Die meisten gängigen Americiumisotope sind α-Strahler, weshalb eine Inkorporation unbedingt vermieden werden muss. Das breite Spektrum der hieraus resultierenden meist ebenfalls radioaktiven Tochternuklide stellt ein weiteres Risiko dar, das bei der Wahl der Sicherheitsvorkehrungen berücksichtigt werden muss. 241Am gibt beim radioaktiven Zerfall große Mengen relativ weicher Gammastrahlung ab, die sich gut abschirmen lässt. Nach Untersuchungen des Forschers Arnulf Seidel vom Institut für Strahlenbiologie des Kernforschungszentrums Karlsruhe erzeugt Americium (wie Plutonium), bei Aufnahme in den Körper, mehr Knochentumore als dieselbe Dosis Radium. Die biologische Halbwertszeit von 241Am beträgt in den Knochen 50 Jahre und in der Leber 20 Jahre. In den Gonaden verbleibt es dagegen offensichtlich dauerhaft. Verbindungen → Kategorie: Americiumverbindung Oxide Von Americium existieren Oxide der Oxidationsstufen +3 (Am2O3) und +4 (AmO2). Americium(III)-oxid (Am2O3) ist ein rotbrauner Feststoff und hat einen Schmelzpunkt von 2205 °C. Americium(IV)-oxid (AmO2) ist die wichtigste Verbindung dieses Elements. Nahezu alle Anwendungen dieses Elements basieren auf dieser Verbindung. Sie entsteht unter anderem implizit in Kernreaktoren beim Bestrahlen von Urandioxid (UO2) bzw. Plutoniumdioxid (PuO2) mit Neutronen. Es ist ein schwarzer Feststoff und kristallisiert – wie die anderen Actinoiden(IV)-oxide – im kubischen Kristallsystem in der Fluorit-Struktur. Halogenide Halogenide sind für die Oxidationsstufen +2, +3 und +4 bekannt. Die stabilste Stufe +3 ist für sämtliche Verbindungen von Fluor bis Iod bekannt und in wässriger Lösung stabil. Americium(III)-fluorid (AmF3) ist schwerlöslich und kann durch die Umsetzung einer wässrigen Americiumlösung mit Fluoridsalzen im schwach Sauren durch Fällung hergestellt werden: Das tetravalente Americium(IV)-fluorid (AmF4) ist durch die Umsetzung von Americium(III)-fluorid mit molekularem Fluor zugänglich: In der wässrigen Phase wurde das vierwertige Americium auch beobachtet. Americium(III)-chlorid (AmCl3) bildet rosafarbene hexagonale Kristalle. Seine Kristallstruktur ist isotyp mit Uran(III)-chlorid. Der Schmelzpunkt der Verbindung liegt bei 715 °C. Das Hexahydrat (AmCl3·6 H2O) weist eine monokline Kristallstruktur auf. Durch Reduktion mit Na-Amalgam aus Am(III)-Verbindungen sind Am(II)-Salze zugänglich: die schwarzen Halogenide AmCl2, AmBr2 und AmI2. Sie sind sehr sauerstoffempfindlich, und oxidieren in Wasser unter Freisetzung von Wasserstoff zu Am(III)-Verbindungen. Chalkogenide und Pentelide Von den Chalkogeniden sind bekannt: das Sulfid (AmS2), zwei Selenide (AmSe2 und Am3Se4) und zwei Telluride (Am2Te3 und AmTe2). Die Pentelide des Americiums (243Am) des Typs AmX sind für die Elemente Phosphor, Arsen, Antimon und Bismut dargestellt worden. Sie kristallisieren im NaCl-Gitter. Silicide und Boride Americiummonosilicid (AmSi) und Americium„disilicid“ (AmSix mit: 1,87 < x < 2,0) wurden durch Reduktion von Americium(III)-fluorid mit elementaren Silicium im Vakuum bei 1050 °C (AmSi) und 1150–1200 °C (AmSix) dargestellt. AmSi ist eine schwarze Masse, isomorph mit LaSi. AmSix ist eine hellsilbrige Verbindung mit einem tetragonalen Kristallgitter. Boride der Zusammensetzungen AmB4 und AmB6 sind gleichfalls bekannt. Metallorganische Verbindungen Analog zu Uranocen, einer Organometallverbindung in der Uran von zwei Cyclooctatetraen-Liganden komplexiert ist, wurden die entsprechenden Komplexe von Thorium, Protactinium, Neptunium, Plutonium und auch des Americiums, (η8-C8H8)2Am, dargestellt. Literatur Wolfgang H. Runde, Wallace W. Schulz: Americium, in: Lester R. Morss, Norman M. Edelstein, Jean Fuger (Hrsg.): The Chemistry of the Actinide and Transactinide Elements, Springer, Dordrecht 2006; ISBN 1-4020-3555-1, S. 1265–1395 (doi:10.1007/1-4020-3598-5_8). Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie, System Nr. 71, Transurane: Teil A 1 I, S. 30–34; Teil A 1 II, S. 18, 315–326, 343–344; Teil A 2, S. 42–44, 164–175, 185–188; Teil B 1, S. 57–67. Weblinks Rachel Sheremeta Pepling: Americium. Chemical & Engineering News, 2003. Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Abraham%20Lincoln
Abraham Lincoln
Abraham Lincoln (* 12. Februar 1809 bei Hodgenville, Hardin County, heute: LaRue County, Kentucky; † 15. April 1865 in Washington, D.C.) amtierte von 1861 bis 1865 als 16. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Im Jahr 1860 erstmals gewählt, gelang ihm 1864 die Wiederwahl für eine zweite Amtszeit. Er war der erste Präsident aus den Reihen der Republikanischen Partei und der erste, der einem Attentat zum Opfer fiel. Lincolns Präsidentschaft gilt als eine der bedeutendsten in der Geschichte der Vereinigten Staaten: Die Wahl des Sklavereigegners veranlasste zunächst sieben, später weitere vier der sklavenhaltenden Südstaaten, aus der Union auszutreten und einen eigenen Staatenbund, die Konföderierten Staaten von Amerika, zu bilden. Lincoln führte die verbliebenen Nordstaaten durch den daraus entstandenen Sezessionskrieg. Er setzte die Wiederherstellung der Union durch und betrieb erfolgreich die Abschaffung der Sklaverei in den USA. Unter seiner Regierung schlug das Land endgültig den Weg zum zentral regierten, modernen Industriestaat ein und schuf so die Basis für seinen Aufstieg zur Weltmacht im 20. Jahrhundert. Leben Kindheit und Jugend Abraham Lincoln wurde in einer Blockhütte auf der Sinking Spring Farm nahe dem Dorf Hodgenville in Kentucky geboren. Seine Eltern waren der Farmer Thomas Lincoln und dessen Frau Nancy, die beide aus Virginia stammten. Thomas Lincolns Vorfahren waren einige Generationen zuvor aus der ostenglischen Grafschaft Norfolk nach Amerika ausgewandert. Zu seiner Familie gehörten noch Abrahams ältere Schwester Sarah sowie ein jüngerer Bruder Thomas jr., der aber schon kurz nach der Geburt starb. Als frommer Baptist lehnte Lincolns Vater die in Kentucky erlaubte Sklaverei ab, obwohl einige seiner Verwandten Sklavenhalter waren. Ende 1816 zog er mit seiner Familie nach Little Pigeon Creek im Südwesten des sklavenfreien Staats Indiana. Zwei Jahre später starb seine Frau Nancy an der so genannten Milchkrankheit. 1819 heiratete Thomas Lincoln die Witwe Sarah Bush Johnston, die drei eigene Kinder in die Ehe mitbrachte. Abraham Lincoln pflegte als Halbwaise zu seiner Stiefmutter zeitlebens eine warmherzige Beziehung – auch, weil sie, anders als sein Vater, sein Streben nach Bildung unterstützte. Die Bildungsmöglichkeiten an der Frontier, der Siedlungsgrenze zur Wildnis, waren äußerst begrenzt. Auch in der Region von Indiana, in der die Lincolns damals lebten, gab es nur sporadisch betriebene Einraum-Schulen in Blockhütten, in denen die Kinder aller Jahrgänge gemeinsam unterrichtet wurden. Viel mehr als Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen wurde dort nicht vermittelt. Die Schüler lernten meist durch gemeinsames Rezitieren. Selbst diese Art des Unterrichts hat Lincoln nur sehr unregelmäßig genossen. Von 1816 bis 1827 hat er zwar verschiedene Schulen in und um das heutige Cannelton besucht, zwischen seinem 11. und seinem 15. Lebensjahr aber nicht länger als insgesamt ein Jahr. Seine umfassende Bildung hat er sich vor allem als Autodidakt angeeignet. Der junge Lincoln war lesehungrig und verschlang jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte. Neben der King-James-Bibel beeinflussten ihn vor allem die Dramen William Shakespeares sowie Werke von Homer, Vergil, John Dryden, John Milton und Daniel Defoe. Seine Belesenheit und Gewandtheit im Ausdruck wurden bald im näheren Umkreis bekannt, so dass Nachbarn ihn schon als Jugendlichen baten, Briefe für sie aufzusetzen. Im Wesentlichen aber bestand Lincolns Leben damals aus der harten und ungeliebten Farmarbeit mit seinem Vater. Thomas Lincoln lieh seinen Sohn gegen Bezahlung auch an Nachbarn aus, wenn diese Unterstützung benötigten. Bis zu seinem 19. Lebensjahr teilte Abraham Lincoln das Pionierdasein seiner Familie in Indiana. 1830 zogen die Lincolns erneut weiter nach Westen, ins Macon County in Illinois. Kurz darauf verließ Abraham das Elternhaus und ließ sich im Präriestädtchen New Salem, im benachbarten Sangamon County nieder, wo er eine Stelle als Kaufmannsgehilfe annahm. In den nächsten Jahren war er dort auch als Landvermesser und Posthalter tätig. In seiner Freizeit betätigte er sich damals als Ringer. Er war 1830 Meister in seinem County und musste in den folgenden zehn Jahren nur eine Niederlage hinnehmen. Das städtische Amerika lernte er erstmals im Jahr 1831 kennen, in dem er als Flößer auf dem Ohio und dem Mississippi flussabwärts bis nach New Orleans fuhr. Lincolns Aufstieg Im Jahr 1832 nahm Lincoln als Freiwilliger am Kriegszug gegen die Sauk-Indianer unter Häuptling Black Hawk teil, ohne aber in Kämpfe verwickelt zu werden. Seine Kameraden wählten ihn bei dieser Gelegenheit zum Captain. Dies und die Tatsache, dass er sich in einem Debattierclub in New Salem als guter Redner erwiesen hatte, ermutigten ihn, noch im selben Jahr für das Repräsentantenhaus von Illinois zu kandidieren. Als Parteigänger der Whigs trat er im Wahlkampf für den Ausbau der Verkehrswege und eine Verbesserung des Schulwesens ein. Im ersten Anlauf scheiterte Lincoln, aber 1834 errang er das Mandat, das er über vier Legislaturperioden bis 1842 behalten sollte. Parlamentarier und Anwalt in Illinois Das Staatsparlament von Illinois hatte bis 1839 seinen Sitz in der ersten Landeshauptstadt Vandalia. Als Honest Abe – ehrlicher Abe –, ein Spitzname, der ihm bleiben sollte, erwarb sich Abraham Lincoln dort rasch so viel Vertrauen, dass er zum Sprecher des Finanzausschusses und bereits mit 27 Jahren zum Parteiführer der oppositionellen Whigs gewählt wurde. Aus dem Jahr 1837 datiert seine erste öffentliche Stellungnahme gegen die Sklaverei. In einer Parlamentsdebatte stellte er fest, „dass die Institution der Sklaverei auf Ungerechtigkeit und schlechte Politik zurückzuführen ist“. In den ersten Jahren seiner politischen Tätigkeit absolvierte Lincoln ein diszipliniertes Selbststudium der Rechtswissenschaften; 1836 wurde er zur Anwaltskammer von Illinois zugelassen. Im folgenden Jahr gründete er mit dem Rechtsanwalt John T. Stuart eine gemeinsame Kanzlei in der neuen Hauptstadt von Illinois, Springfield. Doch auch als Anwalt lebte Lincoln noch lange in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Während seiner Zeit in Springfield näherte sich Lincoln den Freimaurern an, die damals hohes Ansehen genossen. Obwohl er der Vereinigung wohlwollend gegenüberstand, wurde er jedoch nie – wie später irrtümlich behauptet – ihr Mitglied. Kurz vor seiner Wahl zum Präsidenten zog er ein Gesuch um Aufnahme in die Tyrian Lodge No. 333 in Springfield zurück, weil er diesen Schritt nicht als Wahlkampftaktik missverstanden sehen wollte. Familiengründung Im Jahr 1842 heiratete Abraham Lincoln Mary Todd, die einer reichen Familie von Pflanzern und Sklavenhaltern aus Kentucky entstammte. Bei den Todds stieß diese Verbindung auf erheblichen Widerstand, da Lincoln nur wenig Vermögen besaß und seine politischen Ansichten den ihren weitgehend widersprachen. Ein Verwandter Mary Lincolns, ihr Schwager Benjamin Hardin Helm, stieg im Sezessionskrieg sogar zum General der konföderierten Armee auf. Er fiel später in der Schlacht am Chickamauga. Abraham und Mary Lincoln wurden vier Söhne geboren: Robert Todd Lincoln (* 1. August 1843 in Springfield, Illinois; † 26. Juli 1926 in Manchester, Vermont) Edward „Eddie“ Baker Lincoln (* 10. März 1846 in Springfield, Illinois; † 1. Februar 1850 ebenda) William „Willie“ Wallace Lincoln (* 21. Dezember 1850 in Springfield, Illinois; † 20. Februar 1862 in Washington, D.C.) Thomas „Tad“ Lincoln (* 4. April 1853 in Springfield, Illinois; † 16. Juli 1871 in Chicago, Illinois). Zwei Kinder starben also bereits zu Lincolns Lebzeiten, und nur Robert erreichte das Erwachsenenalter. Wie sein Vater schlug er eine Karriere als Anwalt und Politiker ein und war von 1881 bis 1885 US-Kriegsminister. Der letzte direkte Nachfahre Abraham Lincolns, Robert Todd Lincoln Beckwith, ein Urenkel, starb 1985 im Alter von 81 Jahren. Abgeordneter im Repräsentantenhaus Im Jahr seiner Heirat schied Lincoln aus dem Staatsparlament von Illinois aus, um sich verstärkt seiner Anwaltstätigkeit zu widmen. Er erwarb sich einen Ruf als Spezialist für Eisenbahnrecht und kam allmählich zu bescheidenem Wohlstand. 1842 bemüht sich Lincoln vergebens darum, bei den Wahlen zum Repräsentantenhaus als Kandidat der Whigs aufgestellt zu werden. Er führte sein Scheitern darauf zurück, dass er keiner Kirche angehörte und sich am 22. September mit dem demokratischen Politiker James Shields ein Duell mit Korbschwertern geliefert zu haben, auch wenn dabei aufgrund des Einschreitens der Sekundanten niemand verletzt worden war. Als einer der führenden Köpfe der Whigs in dem jungen Bundesstaat wurde Lincoln dann 1846 ins Repräsentantenhaus gewählt. In Washington trat er als Gegner von Präsident James K. Polk und seiner Kriegspolitik gegen Mexiko auf. So forderte er Polk, der den Krieg als Akt der Selbstverteidigung darstellte, in mehreren Resolutionen dazu auf, den genauen Punkt (englisch: spot) zu benennen, an dem die mexikanische Armee in US-Territorium eingedrungen sei. Diese von Polk ignorierten Anträge wurden als Spot Resolutions bekannt, während Lincoln selbst wegen seiner Kriegsgegnerschaft von der Mehrheit der Presse angegriffen und als spotty Lincoln verhöhnt wurde. Er ging jedoch nicht so weit, der Streichung der Geldmittel für die Armee zuzustimmen. Im Januar 1849 brachte er eine Resolution zur Beschränkung der Sklaverei im District of Columbia ein. Ansonsten machte er bei seinem ersten Auftreten in der Bundespolitik kaum von sich reden. Für Lincoln war es wichtig, im engen Kontakt zu seinen Wählern zu bleiben, den er durch seine Tätigkeit als Anwalt aufgebaut hatte. Ein Angebot, als Partner in eine Kanzlei in Chicago einzusteigen, schlug er daher aus. Da er in Washington ohne seine Familie lebte, reizte ihn auch eine Karriere in der Bundeshauptstadt wenig. Der 1849 ins Amt gelangte Präsident Zachary Taylor bot ihm an, Gouverneur des neuen Territoriums Oregon zu werden, das die heutigen Staaten Oregon, Washington und Idaho sowie Teile Montanas und Wyomings einschloss. Aber auch dies schlug er aus und kehrte 1849 nach Springfield zurück. Für die nächsten fünf Jahre verabschiedete sich Abraham Lincoln aus der Politik. Erst die Verschärfung des Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei brachte ihn auf die politische Bühne zurück. Weg zur Präsidentschaft Um zu verstehen, wie Abraham Lincoln von einer kaum über Illinois hinaus bekannten Parteigröße zu einem in ganz Amerika beachteten Politiker und schließlich zum Präsidentschaftskandidaten der neuen Republikanischen Partei werden konnte, muss man die Entwicklung der Sklavenfrage und Lincolns Haltung dazu betrachten. Gegensätze zwischen Nord und Süd Gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich unterschieden sich der Norden und der Süden der USA in wesentlichen Punkten. Sie bildeten völlig gegensätzliche Wirtschaftssysteme aus, deren Interessen sich im Laufe des 19. Jahrhunderts immer schwerer miteinander vereinbaren ließen. Der Süden, als Agrarland auf die Ausfuhr von Baumwolle, Tabak und anderen Plantagenprodukten angewiesen, verfocht eine Freihandelspolitik, worin er von Großbritannien unterstützt wurde. Der Norden, der seine noch junge Industrie vor der Einfuhr von Massenprodukten aus England schützen wollte, trat für möglichst hohe Schutzzölle ein. Die Partei der Whigs – insbesondere deren Gründer Henry Clay, den Lincoln als sein Vorbild ansah – forderten wie später auch die Republikaner eine starke Zentralmacht, eine Nationalbank sowie Bundesausgaben zur Verbesserung der zwischenstaatlichen Infrastruktur, etwa durch den Bau von Fernstraßen und Kanälen. Nicht zuletzt befürworteten sie das Prinzip der freien Arbeit in den neu zu besiedelnden Gebieten des Westens. Die im Süden traditionell starke Demokratische Partei dagegen lehnte all das ab und war für eine weitgehende Autonomie der Einzelstaaten. Dies schloss auch das Recht neuer Staaten ein, auf ihrem Gebiet die Sklaverei zu gestatten. Trotz seiner geringeren Bevölkerungszahl nahm der Süden mit seiner reichen Pflanzeraristokratie bis zum Bürgerkrieg die politisch und gesellschaftlich führende Rolle innerhalb der USA ein. So kamen zum Beispiel die meisten Präsidenten aus den Sklavenstaaten. Zudem wog die Stimme eines weißen Südstaatlers bei Wahlen ungleich schwerer als die eines Nordstaatlers. Denn die Anzahl der Abgeordneten, die ein Staat ins Repräsentantenhaus entsenden durfte, hing von seiner Einwohnerstärke ab. Jedem der Südstaaten aber wurde die Zahl der dort lebenden afroamerikanischen Sklaven zu drei Fünfteln angerechnet, obwohl diesen selbst das Wahlrecht verwehrt war. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts schritten Industrialisierung und Bevölkerungswachstum im Norden zwar rasch voran, so dass sich das wirtschaftliche Gewicht immer mehr zu seinen Gunsten verschob. Gleichzeitig aber gewannen die Stimmen der Südstaatler im Kongress an Gewicht, da die Anzahl ihrer Sklaven zwischen 1780 und 1860 von 500.000 auf 4 Millionen anstieg. Der wesentliche Grund dafür, dass sich die Sklaverei trotz des seit 1808 geltenden, offiziellen Verbots des Sklavenhandels auf dem Vormarsch befand, war der anhaltende Boom der amerikanischen Baumwollwirtschaft. In den frühen Jahren der Republik hatten sogar viele Politiker aus den Südstaaten, die – wie George Washington oder Thomas Jefferson – selbst Sklavenhalter waren, an eine allmähliche Abschaffung oder ein Absterben der Sklaverei gedacht. Im Jahr 1793 jedoch erfand Eli Whitney die Cotton Gin, eine Maschine, die die Fasern der Baumwolle von ihren Samenkapseln trennt. Sie steigerte die Effizienz der Entkörnung um das 50fache und machte den Baumwollanbau im großen Stil – und damit auch den Einsatz von Sklaven – profitabler denn je. Zwischen 1790 und 1820 stieg der Baumwollexport allein nach England um mehr als das Hundertfache an, von 700.000 auf 76 Millionen Kilogramm. Da Baumwolle den Boden stark auslaugt, werden nach einigen Jahren neue Anbauflächen benötigt. Anders als alle übrigen Baumwollproduzenten weltweit verfügten die Südstaatler aber nahezu unbegrenzt über Land, Arbeitskräfte und Kapital – wegen der von Weißen noch unbesiedelten Gebiete im Westen, der Sklaverei und finanzstarken Kreditgebern im Norden. So beherrschten die USA 1860 dank King Cotton (König Baumwolle) den weltweiten Baumwollmarkt. In den ersten 50 Jahren nach der Gründung der USA hatte die Sklavenfrage in der Innenpolitik nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Mit der Ausweitung der Sklaverei wuchs aber auch der Widerstand dagegen. Viele Nordstaatler lehnten sie aus wirtschaftlichen Gründen ab, so etwa die bäuerlichen Anhänger der Free Soil Party, die sich von Seiten der südstaatlichen Pflanzer einem unfairen Wettbewerb um Land und billige Arbeitskraft ausgesetzt sahen. Ähnlich argumentierte der südstaatliche Autor Hinton Rowan Helper in seinem Bestseller The Impending Crisis of the South (Die drohende Krise des Südens), in dem er die Sklaverei als Hemmnis für die ökonomische Entwicklung darstellte. Zudem entstanden seit den 1830er Jahren im Norden publizistisch einflussreiche Vereinigungen von Abolitionisten, die die Sklaverei grundsätzlich ablehnten. Die einen – wie etwa der Journalist William Lloyd Garrison – forderten aus religiös-moralischen, die anderen – wie der entflohene Sklave Frederick Douglass – aus prinzipiellen Erwägungen heraus die Abschaffung der peculiar institution (der „besonderen Einrichtung“), wie die Sklaverei in der US-Verfassung verbrämend genannt wurde. Sie unterstützten die Bildung von Anti-Sklaverei-Wahlblöcken, die seit den 1840er Jahren immer mehr abolitionistisch gesinnte Politiker nach Washington brachten. Abgeordnete wie John Quincy Adams, Thaddeus Stevens oder Charles Sumner widersetzten sich Regelungen, die bis dahin verhindert hatten, dass das Sklaverei-Thema im Kongress auch nur erörtert wurde und setzten dieses endgültig auf die politische Agenda. Ihnen traten Südstaaten-Politiker wie der ehemalige Vize-Präsident und Senator von South Carolina, John C. Calhoun, entgegen. Er sah in der Sklaverei ein „positives Gut“, da die „Negerrasse“ von Natur aus zum Dienen bestimmt sei und es den Afroamerikanern in Gefangenschaft besser gehe als in Freiheit. Den gewaltlosen Aktionen der Abolitionisten schlug im Süden – und nicht nur dort – verstärkt Hass und Gewalt entgegen. In Lincolns Heimatstaat Illinois ermordeten 1837 fanatische Sklavereibefürworter den abolitionistischen Prediger Elijah P. Lovejoy. Er war der erste weiße Amerikaner, der wegen des Streits um die Sklavenfrage getötet wurde. Zuspitzung der Sklavenfrage Freie und Sklavenstaaten waren zunehmend darauf bedacht, gegenüber der jeweils anderen Seite im Senat nicht in die Minderheit zu geraten. Dieses Problem stellte sich jedes Mal neu, wenn ein weiterer Staat in die Union aufgenommen werden sollte. Eine erste Zuspitzung des Konflikts konnte 1820 durch den Missouri-Kompromiss entschärft werden. Er sah vor, dass die Sklaverei nördlich der Mason-Dixon-Linie, die auf etwa 36° 30′ nördlicher Breite verlief, in allen neuen Staaten mit Ausnahme Missouris verboten sein solle. Dennoch wurde die Präsidentschaftswahl von 1844 von der Frage beherrscht, ob die wenige Jahre zuvor von Mexiko unabhängig gewordene Republik Texas als Sklavenstaat annektiert werden solle oder nicht. Die Annexion führte zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, der 1848 mit weiteren, großen Landgewinnen der USA südlich der Mason-Dixon-Linie endete. Dadurch drohte sich das politische Gleichgewicht erneut zugunsten des Südens zu verschieben. Das sogenannte Wilmot Proviso, nach dem die Sklaverei in den eroberten Gebieten verboten werden sollte, erlangte nie Gesetzeskraft. Mit dem Kompromiss von 1850 aber gelang es dem Kongress ein letztes Mal, die Gegensätze zwischen den Staaten auszugleichen: Einerseits bestimmte er, dass Kalifornien der Union als sklavenfreier Staat beitreten sollte, andererseits verabschiedete er den Fugitive Slave Act. Wegen dieses Gesetzes, das sklavenfreie Staaten verpflichtete, entflohene Sklaven auszuliefern, spaltete sich jedoch die Partei der Whigs, der Lincoln angehörte. Am 30. Mai 1854 jedoch verabschiedete der Kongress auf Antrag des demokratischen Senators Stephen A. Douglas, eines späteren politischen Gegners Lincolns, den Kansas-Nebraska Act. Dieses Gesetz stellte es den beiden Territorien – obwohl nördlich der Mason-Dixon-Linie gelegen – frei, in ihren künftigen Staatsverfassungen selbst festzulegen, ob sie die Sklaverei gestatten oder nicht. Daraufhin brach in Bleeding Kansas, dem blutenden Kansas, ein „Bürgerkrieg vor dem Bürgerkrieg“ aus. In ihm bekämpften sich Sklavereibefürworter und Anhänger der Free-Soil-Bewegung, die für das Prinzip der freien Arbeit auf freiem Land eintraten. Das innenpolitische Klima in den USA verschärfte sich nach der Verabschiedung des Gesetzes in einem Maße, das ausgleichende Debatten und Kompromisse kaum noch zuließ. Auf beiden Seiten nahmen irrationale Ängste zu, und Verschwörungstheorien stießen zunehmend auf Akzeptanz. Der einflussreiche Senator John C. Calhoun hatte bereits vor 1850 die Ansicht verbreitet, die Befreiung der Sklaven werde zum Rassenkrieg und zur Vernichtung der Union führen. Er und andere Apologeten der Sklaverei sahen in ihr nicht länger ein unvermeidliches Übel, sondern eine für Herren wie Sklaven positive Einrichtung, die es unbedingt zu schützen gelte. George Fitzhugh, ein in den 1850er Jahren vielbeachteter und auch von Lincoln gelesener Autor, ging sogar noch weiter. Er forderte, dass außer den schwarzen auch die weißen Arbeiter versklavt werden sollten. Viele Demokraten argumentierten in Wahlkämpfen unverhohlen rassistisch, versuchten ihre Gegner als „schwarze Republikaner“ zu verunglimpfen und setzten die Befreiung der Afroamerikaner mit „Rassenmischung“ und „freier Liebe“ gleich. Diesem Argument begegnete Lincoln mit der Aussage: „Ich kann nicht nachvollziehen, warum ich, weil ich keine Negerin als Sklavin haben will, sie unbedingt als Ehefrau wollen sollte.“ Weiter vertieft wurden die Gegensätze zwischen Nord und Süd 1857 durch das Urteil des Obersten Gerichtshofs im Fall Dred Scott versus Sandford. In der Urteilsbegründung stellte Chief Justice Roger B. Taney fest, dass Afroamerikanern grundsätzlich keine Bürgerrechte in den USA zustünden. Auch Sklaven, die in den freien Staaten und Territorien des Nordens lebten, würden dadurch nicht frei. Das Gericht stärkte damit die Rechte der Sklavenhalter auf ihr „Eigentum“, indem es das Recht des Kongresses bestritt, die Sklaverei in irgendeinem Staat oder Territorium zu verbieten. Sowohl mit dem Kansas-Nebraska-Gesetz als auch mit dem Urteil zu Ungunsten des Sklaven Dred Scott wurde der Missouri-Kompromiss faktisch aufgehoben. Dies löste im Norden eine Welle der Empörung aus. Eine letzte, entscheidende Verschärfung erfuhr der Konflikt am 16. Oktober 1859, als eine Gruppe radikaler Abolitionisten unter Führung von John Brown das Waffendepot der US-Armee in Harpers Ferry in Virginia überfiel. Ihr Ziel war es, Sklaven mit den erbeuteten Waffen auszurüsten und einen Befreiungskrieg im Süden zu führen. Der schlecht geplante Aufstand scheiterte von Beginn an. Browns Truppe wurde von virginischen Milizsoldaten, die der spätere Konföderiertengeneral Robert E. Lee anführte, aufgerieben und er selbst noch im Dezember desselben Jahres hingerichtet. Im Süden als Terrorist, im Norden von vielen als Freiheitsheld betrachtet, galt Brown nach einem Wort von Herman Melville als „Meteor des Krieges“, der nur 18 Monate nach der Aktion von Harpers Ferry ausbrach. Eine ihrer Folgen war, dass Virginia seine Miliztruppe zu einer professionellen Armee ausbaute und dass die Präsidentschaftswahl von 1860 ganz im Zeichen der Sklavenfrage stand. Ein Kompromiss zwischen Gegnern und Befürwortern der Sklaverei schien kaum noch möglich. Gemäßigte und radikale Sklavereigegner schlossen sich enger zusammen, während die Demokratische Partei zerbrach, wie zuvor schon die der Whigs. Lincoln als gemäßigter Gegner der Sklaverei Lincolns Partei hatte bereits nach dem Kompromiss von 1850 erste Zerfallserscheinungen gezeigt. Vollends brach sie wegen des Streits um den Kansas-Nebraska-Act von 1854 auseinander. In diesem Jahr schlossen sich die meisten Whigs mit gemäßigten Sklavereigegnern aus den Reihen der Demokraten zur Republikanischen Partei zusammen. Verstärkt wurden sie durch Abolitionisten und Free Soiler. Sie alle sahen in den sklavereifreundlichen Regierungen der 1850er Jahre bereits die Verwirklichung der so genannten slave power, einer von ihnen befürchteten Tyrannei der Sklavenhalter-Aristokratie, über die gesamten Vereinigten Staaten. Mit der Verabschiedung des Kansas-Nebraska Acts schienen slave power bzw. slavocracy endgültig in die Offensive zu gehen. Dies bewog Abraham Lincoln, in die Politik zurückzukehren. Am 22. Februar 1856 gründeten er und 24 weitere Gegner des Kansas-Nebraska-Gesetzes auch in Illinois einen Ableger der Republikanischen Partei. Zu dieser Zeit war er kein bedingungsloser Gegner der Sklaverei. Er verabscheute sie zwar moralisch, vertrat gegenüber den Südstaaten damals aber einen streng am geltenden Recht und Gesetz orientierten Standpunkt. So war er der Ansicht, dass die Gründerväter der Vereinigten Staaten die Sklaverei grundsätzlich als Übel angesehen, sie aber aus pragmatischen Gründen weiterhin in jenen Staaten geduldet hätten, in denen sie zur Zeit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und zum Zeitpunkt der Verabschiedung der US-Verfassung von 1787 bereits bestand. Eine Ausdehnung der Sklaverei auf weitere Staaten und Territorien widerspreche aber dem Geist der Verfassung und den freiheitlichen Prinzipien der Amerikanischen Revolution. Bei einer Rede in Springfield sprach er sich im Oktober 1854 dafür aus, mit den Abolitionisten zusammenzuarbeiten, wenn es um die Wiederherstellung des Missouri-Kompromisses ging, aber sich gegen sie zu stellen, wenn sie den Fugitive Slave Act abschaffen wollten. Er nahm damit eine Haltung zwischen radikalen Abolitionisten und Free Soilern ein, was ihn für breite Wählergruppen interessant machte. Im Jahr 1855 scheiterte sein erster Versuch, einen Sitz im Senat zu erlangen. Drei Jahre später unternahm er einen zweiten Anlauf. Sein Gegenkandidat war Senator Stephen A. Douglas, der Führer der Demokraten auf Unionsebene. Zum Auftakt des Wahlkampfs brachte Lincoln in einer berühmt gewordenen House-Divided-Rede, die er am 16. Juni 1858 im Staatsparlament von Illinois hielt, die Sklavenfrage und ihre Auswirkungen auf die amerikanische Politik auf den Punkt: In derselben Rede verdächtigte Lincoln seinen Gegner Douglas, den obersten Bundesrichter Taney, Präsident James Buchanan und dessen Vorgänger Franklin Pierce Teil einer Verschwörung zu sein, deren Ziel es sei, die Sklaverei auch in den bislang freien Bundesstaaten einzuführen. Einen Beleg für diesen Verdacht, den viele Nordstaatler teilten, gab es nicht. Aber indem Lincoln ihn in der Rede öffentlich geäußert und dabei festgestellt hatte, dass es keinen Kompromiss zwischen Sklaverei und Freiheit geben könne, erregte er landesweites Aufsehen als einer der entschiedensten Gegner der Sklaverei in den Reihen der Republikaner. Douglas, der als großer Redner bekannt war, erklärte sich mit einer Serie von sieben öffentlichen Rededuellen einverstanden, die er und Lincoln zwischen Juli und Oktober 1858 in verschiedenen Städten von Illinois austrugen. Die Lincoln-Douglas-Debatten sollten Geschichte machten, denn wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung und der rhetorischen Fähigkeiten der Kontrahenten wurden Mitschriften davon überall in den USA abgedruckt. Bei der Debatte, die am 27. August 1858 in Freeport im Norden von Illinois stattfand, gelang es Lincoln, seinen Gegner in eine Zwickmühle zu bringen. Douglas war der Initiator des Kansas-Nebraska-Acts gewesen, der dem Kongress in letzter Konsequenz das Recht absprach, die Sklaverei in einem US-Territorium zu verbieten. Lincoln fragte ihn daher, ob es zumindest der Bevölkerung eines Territoriums selbst auf gesetzlichem Wege möglich sei, die Sklaverei von dessen Gebiet auszuschließen, bevor es sich als Bundesstaat konstituiert habe. Antwortete Douglas darauf mit Nein, verärgerte er die in Illinois wichtige Wählergruppe der Free Soiler. Antwortete er mit Ja, wurde er für die Südstaatler unwählbar. Douglas entschied sich für ein Ja, um die unmittelbar anstehende Wahl zu gewinnen, legte damit aber zugleich den entscheidenden Stolperstein, an dem seine Präsidentschaftskandidatur zwei Jahre später scheitern sollte. Im weiteren Verlauf des Senatswahlkampfs von 1858 passte auch Lincoln sein Auftreten den Ansichten des jeweiligen Publikums an. So betonte er im Norden von Illinois, in Chicago, dass alle Menschen gleich erschaffen seien, und wandte sich gegen Vorstellungen von ungleichen Rassen. Im Süden des Staates, in Charleston, erklärte er hingegen, dass er noch nie befürwortet habe, den Schwarzen die gleichen sozialen und politischen Rechte wie den Weißen zuzugestehen. Den reinen Abolitionismus befürwortete er nicht, zumal er die Abolitionisten für zu wenig kompromissbereit hielt. Zudem hätte eine solche Haltung damals politischen Selbstmord bedeutet. Am Ende erhielt Lincoln zwar 4.000 Stimmen mehr als Douglas, verlor die Senatswahl aber erneut. Nicht zuletzt durch die Rededuelle hatte er sich aber nun als gemäßigter Gegner der Sklaverei im ganzen Land einen Namen gemacht und galt als möglicher Kandidat der Republikaner für die nächsten Präsidentschaftswahlen. Präsidentschaftswahl von 1860 Lincoln hatte bis zu diesem Zeitpunkt nie ein hohes Staatsamt bekleidet, und seine Erfahrungen in Washington beschränkten sich auf die wenigen Jahre als Kongressabgeordneter. Zwar unternahm er 1859 Vortragsreisen durch die Nordstaaten, um sich der Bevölkerung und seinen Parteifreunden vorzustellen und weiter für seinen gemäßigten Standpunkt zu werben. Aber trotz seiner wachsenden Bekanntheit, zu der insbesondere seine Rede vor der Cooper Union am 27. Februar 1860 und die dort von ihm erstellte Fotografie beitrug, galt er noch zu Beginn des Nominierungsparteitags der Republikaner, der im Mai 1860 in Chicago stattfand, als Außenseiter im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur. Hoher Favorit war der Senator und frühere Gouverneur von New York, William H. Seward. Auch den Kandidaten Salmon P. Chase aus Ohio und Edward Bates aus Missouri wurden allgemein größere Chancen eingeräumt als Lincoln. Auf der Convention in Chicago konnte er sich uneingeschränkt nur auf die Delegation seines Heimatstaats Illinois verlassen. Deren Mitglieder aber überzeugten zahlreiche Delegierte anderer Staaten davon, für Lincoln als Kompromisskandidaten zu stimmen, falls sich ihr erster Favorit nicht durchsetzen ließe. Da sich die Vertreter der als radikal geltenden Sklavereigegner Seward und Chase und die eher konservativen Gruppierungen um Bates bei den Abstimmungen gegenseitig blockierten, bestimmten die Republikaner am 18. Mai 1860 schließlich Abraham Lincoln zu ihrem Spitzenkandidaten für den Kampf ums Weiße Haus. Seine Gegner nahm er später alle in sein Kabinett auf. Damit zwang er die Führer der verschiedenen innerparteilichen Gruppierungen, zusammen statt gegeneinander zu arbeiten. Während des Wahlkampfs kam Lincoln seine hohe rhetorische Begabung zustatten. Er galt als einer der größten Redner seiner Zeit und viele der von ihm geprägten Aussprüche und Aphorismen gehören in den USA bis heute zum allgemeinen Bildungsgut. Vor allem verstand er es, komplizierte Fragen mit einfachen Worten auf den Punkt zu bringen. Sätze wie „Nichts ist geregelt, was nicht gerecht geregelt ist“, „Die Wahlversprechen von heute sind die Steuern von morgen“ oder „Wer anderen die Freiheit verweigert, verdient sie nicht für sich selbst“ überzeugten viele Wähler. Das Wahlkampflied, das sein Programm prägnant zusammenfasste, war der noch heute populäre Song Lincoln and Liberty. Die Präsidentschaftswahl fand im Herbst statt. Eine Grundlage für seinen Sieg hatte Lincoln schon zwei Jahre zuvor in den Debatten mit Stephen A. Douglas gelegt. Er hatte damals seinen Gegner, der die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten anstrebte, zu Äußerungen über die Sklaverei gedrängt, die ihn für die Demokraten des Südens unwählbar machten. Wie die Whigs sechs Jahre zuvor, so hatte sich nun auch die Demokratische Partei gespalten. Die Nord-Demokraten nominierten Douglas, die Süd-Demokraten den eindeutigen Sklavereibefürworter John C. Breckinridge aus Kentucky, zu diesem Zeitpunkt noch amtierender Vizepräsident. Beide zusammen gewannen 2,2 Millionen Wähler, John Bell aus Tennessee, der für die von den Whigs abgespaltene Constitutional Union Party antrat, weitere 0,6 Millionen; Lincoln aber wurde mit fast 1,9 Millionen Stimmen der stärkste Einzelkandidat. Er siegte in keinem einzigen der Wahlbezirke des Südens – in den meisten stand er nicht einmal auf dem Stimmzettel –, erhielt aber fast alle Wahlmännerstimmen des Nordens (180) und damit eine klare Mehrheit: Mit 40 % der Wählerstimmen gewannen er und sein Vizepräsidentschaftskandidat Hannibal Hamlin 59 % aller Wahlmänner. Am 6. November 1860 wurde Abraham Lincoln gewählt; am 4. März 1861 sollte er den Amtseid ablegen. In diesen vier Monaten aber wurden Tatsachen geschaffen, die Lincolns gesamte Regierungszeit bestimmen sollten. Lincoln als Präsident Während seiner gesamten Amtszeit als US-Präsident sah sich Abraham Lincoln gezwungen, einen Bürgerkrieg zur Wiederherstellung der Union zu führen. Dabei stand er im Wesentlichen vor vier großen Aufgaben: Er musste den Krieg militärisch gewinnen, bei der Bevölkerung des Nordens die Kampfbereitschaft aufrechterhalten, die Einmischung europäischer Mächte zugunsten der Konföderierten verhindern und schließlich die Abschaffung der Sklaverei betreiben, um die Ursache des Konflikts ein für alle Mal zu beseitigen. Amtsantritt und Kriegsbeginn Die Wahl Abraham Lincolns war nicht die Ursache, aber der Anlass der Sezession. Der Gedanke, sich von der Union zu lösen, war erstmals während der so genannten Nullifikationskrise von 1832/33 in South Carolina aufgetaucht. Befürworter dieser Idee, wie John C. Calhoun fanden aber bis in die 1850er Jahre nur vereinzelt Zustimmung. In den 1850er Jahren mehrten sich dann die Stimmen derer, die für die Sezession eintraten. Die im Norden geübte Kritik an der Sklaverei wurde von vielen tonangebenden Südstaatlern als Bedrohung der eigenen Lebensart und Kultur betrachtet und jeder Versuch, sie zu beschränken, als Eingriff in die Rechte der Einzelstaaten und in das Eigentumsrecht ihrer Bürger. Aufgrund dieser Sichtweise machten die Verfechter der Sezession keinen Unterschied zwischen der kompromissbereiten Haltung Lincolns und den Zielen der Abolitionisten. Die Aussicht, Lincoln ins Weiße Haus einziehen zu sehen, gab den Extremisten im Süden den letzten entscheidenden Auftrieb. Noch bevor der neue Präsident sein Amt antreten konnte, gab South Carolina am 20. Dezember 1860 als erster Staat seinen Austritt aus der Union bekannt. Innerhalb weniger Wochen folgten alle Staaten des tiefen Südens: Mississippi, Florida, Alabama, Georgia, Louisiana und am 2. März 1861 Texas. In Montgomery, der Hauptstadt Alabamas, hatte sich am 4. Februar 1861 ein Provisorischer Kongress aus Vertretern der bis dahin ausgetretenen Staaten konstituiert. Dieser wählte am 9. Februar den Senator von Mississippi und früheren Kriegsminister Jefferson Davis, der wie Lincoln aus Kentucky stammte, zum provisorischen Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika. Der scheidende US-Präsident James Buchanan bestritt den Einzelstaaten zwar das Recht, die Union zu verlassen, tat in seinen letzten Wochen im Amt aber nichts, um die Sezession zu verhindern. In der Rede zu seiner Amtseinführung am 4. März 1861 schlug Lincoln gegenüber dem Süden versöhnliche Töne an. Er versprach, nicht als erster zu Gewaltmaßnahmen zu greifen, machte aber zugleich deutlich, dass sein Amtseid ihn verpflichte, einer Spaltung der Union auf jeden Fall entgegenzutreten: Alle Hoffnungen auf eine Verhandlungslösung zerschlugen sich jedoch am 12. April 1861. An diesem Tag begannen konföderierte Truppen mit der Beschießung des von unionstreuen Einheiten gehaltenen Forts Sumter, das in der Hafeneinfahrt von Charleston lag, der alten Hauptstadt von South Carolina. Der Süden, der die Garnison von Fort Sumter als Besatzungstruppe betrachtete, hatte also trotz des angebotenen Gewaltverzichts zu den Waffen gegriffen – und trotz der Tatsache, dass Lincolns Regierung bis dahin keine Verfassung irgendeines Einzelstaats verletzt hatte und dies erklärtermaßen auch nicht plante. Dieser Umstand und der erzwungene Abzug der Garnison von Fort Sumter am 14. April erzeugten nun auch im Norden eine Kriegsstimmung. Die Öffentlichkeit verlangte energische Schritte gegen die Rebellen. Wie es so weit kommen konnte, erklärte Lincoln vier Jahre später in der Rede zu seiner zweiten Amtseinführung so: Der Beginn der Kampfhandlungen bewog Virginia und drei weitere Staaten des oberen Südens – North Carolina, Tennessee und Arkansas – die Union nun ebenfalls zu verlassen. Die Konföderierten verlegten daraufhin ihre Hauptstadt nach Richmond, Virginia. Von diesem Staat wiederum trennten sich die westlichen Landesteile ab, die in der Union bleiben wollten. Sie bildeten später den neuen Bundesstaat West Virginia. Um die Hauptstadt Washington halten zu können, war es für den Norden von entscheidender Bedeutung, die sklavenhaltenden Grenzstaaten Delaware, Maryland, Kentucky und Missouri zum Verbleib in der Union zu bewegen. Zu diesem Problem ist der Ausspruch Lincolns überliefert: „In diesem Krieg hoffe ich Gott auf meiner Seite zu haben. Kentucky aber muss ich auf meiner Seite haben.“ Alle vier Staaten blieben schließlich loyal – teils freiwillig, teils unter militärischem Druck. Lincolns Politik im Krieg Die US-Armee zählte zu Kriegsbeginn nur etwas mehr als 16.000 Soldaten, die zudem überwiegend in den Indianergebieten des Westens stationiert waren. Am 15. April, einen Tag nach dem Fall von Fort Sumter, berief Lincoln daher 75.000 auf 90 Tage verpflichtete Milizsoldaten ein, um der Rebellion, wie die Abspaltung der Südstaaten im Norden genannt wurde, nunmehr militärisch ein Ende zu bereiten. Als weitere Sofortmaßnahme verfügte er eine Seeblockade aller konföderierten Häfen und vergrößerte die US-Streitkräfte bis zum Frühsommer durch weitere Anwerbungen auf rund 174.000 Soldaten und Matrosen. Da der Kongress erst im Juli wieder tagen sollte, geschahen diese Truppenaushebungen ohne dessen Ermächtigung. Dasselbe traf auf die Einschränkung einiger Grundrechte, etwa der Pressefreiheit oder des Habeas-Corpus-Gesetzes, zu. So ließ Lincoln Personen, die der Spionage für die Südstaaten verdächtigt wurden, ohne gesetzliche Grundlage verhaften. All dies brachte ihm bei Sympathisanten des Südens – zum Teil bis heute – den Ruf eines Diktators ein. Als aber im Juli die Vertreter der in der Union verbliebenen Staaten zum Kongress zusammentraten, stimmten sie allen Notstandsmaßnahmen des Präsidenten nachträglich zu. Aus ihrer Sicht verfuhr Lincoln mit den Unterstützern der Konföderierten nicht anders, als es mit Angehörigen einer fremden, mit den USA im Krieg befindlichen Macht üblich war – und genau dies beanspruchte die Konföderation ja zu sein. Doch selbst die angegebenen energischen Maßnahmen Lincolns reichten nicht aus. Die erste Niederlage der Unionstruppen in der Schlacht am Bull Run am 21. Juli 1861 machte deutlich, dass der Konflikt militärisch nicht schnell zu lösen war. Die Union musste sich auf einen langwierigen Eroberungskrieg einstellen. Dies war mit einer kleinen Berufsarmee und einer dreimonatigen Dienstpflicht nicht zu erreichen. Auch die Verlängerung auf neun Monate reichte nicht aus. Schließlich führte Lincolns Regierung erstmals in der Geschichte der USA die allgemeine Wehrpflicht ein, eine Maßnahme, die Anfang Juli 1863 zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen in New York führte, den sogenannten Einberufungskrawallen. In der Stadt gab es zeitweilig sogar Bestrebungen, sich ebenfalls von der Union loszusagen und einen souveränen Staat zu bilden. Ein weiteres Problem stellten betrügerische Heereslieferanten dar, die die Unionsarmeen oft mit mangelhaftem oder völlig untauglichem Material belieferten. Daher verabschiedete der Kongress auf Lincolns Initiative am 2. März 1863 den False Claims Act, der bis heute als Lincoln Law bekannt ist. Das Gesetz ermutigte Whistleblower und erwies sich als wirksames Instrument, um Betrug zu Lasten der Allgemeinheit zu unterbinden. Der Bürgerkrieg zog sich auch deshalb in die Länge, weil Lincoln lange Zeit keinen geeigneten Oberbefehlshaber für die Potomac-Armee fand, die die Hauptlast der Kämpfe im Grenzgebiet von Virginia, zwischen Washington, D.C. und Richmond, zu tragen hatte. General George B. McClellan erwies sich zwar als hervorragender Organisator, aber als zögerlicher Heerführer. Er vergab – etwa im Halbinsel-Feldzug vom Frühjahr 1862 – gleich mehrere Chancen, dem Krieg durch schon greifbare Siege ein frühes Ende zu bereiten. Andere Befehlshaber wie Ambrose E. Burnside und Joseph Hooker erlitten katastrophale Niederlagen gegen die zahlenmäßig unterlegene Nord-Virginia-Armee des konföderierten Generals Robert E. Lee. Abraham Lincoln, der zwischen seiner Funktion als Kompaniechef im Indianerkrieg und der als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte nie mehr einen soldatischen Rang bekleidet hatte, unterzog sich nun auch einem Selbststudium in Militärfragen und wurde bald zum Experten. Mit den auf dem westlichen Kriegsschauplatz siegreichen Generalen Ulysses S. Grant und William T. Sherman fand er schließlich zwei Kommandeure, die mit ihren Truppen – der eine von Norden, der andere von Westen – die Konföderierten in langen, blutigen Kämpfen niederrangen. Kriegsziele und Kriegsgründe Am 22. August 1862 schrieb Lincoln in einem offenen Brief an den bekannten Abolitionisten Horace Greeley, den Herausgeber der New York Tribune: In der Tat ging es im Bürgerkrieg vordergründig um den nationalen Zusammenhalt der Vereinigten Staaten. Die Frage, an der sich der Kampf entzündet hatte, lautete: Hat ein einzelner Bundesstaat der USA das Recht, jederzeit aus der gemeinsamen Union auszutreten? Die Konföderierten bejahten dies, mit dem Argument, man sei dem Bund schließlich freiwillig beigetreten. Die Abspaltung, die sie vielfach als „Zweite Amerikanische Revolution“ bezeichneten, stand in ihren Augen in der Tradition von 1776. Sie kämpften also nach eigenem Selbstverständnis für die Rechte der Einzelstaaten. Der Norden wies dagegen darauf hin, dass keines der Einzelstaatenrechte bis dahin verletzt worden und dass nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 eine Revolution nur nach fortgesetzten schweren Rechtsverletzungen gerechtfertigt sei. Den tieferen Grund des Konflikts aber berührte Abraham Lincoln in der Gettysburg Address von 1863. In dieser Rede, seiner berühmtesten, sagte er, der Krieg werde um die Frage geführt, ob ein Staat, der sich auf Demokratie und individuelle Freiheit gründe, überhaupt auf Dauer bestehen könne. Diese Frage stellte sich mit umso größerer Berechtigung in einer Zeit, als eine „Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk“ – wie Lincoln es in der Rede formulierte – international noch die große Ausnahme darstellte. Lincoln gab damit seiner Überzeugung Ausdruck, dass eine Demokratie zerbrechen müsse, wenn eine Minderheit (wie die Südstaatler) eine demokratische Entscheidung der Mehrheit (wie Lincolns Wahl zum Präsidenten) jederzeit verwerfen oder sogar mit Gewalt beantworten dürfe. Hinter der Frage der Einzelstaatenrechte stand aber immer unübersehbar die Sklavenfrage. An ihr – und nur an ihr – hatte sich der Streit um diese Rechte überhaupt erst entzündet. Ohne sie hätte sich das Problem der Einzelstaatenrechte nie in dieser Schärfe gestellt. So erwähnt beispielsweise die Erklärung zum Sezessionsbeschluss des Staates Texas vom 2. Februar 1861 den Dissens in der Frage der Sklaverei 21-mal, die Frage der Einzelstaatenrechte aber nur sechsmal. Alexander Hamilton Stephens, der Vizepräsident der Konföderation, erklärte in einer viel beachteten Rede vom 21. März 1861, der Bund der Südstaaten beruhe „… auf der großen Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht gleichgestellt ist; dass sein untergeordnetes Verhältnis als Sklave gegenüber der überlegenen Rasse seine natürliche und normale Stellung ist.“ Lincoln verneinte aus wahltaktischen Gründen lange, dass die Abschaffung der Sklaverei zu seinen Kriegszielen gehörte. Denn zu Beginn des Konfliktes bildeten die Abolitionisten auch im Norden noch immer eine Minderheit, und kaum jemand wäre bereit gewesen, für die Befreiung der Sklaven in den Kampf zu ziehen. Doch ebendiese hatte Lincoln bereits in die Wege geleitet, als er den zitierten Brief an Greeley schrieb. Sklavenbefreiung Über Lincolns Haltung zur Sklavenbefreiung bemerkte der afroamerikanische Schriftsteller und Abolitionist Frederick Douglass 1876: In der Tat war Lincoln nie radikaler Abolitionist und wurde es auch im Krieg nicht. In dem berühmten Brief an Greeley unterschied er zwischen seinem persönlichen Wunsch, nach dem alle Menschen frei sein sollten, und seiner Pflicht als Amtsträger, nach Recht und Gesetz zu handeln. Laut Gesetz aber war die Sklaverei im Süden erlaubt. Nach Lincolns Vorstellung sollte sie in einem allmählichen Prozess abgeschafft und die Sklavenhalter für den Verlust ihres „Besitzes“ entschädigt werden. Diesen Standpunkt vertrat er noch bis in die Anfangsphase des Bürgerkriegs hinein. So widerrief er beispielsweise die Anordnungen des Generalmajors John Charles Frémont, der die Sklaven von Plantagenbesitzern, die gegen die Union kämpften, für frei erklärt hatte. Auf gar keinen Fall war Lincoln vor 1861 bereit, die Sklavenfrage durch einen Krieg zu entscheiden. Indem sie aber von sich aus zur Gewalt gegriffen hatten, waren die Südstaaten nach Lincolns Auffassung selbst vom Weg des Rechtes und der Verfassung abgekommen. Je länger der Krieg dauerte, je mehr Opfer er forderte und je mehr Widerhall die Proteste der Abolitionisten fanden, desto stärker wurde Lincolns Überzeugung, dass die Sklaverei als Quelle allen Übels endgültig abgeschafft werden müsse. Dazu kam, dass er die Sklavenbefreiung mehr und mehr als Mittel begriff, den Süden wirtschaftlich und militärisch zu treffen. Kongress und Senat hatten bereits 1861 und 1862 sogenannte Confiscation Acts verabschiedet, durch die unter anderem die Sklaven konföderierter Soldaten für frei erklärt wurden. Dies sollte das Militär der Südstaaten schwächen. Am 22. Juli 1862 informierte Lincoln sein Kabinett über die geplante Proklamation zur Sklavenbefreiung. Da auch sie als Kriegsmaßnahme gedacht war, gab Außenminister Seward zu bedenken, dass die Erklärung nach der Reihe schwerer Niederlagen, die die Union bis dahin erlitten hatte, als Zeichen der Schwäche missdeutet werden könne. Daher gab Lincoln die Proklamation erst im September bekannt, nach dem Unionssieg in der Schlacht am Antietam. Am 1. Januar 1863 trat die Emanzipations-Proklamation schließlich in Kraft. Ihr entscheidender Passus besagte: Die Proklamation galt also vorerst nur für die Gebiete der Konföderierten, um die loyal gebliebenen Sklavenstaaten nicht zu verprellen. Aber die Befreiung der Sklaven war nun ein offizielles Kriegsziel der Union. Dessen moralisches Gewicht machte es England und Frankreich, die aus wirtschaftlichen und machtpolitischen Gründen die Sache der Konföderation unterstützten, unmöglich, aktiv auf deren Seite in den Krieg einzugreifen. Vollständig abgeschafft wurde die Sklaverei 1865. Indianerpolitik Als Befürworter der Free-Soil-Bewegung unterzeichnete Lincoln 1862 den Homestead Act, der 1863 in Kraft trat. Dieses Gesetz erlaubte es jedem Erwachsenen, sich auf unbesiedeltem Land niederzulassen und sich ein 160 Acre (etwa 64 ha) großes Areal anzueignen. Nach fünfjähriger Bewirtschaftung – oder bei Zahlung von 200 Dollar bereits nach einem halben Jahr – wurde er automatisch zum Eigentümer. Einerseits schuf dieses Gesetz, das bereits bestehende einzelstaatliche Regelungen ergänzte und vereinheitlichte, Rechtssicherheit für die Siedler. Andererseits ermöglichte es die Enteignung der Indianergebiete, indem es unterstellte, diese würden nicht bewirtschaftet. Vor allem nomadisch lebende Gruppen wurden nun verstärkt in Reservate abgedrängt. Das Heimstätten-Gesetz leistete dem Betrug Vorschub und führte zu zahllosen Konflikten zwischen Indianern und Siedlern, in denen die Gerichte meist zugunsten der letzteren entschieden. Im Sommer 1862, noch vor Inkrafttreten des Homestead Act und dreißig Jahre nach seiner Teilnahme am Krieg gegen die Sauk, sah sich Lincoln erneut einem Konflikt mit Indianern gegenüber. Nachdem vertraglich zugesicherte, staatliche Geldzahlungen an die Santee-Sioux in Minnesota ausgeblieben waren, gingen hungernde Mitglieder des Stammes gewaltsam gegen die örtliche Indianerbehörde und weiße Siedler vor. Kriegsminister Stanton beauftragte im September Generalmajor John Pope mit der Niederschlagung des Sioux-Aufstands. Pope, der für die kurz zuvor erlittene Niederlage der Unionstruppen in der 2. Schlacht am Bull Run verantwortlich gemacht wurde, hatte sich für den Einsatz freiwillig gemeldet, um seiner Absetzung als Befehlshaber der Virginia-Armee zuvorzukommen. In einem Befehl an den Kommandeur der Expedition, Oberst H. H. Sibley, schrieb er: „Es ist meine Absicht, die Sioux vollständig auszurotten. […] Sie müssen behandelt werden wie Wahnsinnige oder wilde Tiere und auf keinen Fall wie Menschen, mit denen man Verträge oder Kompromisse schließen kann.“ Nach der Niederschlagung des Aufstands wurden mehrere Hundert Sioux vor Militärgerichte gestellt und in Verfahren, die im Schnitt 10 bis 15 Minuten dauerten, zum Tode verurteilt. Pope wollte schließlich 303 Verurteilte hinrichten lassen, doch Lincolns Regierung fürchtete den ungünstigen Eindruck einer solchen Massenexekution auf die europäischen Regierungen, deren Einmischung in den Sezessionskrieg sie fürchtete. Andererseits forderten zahlreiche Siedler in Minnesota die Hinrichtung. 200 von ihnen griffen sogar das Gefangenenlager in Mankato an. Dennoch reduzierten Anwälte im Auftrag Lincolns die Zahl der Todesurteile drastisch. So wurden schließlich „nur“ 38 Männer gehängt, einer davon, Chaska, trotz seiner Begnadigung. Dies war die größte Massenhinrichtung in der amerikanischen Geschichte. Im Gegenzug sagte Lincoln, der sich massiven politischen Drucks zu erwehren hatte, die spätere Vertreibung der Indianer aus dem Bundesstaat zu sowie zwei Millionen Dollar Schadensersatz. Lincoln begründete die Hinrichtung damit, dass er nicht durch zu große Gnade einen weiteren Aufstand provozieren, aber auch nicht grausam sein wollte. In Minnesota wurde die hohe Anzahl der Begnadigungen eher schlecht aufgenommen: Bei der Präsidentschaftswahl 1864 gewann Lincoln zwar eine Mehrheit im Staat, doch fiel diese deutlich geringer aus als 1860. Darauf angesprochen, dass eine härtere Gangart dies hätte verhindern können, sagte Lincoln: „Ich konnte es mir nicht erlauben, Männer für Stimmen aufzuhängen.“ In Lincolns Amtszeit fiel auch das Sand-Creek-Massaker im Osten des damaligen Territoriums Colorado. Dabei töteten Soldaten unter dem Kommando von Oberst John Chivington am 29. November 1864 273 friedliche Cheyenne und Arapaho. Wesentlich beigetragen zur indianerfeindlichen Stimmung in dem Territorium hatte dessen Gouverneur John Evans, ein Mitbegründer der Republikanischen Partei und persönlicher Freund Lincolns. Evans, der Chivington für seine Tat ausgezeichnet und die wahren Umstände des Massakers verschleiert hatte, sah sich bald massiver Kritik ausgesetzt. Lincoln, der Evans eingesetzt hatte, stärkte ihm noch bis Anfang 1865 den Rücken, erst sein Nachfolger als Präsident, Andrew Johnson, enthob den Gouverneur im Sommer 1865 seines Amtes. Wiederwahl 1864 Die Konföderierten hatten im Sommer und Herbst 1863 bei Gettysburg, Vicksburg und Chattanooga schwere Niederlagen erlitten. Nach diesen Erfolgen der Union war endgültig klar, dass die Konföderierten den Krieg nicht aus eigener Kraft würden gewinnen können. Ihre einzige Chance bestand darin, den Krieg so lange und für den Norden so verlustreich weiterzuführen, dass Abraham Lincoln die Präsidentschaftswahlen von 1864 verlieren und durch einen neuen, verhandlungsbereiten Präsidenten ersetzt würde. Diese Chance war durchaus real. Der unerwartet lange und blutige Stellungskrieg, den General Grant seit dem Frühjahr 1864 im Norden Virginias führte, kostete die Regierung Lincoln weitgehend das Vertrauen der Bevölkerung. Der Präsident war im Sommer des Wahljahrs so unpopulär, dass er selbst mit einer Niederlage rechnete. In einem Memorandum vom 23. August 1864 schrieb er: „Die Wiederwahl dieser Regierung erscheint heute, wie seit einigen Tagen, als überaus unwahrscheinlich.“ Sein Gegenkandidat von den Demokraten war sein früherer Oberbefehlshaber McClellan, der grundsätzlich zu einem Verhandlungsfrieden mit dem Süden und zur Anerkennung seiner Unabhängigkeit bereit war. Erst in den letzten Wochen vor der Wahl wendete sich das Blatt, als die Ergebnisse des für den Norden äußerst erfolgreichen Atlanta-Feldzuges bekannt wurden: Die Truppen General Shermans hatten am 2. September 1864 Atlanta erobert, einen der wichtigsten Industriestandorte und Verkehrsknotenpunkte Georgias und des ganzen von der Konföderation noch gehaltenen Territoriums. Zudem besiegte Generalmajor Philip Sheridan am 19. Oktober im Shenandoah-Tal ein konföderiertes Korps, das zeitweilig sogar Washington bedroht hatte. Das Kriegsende schien jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die Republikaner setzten im Wahlkampf auf den von Lincoln geprägten Slogan „Mitten im Fluss soll man nicht die Pferde wechseln“ und bezeichneten die Positionen der Demokraten als landesverräterisch. Als Kandidat für die Vizepräsidentschaft ersetzte Lincoln den bisherigen Amtsinhaber, den weitgehend einflusslosen Nordstaatler Hannibal Hamlin, durch Andrew Johnson. Dieser gehörte der Demokratischen Partei an, stammte aus dem Konföderiertenstaat North Carolina und war 1857 von Tennessee in den Senat entsandt worden, hatte sich aber für die Union ausgesprochen. Seine Kandidatur sollte den Südstaatlern die Bereitschaft des Nordens signalisieren, sie nach dem Krieg gleichberechtigt in die wiederhergestellte Union zu integrieren. Gemeinsam mit Johnson kandidierte Lincoln im Rahmen der National Union Party, einer Wahlplattform aus Republikanern und einem Teil der Demokraten. Am 8. November hielten die USA als erstes demokratisches Land mitten in einem Krieg eine Wahl ab. Lincoln erzielte gegen den früheren Oberbefehlshaber des Unionsheeres George B. McClellan einen Erdrutschsieg: 55 Prozent der Wähler stimmten für ihn, und er erhielt sogar 212 von 233 Wahlmännerstimmen. Als erster Präsident seit Andrew Jackson vor 32 Jahren war er für eine zweite Amtszeit bestätigt worden. Seine Wähler entstammten vor allem der Bauern- und Arbeiterschaft sowie den städtischen Mittelschichten. Ihre geografischen Hochburgen waren Neuengland und die Staaten mit einem starken Anteil deutscher Einwanderer wie Wisconsin oder Illinois. Für den Präsidenten war es besonders bedeutsam, dass auch die Soldaten der Unionsarmee zu mehr als zwei Dritteln für ihn gestimmt hatten, obwohl sie sich von einem Sieg McClellans ein rascheres Ende der Kampfhandlungen erhoffen konnten. Vor der Wahl hatte Lincoln geäußert, es sei ihm lieber, mit der Mehrheit der Soldatenstimmen besiegt als ohne diese Mehrheit Präsident zu werden. In der Zeit bis zu seinem zweiten Amtsantritt setzte sich Lincoln energisch für die Verabschiedung des 13. Zusatzartikels zur US-Verfassung ein, der die Sklaverei auf dem Territorium der USA ein für alle Mal verbieten sollte. Nach dem Senat konnte er – nach einem vergeblichen Anlauf – am 31. Januar 1865 auch die nötige Zweidrittelmehrheit des Repräsentantenhauses zur Zustimmung bewegen. Um dem Sklavereiverbot endgültig Verfassungsrang zu verleihen, musste es jetzt nur noch von den Einzelstaaten ratifiziert werden. Ein weiteres, drängendes Problem war die Wiedereingliederung der Südstaaten in die Union. Am 4. März 1865 – anlässlich seiner zweiten Vereidigung als Präsident – versprach Lincoln, „Groll gegen niemanden“ und „Nächstenliebe gegen alle“ walten zu lassen. Er fasste bereits den Wiederaufbau des Südens und die Nachkriegsordnung ins Auge und hatte vor, den Südstaatlern milde Friedensbedingungen zu stellen. Die Rückkehr in die Union sollte ihnen so leicht wie möglich fallen. Gegen Widerstände aus der eigenen Partei setzte Lincoln den Grundsatz durch, dass ein abtrünniger Staat wieder gleichberechtigt in die Union aufgenommen werden sollte, sobald ein Zehntel seiner Bürger ihr den Treueid geleistet hätten. Sieg und Tod Der Krieg ging nun einem raschen Ende entgegen. Am 3. April eroberten Grants Truppen die Konföderiertenhauptstadt Richmond, und Lincoln besichtigte zwei Tage später das Amtszimmer seines Kontrahenten Jefferson Davis. Am 9. April 1865 kapitulierten die Reste von Lees Armee vor General Grant bei Appomattox Court House, Virginia. Die konföderierten Truppen unter General Joseph E. Johnston ergaben sich am 26. April General Sherman bei Durham, North Carolina. Den endgültigen Sieg hat Abraham Lincoln jedoch nicht mehr erlebt: Am Abend des 14. April, des Karfreitags 1865, besuchte er mit seiner Frau Mary und einem befreundeten Ehepaar eine Komödie im Ford’s Theatre in Washington, D.C. Während der Vorstellung verschaffte sich der Schauspieler John Wilkes Booth, ein fanatischer Sympathisant der Südstaaten, Zutritt zur Loge des Präsidenten und schoss ihm aus nächster Distanz mit einer Deringer-Vorderladerpistole von hinten in den Kopf. Ärzte aus dem Publikum waren sofort zur Stelle, aber die Kugel ließ sich nicht entfernen. Da der Präsident nicht transportfähig war, wurde er in das Petersen House gebracht, ein Privathaus direkt gegenüber dem Theater. Dort starb Lincoln am folgenden Tag, dem 15. April, um 7:22 Uhr morgens, ohne das Bewusstsein noch einmal wiedererlangt zu haben. Andrew Johnson, seit März Lincolns Vizepräsident, legte noch am selben Tag den Amtseid als sein Nachfolger ab. Das Attentat war Teil einer größeren Verschwörung: Eine Gruppe von Südstaaten-Anhängern um Booth hatte geplant, neben Lincoln weitere Regierungsmitglieder zu ermorden. So verletzte Lewis Powell bei einem Mordanschlag Außenminister Seward schwer, ebenso dessen Sohn und weitere Mitglieder seines Haushalts. Der deutschstämmige George Atzerodt, der auf Vizepräsident Andrew Johnson angesetzt war, schreckte im letzten Moment vor dem Mord zurück. Booth, der sich nach dem Mord beim Sprung aus der Präsidentenloge das Bein verletzt hatte, gelang mit Hilfe eines weiteren Komplizen, David Herold, die Flucht nach Virginia. Dort wurde er am 26. April auf einer abgelegenen Farm gestellt und bei einem Schusswechsel getötet. Ein Militärgericht verurteilte Ende Juni Powell, Atzerodt, Herold und Booths Zimmerwirtin Mary Surratt, die der Mitwisserschaft verdächtigt wurde, zum Tode. Sie wurden am 7. Juli 1865 im Fort Lesley J. McNair in Washington durch Hängen hingerichtet. Lincolns Sarg wurde mit einem Sonderzug auf etwa demselben Weg nach Springfield überführt, auf dem der neugewählte Präsident 1860 nach Washington gereist war. In allen größeren Städten wie New York und Chicago fanden Trauerprozessionen und -gottesdienste mit dem aufgebahrten Leichnam statt. Am 5. Mai 1865 wurde Abraham Lincoln auf dem Friedhof Oak Ridge Cemetery in seiner Heimatstadt Springfield beigesetzt. Am 23. Juni kapitulierten bei Fort Towson im Indianerterritorium die letzten Truppen der Konföderation. Lincolns Vermächtnis, der 13. Verfassungszusatz, trat nach der Ratifizierung durch die in der Verfassung vorgesehene Mindestanzahl von Dreiviertel der im damaligen Kongress vertretenen Bundesstaaten am 18. Dezember 1865 in Kraft. Nachleben Als der Dichter Walt Whitman von Lincolns Tod erfuhr, widmete er ihm das Gedicht O Captain! My Captain! Es spricht von einem Kapitän, der sein Schiff durch große Gefahren sicher in den Hafen steuert, das Ziel aber selbst nicht lebend erreicht. Später verglich Whitman den Präsidenten, der an einem Karfreitag tödlich verwundet worden war, mit Jesus Christus. Dies sind nur zwei von vielen Beispielen für die bis zur Verklärung reichende Verehrung, die Abraham Lincoln bereits unmittelbar nach seiner Ermordung zuteilwurde. Mehr als die nüchterne Beurteilung seiner Präsidentschaft trugen dazu die Art seines Todes und der Vergleich mit den eher glanzlosen Regierungszeiten seiner ersten Amtsnachfolger bei. Zunächst nur in den Nordstaaten, mit wachsendem zeitlichem Abstand zum Bürgerkrieg aber in den ganzen USA, setzte sich das Bild von Lincoln als einem der bedeutendsten Präsidenten der US-Geschichte durch. Während die weißen Amerikaner in ihm den Bewahrer der Union sahen, betrachteten ihn die Afroamerikaner vor allem als den Sklavenbefreier. Auch ihr Bild von Lincoln war von religiöser Metaphorik geprägt. Schon bei seinem Besuch in Richmond kurz vor Kriegsende wurde Lincoln von den Schwarzen als „Vater Abraham“ begrüßt. Später verglichen sie ihn mit Moses, der die Israeliten ins Gelobte Land geführt hatte, ohne dass es ihm vergönnt war, dieses selbst zu betreten. Auch eher zurückhaltende Beobachter wie Frederick Douglass, der Lincoln während seiner Präsidentschaft unablässig wegen seiner zögerlichen Haltung in der Sklavenfrage kritisiert hatte, äußerten sich im Rückblick voller Respekt: Heute wird der Mitbegründer der Republikanischen Partei von Angehörigen aller ethnischen Gruppen verehrt, von Konservativen und Liberalen ebenso wie von Linken. In Umfragen unter Historikern und der US-Bevölkerung wird er gemeinsam mit George Washington und Franklin D. Roosevelt stets als einer der drei besten US-Präsidenten bewertet. Die Freiwilligenverbände aus den USA, die im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik gegen die Putschisten unter General Franco kämpften, nannten sich Abraham-Lincoln-Brigade. Zahlreiche Orte in den USA wurden nach dem Präsidenten benannt, von kleinen wie Fort Abraham Lincoln in North Dakota bis zu großen wie der Hauptstadt Nebraskas. Insgesamt tragen 17 Countys seinen Namen. Die US Navy taufte mehrere Schiffe auf den Namen des Präsidenten, u. a. den Flugzeugträger USS Abraham Lincoln und das strategische Atom-U-Boot SSBN Abraham Lincoln. Auch die Automarke Lincoln wurde 1917 von deren Begründer Henry M. Leland nach ihm benannt. Als Forschungsstätte wurde 1889 in Springfield die Illinois State Historical Library ins Leben gerufen, die – um ein Museum und weitere Einrichtungen erweitert – am 16. April 2005 als The Abraham Lincoln Presidential Library and Museum neu eröffnet wurde. Das Wohnhaus von Abraham Lincoln im historischen Zentrum Springfields steht unter der Obhut des U.S. National Park Service und ist heute ebenso ein Museum wie Lincolns Geburtsstätte in Kentucky, der Ort des Attentats – Ford’s Theatre – und das dem Theater gegenüberliegende Sterbehaus in Washington. Lincolns Bild ziert den 5-Dollar-Schein sowie die 1-Cent-Münze. In 10 US-Bundesstaaten wird Lincolns Geburtstag als offizieller Feiertag begangen. Zu seinen und George Washingtons Ehren wurde der nationale Feiertag „Presidents Day“ eingeführt. Und neben den Köpfen George Washingtons, Thomas Jeffersons und Theodore Roosevelts wurde auch der Lincolns in die Felsen von Mount Rushmore in South Dakota gemeißelt. Der Komponist Aaron Copland schrieb 1942 das Tongedicht Lincoln Portrait mit einem gesprochenen Begleittext zu Ehren des 16. US-Präsidenten. Bereits 1922 war am Ufer des Potomac in Washington das Lincoln Memorial eingeweiht worden. Der klassizistische Tempelbau und das Kapitol markieren die beiden Enden der National Mall, der zentralen Achse der amerikanischen Hauptstadt. Die Gedenkstätte birgt eine Kolossalstatue Abraham Lincolns, die der Zeusstatue von Olympia nachempfunden ist. In ihre Südwand ist der Text der Gettysburg Address, in die Nordwand Lincolns zweite Amtsantrittsrede eingemeißelt. Seit ihrer Entstehung ist sie Schauplatz vieler großer Bürgerrechtsdemonstrationen gewesen. Martin Luther King hielt 1963 seine berühmte Rede I Have a Dream von den Stufen des Lincoln Memorials herab. Seit 1954 ziert der Slogan „Land of Lincoln“ die Kfz-Kennzeichen von Illinois. Ein 1984 entdeckter Asteroid des inneren Hauptgürtels wurde nach dem ehemaligen Präsidenten (3153) Lincoln benannt. In Lincolns 200. Geburtsjahr trat der erste afroamerikanische Präsident der USA sein Amt an. Barack Obama hatte seine Bewerbung als Präsidentschaftskandidat am 10. Februar 2007 vor dem alten Parlamentsgebäude in Springfield bekannt gegeben, in dem Lincoln 1858 seine bis heute nachwirkende House Divided Speech gehalten hatte. Sowohl bei seiner ersten als auch bei seiner zweiten Amtseinführung in den Jahren 2009 und 2013 legte der 44. Präsident der Vereinigten Staaten seinen Eid auf Lincolns Bibel ab. Um den anti-demokratischen Tendenzen ihrer Partei und den Machtmissbräuchen des damaligen Präsidenten Donald Trump entgegenzutreten, bildeten ehemalige Republikaner Ende 2019 die politische Gruppe The Lincoln Project. Die landesweite Bewegung zielte darauf ab, Wechselwähler und traditionelle Republikaner dazu zu bewegen bei der Präsidentschaftswahl 2020 für den demokratischen Kandidaten Joe Biden zu stimmen, der Obamas Vizepräsident gewesen war. Werke Collected Works of Abraham Lincoln. 8 Bände. Hg. von Roy Prentice Basler im Auftrag der Abraham Lincoln Association, Rutgers University Press, New Brunswick 1953 (Korrespondenz, Reden und andere Schriften), ISBN 978-0-8135-0172-7 Speeches and Letters by Abraham Lincoln. Hg. von Merwin Roe, J. M. Dent, London 1909, 1936, 1949 (Auswahlband) Literatur Erich Angermann: Abraham Lincoln und die Erneuerung der nationalen Identität der Vereinigten Staaten von Amerika (= Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge. Band 7). Stiftung Historisches Kolleg, München 1984 (Digitalisat). Michael Burlingame: Lincoln A Life Volume One and Two, Baltimore 2013, ISBN 978-1-4214-0973-3, ISBN 978-1-4214-1058-6 David Herbert Donald: Lincoln. Simon & Schuster, New York 1995, ISBN 0-684-80846-3. Shelby Foote: The Civil War. A Narrative. Bd. 1–3. New York 1974, Pimlico, London 1992–2001, ISBN 0-7126-9812-4. Henry Louis Gates, Jr., Donald Yacovone: Lincoln on Race & Slavery. Princeton University Press, Princeton 2009, ISBN 978-0-691-14234-0. Ronald D. Gerste: Abraham Lincoln. Begründer des modernen Amerika. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2008, ISBN 978-3-7917-2130-9. Doris Kearns Goodwin: Team of Rivals. The Political Genius of Abraham Lincoln. Penguin Books, London 2013, ISBN 978-0-241-96608-2. John Hay, John George Nicolay: Abraham Lincoln: A History (10 Bände). The Century Magazine, New York 1890 Ibram X. Kendi: Gebrandmarkt. 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Verfilmungen Seit 1911 ist Abraham Lincoln in fast 350 Filmen und Fernsehsendungen von Schauspielern dargestellt worden, unter anderem von Walter Huston, Henry Fonda, Gregory Peck, Raymond Massey, Hal Holbrook, Sam Waterston, Lance Henriksen, Daniel Day-Lewis und – besonders häufig (zehn Mal) – von Frank McGlynn senior. Day-Lewis erhielt für seine Hauptrolle in Steven Spielbergs Film Lincoln einen Oscar. Die wichtigsten Spiel- und Dokumentarfilme mit und über Lincoln sind: David Wark Griffith: Abraham Lincoln, 1930, Spielfilm John Ford: Der junge Mr. Lincoln, 1939, Spielfilm John Cromwell: Abe Lincoln in Illinois, 1940, Spielfilm George Schaefer: Lincoln, 1974, Fernsehserie Lamont Johnson: Lincoln, 1988, Miniserie Jack Bender: Im Schatten des Todes (The Perfect Tribute) (1991), Fernsehfilm mit Jason Robards als Lincoln Peter W. Kunhardt: Lincoln, 1992, Fernsehfilm Ken Burns: The Civil War. Der Amerikanische Bürgerkrieg. WDR/CS Associates, 1996, Dokumentarserie John Gray: Abraham Lincoln – Die Ermordung des Präsidenten (The Day Lincoln Was Shot), 1998, Fernsehfilm Robert Redford: Die Lincoln Verschwörung, 2010, Spielfilm Steven Spielberg: Lincoln, 2012, Spielfilm Adrian Moat: Tom Hanks: Die Lincoln-Verschwörung (Killing Lincoln), 2013, Fernsehfilm, National Geographic Channel Weblinks Abraham Lincoln Papers at the Library of Congress Mr. Lincoln’s White House (englisch) Mr. Lincoln and Freedom (englisch) Abraham Lincoln Research Site (englisch) Abraham Lincoln Assassination (englisch) Mr. Lincoln and Friends (englisch) Mr. Lincoln and New York (englisch) Biografie auf der Website des Weißen Hauses (englisch) Lincoln’s death too sad to describe (The Guardian, 14. April 1865, Originalbericht) Abraham Lincoln online (englisch) The Lincoln Institute (englisch) American President: Abraham Lincoln (1809–1865). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Michael Burlingame) Lincoln Home National Historic Site Springfield, Illinois (englisch) Lincoln Memorial Washington, D.C. (englisch) The Alfred Whital Stern Collection of Lincolniana, American Memory (englisch) The American Presidency Project: Abraham Lincoln. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Life Portrait of Abraham Lincoln auf C-SPAN, 28. Juni 1999, 178 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit dem Autor David E. Long und den Historikern Edna Greene Medford und Timothy Townsend sowie Führung durch die Lincoln Home National Historic Site) Einzelnachweise Präsident der Vereinigten Staaten Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten für Illinois Mitglied des Repräsentantenhauses von Illinois Mitglied der United States Whig Party Mitglied der Republikanischen Partei Person im Sezessionskrieg Opfer eines Attentats Mordopfer Rechtsanwalt (Vereinigte Staaten) Namensgeber für ein Schiff Politiker (19. Jahrhundert) Person (Duell) Person als Namensgeber für einen Asteroiden US-Amerikaner Geboren 1809 Gestorben 1865 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Carl%20von%20Linn%C3%A9
Carl von Linné
Carl von Linné (latinisiert Carolus Linnaeus; vor der Erhebung in den Adelsstand 1756 Carl Nilsson Linnæus; * 23. Mai 1707 in Råshult bei Älmhult; † 10. Januar 1778 in Uppsala) war ein schwedischer Naturforscher, der mit der binären Nomenklatur die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie schuf. Sein offizielles botanisches Autorenkürzel lautet „“. In der Zoologie werden „“, „“ und „“ als Autorennamen verwendet. Linné setzte sich als Student in seinem Manuskript Praeludia Sponsaliorum Plantarum mit der noch neuen Idee von der Sexualität der Pflanzen auseinander und legte mit diesen Überlegungen den Grundstein für sein späteres Wirken. Während seines Aufenthaltes in Holland entwickelte er in Schriften wie Systema Naturae, Fundamenta Botanica, Critica Botanica und Genera Plantarum die theoretischen Grundlagen seines Schaffens. Während seiner Tätigkeit für George Clifford in Hartekamp konnte Linné zum ersten Mal viele seltene Pflanzen direkt studieren und schuf mit Hortus Cliffortianus das erste nach seinen Prinzipien geordnete Pflanzenverzeichnis. Nach der Rückkehr aus dem Ausland arbeitete Linné für kurze Zeit als Arzt in Stockholm. Er gehörte hier zu den Gründern der Schwedischen Akademie der Wissenschaften und war deren erster Präsident. Mehrere Expeditionen führten ihn durch die Provinzen seiner schwedischen Heimat und trugen zu seiner Anerkennung bei. Ende 1741 wurde Linné Professor an der Universität Uppsala und neun Jahre später deren Rektor. In Uppsala führte er seine enzyklopädischen Anstrengungen weiter, alle bekannten Mineralien, Pflanzen und Tiere zu beschreiben und zu ordnen. Seine beiden Werke Species Plantarum (1753) und Systema Naturæ (in der zehnten Auflage von 1758) begründeten die bis heute verwendete wissenschaftliche Nomenklatur in der Botanik und der Zoologie. Leben Kindheit und Schule Carl Linnæus wurde am 23. Mai 1707 in der ersten Stunde nach Mitternacht im kleinen Ort Råshult im Kirchspiel Stenbrohult in der südschwedischen Provinz Småland geboren. Er war das älteste von fünf Kindern des Geistlichen Nils Ingemarsson Linnæus und dessen Frau Christina Brodersonia. Sein Vater interessierte sich sehr für Pflanzen und kultivierte in seinem Garten einige ungewöhnliche Pflanzen aus Deutschland. Diese Faszination übertrug sich auf seinen Sohn, der jede Gelegenheit nutzte, um Streifzüge in die Umgebung zu unternehmen und sich die Namen der Pflanzen von seinem Vater nennen zu lassen. Seine schulische Ausbildung begann im Alter von sieben Jahren durch einen Privatlehrer, der ihn zwei Jahre lang unterrichtete. 1716 schickten ihn seine Eltern auf die neu errichtete Domschule in Växjö mit dem Ziel, dass er später wie sein Vater und Großvater Pfarrer werden sollte. Der junge Linné litt unter den strengen Erziehungsmethoden der Schule. Das änderte sich erst, als er 1719 die Bekanntschaft des Studenten Gabriel Höök machte, der ihn privat unterrichtete. 1724 wechselte er an das Gymnasium. 1726 reiste sein Vater nach Växjö, um den Arzt Johan Stensson Rothman in einer medizinischen Angelegenheit zu konsultieren und sich über die Leistungen seines Sohnes zu informieren. Er musste erfahren, dass sein Sohn in den für das Pfarramt notwendigen Fächern Griechisch, Hebräisch, Theologie, Metaphysik und Rhetorik nur mäßige Leistungen erbrachte und ihnen wenig Interesse entgegenbrachte. Hingegen glänzte sein Sohn in Mathematik und den Naturwissenschaften, aber auch in Latein. Rothman, der das Talent Linnés für eine medizinische Laufbahn erkannte, bot dem schockierten Vater an, seinen Sohn unentgeltlich in sein Haus aufzunehmen und ihn in Botanik und Physiologie zu unterrichten. Rothman machte Linné mit dem Klassifizierungssystem der Pflanzen von Joseph Pitton de Tournefort bekannt und wies ihn auf Sébastien Vaillants Schrift zur Sexualität der Pflanzen hin. Studium Im August 1727 ging Linné nach Lund, um an der dortigen Universität zu studieren. Am Ende seiner Schulzeit hatte er vom Rektor des Gymnasiums Nils Krok ein nicht sehr schmeichelhaftes Schreiben für seine Bewerbung in Lund erhalten. Sein alter Freund Gabriel Höök, mittlerweile Magister der Philosophie in Lund, riet ihm, das Schreiben nicht zu verwenden. Er stellte dem Rektor der Universität Lund Linné stattdessen als seinen Privatschüler vor und erreichte so die Immatrikulation an der Universität Lund. Höök überzeugte Professor Kilian Stobæus, Linné in sein Haus aufzunehmen. Stobæus besaß neben einer reichhaltigen Naturaliensammlung eine sehr umfangreiche Bibliothek, die Linné jedoch nicht benutzen durfte. Durch den deutschen Studenten David Samuel Koulas, der zeitweise als Sekretär von Stobæus beschäftigt war, erhielt er dennoch Zugriff auf die Bücher, die er bis spät in die Nacht studierte. Im Gegenzug vermittelte er Koulas seine bei Rothman erlernten Kenntnisse in Physiologie. Verwundert über die nächtlichen Aktivitäten seines Zöglings trat Stobæus eines Nachts unvermittelt in das Zimmer Linnés und fand ihn zu seiner Überraschung in das Studium der Werke von Andrea Cesalpino, Caspar Bauhin und Joseph Pitton de Tournefort vertieft. Fortan hatte Linné freien Zugriff auf die Bibliothek. Während seines Aufenthaltes in Lund unternahm Linné regelmäßig Exkursionen in die Umgebung. So auch an einem warmen Tag Ende Mai 1728, als er mit seinem Kommilitonen Mattias Benzelstierna die Natur in Fågelsång erkundete und von einem kleinen, unscheinbaren Tier, der „Höllenfurie“, gebissen wurde. Die Wunde entzündete sich und konnte nur mit Mühe behandelt werden. Linné entging nur knapp dem Tod. Zur Erholung fuhr Linné im Sommer in seine Heimat. Hier traf er seinen Lehrer Rothman wieder, dem er von seinen Erfahrungen an der Universität Lund berichtete. Durch diesen Bericht gelangte Rothman, der an der Universität Uppsala studiert hatte, zu der Überzeugung, dass Linné sein Medizinstudium besser in Uppsala fortsetzen sollte. Linné folgte diesem Rat und brach am 3. September 1728 nach Uppsala auf. Die Zustände, die Linné an der dortigen Universität vorfand, waren desolat. Olof Rudbeck der Jüngere hielt einige wenige Vorlesungen über Vögel und Lars Roberg philosophierte über Aristoteles. Es gab keine Vorlesungen über Medizin und Chemie, es wurden keine Obduktionen durchgeführt und im alten Botanischen Garten wuchsen kaum zweihundert Arten. Im März 1729 machte Linné die Bekanntschaft von Peter Artedi, mit dem ihn bis zu dessen frühem Tod eine feste Freundschaft verband. Artedis Hauptinteresse galt der Chemie, aber er war auch Botaniker und Zoologe. Die beiden Freunde versuchten sich gegenseitig mit ihren Forschungen zu übertrumpfen. Sie merkten bald, dass es besser wäre, wenn sie die verschiedenen Gebiete der drei Naturreiche entsprechend ihren Interessen unter sich aufteilen würden. Artedi übernahm die Amphibien, Reptilien und Fische, Linné die Vögel und Insekten sowie, mit Ausnahme der Doldenblütler, die gesamte Botanik. Gemeinsam bearbeiteten sie die Säugetiere und die Mineralien. Etwa zu dieser Zeit nahm ihn Olof Celsius der Ältere in sein Haus auf. Linné half Celsius bei der Fertigstellung von dessen Werk Hierobotanicon. Die finanzielle Situation Linnés besserte sich. Im Juni 1729 erhielt er ein Königliches Stipendium (II. Klasse), das im Dezember 1729 (I. Klasse) noch einmal erhöht wurde. Zum Ende des Jahres 1729 entstand seine erste bedeutende Schrift Praeludia Sponsaliorum Plantarum, in der er sich zum ersten Mal mit der Sexualität der Pflanzen auseinandersetzte und die Wegbereiter für sein weiteres Lebenswerk war. Die Schrift wurde schnell bekannt und Olof Rudbeck suchte die persönliche Bekanntschaft Linnés. Zunächst verschaffte er Linné, gegen den Widerstand Robergs, die Stelle des Demonstrators des Botanischen Gartens und stellte ihn als Lehrer seiner drei jüngsten Söhne ein. Mitte Juni zog Linné in Rudbecks Haus. 1730/31 arbeitete Linné an einem Katalog der Pflanzen des Botanischen Gartens von Uppsala (Hortus Uplandicus, späterer Titel Adonis Uplandicus), von dem mehrere Fassungen entstanden. Die Pflanzen waren anfangs noch nach dem Tournefortschen System für die Klassifizierung der Pflanzen angeordnet, an dessen Gültigkeit Linné jedoch immer mehr Zweifel kamen. In der endgültigen Fassung vom Juli 1731, die er in Stockholm beendete, ordnete er die Pflanzen nach seinem eigenen aus 24 Klassen bestehenden System. Während dieser Zeit entstanden die ersten Entwürfe zu seinen frühen Werken, die in Amsterdam veröffentlicht wurden. Ende 1731 sah sich Linné veranlasst, Rudbecks Haus zu verlassen, da die Frau des Universitätsbibliothekars Andreas Norrelius (1679–1750), die in dieser Zeit ebenfalls dort wohnte, Gerüchte über ihn verbreitete, die das gute Verhältnis zu Rudbecks Familie untergruben. Er verbrachte den Jahreswechsel bei seinen Eltern. Reise durch Lappland In einem Brief vom 26. Dezember 1731 empfahl sich Linné der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala für eine Expedition in das weitgehend unerforschte Lappland und bat um die notwendige finanzielle Unterstützung. Als er keine Antwort erhielt, unternahm er Ende April 1732 einen weiteren Versuch und senkte den für die Reise notwendigen Geldbetrag um ein Drittel. Dieses Mal wurde ihm der Betrag gewährt und er begann am 23. Mai seine erste große Expedition. Die beschwerliche Reise dauerte knapp fünf Monate. Während der Reise hielt er alle seine Erlebnisse und Entdeckungen in einem Tagebuch fest. Am 21. Oktober 1732 traf er wieder in Uppsala ein. Zu den Strapazen der Reise und den Schulden, die Linné zusätzlich auf sich genommen hatte, kam noch die Enttäuschung, dass die Akademie nur wenige Seiten seiner Ergebnisse publizierte. Sein Buch über die lappländische Pflanzenwelt, Flora Lapponica, wurde erst 1737 in Amsterdam veröffentlicht. Von dieser Reise brachte er erstmals Spielregeln und Spielbrett des zur Wikingerzeit weit verbreiteten Spiels Tablut mit. Falun und die Reise durch Dalarna Im Frühjahrssemester 1733 hielt Linné private Kurse in Dokimastik und schrieb eine kurze Abhandlung über das für ihn neue Thema. Er katalogisierte seine Vogel- und Insektensammlung und arbeitete an zahlreichen Manuskripten. Von Clas Sohlberg, einem seiner Studenten, erhielt er eine Einladung, den Jahreswechsel 1733/1734 bei dessen Familie in Falun zu verbringen. Clas’ Vater, Eric Nilsson Sohlberg, war Inspektor der dortigen Minen, und so ergab sich für Linné die Möglichkeit, die Arbeit in den Minen ausgiebig zu studieren. Er kehrte erst im März 1734 nach Uppsala zurück und gab weiter Privatunterricht in Mineralogie, Botanik und Diätetik. Während des Aufenthaltes in Falun machte Linné die Bekanntschaft von Johan Browall, der die Kinder des Gouverneurs der Provinz Dalarna, Nils Reutersholm, unterrichtete. Reutersholm war beeindruckt von den Berichten über Linnés Lapplandreise und plante, eine solche Erkundungsreise in der von ihm verwalteten Provinz durchzuführen. Es fanden sich genügend Geldgeber für das Unternehmen, und die aus acht Mitgliedern bestehende Societas Itineraria Reuterholmiana (Reuterholm-Reise-Gesellschaft), der Linné als Präsident vorstand, wurde gegründet. Die Reise durch die Provinz Dalarna begann am 3. Juli 1734 und dauerte bis zum 18. August 1734. Linnés Reisebericht Iter Dalecarlicum wurde erst posthum veröffentlicht. Linné blieb in Falun und übernahm den Unterricht von Reutersholms Söhnen. Browall überzeugte ihn, ins Ausland zu gehen, um dort seinen Doktorgrad zu erhalten, der ihm bisher aufgrund seiner angespannten finanziellen Situation verwehrt geblieben war. Es fand sich schließlich eine Lösung für die Reisekosten. Linné sollte Clas Sohlberg nach Holland begleiten und unterrichten und dort promovieren. Er kehrte nach Uppsala zurück, um seine Reisevorbereitungen zu treffen, und traf nach einem kürzeren Aufenthalt in Stockholm Ende des Jahres wieder in Falun ein. Zum Jahreswechsel 1734/35 lernte er Sara Elisabeth Moraea kennen, eine Tochter des Stadtarztes von Falun, und machte ihr einen Heiratsantrag. Dieser wurde von ihrem Vater, der auf die wirtschaftliche Unabhängigkeit seiner Tochter bedacht war, unter der Bedingung akzeptiert, dass Linné seinen Doktorgrad erwerben und die Hochzeit innerhalb der nächsten drei Jahre stattfinden würde. Drei Jahre in Holland Linnés Reise südwärts führte ihn über Växjö und Stenbrohult. Am 15. April 1735 brach er von Stenbrohult nach Deutschland auf. Anfang Mai erreichte er Travemünde und begab sich sogleich nach Lübeck, von wo er am nächsten Morgen mit der Postkutsche nach Hamburg reiste. Hier lernte er Johann Peter Kohl kennen, den Herausgeber der Zeitschrift Hamburgische Berichte von Neuen Gelehrten Sachen. Er besuchte den umfangreichen Garten des Juristen Johann Heinrich von Spreckelsen, in dem er unter anderem 45 Aloe- und 56 Mittagsblumen-Arten zählte. Auch der Bibliothek von Johann Albert Fabricius stattete er einen Besuch ab. Als Linné unvorsichtigerweise eine siebenköpfige Hydra, die zu einem hohen Preis zum Verkauf stand und dem Bruder des Hamburger Bürgermeisters Johann Anderson gehörte, als Fälschung entlarvte, riet ihm der Arzt Gottfried Jacob Jänisch, Hamburg zügig zu verlassen, um möglichem Ärger aus dem Weg zu gehen. So brach Linné schon am 27. Mai von Altona nach Holland auf. Am 13. Juni kam Linné in Amsterdam an. Hier hielt er sich nur wenige Tage auf und segelte am Abend des 16. Juni nach Harderwijk, um endlich den lang erwarteten Abschluss als Doktor der Medizin zu erhalten. Noch am selben Tag schrieb er sich in das Album Studiosorum der Universität Harderwijk ein. Zwei Tage später bestand er bei Johannes de Gorter seine Prüfung als Candidatus Medicinae und übergab diesem seine Dissertation Hypothesis Nova de Febrium Intermittentium Causa, die er schon in Schweden fertiggestellt hatte. Die verbleibenden Tage bis zu seiner Prüfung verbrachte er botanisierend mit David de Gorter, dem Sohn seines Prüfers. Am Mittwoch, den 23. Juni 1735, bestand er sein Examen und kehrte, nachdem ihm sein Diplom ausgehändigt wurde, schon am nächsten Tag nach Amsterdam zurück. Hier verweilte er nur kurz, denn er wollte unbedingt Herman Boerhaave kennenlernen, der in Leiden wirkte. Das Treffen auf Boerhaaves Landsitz Oud Poelgeest kam erst aufgrund der Unterstützung von Jan Frederik Gronovius zustande, der ihm ein Empfehlungsschreiben ausstellte. Zuvor hatte Linné Gronovius und Isaac Lawson einige seiner Manuskripte gezeigt, darunter einen ersten Entwurf von Systema Naturae. Beide waren von der Originalität des Linnéschen Ansatzes, die drei Naturreiche Mineralien, Pflanzen und Tiere zu klassifizieren, so beeindruckt, dass sie beschlossen, das Werk auf eigene Kosten herauszugeben. Gronovius und Lawson wirkten als Korrektoren für dieses und weitere in Holland entstandene Werke Linnés und überwachten die Fortschritte der Drucklegung. Auf Boerhaaves Empfehlung fand Linné Arbeit und Unterkunft bei Johannes Burman, dem er bei der Zusammenstellung seines Thesaurus Zeylanicus half. In Burmans Haus stellte Linné sein Werk Bibliotheca Botanica fertig und lernte dort auf Empfehlung von Gronovius den Bankier George Clifford kennen. Gronovius hatte Clifford vorgeschlagen, Linné als Kurator seiner Sammlung in Hartekamp einzustellen und von ihm seinen Garten, den Hortus Hartecampensis, beschreiben zu lassen. Am 24. September 1735 begann Linné seine Arbeit in Hartekamp. Nur fünf Tage später erhielt er die Botschaft, dass sein Freund Peter Artedi, den er erst wenige Wochen vorher zufällig in Amsterdam wiedergetroffen hatte, in einem Amsterdamer Kanal ertrunken war. Linné erfüllte das wechselseitige Versprechen der Freunde, das Werk des anderen fortzuführen und zu veröffentlichen, und bearbeitete und verlegte während seiner Zeit in Holland die Werke von Artedi. Bald nach Linnés Ankunft in Hartekamp traf dort der deutsche Pflanzenzeichner Georg Dionysius Ehret ein, der von Clifford eine Zeitlang als Zeichner eingestellt wurde. Linné erklärte ihm sein neues Klassifizierungssystem für Pflanzen, woraufhin Ehret, zunächst für seinen privaten Gebrauch, eine Zeichnung mit den Unterscheidungsmerkmalen der 24 Klassen anfertigte. Die Tafel mit dem Titel Caroli Linnaei classes sive literae wurde gelegentlich mit der Erstausgabe von Linnés Systema Naturae zusammengebunden und war Bestandteil einiger weiterer seiner Werke. In Hartekamp arbeitete Linné an mehreren Projekten gleichzeitig. So entstanden hier seine Werke Fundamenta Botanica, Flora Lapponica, Genera Plantarum und Critica Botanica und gingen Seite für Seite nach der Korrektur zum Drucker. Nebenher gelang es ihm, mit Hilfe des deutschen Gärtners Dietrich Nietzel die in einem der Warmhäuser Cliffords wachsende Bananenpflanze zu Blüte und Fruchtansatz zu bringen. Dieses Ereignis war der Anlass für ihn, die Abhandlung Musa Cliffortiana zu schreiben. Das Werk ist die erste Monografie über eine Pflanzengattung. England und Frankreich Im Sommer 1736 wurde Linnés Arbeit in Holland durch eine Reise nach England unterbrochen. In London studierte er Hans Sloanes Sammlung und erhielt von Philip Miller aus dem Chelsea Physic Garden seltene Pflanzen für Cliffords Garten. Während des einmonatigen Aufenthaltes traf er mit Peter Collinson und John Martyn zusammen. Bei einem Kurzaufenthalt in Oxford lernte er Johann Jacob Dillen kennen. Zurück in Hartekamp arbeitete Linné unter dem zunehmenden Druck von Clifford am Hortus Cliffortianus weiter, dessen Fertigstellung sich aber insbesondere aufgrund von Problemen mit den Kupferstichen bis 1738 verzögerte. Im Sommer 1737 wurde ihm von Boerhaave der Posten eines Arztes der WIC, der Niederländischen Westindien-Kompanie in Niederländisch-Guayana angeboten. Er lehnte jedoch ab und empfahl Boerhaave stattdessen den Arzt Johann Bartsch, der ihm bei der Bearbeitung seiner Flora Lapponica geholfen hatte. Zu dieser Zeit hatte Linné bereits Pläne, Holland wieder zu verlassen, und schlug alle Angebote Cliffords aus, auf dessen Kosten zu bleiben. Erst als Adriaan van Royen ihn bat, den Botanischen Garten in Leiden nach seinem System neu zu ordnen und wenigstens noch über den Winter zu bleiben, gab Linné nach. Seine Reisepläne indes standen fest. Über Frankreich und Deutschland, wo er unter anderem Albrecht von Haller in Göttingen zu treffen hoffte, wollte er endgültig nach Schweden zurückkehren. Ein schweres Fieber, an dem er Anfang 1738 mehrere Wochen litt, verzögerte die Abreise jedoch immer weiter. Im Mai 1738 hatte sich Linné so weit erholt, dass er die Reise nach Frankreich antreten konnte. Von Leiden aus reiste er über Antwerpen, Brüssel, Mons, Valenciennes und Cambrai nach Paris. Van Royen hatte ihm ein Empfehlungsschreiben an Antoine de Jussieu mitgegeben. Dieser vertraute ihn aus Zeitmangel der Obhut seines Bruders Bernard de Jussieu an, der zu dieser Zeit den Lehrstuhl für Botanik am Jardin du Roi innehatte. Gemeinsam besichtigten sie den Königlichen Garten, die Herbarien von Joseph Pitton de Tournefort, Sébastien Vaillant und Joseph Donat Surian sowie die Büchersammlung von Antoine-Tristan Danty d’Isnard und unternahmen botanische Exkursionen in die Umgebung von Paris. Während einer Sitzung der Pariser Akademie der Wissenschaften wurde Linné aufgrund eines Vorschlags von Bernard de Jussieu korrespondierendes Mitglied der Akademie. Der Superintendant des Jardin du Roi Charles du Fay versuchte vergeblich, Linné von einem Verbleib in Frankreich zu überzeugen. Linné wollte jedoch endlich in seine Heimat zurückkehren. Er gab den Plan auf, nach Deutschland zu reisen, und schiffte sich nach einem Monat Aufenthalt in Frankreich in Rouen nach Schweden ein. Rückkehr nach Schweden und Heirat Über das Kattegat kam Linné in Helsingborg an. Nach einem kurzen Aufenthalt bei seiner Familie in Stenbrohult reiste er nach Falun weiter, wo kurz darauf die Verlobung mit Sara Elisabeth Moraea stattfand. Um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ließ er sich im September 1738 in Stockholm als Arzt nieder. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erlangte er durch die Bekanntschaft mit Carl Gustaf Tessin recht schnell Zugang zur Stockholmer Gesellschaft. Gemeinsam mit Mårten Triewald, Anders Johan von Höpken, Sten Carl Bielke, Carl Wilhelm Cederhielm und Jonas Alströmer gründete er im Mai 1739 die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften und wurde ihr erster Präsident. Die Präsidentschaft gab er satzungsgemäß Ende September 1739 bereits wieder ab. Ebenfalls im Mai 1739 wurde er Nachfolger von Triewald am Königlichen Bergwerkskollegium Stockholm, an dem er Vorlesungen über Botanik und Mineralogie hielt, sowie aufgrund einer Empfehlung des Admirals Theodor Ankarcrona Arzt der schwedischen Admiralität. Derart finanziell abgesichert konnte er am 26. Juni 1739 seine Verlobte Sara Elisabeth Moraea heiraten. Aus der Ehe gingen mit Carl, Elisabeth Christina, Sara Magdalena, Lovisa, Sara Christina, Johannes und Sofia sieben Kinder hervor. Sara Magdalena und Johannes starben bereits im Kindesalter. Linnés gleichnamiger Sohn Carl wurde wie sein Vater Botaniker, konnte das Werk des Vaters jedoch nur kurze Zeit fortführen und starb im Alter von 42 Jahren. Reise durch Öland und Gotland Einen Monat nach seiner Hochzeit kehrte Linné nach Stockholm zurück. Im Januar 1741 erhielt er vom Ständereichstag das Angebot, die Inseln Öland und Gotland zu erkunden. Linné und seine sechs Begleiter, darunter Johan Moraeus, ein Bruder seiner Frau, brachen am 26. Mai 1741 von Stockholm aus auf. Sie waren zweieinhalb Monate unterwegs und erregten durch ihre Tätigkeit im Vorfeld des Russisch-Schwedischen Kriegs manchmal den Verdacht russischer Spionageaktivitäten. Mit der Veröffentlichung des Reiseberichtes Öländska och Gothländska Resa 1745 hatte Linné zum ersten Mal ein Werk in seiner schwedischen Muttersprache verfasst. Bemerkenswert ist der Index des Werkes, in dem die Pflanzen verkürzt in zweiteiliger Weise benannt waren. Außerdem wurde mit einem numerischen Index auf die Arten in dem im gleichen Jahr erschienenen Werk Flora Suecica verwiesen. Professor in Uppsala Im Frühjahr 1740 starb Olof Rudbeck, und dessen Lehrstuhl für Botanik an der Universität Uppsala musste neu besetzt werden. Lars Roberg, Inhaber des Lehrstuhls für Medizin, wollte sich bald zur Ruhe setzen, so dass dieser Lehrstuhl ebenfalls neu zu vergeben war. Neben Linné gab es mit Nils Rosén von Rosenstein und Johan Gottschalk Wallerius zwei weitere Anwärter. In Absprache mit dem schwedischen Kanzler Carl Gyllenborg sollte Rosén die Stelle Rudbecks erhalten und Linné die freiwerdende Position von Roberg. Später sollten sie dann die Lehrstühle tauschen. Linnés offizielle Ernennung zum Professor für Medizin erfolgte am 16. Mai 1741. In seiner „Rede von der Bedeutung, in seinem eigenen Land zu reisen“ anlässlich der Übernahme das Lehrstuhls, die er am 8. November 1741 hielt, betonte er den ökonomischen Nutzen, der sich aus einer Kartierung der schwedischen Natur ergäbe. Jedoch sei es nicht nur wichtig, die Natur zu studieren, sondern auch lokale Krankheiten, deren Heilmethoden und die verschiedenartigen landwirtschaftlichen Methoden. Seine erste öffentliche Vorlesung fand knapp eine Woche später statt. Ende des Jahres tauschten Linné und Rosén die Lehrstühle. Linné unterrichtete Botanik, Diätetik, Materia Medica und hatte die Aufsicht über den Alten Botanischen Garten. Rosén lehrte Praktische Medizin, Anatomie und Physiologie. Für die Gebiete Pathologie und Chemie waren sie gemeinsam verantwortlich. Linné begann mit der Umgestaltung des Botanischen Gartens und beauftragte damit Carl Hårleman. Das zum Garten gehörende Haus von Olof Rudbeck dem Älteren wurde renoviert und Linné zog mit seiner Familie dort ein. Im Garten wurden neue Gewächshäuser errichtet und Pflanzen aus der ganzen Welt angesiedelt. In seinem Werk Hortus Upsaliensis beschrieb Linné 1748 etwa 3000 verschiedene Pflanzenarten, die in diesem Garten kultiviert wurden. In seiner Materia medica, einem 1749 erschienenen Handbuch für Ärzte und Apotheker, beschrieb er Heilpflanzen und ihre praktische Verwendung. 1750 wurde er Rektor der Universität Uppsala. Diese Position übte er bis wenige Jahre vor seinem Tod aus. Vor seinem Amtsantritt als Rektor hatte Linné noch zwei weitere Reisen durch Schweden unternommen. Vom 23. Juni bis 22. August 1746 bereiste er gemeinsam mit Erik Gustaf Lidbeck, der später Professor in Lund wurde, die Provinz Västergötland. Linnés Aufzeichnungen erschienen ein Jahr später unter dem Titel Västgöta Resa. Eine letzte Reise führte Linné vom 10. Mai bis 24. August 1749 durch die südlichste schwedische Provinz Schonen. Sein Student Olof Andersson Söderberg, der im Vorjahr bei ihm promoviert hatte und später Professor in Halle war, ging ihm während der Reise als sein Sekretär zur Hand. Die Skånska Resa wurde 1751 veröffentlicht. Mitte Dezember 1772 hielt er seine Abschiedsrede über „Die Freuden der Natur“. Species Plantarum Linnés Reisen durch Schweden ermöglichten es ihm, in den Werken Flora Suecica (1745) und Fauna Suecica (1746) die Pflanzen- und Tierwelt Schwedens ausführlich zu beschreiben. Sie waren wichtige Schritte zur Vollendung seiner beiden bedeutsamsten Werke Species Plantarum (erste Auflage 1753) und Systema Naturae (zehnte Auflage 1759). Linné ermutigte seine Schüler, die Natur unerforschter Regionen selbst zu erkunden, und verschaffte ihnen auch die Möglichkeiten dazu. Die auf Entdeckungsreise gegangenen Schüler nannte er „seine Apostel“. 1744 schickte ihm der dänische Apotheker August Günther fünf Bände des von Paul Hermann von 1672 bis 1677 in Ceylon angefertigten Herbariums und bat Linné, ihm bei der Identifizierung der Pflanzen zu helfen. Linné konnte etwa 400 der zirka 660 herbarisierten Pflanzen verwenden und in sein Klassifizierungssystem einordnen. Seine Ergebnisse veröffentlichte er 1747 als Flora Zeylanica. Ein schwerer Gichtanfall zwang Linné 1750, seinem Schüler Pehr Löfling den Inhalt von Philosophia Botanica (1751) zu diktieren. Das auf seinen in Fundamenta Botanica formulierten 365 Aphorismen aufbauende Werk war als Lehrbuch der Botanik konzipiert. Er stellte darin sein System zu Unterscheidung und Benennung von Pflanzen dar und erläuterte es durch knappe Kommentare. Von Mitte 1751 bis 1752 arbeitete Linné intensiv an der Fertigstellung von Species Plantarum. In der Mitte 1753 erschienenen zwei Bänden beschrieb er auf 1200 Seiten mit ungefähr 7300 Arten alle ihm bekannten Pflanzen der Erde. Besondere Bedeutung hat das Epitheton, das er als Marginalie zu jeder Art am Seitenrand vermerkte und das eine Neuerung gegenüber seinen früheren Werken war. Der Gattungsname und das Epitheton bilden zusammen den zweiteiligen Namen der Art, so wie er in der modernen botanischen Nomenklatur noch heute verwendet wird. Systema Naturae Im Veröffentlichungsjahr von Species Plantarum erschien mit Museum Tessinianum eine Aufstellung der Objekte der Mineralien- und Fossiliensammlung von Carl Gustaf Tessin, die Linné angefertigte hatte. Das Sammeln von naturhistorischen Kuriositäten war zu dieser Zeit auch in Schweden sehr verbreitet. Adolf Friedrich hatte in Schloss Drottningholm eine Sammlung seltener Tierarten zusammengetragen und beauftragte Linné mit deren Inventarisierung. Linné verbrachte dafür in den Jahren 1751 bis 1754 insgesamt neun Wochen auf dem Schloss des Königs. Der erste Band von Museum Adolphi Friderici (1754) enthielt 33 Zeichnungen (zwei von Affen, neun von Fischen und 22 von Schlangen). Es ist das erste Werk, in dem die binäre Nomenklatur durchgängig in der Zoologie angewendet wurde. In der 10. Auflage von Systema Naturae übernahm Linné die binäre Nomenklatur endgültig für die Tierarten, die im ersten Band beschrieben sind. Im zweiten Band von Systema Naturae behandelte er die Pflanzen. Ein ursprünglich geplanter dritter Band, der die Mineralien zum Inhalt haben sollte, erschien nicht. 1758, das Erscheinungsjahr von Systema Naturae, markiert damit den Beginn der modernen zoologischen Nomenklatur. Die schwedische Königin Luise Ulrike hatte in ihrem Schloss Ulriksdal ebenfalls eine naturhistorische Sammlung angelegt, die aus 436 Insekten, 399 Muscheln und 25 weiteren Mollusken bestand und in der Abhandlung Museum Ludovicae Ulricae (1764) durch Linné beschrieben wurde. Den Anhang bildete der zweite Band der Beschreibung des Museums ihres Mannes mit 156 Tierarten. Letzte Jahre In seinen letzten Lebensjahren war Linné damit beschäftigt, die zwölfte Auflage von Systema Naturae (1766–1768) zu bearbeiten. Es entstanden die als Anhang dazu gedachten Werke Mantissa Plantarum (1767) und Mantissa Plantarum Altera (1771). In ihnen beschrieb er neue Pflanzen, die er von seinen Korrespondenten aus der ganzen Welt erhalten hatte. Im Mai 1774 erlitt er während einer Vorlesung im Botanischen Garten der Universität Uppsala einen Schlaganfall. Ein zweiter Schlaganfall 1776 lähmte seine rechte Seite und schränkte seine geistigen Fähigkeiten ein. Carl von Linné starb am 10. Januar 1778 an einem Geschwür an der Harnblase und wurde im Dom zu Uppsala begraben. Rezeption und Nachwirkung Der im 20. Jahrhundert wirkende britische Botaniker William Thomas Stearn fasste Linnés Bedeutung folgendermaßen zusammen: Lebenswerk Mit seinen Verzeichnissen Species Plantarum (für Pflanzen, 1753) und Systema Naturae (für Pflanzen, Tiere und Mineralien, 1758/1759 beziehungsweise 1766–1768) schuf Linné die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Nomenklatur. In diesen beiden Werken gab er zu jeder beschriebenen Art zusätzlich ein Epitheton an. Gemeinsam mit dem Namen der Gattung diente es als Abkürzung des eigentlichen Artnamens, der aus einer langen beschreibenden Wortgruppe (Phrase) bestand. Aus Canna foliis ovatis utrinque acuminatis nervosis entstand so die leicht zu merkende Bezeichnung Canna indica. Das Ergebnis der Einführung zweiteiliger Namen ist die konsequente Trennung der Beschreibung einer Art von ihrer Benennung. Durch diese Trennung konnten neu entdeckte Pflanzenarten unproblematisch in seine Systematik aufgenommen werden. Linnés Systematik umfasste die drei Naturreiche Mineralien (einschließlich der Fossilien), Pflanzen und Tiere. Im Gegensatz zu seinen Beiträgen zur Botanik und Zoologie, deren fundamentale Bedeutung für die biologische Systematik schnell anerkannt wurde, blieben seine mineralogischen Untersuchungen bedeutungslos, da ihm die dafür notwendigen chemischen Kenntnisse fehlten. Die erste chemisch begründete Klassifizierung der Mineralien wurde 1758 von Axel Frederic von Cronstedt aufgestellt. In grundsätzlicher Opposition zu der von Linné vertretenen Auffassung, dass die ganze Natur in eine Taxonomie erfasst werden kann, stand der zeitgenössische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon. Buffon war der Ansicht, dass die Natur zu unterschiedlich und zu reich sei, um sich einem so strengen Rahmen anzupassen. Der Philosoph Michel Foucault beschrieb Linnés Vorgehensweise des Klassifizierens so, dass es ihm darum gegangen sei, „systematisch wenige Dinge zu sehen“. Ihm sei es insbesondere darum gegangen, die Ähnlichkeiten der Dinge in der Welt aufzulösen. So schrieb Linné in seiner Philosophia Botanica: „Alle dunklen Ähnlichkeiten sind nur zur Schande der Kunst eingeführt worden“. Linné ging zudem von der Konstanz der Arten aus: „Es gibt so viele Arten, als Gott am Anfang als verschiedene Gestalten geschaffen hat.“ Er unterteilte die Arten bewusst anhand künstlich ausgewählter Merkmale wie Anzahl, Form, Größenverhältnis und Lage in Klassen und Ordnungen, um ein einfach zu handhabendes und leicht erlernbares System für die Einordnung der Arten zu schaffen. Bei den Pflanzen verwandte er beispielsweise Merkmale der Staubblätter, um die Klasse zu bestimmen, und Merkmale der Stempel, um die Ordnung einer Pflanzenart festzulegen. Auf diese Weise entstand ein „künstliches System“, da es die natürlichen Verwandtschaftsverhältnisse der Arten untereinander nicht berücksichtigte. Die Gattungen und Arten hielt er für natürlich und ordnete sie daher unter Verwendung einer Vielzahl von Kennzeichen entsprechend ihrer Ähnlichkeit. Linné war bestrebt, ein „natürliches System“ zu schaffen, kam jedoch über Ansätze wie Ordines Naturales in der sechsten Auflage von Genera Plantarum (1764) nicht hinaus. Für die Pflanzen gelang es erst Antoine-Laurent de Jussieu, ein solches natürliches System aufzustellen. Auszeichnungen und Würdigung Linné wurde am 30. Januar 1747 zum Archiater (Leibarzt) des Königs ernannt. Am 27. April 1753 wurde ihm der Nordstern-Orden verliehen. Ende 1756 wurde Carl Linnaeus vom schwedischen König Adolf Friedrich geadelt und erhielt den Namen Carl von Linné. Den auf den 20. April 1757 datierten Adelsbrief unterzeichnete der König im November 1761. Die Erhebung in den Adelsstand wurde erst Ende 1762 mit der Bestätigung durch das Riddarhuset wirksam. Linné war Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien und Gelehrtengesellschaften. Hierzu zählten unter anderem die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina, der er ab dem 3. Oktober 1736 (Matrikel-Nr. 464) unter dem akademischen Beinamen Dioscorides II. angehörte, die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala, die Société Royale des Sciences de Montpellier, die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften, die Royal Society, die Académie royale des Sciences, Inscriptions et Belles-Lettres de Toulouse, die Pariser Akademie der Wissenschaften, die Russische Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg und die Königliche Großbrittannische Churfürstliche Braunschweigische Lüneburgische Landwirthschaftsgesellschaft Celle. Jan Frederik Gronovius benannte Linné zu Ehren die Gattung Linnaea (Moosglöckchen) der Pflanzenfamilie der Linnaeaceae. Ebenso sind nach ihm der Mondkrater Linné im Mare Serenitatis, der Asteroid Linnaeus sowie das Mineral Linneit benannt. Ferner ist er Namensgeber für die Linnaeus Terrace in der Antarktis. Der Botaniker William Thomas Stearn schlug 1959 das im Dom von Uppsala bestattete Skelett von Carl von Linné zum Lectotypus für die Art Homo sapiens vor. Homo sapiens wurde dadurch nach den zoologischen Nomenklaturregeln gültig als diejenige Tierart definiert, zu der Carl von Linné gehörte. Die Banknote zu 100 Kronen der Schwedischen Krone führte von 2001 bis zum 30. Juni 2017 das Bildnis Carl von Linnés. Nachlass und Briefwechsel Nach dem Tod Linnés und dem Tod seines Sohnes Carl bot seine Frau Sara den gesamten Nachlass Joseph Banks für 3000 Guineen zum Kauf an. Dieser lehnte jedoch ab und überzeugte James Edward Smith, die Sammlung zu erwerben. Im Oktober 1784 kam Linnés Sammlung in London an und wurde in Chelsea öffentlich ausgestellt. Linnés Nachlass ist heute im Besitz der Londoner Linné-Gesellschaft, deren höchste Auszeichnung die jährlich vergebene Linné-Medaille ist. Linné unterhielt bis zu seinem Tod einen umfangreichen Briefwechsel mit Partnern in der ganzen Welt. Davon stammten ungefähr 200 aus Schweden und 400 aus anderen Ländern. Über 5000 Briefe sind erhalten geblieben. Allein sein Briefwechsel mit Abraham Bäck, seinem engen Freund und Vertrauten, umfasst weit über 500 Briefe. Wichtige botanische und zoologische Briefpartner waren Herman Boerhaave, Johannes Burman, Jan Frederik Gronovius und Adriaan van Royen in Holland, Joseph Banks, Mark Catesby, Peter Collinson, Philip Miller, James Petiver und Hans Sloane in England, Johann Reinhold Forster, Johann Gottlieb Gleditsch, Johann Georg Gmelin und Albrecht von Haller in Deutschland, Nikolaus Joseph von Jacquin in Österreich, sowie Antoine Nicolas Duchesne und Bernard de Jussieu in Frankreich. Kritiker Die von Linné schon 1729 als Student in Praeludia Sponsaliorum Plantarum verwendete Analogie von Pflanzen und Tieren hinsichtlich ihrer Sexualität provozierte etliche seiner Zeitgenossen zur Kritik. Eine erste Kritik zu Linnés Sexualsystem der Pflanzen schrieb Johann Georg Siegesbeck 1737 in einer Anlage zu seiner Schrift Botanosophiae: „[Wenn] acht, neun, zehn, zwölf oder gar zwanzig und mehr Männer in demselben Bett mit einer Frau gefunden werden [oder wenn] dort, wo die Betten der wirklichen Verheirateten einen Kreis bilden, auch die Betten der Dirnen einen Kreis beschließen, so dass die von verheirateten Männern begattet werden […] Wer möchte glauben, dass von Gott solche verabscheuungswürdige Unzucht im Reiche der Pflanzen eingerichtet worden ist? Wer könnte solch unkeusches System der akademischen Jugend darlegen, ohne Anstoß zu erregen?“ Julien Offray de La Mettrie spottete in L’Homme Plante (1748, kurz danach Bestandteil von L’Homme Machine) über Linnés System, indem er darin die Menschheit anhand der von Linné eingeführten Begriffe klassifizierte. Die Menschheit bezeichnete er als Dioecia (d. h. männliche und weibliche Blüten auf verschiedenen Pflanzen). Männer gehören zur Ordnung Monandria (ein Staubblatt) und Frauen zur Ordnung Monogyna (ein Stempel). Die Kelchblätter interpretierte er als Kleidung, die Kronblätter als Gliedmaßen, die Nektarien als Brüste und so fort. Selbst Johann Wolfgang von Goethe, der bekannte, „dass nach Shakespeare und Spinoza auf mich die größte Wirkung von Linné ausgegangen [ist], und zwar gerade durch den Widerstreit, zu welchem er mich aufforderte“, urteilte: „Wenn unschuldige Seelen, um durch eigenes Studium weiter zu kommen, botanische Lehrbücher in die Hand nehmen, können sie nicht verbergen, dass ihr sittliches Gefühl beleidigt sei; die ewigen Hochzeiten, die man nicht los wird, wobei die Monogamie, auf welche Sitte, Gesetz und Religion gegründet sind, ganz in vage Lüsternheit sich auflöst, bleibt dem reinen Menschensinn unerträglich.“ Schriften Werke (Auswahl) Linné hat zahlreiche Bücher verfasst, von denen viele in mehreren Auflagen erschienen. Einige davon sind in digitalisierter Form bei verschiedenen Anbietern wie dem Gallica-Projekt der Französischen Nationalbibliothek, der Online Library of Biological Books, der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, der Botanicus Digital Library und der Google Buchsuche im Volltext verfügbar. Zu den wichtigsten Werken Linnés zählen: Praeludia Sponsaliorum Plantarum. Uppsala, 1729; digitalisierte Fassung Florula Lapponica. In Acta Literaria et Scientiarum Sueciae. Band 3, S. 46–58, 1732 Systema Naturae. Johan Wilhelm de Groot, Leiden 1735; digitalisierte Fassung Bibliotheca Botanica. Salomon Schouten, Amsterdam 1735; digitalisierte Fassung, Volltext Fundamenta Botanica. Salomon Schouten, Amsterdam 1735; digitalisierte Fassung Musa Cliffortiana. Leiden 1736; digitalisierte Fassung Flora Lapponica. Salomon Schouten, Amsterdam 1737; digitalisierte Fassung Genera Plantarum. Conrad Wishoff, Leiden 1737; digitalisierte Fassung der 2. Auflage Critica Botanica. Conrad Wishoff, Leiden 1737; digitalisierte Fassungen: Google-Bücher, ULB Düsseldorf Hortus Cliffortianus, Amsterdam 1738; digitalisierte Fassung Classes Plantarum. Conrad Wishoff, Leiden 1738; digitalisierte Fassungen: Gallica, ULB Düsseldorf Öländska och Gothländska Resa. Gottfried Kiesewetter: Stockholm und Uppsala 1745; digitalisierte Fassung Flora Suecica. Lars Salvius: Stockholm 1745; digitalisierte Fassung Fauna Suecica. Lars Salvius: Stockholm 1746; digitalisierte Fassung Västgöta Resa. Lars Salvius: Stockholm 1747; digitalisierte Fassung Flora Zeylanica. Lars Salvius: Stockholm 1747; digitalisierte Fassungen: Stueber, Bayerische Staatsbibliothek Hortus Upsaliensis. Lars Salvius: Stockholm 1748; digitalisierte Fassung Materia Medica. Lars Salvius: Stockholm 1749; digitalisierte Fassung Skånska Resa. Lars Salvius: Stockholm 1751; digitalisierte Fassung Philosophia Botanica. Gottfried Kiesewetter: Stockholm 1751; digitalisierte Fassung Species Plantarum. Lars Salvius: Stockholm 1753; digitalisierte Fassung Museum Tessinianum. Lars Salvius: Stockholm 1753; digitalisierte Fassung Museum S. R. M. Adolphi Friderici. Lars Salvius: Stockholm 1754; digitalisierte Fassung Systema Naturae. 10. Auflage, Lars Salvius: Stockholm 1758; digitalisierte Fassung Museum S. R. M. Ludovicae Ulricae. Lars Salvius: Stockholm 1764; digitalisierte Fassung Mantissa Plantarum. Lars Salvius: Stockholm 1767; digitalisierte Fassungen: Google-Books, Bayerische Staatsbibliothek Mantissa Plantarum Altera. Lars Salvius: Stockholm 1771; digitalisierte Fassungen: Gallica, Bayerische Staatsbibliothek Zeitschriftenartikel Für folgende Zeitschriften hat Linné Artikel verfasst: Acta Societatis Regiae Scientiarum Upsaliensis Kongliga Svenska Vetenskaps Academiens Handlingar Memoires de l’Academie Royale des Sciences de Paris Nova Acta Regiae Societatis Scientiarum Upsaliensis Novi Commentarii Academiae Scientiarum Imperialis Petropolitanae Post- och Inrikes Tidningar Dissertationen Unter dem Vorsitz von Linné sind von 1743 bis 1776 insgesamt 185 Dissertationen entstanden, die ihm häufig direkt zugeschrieben werden. Die Dissertationen seiner Doktoranden wurden im zehnbändigen Amoenitates Academicae (Stockholm bzw. Erlangen, 1751–1790) veröffentlicht. Literatur Biographien Wilfrid Blunt: The Compleat Naturalist: A Life of Linnaeus. 2001. ISBN 0-7112-1841-2 Cecilia Lucy Brightwell: A life of Linnaeus. London 1858 Florence Caddy: Through the fields with Linnaeus. 2 Bände, London 1887 Theodor Magnus Fries: Linné: Lefnadsteckning. 2 Bände, Stockholm, 1903 Heinz Goerke: Linné. Arzt – Naturforscher – Systematiker. Stuttgart 1966 Edward Lee Greene: Carolus Linnaeus. Philadelphia 1912 Benjamin D. Jackson: Linnaeus. London 1923 Lisbet Koerner: Linnaeus: Nature and Nation. Harvard University Press 1999. ISBN 0-674-00565-1 Richard Pulteney: A General View of the Writings of Linnaeus. London 1781 Dietrich Heinrich Stöver: Leben des Ritters Carl von Linné, Verlag Hoffman, Hamburg 1792. Englische Ausgabe: The Life of Sir Charles Linnaeus London 1794 Bibliografien seiner Schriften Basil Harrington Soulsby: A catalogue of the works of Linnaeus (and publications more immediately thereto) preserved in the libraries of the British Museum (Bloomsbury) and the British Museum (Natural History – South Kensington). 2. Auflage, London 1933 Johan Markus Hulth: Bibliographia linnaeana. Materiaux pour servir a une bibliographie linnéenne. Uppsala 1907 Felice Bryk: Bibliographia Linnaeana ad Species plantarum pertinens. In: Taxon. Band 2, Nr. 3, Mai 1953, S. 74–84. Felice Bryk: Bibliographia Linnaeana ad Genera plantarum pertinens. In: Taxon. Band 3, Nr. 6, Sept. 1954, S. 174–183. Briefwechsel Theodor Magnus Fries, Johan Markus Hulth (Herausgeber): Bref och skrifvelser af och till Carl von Linné. 8 Bände, Stockholm 1907–1922 James Edward Smith (Herausgeber): A Selection of the Correspondence of Linnaeus. 2 Bände, London 1821 Briefwechsel von Carl von Linné Zur Rezeption seines Werkes A. J. Boerman: Carolus Linnaeus. A Psychological Study. In: Taxon. Band 2, Nr. 7, Oktober 1953, S. 145–156 (doi:10.2307/1216487). Felix Bryk: Promiskuitat der Gattungen als artbildender Faktor. Zur zweihundertsten Wiederkehr des Erscheinungsjahres der fünften Auflage von Linnés Genera plantarum (1754). In: Taxon. Band 3, Nr. 6, September 1954, S. 165–173 (doi:10.2307/1215954). Carl Johan Clemedson: Semiotik und Krankheitsdiagnostik in den Vorlesungen Carl von Linné’s über sein Systema Morborum. In: Christa Habrich, Frank Marguth, Jörn Henning Wolf (Hrsg.) unter Mitarbeit von Renate Wittern: Medizinische Diagnostik in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Heinz Goerke zum sechzigsten Geburtstag. München 1978 (= Neue Münchner Beiträge zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften: Medizinhistorische Reihe. Band 7/8), ISBN 3-87239-046-5, S. 255–268. John Lewis Heller: Linnaeus’s Hortus Cliffortianus. In: Taxon. Band 17, Nr. 6, Dezember 1968, S. 663–719 (doi:10.2307/1218012). John Lewis Heller: Linnaeus’s Bibliotheca Botanica. In: Taxon. Band 19, Nr. 3, Juni 1970, S. 363–411 (doi:10.2307/1219065). Otto E. A. Hjelt: Carl von Linné als Arzt und seine Bedeutung für die medicinische Wissenschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Medicin. Wilhelm Engelmann, Leipzig 1882 (online). James L. Larson: Linnaeus and the Natural Method. In: Isis. 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Curt: Halle 1764 Band 1, Westgothland Band 2 Nemesis Divina (auf Schwedisch vollständig ediert 1968; auf Deutsch 1983, von Wolf Lepenies, Lars Gustafsson, Ullstein: Frankfurt/M.) Weblinks Lebensdaten der Vorfahren und Nachkommen The Linnaeus Server u. a. mit Museum Adolphi Friderici (englisch) Werke in der Königlichen Bibliothek zu Stockholm u. a. Systema Naturae. 1. Auflage (schwedisch) The Linnean Collections The Linnaean Plant Name Typification Project Einzelnachweise Botaniker (18. Jahrhundert) Mediziner (18. Jahrhundert) Ichthyologe Arachnologe Hochschullehrer (Universität Uppsala) Rektor (Universität Uppsala) Samische Studien Nobilitierter (Schweden) Mitglied der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften in Uppsala Mitglied der Leopoldina (18. Jahrhundert) Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Royal Society Mitglied der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften Mitglied der Kongelige Norske Videnskabers Selskab Mitglied der Académie des sciences Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Mondkrater Namensgeber für eine Pflanzengattung Träger des Nordstern-Ordens Absolvent der Universität Uppsala Gärtner Schwede Geboren 1707 Gestorben 1778 Mann
1860
https://de.wikipedia.org/wiki/Goldener%20Schnitt
Goldener Schnitt
Der Goldene Schnitt ( „Goldener Schnitt“, „göttliche Proportion“), gelegentlich auch stetige Teilung einer Strecke, bezeichnet ihre Zerlegung in zwei Teilstrecken in der Weise, dass sich die längere Teilstrecke zur kürzeren Teilstrecke verhält wie die Gesamtstrecke zur längeren Teilstrecke. Das Konzept ist bereits seit der Antike zur Zeit des Euklid bekannt. Der Goldene Schnitt findet häufige Anwendung in der Kunst, taucht aber auch in der Natur auf. Durch mathematische Formeln ausgedrückt gilt für den Goldenen Schnitt zweier Teilstrecken und (siehe Bild): oder . Das mittels Division dieser Größen als Zahl berechnete Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes ist eine dimensionslose, irrationale Zahl, das heißt eine Zahl, die sich nicht als Bruch ganzer Zahlen darstellen lässt. Die Folge ihrer Nachkommastellen zeigt daher auch kein periodisches Muster. Diese Zahl wird ebenfalls als Goldener Schnitt bezeichnet. Als mathematisches Symbol für den Goldenen Schnitt wird meist der griechische Buchstabe Phi (, oder , heutige Aussprache ), seltener auch Tau (, ) oder verwendet. Es gilt , wobei die Quadratwurzel aus 5 bezeichnet. Seit 2021 sind 10 Billionen Dezimalstellen des Goldenen Schnittes bekannt. Aus Sicht der Mathematik besitzt der goldene Schnitt zahlreiche besondere Eigenschaften. Neben der geometrischen Auffassung kann er auch als die positive Lösung der quadratischen Gleichung definiert werden. Er ist damit eine algebraische Zahl vom Grade 2. Bemerkenswert ist seine enge Verbindung zu der Fibonacci-Folge, die sich durch die explizite Binet-Formel ausdrückt, obgleich die Fibonacci-Folge zunächst nur rekursiv, also implizit erklärt ist. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass der Goldene Schnitt unter den irrationalen Zahlen (bis auf eine gewisse Form der Äquivalenz) am schlechtesten durch Brüche angenähert werden kann. Zentrales Argument für diese Tatsache ist seine Kettenbruchentwicklung, die nur aus der Zahl 1 besteht, ergo unter allen Kettenbrüchen am langsamsten konvergiert. Der Goldene Schnitt ist in der mathematischen Literatur seit der Zeit der griechischen Antike (Euklid von Alexandria) nachgewiesen, war jedoch vor mehr als 2300 Jahren nur Wenigen bekannt. Vereinzelt schon im Spätmittelalter und besonders dann in der Renaissance, etwa durch Luca Pacioli und Johannes Kepler, wurde er auch in philosophische und theologische Zusammenhänge gestellt. Der Überlieferung nach erhielt er mit diesem Namen erst ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts größeren Bekanntheitsgrad. Die heute gebräuchliche Bezeichnung bzw. für den Zahlenwert geht auf den amerikanischen Mathematiker Mark Barr zurück, der sie um das Jahr 1909 herum einführte. Einigen bedeutenden Künstlern, wie Leonardo da Vinci, Friedrich Hölderlin oder Béla Bartók, wurde nachgesagt, den Goldenen Schnitt gezielt bei manchen ihrer Werke eingesetzt zu haben, jedoch gelten solche Aussagen als umstritten. Der Goldene Schnitt ist nicht nur in Mathematik, Kunst oder Architektur von Bedeutung, sondern findet sich auch in der Natur, beispielsweise bei der Anordnung von Blättern und in Blütenständen mancher Pflanzen wieder. Definition Man sagt, dass zwei Größen im Verhältnis des Goldenen Schnittes stehen, falls erfüllt ist. Die Zahl wird dann ebenfalls Goldener Schnitt genannt. Es muss sich bei den Werten und dabei nicht um (dimensionslose) reelle Zahlen handeln; auch eine Assoziation zu physikalischen Größen unter Zuweisung entsprechender Maßeinheiten ist möglich. Klassisch ist dabei die Veranschaulichung über das Teilungsverhältnis zweier Strecken (bei dem die längere Strecke als „Major“ und die kürzere als „Minor“ bezeichnet wird), aber auch andere Einheiten können betrachtet werden, siehe zum Beispiel Goldenes Rechteck. In der Literatur wird der Ausdruck „Goldener Schnitt“ jedoch auch für andere Dinge verwendet. Er bezeichnet den Vorgang der Teilung an sich, gelegentlich den Teilungspunkt, meist jedoch die Zahl selbst. Bestimmung des Verhältnisses Es bezeichnen die Teilstreckenlängen der Gesamtstrecke . Es gilt dann nach Definition des Goldenen Schnitts die Relation . Multipliziere mit : Die Lösung der quadratischen Gleichung mittels Lösungsformel ist . Nur die positive Lösung ist hier von Bedeutung: Damit ist . Geschichte Antike Die erste erhalten gebliebene genaue Beschreibung des Goldenen Schnittes findet sich im zweiten Buch der Elemente des Euklid (um 300 v. Chr., siehe Innere Teilung nach Euklid), der darauf über seine Untersuchungen an den platonischen Körpern und dem Fünfeck beziehungsweise dem Pentagramm stieß. Seine Bezeichnung für dieses Teilungsverhältnis wurde später ins Lateinische als „“ übersetzt, was als „Teilung im inneren und äußeren Verhältnis“ bezeichnet wird. Mittelalter In seinem Rechenbuch Liber abbaci (nicht erhaltene Erstfassung 1202, erhaltene 2. Fassung nicht vor 1220), einem umfangreichen arithmetischen und algebraischen Lehrwerk über das Rechnen mit den indo-arabischen Ziffern, kommt der italienische Mathematiker Leonardo da Pisa, genannt „Fibonacci“, kurz auf die später nach ihm benannte Fibonacci-Folge zu sprechen. Fibonacci führt die Zahlenfolge vor (2, 3, 5, 8 … bis 377) und weist darauf hin, dass sich jedes Glied der Reihe (ab dem dritten) durch Summierung der beiden vorhergehenden Reihenglieder errechnen lässt. Eine weitere Beschäftigung mit dieser Folge findet sich bei ihm nicht, das heißt der Zusammenhang zum Goldenen Schnitt wird von ihm nicht dargestellt. Dass ihm allerdings der (erst später so genannte) Goldene Schnitt bekannt und in der Tradition Euklids ein Begriff war, zeigt sich gegen Ende seines Werks bei einer algebraischen Aufgabe, in der es (in moderner Formulierung wiedergegeben) darum geht und zu finden mit und . Hierzu weist Fibonacci darauf hin, dass im Fall von die Proportion gilt, 10 also von und im Verhältnis des Goldenen Schnittes geteilt wird („“). Aber auch hier stellt er den Zusammenhang zum goldenen Schnitt nicht her. Renaissance Die Entdeckung, dass sich bei Teilung eines Gliedes der Fibonacci-Folge durch das vorhergehende Reihenglied als Näherungswert ergibt, wurde lange Zeit Johannes Kepler zugeschrieben, konnte jedoch Ende des 20. Jahrhunderts schon in einer handschriftlichen Anmerkung nachgewiesen werden, mit der ein mutmaßlich aus Italien stammender Leser in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Euklids Theorem II.11 in der Euklid-Ausgabe Paciolis von 1509 kommentierte: Der Herausgeber dieser Euklid-Ausgabe, der Franziskaner Luca Pacioli di Borgo San Sepolcro (1445–1514), der an der Universität Perugia Mathematik lehrte, hatte sich intensiv mit dem Goldenen Schnitt befasst. Er nannte diese Streckenteilung „vermutlich als erster […] (göttliches Verhältnis)“, was sich auf Platons Identifizierung der Schöpfung mit den fünf platonischen Körpern bezog, zu deren Konstruktion der Goldene Schnitt ein wichtiges Hilfsmittel darstellt. Sein gleichnamiges Werk De divina proportione von 1509 besteht aus drei unabhängigen Büchern. Bei dem ersten handelt es sich um eine rein mathematische Abhandlung, die jedoch keinerlei Bezug zur Kunst und Architektur herstellt. Das zweite ist ein kurzer Traktat über die Schriften des Römers Vitruv aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. zur Architektur, in denen Vitruv die Proportionen des menschlichen Körpers als Vorlage für Architektur darstellt. Dieses Buch enthält eine Studie von Leonardo da Vinci (1452–1519) über den vitruvianischen Menschen. Das Verhältnis der Seitenlänge des den Menschen umgebenden Quadrats zum Radius des umgebenden Kreises – nicht das Verhältnis der Proportionen des Menschen selbst – in diesem berühmten Bild entspricht mit einer Abweichung von 1,7 % dem Goldenen Schnitt, der jedoch im zugehörigen Buch gar nicht erwähnt wird. Darüber hinaus würde diese Abweichung bei einem konstruktiven Verfahren nicht zu erwarten sein. Im Oktober 1597 stellte Johannes Kepler in einem Brief an seinen früheren Tübinger Professor Michael Maestlin die Frage, warum es nur eine einzige mögliche Lösung für die Aufgabe gebe, ein rechtwinkliges Dreieck zu konstruieren, bei dem das Verhältnis der kürzeren zur längeren Seite dem der längeren zur Hypotenuse entspricht (Kepler-Dreieck). Auf das Original dieses Briefes notierte Maestlin eine Berechnung, die die Hypotenuse einmal mit 10 und einmal mit 10.000.000, und für den letzteren Fall dann die längere Seite mit 7.861.514 und die kürzeste Seite mit 6.180.340 beziffert. Das entspricht einer bis auf die sechste Nachkommastelle genauen (und bis zur fünften korrekten) Angabe des Goldenen Schnittes und ist nach den älteren sexagesimalen Berechnungen der Antike die erste bekannte dezimale Angabe dieser Art. Seit dem 18. Jahrhundert Populär wurde der Begriff Goldener Schnitt erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, obwohl die mathematischen Prinzipien schon seit der Antike bekannt waren. Der Begriff Goldene Zahl stammt aus dieser Zeit, noch 1819 wird dieser Begriff mit dem Meton-Zyklus in einem der griechischen Kalendersysteme in Verbindung gebracht. In der deutschen Literatur sind bereits Anfang des 18. Jahrhunderts vereinzelt Hinweise auf eine sinngemäße bzw. wortwörtliche Form des Begriffes „Goldener Schnitt“ zu finden. Erst ab dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts war er weiter verbreitet. Die folgenden Beispiele aus der deutschen Literatur verweisen auf den Begriff in ähnlicher Art und Weise. 1717 wurde der Begriff Goldener Schnitt sinngemäß von M. Johann Wentzel Kaschube in seinem Werk Cursus mathematicus … verwendet. Er beschreibt darin eine geometrische Aufgabe (Näheres im Abschnitt Konstruktionsverfahren), deren Lösung dieses besondere Teilungsverhältnis verlangt. Am Schluss der Aufgabe §.35. ist zu lesen: „Die Alten hissen [sc. hießen] diesen Schnitt den Goldenen.“ Zu jener Zeit fand das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes auch in der Akustik im Zusammenhang mit Verhältnissen der Saitenlänge Anwendung. Diese Form der Saitenteilung – so Ernst Florens Friedrich Chladni 1802 in Die Akustik unter Die geometrische Theilung  – wollte auch Gottfried Wilhelm Leibniz. Zwar lassen sich damit nicht Tonhöhenabstände, sprich Intervalle finden, „desto brauchbarer ist sie aber, wie im folgenden Abschnitte wird gezeigt werden, zu gewissen nothwendigen Abänderungen derselben.“ Chladni leitete die Tonverhältnisse also nicht aus den Saitenlängen ab, sondern aus den Verhältnissen der Schwingungszahlen. Bezüglich des Goldenen Schnitts merkt Chladni an: „Es ist diese Theilung eben dasselbe, was von einigen ältern Mathematikern, die besondere Eigenschaften darin finden wollten, sectio aurea, oder sectio divina [der Goldene Schnitt oder göttliche Schnitt] genennt worden ist.“ Etwas mehr als fünfzig Jahre später wurden die Proportionen des menschlichen Körpers wissenschaftlich mit denen des Goldenen Schnittes verglichen. Adolf Zeising benennt 1854 in Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers … das Ergebnis der „Maassbestimmungen […] kurzweg, das Proportionalgesetz“. Er beschreibt es als einen geometrischen Weg zur proportionalen Teilung einer Linie und stellt fest: Gustav Theodor Fechner, ein Begründer der experimentellen Psychologie, stellte 1876 bei Untersuchungen mit Versuchspersonen anhand von Rechtecken in der Tat eine Präferenz für den Goldenen Schnitt fest. Die Ergebnisse bei der Streckenteilung und bei Ellipsen fielen jedoch anders aus. Neuzeitliche Untersuchungen zeigen, dass das Ergebnis solcher Experimente stark vom Kontext der Darbietung abhängt. Fechner fand ferner bei Vermessungen von Bildern in verschiedenen Museen Europas, dass die Seitenverhältnisse im Hochformat im Mittel etwa 4:5 und im Querformat etwa 4:3 betragen und sich damit deutlich vom Goldenen Schnitt unterscheiden. Bis ins späte 20. Jahrhundert erhielt der Goldene Schnitt auf viele Art und Weise seine Aufmerksamkeit ausschließlich in der Makrowelt. Dann aber entdeckten Wissenschaftler bei Forschungen in der atomaren Welt überraschenderweise Gebilde mit mathematischen Kennwerten, die dem Goldenen Schnitt gleichen. Die Forschungsergebnisse der beiden folgenden Beispiele fanden in den betreffenden Wissenschaftsbereichen hohe internationale Anerkennung. Als Erster erkannte Dan Shechtman mit seinen Kollegen 1982 bei Röntgenstrukturanalysen Beugungsbilder mit fünfzähliger Symmetrie in Quasikristallen der Festkörperphysik. Für diese Entdeckung bekam Shechtman 2011 den Nobelpreis für Chemie. Näheres ist im Abschnitt Quasikristalle enthalten. Die erstmalige Entdeckung des Goldenen Schnitts in fester Materie gelang Forschern des Helmholtz-Zentrums Berlin für Materialien und Energie (HZB) im Kristall aus Kobalt-Niobat (veröffentlicht in der Zeitschrift Science, Januar 2010). Näheres ist im Abschnitt Kobalt-Niobat enthalten. Grundlegende mathematische Eigenschaften Irrationalität und Algebraizität Der Goldene Schnitt ist eine irrationale Zahl; das heißt, er lässt sich nicht als Bruch zweier ganzer Zahlen darstellen. Weiter bedeutet es, dass die Dezimalentwicklung kein periodisches Muster aufzeigt. Die ersten 50 Nachkommastellen des Goldenen Schnittes sind gegeben durch . Seit dem 14. Februar 2021 sind 10 Billionen Nachkommastellen von berechnet und verifiziert worden. Zudem gelten bereits 20 Billionen Stellen als berechnet, jedoch noch nicht als verifiziert. Der Grund, warum irrational ist, verbirgt sich hinter der Irrationalität von . Der Beweis, dass irrational sein muss, erfolgt analog zum Beweis der Irrationalität der Wurzel aus 2 bei Euklid. Dazu ist es nützlich, das Gesetz der bis auf die Reihenfolge eindeutigen Zerlegbarkeit natürlicher Zahlen in Primzahlen zu kennen. Nimmt man an, es sei mit einem vollständig gekürzten Bruch mit positiven ganzen Zahlen , so gilt bereits . Es ist also und ergo auch durch teilbar, da eine Primzahl ist. Damit besitzt also den Primteiler ,und dieser taucht bei in gerader Anzahl auf, da sich beim Quadrieren alle Primfaktoren verdoppeln. Da und teilerfremd sind – es ist nach Annahme vollständig gekürzt – taucht der Primfaktor nirgends in auf. Ergo taucht er nur einmal in auf. Dies ist ein Widerspruch zur eindeutigen Primfaktorzerlegung, die besagt, dass auf beiden Seiten gleich viele Fünfen auftauchen müssen, aber ist keine gerade Zahl. Zu guter Letzt muss dann auch irrational sein, da irrationale Zahlen im Produkt mit rationalen Zahlen (außer 0) und in Summe mit rationalen Zahlen wieder irrational sind. Die Goldene Zahl ist ferner eine algebraische Zahl vom Grad 2, insbesondere kann sie mit Zirkel und Lineal konstruiert werden. Damit grenzt sie sich von anderen berühmten Konstanten, wie der Kreiszahl oder der Eulerschen Zahl , ab, die transzendent, und damit niemals Nullstelle eines nicht-konstanten Polynoms mit rationalen Koeffizienten sind. Zusammenhang mit den Fibonacci- und Lucas-Zahlen In einem engen Zusammenhang zum Goldenen Schnitt steht die unendliche Zahlenfolge der Fibonacci-Zahlen (siehe unten die Abschnitte Mittelalter und Renaissance): . Die jeweils nächste Zahl in dieser Folge wird als Summe der beiden vorangehenden erhalten. Das Verhältnis zweier aufeinanderfolgender Zahlen der Fibonacci-Folge strebt gegen den Goldenen Schnitt (siehe Tabelle). Das rekursive Bildungsgesetz bedeutet nämlich . Sofern dieses Verhältnis gegen einen Grenzwert konvergiert, muss für diesen gelten . In der Tat lässt sich daraus folgern. Die Glieder der Fibonacci-Folge lassen sich für alle über die Formel von Binet berechnen: . Diese Formel liefert die für die Fibonacci-Folge veranschlagten Anfangswerte und und erfüllt die rekursive Gleichung für alle mit . Ähnlich gilt für die -te Lucas-Zahl. Allgemeiner ist jede komplexe Folge mit von der Form , wobei komplexe Zahlen sind, und umgekehrt. Kettenbruchentwicklung Da der Goldene Schnitt irrational ist, stellt sich die Frage, wie gut er sich durch rationale Zahlen annähern lässt. Grundsätzlich konnte gezeigt werden, dass es für eine beliebige irrationale Zahl stets unendlich viele rationale Zahlen gibt, so dass . Dieses Resultat ist fundamental im Gebiet der diophantischen Approximation. Erhöht sich der Nenner , sind grundsätzlich auch bessere Annäherungen möglich, wie das sogar quadratische Abklingen der rechten Seite zeigt. Bemerkenswert ist die Konstante , die optimal gewählt ist, also nicht weiter vergrößert werden kann. Grund dafür ist der Goldene Schnitt, der (zusammen mit zu ihm äquivalenten Zahlen) die Eigenschaft hat, dass für alle nur endlich viele rationale Annäherungen mit existieren. Für irrationale Zahlen, die nicht zu äquivalent sind, lässt sich die Konstante größer als wählen (nämlich mit Wert  (Satz von Hurwitz)). Der Goldene Schnitt gehört also unter den irrationalen Zahlen zu den am schlechtesten durch rationale Zahlen approximierbaren. Da seine Kettenbruchentwicklung überdies nur Einsen enthält, ist er in diesem Sinn die „irrationalste aller Zahlen“. Der mathematische Beweis der oberen Aussage fußt auf sogenannten Kettenbrüchen. Jede reelle Zahl lässt sich (im Wesentlichen eindeutig) durch einen Kettenbruch darstellen. Bricht man diesen nach endlich vielen Schritten ab, ergibt sich eine „besonders gute“ rationale Annäherung an diese Zahl. Für die Goldene Zahl gilt nun aber , woraus sich durch wiederholte Anwendung ergibt: . Bricht man die Kettenbruchentwicklung ab, erhält man stets einen Bruch aus zwei aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen. Weil im Kettenbruch lediglich Einsen auftauchen – die kleinste natürliche Zahl –, nähert sich dieser Kettenbruch mit der „minimal möglichen Geschwindigkeit“ der Goldenen Zahl an. Im Vergleich ist der Kettenbruch zur Kreiszahl  – ebenfalls irrational – deutlich schneller konvergent. In der Theorie der dynamischen Systeme werden Zahlen, deren unendliche Kettenbruchdarstellung ab einer Stelle nur noch Einsen enthält, als „noble Zahlen“ bezeichnet. In diesem Kontext wird der Goldene Schnitt als „nobelste“ aller noblen Zahlen bezeichnet. Geometrische Aussagen Konstruktionsverfahren Als Konstruktionsverfahren werden nach den Postulaten des Euklid nur diejenigen Verfahren akzeptiert, die sich auf die Verwendung von Zirkel und Lineal (ohne Skala) beschränken. Für die Teilung einer Strecke im Verhältnis des Goldenen Schnittes gibt es eine Fülle derartiger Verfahren, von denen im Folgenden exemplarisch nur einige erwähnt werden. Unterschieden wird dabei eine innere und äußere Teilung. Bei der äußeren Teilung wird der in der Verlängerung der Ausgangsstrecke außen liegende Punkt gesucht, der die vorhandene Strecke zum (größeren) Teil des Goldenen Schnittes macht. Der Goldene Schnitt stellt dabei einen Spezialfall der harmonischen Teilung dar. Aufgeführt werden im Folgenden auch zwei moderne, von Künstlern gefundene Konstruktionen. Innere Teilung Äußere Teilung Im Fünfeck und im Pentagramm Regelmäßiges Fünfeck und Pentagramm bilden jeweils eine Grundfigur, in der das Verhältnis des Goldenen Schnittes wiederholt auftritt. Die Seite eines regelmäßigen Fünfecks befindet sich im Goldenen Schnitt zu seinen Diagonalen. Die Diagonalen untereinander wiederum teilen sich ebenfalls im Goldenen Verhältnis, das heißt, verhält sich zu wie zu . Der Beweis dazu nutzt die Ähnlichkeit geeignet gewählter Dreiecke. Das Pentagramm, eines der ältesten magischen Symbole der Kulturgeschichte, steht in einer besonders engen Beziehung zum Goldenen Schnitt. Zu jeder Strecke und Teilstrecke im Pentagramm findet sich ein Partner, der mit ihr im Verhältnis des Goldenen Schnittes steht. In der Abbildung sind alle drei möglichen Streckenpaare jeweils blau (längere Strecke) und orange (kürzere Strecke) markiert. Sie lassen sich über das oben beschriebene Verfahren der stetigen Teilung nacheinander erzeugen. Im Prinzip ist es damit in das verkleinerte Pentagramm fortsetzbar, das in das innere Fünfeck gezeichnet werden könnte, und damit in alle weiteren. Stünden die beiden Strecken in einem Verhältnis ganzer Zahlen, müsste dieses Verfahren der fortgesetzten Subtraktion irgendwann Null ergeben und damit abbrechen. Die Betrachtung des Pentagramms zeigt aber anschaulich, dass das nicht der Fall ist. Eine Weiterentwicklung dieser Geometrie findet sich bei der Penrose-Parkettierung. Für den Beweis, dass es sich um den Goldenen Schnitt handelt, beachte man, dass neben den vielen Strecken, die aus offensichtlichen Symmetriegründen gleich lang sind, auch gilt. Ursache ist, dass das Dreieck zwei gleiche Winkel besitzt, wie durch Parallelverschiebung der Strecke erkannt werden kann, und daher gleichschenklig ist. Nach dem Strahlensatz gilt: Wird ersetzt und die Gleichheit der auftretenden Teilstücke beachtet, so wird genau die obige Definitionsgleichung für den Goldenen Schnitt erhalten. Im gleichschenkligen Dreieck In einem gleichschenkligen Dreieck , dessen Grundseite längengleich zu der Höhe ist, teilt der innerhalb des Dreiecks liegende Schnittpunkt des Inkreises mit der Höhe diese im Goldenen Schnitt. Ohne Beschränkung der Allgemeinheit kann angenommen werden. Die rechtwinkligen Dreiecke und sind kongruent, da sie in zwei Seiten und dem (rechten) Gegenwinkel der größeren Seite übereinstimmen. Es gilt und damit . Nach dem Satz des Pythagoras gilt in dem rechtwinkligen Dreieck . Ebenfalls nach dem Satz des Pythagoras gilt in dem rechtwinkligen Dreieck : . Mit folgt hieraus = (Höhe von ABC) : (Durchmesser des Inkreises von ABC), was zu zeigen war. Im Umkreis eines gleichseitigen Dreiecks In dem gleichseitigen Dreieck schneidet die durch und verlaufende Parallele zu den Umkreis in und . Ist , dann teilt die Strecke im Goldenen Schnitt. Aus den Eigenschaften eines gleichseitigen Dreiecks und aus dem Strahlensatz folgen unmittelbar die Längengleichheiten und . Nach dem Sehnensatz gilt:   Somit teilt die Strecke im Goldenen Schnitt. Im Quader Für einen Quader mit den Kantenlängen , und , der Raumdiagonalenlänge und dem Volumen gelte , , und . Dann gilt für den Goldenen Schnitt das Verhältnis . Aus der Volumengleichung folgt wegen . (1) Da die Raumdiagonale die Länge 2 hat, gilt . (2) Aus (1) und (2) erhält man mit den Lösungen oder und damit analog oder . Wegen kommen nur und in Betracht. Also gilt . Im Ikosaeder Die 12 Ecken des Ikosaeders bilden die Ecken von 3 gleich großen, senkrecht aufeinanderstehenden Rechtecken mit gemeinsamem Mittelpunkt und mit den Seitenverhältnissen des Goldenen Schnittes. Die zwölf Ecken eines Ikosaeders sind also die zwölf Ecken dreier goldener Rechtecke, die paarweise aufeinander senkrecht stehen. Diese Anordnung der 3 Rechtecke wird auch Goldener-Schnitt-Stuhl genannt. Weil der Ikosaeder zum Pentagondodekaeder dual ist, bilden die 12 Mittelpunkte der Fünfecke ebenfalls die Ecken eines Goldener-Schnitt-Stuhls. Ferner kann in ein gegebenes Oktaeder ein Ikosaeder so einbeschrieben werden, dass dessen Ecken die Kanten des Oktaeders im goldenen Schnitt teilen. Goldenes Rechteck und Goldenes Dreieck Ein Rechteck, dessen Seitenverhältnis dem Goldenen Schnitt entspricht, wird als Goldenes Rechteck benannt; ebenso heißt ein gleichschenkliges Dreieck, bei dem zwei Seiten in diesem Verhältnis stehen, Goldenes Dreieck. Zum Vergleich von Rechtecksproportionen siehe Abschnitt Vergleich mit anderen prominenten Seitenverhältnissen. Ein Goldenes Dreieck ist Inhalt der Methode äußere Teilung im Abschnitt Konstruktionsverfahren, äußere Teilung Goldener Winkel Der Goldene Winkel wird erhalten, wenn der Vollwinkel im Goldenen Schnitt geteilt wird. Dies führt auf den überstumpfen Winkel Gewöhnlich wird aber seine Ergänzung zum Vollwinkel, als Goldener Winkel bezeichnet. Dies ist dadurch gerechtfertigt, dass Drehungen um keine Rolle spielen und das Vorzeichen nur den Drehsinn des Winkels bezeichnet. Durch wiederholte Drehung um den Goldenen Winkel entstehen immer wieder neue Positionen, etwa – wie im Bild – für die Blattansätze (Näheres im Abschnitt Biologie). Dabei zerlegen die ersten Positionen den Kreis in Ausschnitte. Diese Ausschnitte haben höchstens drei verschiedene Winkel. Im Fall einer Fibonacci-Zahl treten nur zwei Winkel auf. Für tritt der Winkel hinzu. Betrachtet man für wachsendes fortfolgend die sich verfeinernden Zerlegungen des Kreises, so teilt die -te Position stets einen der verbliebenen größten Ausschnitte, und zwar immer den im Verlauf der Teilungen zuerst entstandenen, das heißt den „ältesten“ Ausschnitt. Diese Teilung erfolgt im Goldenen Verhältnis, sodass, im Uhrzeigersinn gesehen, ein Winkel mit geradem vor einem Winkel mit ungeradem liegt. Wenn wir den Ausschnitt mit dem Winkel mit bezeichnen, so erhalten wir nacheinander die Kreiszerlegungen , , , , , , , , , usw. Goldene Spirale Die Goldene Spirale, unter anderem auch oder Bernoulli’sche Spirale genannt, ist ein Sonderfall der logarithmischen Spirale. Wie eine solche konstruktiv erzeugt werden kann, zeigen die beiden folgenden Möglichkeiten. Mithilfe eines Goldenen Rechtecks Diese Spirale lässt sich mittels rekursiver Teilung eines Goldenen Rechtecks in je ein Quadrat und ein weiteres, kleineres Goldenes Rechteck konstruieren. Ihr Radius ändert sich bei jeder 90°-Drehung um den Faktor . Die Goldene Spirale lässt sich unter Verwendung von Polarkoordinaten durch parametrisieren. Die Idee von Polarkoordinaten ist hierbei, einen Punkt in der Ebene durch seinen Abstand zum Ursprung und den mit der -Achse eingeschlossen Winkel festzulegen. Dessen Polarkoordinaten sind dann , und durch Wahl des Radius in Abhängigkeit vom sich verändernden Winkel lassen sich manche geometrische Figuren durch eine entsprechende Funktion einfacher beschreiben als in klassischen kartesischen Koordinaten. Zu beachten ist, dass mehrfache Umdrehungen um den Ursprung, etwa in den Fällen (Ausgangslage), (eine Volldrehung), (zwei Volldrehungen) usw. unterschiedliche Radii hervorrufen können, was auch an der nicht-periodischen Figur der Spirale zu erkennen ist. Eine brauchbare Näherung für die Goldene Spirale findet sich bereits bei Kepler. Man erhält diese Approximation, wenn man in die Quadrate Viertelkreise mit dem Radius der Seitenlänge des Quadrats einzeichnet. Dies ist im mittleren Bild illustriert. Im linken Bild wird die Güte dieser Approximation veranschaulicht. Die Goldene Spirale ist unter den logarithmischen Spiralen durch die folgende Eigenschaft ausgezeichnet. Seien vier auf der Spirale aufeinanderfolgende Schnittpunkte mit einer Geraden durch das Zentrum. Dann sind die beiden Punktepaare und harmonisch konjugiert, das heißt, für ihr Doppelverhältnis gilt: Mithilfe eines Goldenen Dreiecks Eine vergleichbare Möglichkeit für die konstruktive Darstellung einer Goldenen Spirale bietet das Goldene Dreieck. Das nebenstehende Bild zeigt ein solches gleichschenkliges Dreieck mit den Basiswinkeln und dem Scheitelwinkel bei . Es gilt: . In diesem Fall beinhaltet die Konstruktion der Goldenen Spirale die rekursive Teilung eines Goldenen Dreiecks in je ein gleichschenkliges stumpfwinkliges Dreieck und in ein weiteres, kleineres Goldenes Dreieck. Dies ist begründet durch eine sogenannte Drehstreckung . Sie enthält eine Drehung um (entspricht ). Daraus ergibt sich eine Streckung mit dem Faktor . Konstruktion Es beginnt mit dem Halbieren des Winkels am Scheitel . Dabei teilt der generierte Punkt die Schenkellänge im goldenen Schnitt. Es entsteht dabei das gleichschenklige stumpfwinklige Dreieck sowie das Dreieck . Dass letzteres auch ein Goldenes Dreieck ist, zeigt die folgende einfache Überprüfung der Winkelweiten. Am Scheitel ergibt sich durch die Winkelhalbierende des Ausgangsdreiecks die Winkelweite ; der Basiswinkel am Scheitel bleibt unverändert . Wird die Winkelsumme eines ebenen Dreiecks mit berücksichtigt, ist am Scheitel der Basiswinkel ebenfalls . Dies zeigt auf, das entstandene Dreieck und das Goldene Dreieck sind zwei zueinander ähnliche Dreiecke. Für den Nachweis, dass der Punkt tatsächlich die Schenkellänge im goldenen Schnitt teilt, gilt: . Nun bedarf es noch der Bestimmung des Polpunktes als Schnittpunkt der beiden Seitenhalbierenden und . Die darüber hinaus eingezeichneten goldenen Dreiecke und anderes mehr zeigen, dass diese Vorgehensweise beliebig weit fortgesetzt werden kann. Mit und sind die ersten fünf Punkte auf der – noch zu konstruierenden – Spirale bestimmt. Hat der Polpunkt die Polarkoordinaten , so gilt für die goldene Spirale () die Polargleichung . Angenäherte Goldene Spirale mittels Kreisbögen Praktikable Methode als Konstruktion mit Zirkel und Lineal An den gleichschenkligen stumpfwinkligen Dreiecken wird jeweils um deren Scheitelpunkt mit dem stumpfen Winkel, ein Kreisbogen mit der Winkelweite (entspricht ) und dem Radius gleich dem eines Schenkels gezogen. Mit anderen Worten: Am Dreieck wird um dessen Scheitelpunkt (mit dem stumpfen Winkel), ein Kreisbogen von nach gezogen. Gleiches gilt für die weiteren ähnlichen Dreiecke. Geometrisches Mittel Wird die Strecke mit Länge durch den Punkt im Verhältnis des Goldenen Schnitts in zwei Teilstrecken und mit Längen und geteilt, so ist bereits das geometrische Mittel der Zahlen und . Das folgt aus der allgemeinen Definition des geometrischen Mittels , hier: . In der Tat folgt mit bereits . Des Weiteren folgt daraus unmittelbar, dass wiederum das geometrische Mittel von und ist. Man hat in diesem Fall . Gefalteter und verknoteter Papierstreifen Mit der im Folgenden beschriebenen Papierstreifen-Methode erzeugt ein sogenannter Überhandknoten ein regelmäßiges Fünfeck (Bild 1), bei dem die Faltenlänge (rot) die Seitenlänge ist und die Diagonale (grün) – gebildet von der Kante des Papierstreifens – die Länge hat. Die Diagonale und die sich daran anschließenden drei Seiten des Fünfecks bilden ein symmetrisches Trapez. Hilfssatz (1) Ist ein symmetrischen Trapez (Bild 2), so gilt , so ist die Diagonale auch die Winkelhalbierende des Winkels . (2) Ist der Winkel , so verhält sich Beweise Zu (1) Vorausgesetzt das Dreieck ist gleichschenklig, so ist und . Aus der Symmetrie des Trapezes ergibt sich die Gleichheit der vier betrachteten Winkel (grün). Die beiden Diagonalen und schneiden sich im Scheitel und erzeugen damit den Scheitelwinkel . Infolgedessen sind die Basiswinkeln des gleichschenkligen Dreiecks gleich denen des . Demzufolge ergibt sich die Gleichheit . Somit ist bestätigt: ist die Winkelhalbierende von . Zu (2) Aufgrund der Voraussetzung folgt mittels Hilfssatz (1), der Winkel . Wegen der Symmetrie des Trapezes ist auch der Winkel . Da die Winkelsumme im Dreieck beträgt, ist auch . Demzufolge ist das Dreieck wegen seiner Innenwinkeln ein Goldenes Dreieck. Das Dreieck hat – für eine mögliche Zahl – deshalb die Seitenlängen . Somit ist bestätigt: . Vorbereitung des Papierstreifens Zuerst ist die Streifenbreite gleich der Trapezhöhe zu ermitteln und anschließend die Anordnung der vier Trapeze () darzustellen (Bild 3). Hierzu werden die ermittelten Abmaße des symmetrischen Trapezes – z. B. aus einem bereits konstruierten Fünfeck (siehe Bild 2) – auf einem Blatt Papier übertragen. Nach dem Beschriften der beiden Enden mit , bedarf es nur noch des Ausschneidens des Papierstreifens. Papierfaltung Bis zum fertigen Fünfeck sind nur drei Faltungen mit gleicher Faltrichtung und das Zusammenziehen des Überhandknotens erforderlich. Begonnen wird mit der Faltlinie , demzufolge das Trapez oberhalb des Streifenendes (Bild 4) zum liegen kommt. Der Punkt der Diagonale ist dabei direkt auf dem Punkt positioniert. Das regelmäßige Fünfeck kann man bereits jetzt erkennen. Die zweite Faltung mit der Faltlinie (Bild 5) und dritte Faltung mit (Bild 6) werden analog zur ersten ausgeführt. Schließlich benötigt es nur noch das Durchziehen (Verknoten) des Streifenendes zwischen dem Streifenende und dem Trapez , um das gesuchte regelmäßige Fünfeck mit Goldenen Schnitt zu erhalten. Weitere mathematische Eigenschaften Algebraische Zahlentheorie Der Goldene Schnitt ist als Nullstelle des Polynoms eine algebraische Zahl. Weil das Polynom normiert ist und alle Koeffizienten ganzzahlig sind, ist der Goldene Schnitt sogar algebraisch ganze Zahl. Es sei , dann ist eine Körpererweiterung von Grad 2. Damit ist ein quadratischer Zahlkörper. Es ist der reell-quadratische Zahlkörper kleinster Diskriminante, nämlich 5 (der reell-quadratische Zahlkörper mit nächstgrößerer Diskriminante ist mit Diskriminante 8). Es sei der zugehörige Ganzheitsring. Weil ganz ist, gilt , aber mehr als das: Wegen ist der Goldene Schnitt sogar Einheit des Ganzheitsrings . Sein multiplikativ Inverses ist . Dies lässt sich algebraisch allein durch Kenntnis des Minimalpolynoms zeigen: Jedoch ist der Goldene Schnitt nicht nur eine Einheit des Ganzheitsrings , sondern sogar Fundamentaleinheit des Ganzheitsrings. Das bedeutet, jedes Element aus ist von der Form mit . Darüber hinaus bilden eine -Basis von . Das heißt, jedes Element aus lässt sich eindeutig als mit schreiben. Es bildet auch eine -Basis von . Dabei ist . Kettenwurzel Aus lässt sich folgende unendliche Kettenwurzel herleiten: Setzt man also und mit , so gilt . Hinsichtlich der Konvergenzgeschwindigkeit gilt , wobei . Es gilt die exakte Formel . Sie kann auch implizit charakterisiert werden. Es bezeichne die für analytische Funktion, so dass die Differentialgleichung sowie und erfüllt ist. Dann gilt . Trigonometrische und Hyperbolische Funktionen Aus der Trigonometrie folgt unter anderem und , sowie . Es ist der volle Spitzwinkel und die Hälfte des stumpfen Außenwinkels des Pentagramms. Gelegentlich wird die Rolle des Goldenen Schnitts für das Fünfeck als vergleichbar bedeutend bezeichnet wie die der Kreiszahl für den Kreis. Ein weiterer Zusammenhang zur Kreiszahl ergibt sich über den Arkustangens, der Umkehrfunktion des Tangens aus der Trigonometrie. Es gilt . Der Goldene Schnitt lässt sich mit Hilfe der Eulerschen Zahl und der hyperbolischen Areasinus-Funktion ausdrücken: Unendliche Reihen Einsetzen von in die für gültige geometrische Reihenformel ergibt: . Es gilt zudem . Eine weitere Reihe, die den logarithmierten Goldenen Schnitt enthält, beinhaltet die mittleren Binomialkoeffizienten: . Da gleichzeitig auch die Identität für die nicht alternierende Variante gilt, wird hier eine „Verbindung“ zwischen der Kreiszahl und dem Goldenen Schnitt gesehen. Eine schnell konvergente Reihe beinhaltet die Fibonacci-Folge: . Rogers-Ramanujan Kettenbrüche Es gilt , . Dabei bezeichnet die Eulersche Zahl und die Kreiszahl. Setzt man für so hat man allgemeiner für mit , sowie . Diese Entdeckungen gehen auf Srinivasa Ramanujan zurück. Die Funktion wird auch als Rogers-Ramanujan-Kettenbruch bezeichnet und hat Verbindungen zur Theorie der Modulformen. Zusammenhang zur Chintschin-Levy-Konstante Definiert man den nächstgelegenen ganzzahligen Kettenbruch (englisch: nearest integer continued fraction) für reelle Zahlen via über die Rekursion so können die eventuell negative Zahlen sein. Für die Chintschin-Levy-Konstante gilt in diesem Falle für alle betroffenen reellen Zahlen bis auf eine Lebesgue-Nullmenge. Das bedeutet, dass alle Zahlen , „bis auf 0 %“ in einem asymptotischen Sinne, diese Gesetzmäßigkeit erfüllen. Ist zudem der (vollständig gekürzte) -te Näherungsbruch dieser Konstruktion, so gilt wieder bis auf Nullmenge . Alternierende Bit-Mengen Jede natürliche Zahl lässt sich eindeutig über das Binärsystem durch Nullen und Einsen ausdrücken. Innerhalb einer solchen Darstellung lassen sich nun sog. alternierende Bit-Mengen abzählen, die wie folgt erklärt sind: Von links nach rechts wechseln sich in den ausgewählten Positionen die Zahlen 1 und 0 ab. Die Zahl ganz zur Linken der ausgewählten Positionen ist 1. Die Zahl ganz zur Rechten der ausgewählten Positionen ist 0. Man bezeichnet die Anzahl der alternierenden Bit-Mengen einer Zahl mit . Es ist zum Beispiel , denn im Binärsystem gilt , und daher sind die möglichen alternierenden Bit-Mengen (aus formalen Gründen inklusive der leeren Menge): . Es bezieht sich z. B. auf . Es entspricht gleichzeitig der Anzahl der Möglichkeiten, als Summe von Zweierpotenzen zu schreiben, ohne dabei eine Potenz mehr als zweimal zu benutzen. Diese zahlentheoretische Funktion hat eine Verbindung zum Goldenen Schnitt, denn es konnte gezeigt werden. Dabei ist der Limes superior. Ob der innere Wert sogar 1 beträgt, konnte bisher nicht gezeigt werden. Verbindung zu speziellen Funktionen Über die Formel wird eine direkte Verbindung zur Gammafunktion hergestellt. Dabei ist wie üblich die Kreiszahl. Die Gammafunktion stellt eine Fortsetzung der Fakultätsfunktion auf komplexe Zahlen dar. Für den Trilogarithmus gilt die Identität . Dabei bezeichnet den Wert der Riemannschen Zeta-Funktion an der Stelle , der auch unter Apéry-Konstante bekannt ist. Varianten und Verallgemeinerungen Silberner Schnitt Der Silberne Schnitt beschreibt das definierte Größenverhältnis zweier Abschnitte mit unterschiedlicher Größe (oder Länge) einer Strecke (oder eines Bereichs). Ist etwas „nach dem Silbernen Schnitt geteilt“, so versteht man darunter: Das Verhältnis der Summe des verdoppelten größeren und des kleineren Teils zum größeren Teil ist gleich dem Verhältnis des größeren zum kleineren Teil. Es gilt also: . Er hat den Wert Ebenso wie der Goldene Schnitt ist er also eine quadratisch-irrationale Zahl. Wegen gilt . Variante über Rechteckflächen Es soll eine gegebene Strecke mit der Länge um eine Länge verlängert werden, sodass ein Rechteck mit der Verlängerung als Breite und als Länge, gleich ist, einem vorab bestimmten Rechteck mit der Länge und der Breite . Es soll also gelten, was sich auf die quadratische Gleichung reduziert. Daraus ergibt sich über die Mitternachtsformel sogleich da gelten soll. Ergeben Konstruktion oder Abmessungen des vorab bestimmten Rechtecks speziell so ergibt sich zusätzlich nach dem Umformen erhält man mit das Teilungsverhältnis des Goldene Schnittes. Die Verlängerung ist in diesem Falle die mittlere Proportionale, sprich das geometrische Mittel, zwischen und . Ephraim Salomon Unger zeigt seinen Weg, der zur Verlängerung führt: Konstruktion (Die Konstruktion wurde, wegen nicht einsehbarer Skizze, der obigen Beschreibung von Unger nachempfunden.) Es beginnt mit der Halbgeraden und dem Abtragen der gegebenen Strecke mit Länge auf . Der Punkt , für die Länge des (grünen) Rechtecks, wird rechts von beliebig auf gesetzt. Im allgemeinen Fall darf die Breite frei gewählt werden. Soll hingegen zum Schluss der Punkt die gesuchte Strecke mit Länge im Goldenen Schnitt teilen, muss aus erst noch bestimmt werden. Hierfür wird die Breite des Rechtecks in Abhängigkeit des Quadrates mit Fläche durch die Verbindung der Punkte mit und deren Parallele festgelegt. Es folgt das Einzeichnen des Rechtecks , dessen Flächeninhalt mit gleich dem des Quadrates ist. Diese Vorgehensweise ist in der nebenstehenden Skizze dargestellt. Falls keine stetige Teilung erzielt werden soll, wird dieser erste Schritt weggelassen. Es folgt der Kreisbogen mit Radius um bis er die Halbgerade in schneidet. Nach dem Bestimmen des Mittelpunktes der Strecke und dem Ziehen des Kreisbogens mit Radius um , wird die Senkrechte zu in errichtet, bis sie den Kreisbogen in schneidet. Die Strecke entspricht dem geometrischen Mittel der Längen und . Nach dem Halbieren der Strecke in wird mit Länge ab auf die Halbgerade übertragen und der so erzeugte Schnittpunkt mit verbunden. Daraus ergibt sich das rechtwinklige Dreieck . Der sich anschließende Kreisbogen mit Radius um liefert mit die gesuchte Länge . Die Übertragung der Länge auf ab erzeugt die Gesamtstrecke mit Länge . Der Punkt teilt somit die Streckenlänge im Goldenen Schnitt, sofern gilt. Das abschließend errichtete blaue Rechteck über mit der Breite hat ganz allgemein den gleichen Flächeninhalt wie das grüne Rechteck . Kubische Varianten Man definiert die Perrin-Folge rekursiv durch , , , und für alle . Ähnlich wie sich die Quotienten nacheinander folgender Fibonacci-Zahlen dem Goldenen Schnitt nähern, folgt für die Perrin-Zahlen wobei die charakteristische Gleichung erfüllt. Durch Radikale ausgedrückt ergibt sich Ähnlich wie beim Goldenen Schnitt besitzt auch eine Entwicklung als Kettenwurzel, dieses Mal jedoch kubisch: . In Anlehnung an Goldene Konstante wird gelegentlich auch als „Plastik-Konstante“ bezeichnet. Im Falle der „Tribonacci-Folge“ , und für gilt . Es erfüllt die Gleichung . Verallgemeinerte Kettenbrüche Das Konzept der Kettenbruchentwicklung lässt sch für ganze positive Zahlen verallgemeinern durch . Dies entspricht einer fraktalen Konstruktion durch die iterative Anwendung der Ersetzungsregeln . Dieser verallgemeinerte Kettenbruch konvergiert stets gegen die positive Lösung der Gleichung . Setzt man in diesem Beispiel also insbesondere , so ergibt sich als Grenzwert die Zahl , die eine kubische Verallgemeinerung des Goldenen Schnittes darstellt. Asymptotik zufälliger Fibonacci-Folgen Setzt man , sowie für , wobei die Vorzeichen durch unabhängige Zufallsvariablen mit gleichen Wahrscheinlichkeiten für gegeben sind, zeigte D. Viswanadt mit Wahrscheinlichkeit 1. Die gewöhnliche Fibonacci-Folge, die sich in dieser Art Limes dem Goldenen Schnitt annähert, entspricht dem Extremfall, dass die Zufallsgrößen stets den Wert annehmen, was aber mit einer (asymptotischen) Wahrscheinlichkeit von 0 Prozent eintritt. Vorkommen in der Natur Biologie Das spektakulärste Beispiel für Verhältnisse des Goldenen Schnittes in der Natur findet sich bei der Anordnung von Blättern (Phyllotaxis) und in Blütenständen mancher Pflanzen. Bei diesen Pflanzen teilt der Winkel zwischen zwei aufeinanderfolgenden Blättern den Vollkreis von 360° im Verhältnis des Goldenen Schnittes, wenn die beiden Blattansätze durch eine Parallelverschiebung eines der Blätter entlang der Pflanzenachse zur Deckung gebracht werden. Es handelt sich um den Goldenen Winkel von etwa 137,5°. Die daraus entstehenden Strukturen werden auch als selbstähnlich bezeichnet: Auf diese Weise findet sich ein Muster einer tieferen Strukturebene in höheren Ebenen wieder. Beispiele sind die Sonnenblume, Kohlarten, Kiefernnadeln an jungen Ästen, Zapfen, Agaven, viele Palmen- und Yuccaarten sowie die Blütenblätter der Rose, um nur einige zu nennen. Ursache ist das Bestreben dieser Pflanzen, ihre Blätter auf Abstand zu halten. Es wird vermutet, dass sie dazu an jedem Blattansatz einen besonderen Wachstumshemmer (Inhibitor) erzeugen, der im Pflanzenstamm – vor allem nach oben, in geringerem Umfang in seitlicher Richtung – diffundiert. Dabei bilden sich in verschiedene Richtungen bestimmte Konzentrationsgefälle aus. Das nächste Blatt entwickelt sich an einer Stelle des Umfangs, wo die Konzentration minimal ist. Dabei stellt sich ein bestimmter Winkel zum Vorgänger ein. Würde dieser Winkel den Vollkreis im Verhältnis einer rationalen Zahl teilen, dann würde dieses Blatt genau in die gleiche Richtung wachsen wie dasjenige Blätter zuvor. Der Beitrag dieses Blattes zur Konzentration des Inhibitors ist aber an dieser Stelle gerade maximal. Daher stellt sich ein Winkel mit einem Verhältnis ein, das alle rationalen Zahlen meidet. Die Zahl ist nun aber gerade die Goldene Zahl (siehe oben). Da bisher kein solcher Inhibitor isoliert werden konnte, werden auch andere Hypothesen diskutiert, wie die Steuerung dieser Vorgänge in analoger Weise durch Konzentrationsverteilungen von Nährstoffen. Der Nutzen für die Pflanze könnte darin bestehen, dass auf diese Weise von oben einfallendes Sonnenlicht (bzw. Wasser und Luft) optimal genutzt wird, eine Vermutung, die bereits Leonardo da Vinci äußerte, oder im effizienteren Transport der durch Photosynthese entstandenen Kohlenhydrate im Phloemteil der Leitbündel nach unten. Die Wurzeln von Pflanzen weisen den Goldenen Winkel weniger deutlich auf. Bei anderen Pflanzen wiederum treten Blattspiralen mit anderen Stellungswinkeln zutage. So wird bei manchen Kakteenarten ein Winkel von 99,5° beobachtet, der mit der Variante der Fibonacci-Folge 1, 3, 4, 7, 11, … korrespondiert. In Computersimulationen des Pflanzenwachstums lassen sich diese verschiedenen Verhaltensweisen durch geeignete Wahl der Diffusionskoeffizienten des Inhibitors provozieren. Bei vielen nach dem Goldenen Schnitt organisierten Pflanzen bilden sich in diesem Zusammenhang so genannte Fibonacci-Spiralen aus. Spiralen dieser Art sind besonders gut zu erkennen, wenn der Blattabstand im Vergleich zum Umfang der Pflanzenachse besonders klein ist. Sie werden nicht von aufeinanderfolgenden Blättern gebildet, sondern von solchen im Abstand , wobei eine Fibonacci-Zahl ist. Solche Blätter befinden sich in enger Nachbarschaft, denn das -Fache des Goldenen Winkels ist ungefähr ein Vielfaches von 360° wegen , wobei die nächstkleinere Fibonacci-Zahl zu und die nächstkleinere Fibonacci-Zahl zu ist. Da jedes der Blätter zwischen diesen beiden zu einer anderen Spirale gehört, sind Spiralen zu sehen. Ist größer als , so ist das Verhältnis der beiden nächsten Fibonacci-Zahlen kleiner und umgekehrt. Daher sind in beide Richtungen Spiralen zu aufeinander folgenden Fibonaccizahlen zu sehen. Der Drehsinn der beiden Spiralentypen ist dem Zufall überlassen, sodass beide Möglichkeiten gleich häufig auftreten. Besonders beeindruckend sind Fibonacci-Spiralen (die damit wiederum dem Goldenen Schnitt zugeordnet sind) in Blütenständen, wie bei Sonnenblumen. Dort sitzen Blüten, aus denen später Früchte entstehen, auf der stark gestauchten, scheibenförmigen Blütenstandsachse dicht nebeneinander, wobei jede einzelne Blüte einem eigenen Kreis um den Mittelpunkt des Blütenstandes zugeordnet werden kann. Wachstumstechnisch aufeinander folgende Früchte liegen daher räumlich weit auseinander, während direkte Nachbarn wieder einen Abstand entsprechend einer Fibonacci-Zahl haben. Im äußeren Bereich von Sonnenblumen werden 34 und 55 Spiralen gezählt, bei größeren Exemplaren 55 und 89 oder sogar 89 und 144. Die Abweichung vom mathematischen Goldenen Winkel, die in diesem Fall nicht überschritten wird, beträgt weniger als 0,01 %. Der Goldene Schnitt ist außerdem in radiärsymmetrischen fünfzähligen Blüten erkennbar wie bei der Glockenblume, der Akelei und der (wilden) Hecken-Rose. Der Abstand der Spitzen von Blütenblättern nächster Nachbarn zu dem der übernächsten steht wie beim regelmäßigen Fünfeck üblich in seinem Verhältnis. Das betrifft ebenso Seesterne und andere Tiere mit fünfzähliger Symmetrie. Darüber hinaus wird der Goldene Schnitt im Verhältnis der Längen aufeinander folgender Stängelabschnitte mancher Pflanzen vermutet wie bei der Pappel. Im Efeublatt stehen die Blattachsen a und b (siehe Abbildung) ungefähr im Verhältnis des Goldenen Schnittes. Diese Beispiele sind jedoch umstritten. Noch im 19. Jahrhundert war die Ansicht weit verbreitet, dass der Goldene Schnitt ein göttliches Naturgesetz sei und in vielfacher Weise in den Proportionen des menschlichen Körpers realisiert wäre. So nahm Adolf Zeising in seinem Buch über die Proportionen des menschlichen Körpers an, dass der Nabel die Körpergröße im Verhältnis des Goldenen Schnittes teile, und der untere Abschnitt werde durch das Knie wiederum so geteilt. Ferner scheinen die Verhältnisse benachbarter Teile der Gliedmaßen wie bei Ober- und Unterarm sowie bei den Fingerknochen ungefähr in diesem Verhältnis zu stehen. Eine genaue Überprüfung ergibt jedoch Streuungen der Verhältnisse im 20-%-Bereich. Oft enthält auch die Definition, wie die Länge eines Körperteils exakt zu bestimmen sei, eine gewisse Portion Willkür. Ferner fehlt dieser These eine wissenschaftliche Grundlage. Es dominiert daher weitgehend die Ansicht, dass diese Beobachtungen lediglich die Folge gezielter Selektion von benachbarten Paaren aus einer Menge von beliebigen Größen sind. Bahnresonanzen Seit langem ist bekannt, dass die Umlaufzeiten mancher Planeten und Monde in Verhältnis kleiner ganzer Zahlen stehen wie Jupiter und Saturn mit oder die Jupitermonde Io, Ganymed und Europa mit . Derartige Bahnresonanzen stabilisieren die Bahnen der Himmelskörper langfristig gegen kleinere Störungen. Erst 1964 wurde entdeckt, dass noble Verhältnisse, wie sie im Fall vorliegen würden, stabilisierend wirken können. Derartige Bahnen werden KAM-Bahnen genannt, wobei die drei Buchstaben für die Namen der Entdecker Andrei Kolmogorow, V. I. Arnold und Jürgen Moser stehen. Die Cassini-Teilungen in den Saturnringen zeigen, was passiert, wenn statt nobler Zahlen einfache rationale Zahlen vorherrschen: Die Gesteins- und Eisteilchen, aus denen die Ringe bestehen und deren Umlaufperioden in einem einfachen rationalen Verhältnis zu den Perioden der Saturnmonde stehen, werden durch die Resonanzeffekte zwischen den entsprechenden Umlaufperioden einfach aus ihrer Bahn geworfen. In der Tat hängt die Stabilität des Sonnensystems davon ab, dass zumindest einige der Bahnperiodenverhältnisse nobel sind. Schwarze Löcher Kontrahierbare kosmische Objekte ohne feste Oberfläche, wie Schwarze Löcher oder die Sonne, haben aufgrund ihrer Eigengravitation die paradoxe Eigenschaft, heißer zu werden, wenn sie Wärme abstrahlen (negative Wärmekapazität). Bei rotierenden Schwarzen Löchern findet ab einem kritischen Drehimpuls ein Umschlag von negativer zu positiver Wärmekapazität statt, wobei dieser Tipping-Point von der Masse des Schwarzen Loches abhängt. In einer -dimensionalen Raumzeit kommt dabei eine Metrik ins Spiel, deren Eigenwerte für sich als Nullstellen des charakteristischen Polynoms ergeben. Kristallstrukturen Quasikristalle Der Goldene Schnitt tritt bei den Quasikristallen der Festkörperphysik in Erscheinung, die 1984 von Dan Shechtman und seinen Kollegen entdeckt wurden. Dabei handelt es sich um Strukturen mit fünfzähliger Symmetrie, aus denen sich aber, wie bereits Kepler erkannte, keine streng periodischen Kristallgitter aufbauen lassen, wie dies bei Kristallen üblich ist. Entsprechend groß war die Überraschung, als bei Röntgenstrukturanalysen Beugungsbilder mit fünfzähliger Symmetrie gefunden wurden. Diese Quasikristalle bestehen strukturell aus zwei verschiedenen rhomboedrischen Grundbausteinen, mit denen der Raum zwar lückenlos, jedoch ohne globale Periodizität gefüllt werden kann (Penrose-Parkettierung). Beide Rhomboeder setzten sich aus den gleichen rautenförmigen Seitenflächen zusammen, die jedoch unterschiedlich orientiert sind. Die Form dieser Rauten lässt sich nun dadurch definieren, dass ihre Diagonalen im Verhältnis des Goldenen Schnittes stehen. Für die Entdeckung von Quasikristallen wurde Shechtman 2011 der Nobelpreis für Chemie verliehen. Kobalt-Niobat Im atomaren Aufbau des Kristalls aus Kobalt-Niobat entdeckten Forscher des Helmholtz-Zentrums Berlin für Materialien und Energie (HZB) Symmetrieeigenschaften erstmal in fester Materie, die auch den Goldenen Schnitt kennzeichnen (veröffentlicht in der Zeitschrift Science, Januar 2010). Für Untersuchungen der Quanteneigenschaften, sprich Verhalten atomarer Teilchen in der Quantenwelt nach Heisenbergs Unschärferelation, findet Kobalt-Niobat Verwendung. Ausschlaggebend dafür sind insbesondere, die auf besondere Weise angeordneten atomaren Bestandteile sowie die magnetischen Eigenschaften des Kristalls. Dies bedeutet, hervorgerufen durch den im Elektron vorhandenen Eigenimpuls (Spin), bilden in diesem Kristall die aneinandergereihten Atome eine sogenannte Spinkette mit der Wirkung eines dünnen Stabmagnets. Wirkt nun ein Magnetfeld rechtwinklig auf die Spinkette, geht sie in einen neuen Zustand über. Physiker stellen sich diesen Zustand als fraktales Muster vor. Als die Forscher dies als Modell für die Untersuchung des Festkörpermagnetismus nutzten, machten sie eine überraschende Entdeckung: Die Wechselwirkung, die benachbarte Spinketten miteinander eingehen, entspricht der Schwingung einer Gitarrensaite, deren ersten beiden Resonanzfrequenzen im Verhältnis , zueinander stehen. „Was genau dem Goldenen Schnitt entspricht“, so Radu Coldea, Leiter des über zehn Jahre laufenden internationalen Projektes. Vergleich mit anderen prominenten Seitenverhältnissen Die folgende Abbildung zeigt im Vergleich verschiedene Rechtecke mit prominenten Seitenverhältnissen in der Umgebung von Angegeben ist jeweils das Verhältnis von Höhe zu Breite und der entsprechende Zahlenfaktor:  – Traditionelles Fernsehformat und Ballenformat für Packpapier. Auch bei älteren Computermonitoren verwendet (z. B.: ). Dieses Format geht zurück auf Thomas Alva Edison, der 1889 das Format des klassischen Filmbildes (35-mm-Film) auf festlegte.  – Das Seitenverhältnis beim DIN-A4-Blatt und verwandten DIN-/EN-/ISO-Maßen. Bei einer Halbierung durch einen Schnitt, der die längeren Seiten des Rechtecks halbiert, entstehen wiederum Rechtecke mit demselben Seitenverhältnis.  – Seitenverhältnis beim Kleinbildfilm .  – Manche Computerbildschirme Diese passen mit fast zum Goldenen Schnitt.  – Seitenverhältnis im Goldenen Schnitt. Im Bild approximiert mit (theoretischer Fehler nur ). Die beiden benachbarten Rechtecke 3:2 und 5:3 haben – wie auch das dargestellte Rechteck mit 144:89 – Seitenverhältnisse von aufeinanderfolgenden Fibonacci-Zahlen und approximieren daher ebenfalls den Goldenen Schnitt vergleichsweise gut.  – Findet neben vielen anderen als Kinofilmformat Verwendung.  – Breitbildfernsehen. Anwendung in Technik und Mathematik Der Goldene Zirkel (Reduktionszirkel) Anstatt stets neu konstruieren zu müssen, wurde im 19. Jahrhundert von Künstlern und Handwerkern ein Goldener Zirkel – ein auf das Goldene Verhältnis eingestellter Reduktionszirkel – benutzt. Insbesondere im Schreinerhandwerk kam ein ähnliches Instrument in Form eines Storchschnabels zur Anwendung. Bereits in der Antike fand der Reduktionszirkel Verwendung, dies zeigt z. B. der Fund eines Vorläufers bei den Ausgrabungen in Pompeji. Solche Zirkel, wie die im Folgenden näher beschriebenen Beispiele, werden auch heute noch hergestellt. Die einfachste Ausführung besteht nur aus zwei Stäben – in moderner Bauweise zusätzlich mit vier Nadeln – deren Drehpunkt sie im Goldenen Schnitt teilt. Für die Lage des Drehpunktes gilt: . Mithilfe eines solchen Reduktionszirkels gelingt die Teilung einer gegebenen Streckenlänge in (innere Teilung) sowie die Verlängerung einer Strecke um die Länge (äußere Teilung). Punkt teilt die Streckenlänge im Goldenen Schnitt. Der von Adalbert Göringer im Jahre 1893 erfundene Reduktions- bzw. Proportionalzirkel – dargestellt in den nebenstehenden Bildern – ist eine Weiterentwicklung. Um als Werkzeug für die innere und äußere Teilung dienen zu können, müssen die Bauteile des Reduktionszirkels ebenfalls die Teilung nach dem Goldenen Schnitt beinhalten. Wenn , dann gilt: . Rechteck mit einbeschriebenem Dreieck Die Flächengleichheit bedeutet, dass gilt. Aus der Gleichheit des ersten und zweiten Terms folgt  (1) und aus der Gleichheit des ersten und dritten Terms  (2). Aus (1) und (2) ergibt sich: . Wegen gilt dann auch: Gleichschenkliges Dreieck, gegebene Strecke teilt gesuchten Schenkel im Goldenen Schnitt Von M. Johann Wentzel Kaschube stammt die im Folgenden beschriebene und im Anschluss konstruktiv dargestellte geometrische Aufgabe aus dem Jahr 1717. Gesucht ist also ein gleichschenkliges Dreieck, in dem eine gegebene Strecke sowie ein Schenkel des Dreiecks zueinander orthogonal sind und der Punkt diesen Schenkel im Verhältnis des Goldenen Schnitts teilt. Konstruktionsbeschreibung (Angelehnt an die Beschreibung des Originals, die darin erwähnte Fig. 7 ist auf Tab. I Alg. Fig. 8) Zuerst wird die Strecke mit der frei wählbaren Länge senkrecht auf die Gerade errichtet. Es folgt das rechtwinklige Dreieck , in dem die Seite mit Länge auf der Geraden liegt. Der Kreisbogen um mit Radius ergibt Schnittpunkt , der Kreisbogen um mit Radius teilt in die Seite im Goldenen Schnitt. Ziehe einen Kreis um mit Radius , ergibt Schnittpunkt und einen Kreisbogen um mit Radius . Nun errichte eine Senkrechte auf ab bis sie den Kreisbogen in schneidet. Mit ist das geometrische Mittel der beiden Streckenlängen und bestimmt. Ein Kreisbogen um mit Radius schneidet den Kreis um in , und dabei ergibt sich das rechtwinklige Dreieck . Abschließend wird die Strecke bis auf die Gerade verlängert und um den soeben entstandenen Schnittpunkt ein Kreisbogen mit Radius gezogen, bis er die Gerade in schneidet. Im somit gefundenen gleichschenkligen Dreieck teilt der Punkt der Senkrechten den Schenkel im Goldenen Schnitt. Dreiecksfraktal Ab 1975 sind in der Mathematik die unterschiedlichsten Fraktale entwickelt worden. Das folgende Fraktal – mit sieben Iterationsschritten – verwendet ein gleichseitiges Dreieck als Ausgangsform. An seinen Ecken wird ein Dreieck mit einem bestimmten Verkleinerungsfaktor Spitze an Spitze angehängt. Der Verkleinerungsfaktor wird so gewählt, dass das Verhältnis der Seitenlängen zueinander dem Teilungsverhältnis des Goldenen Schnittes entspricht. Fraktale werden meist mithilfe eines Computers erstellt. Dieses zweidimensionale Dreiecksfraktal ist – mit entsprechendem Aufwand – auch als Konstruktion mit Zirkel und Lineal darstellbar. Skizze Anhand der nebenstehenden Skizze wird der Verkleinerungsfaktor , die gewünschte Anzahl der Äste (Dreiecke) und somit auch der Abstand der letzten Äste zueinander grafisch bestimmt. Es beginnt mit der Konstruktion eines gleichseitigen Dreiecks mit der Seitenlänge gleich . Halbiert man nun dessen beide Schenkel und zieht die Gerade durch die soeben erhaltenen Mittelpunkte, ergibt sich das gleichseitige (grüne) Ausgangsdreieck des Fraktals mit Seitenlänge gleich . Es folgen zwei Verbindungslinien, jeweils ab dem Mittelpunkt der Schenkel bis zur gegenüberliegenden Ecke des Dreiecks. Sie schneiden sich im Mittelpunkt des Umkreises des großen Dreiecks. Beim Ziehen des Umkreises ergibt sich, mittels der Schnittpunkte auf der Geraden , der gesuchte Verkleinerungsfaktor links und rechts vom Ausgangsdreieck. Nachweis des Verkleinerungsfaktors f Die oben beschriebenen Konstruktionsschritte gleichen denen der Konstruktion nach Odom. Somit gilt in diesem Fall: daraus folgt Die in der Skizze mit gepunkteten Linien angedeutete Konstruktion zeigt: Die Seitenlängen (Kreisradien) für die nachfolgenden, noch gut im Fraktal erkennbaren Dreiecke, ergeben sich, indem man für das nächste Dreieck den Exponent des Verkleinerungsfaktors um erhöht: Beutelspacher ermittelte in Der Goldene Schnitt den Wert des Abstandes, bei dem sich die entgegenkommenden Äste im Grenzfall berühren, letztendlich aus der kubischen Gleichung (siehe nebenstehendes Bild) ; deren einzige positiven Lösung ist . Somit ist aufgezeigt: ist nicht nur der Wert des Verkleinerungsfaktors, sondern auch der Wert des Abstandes, bei dem sich im Grenzfall die einzelnen Äste berühren, sprich gerade noch nicht überlappen. Papier- und Bildformate Im Buchdruck wurde gelegentlich die Nutzfläche einer Seite, der sogenannte Satzspiegel, so positioniert, dass das Verhältnis von Bundsteg zu Kopfsteg zu Außensteg zu Fußsteg sich wie verhielt. Diese Wahl von Fibonacci-Zahlen approximiert den Goldenen Schnitt. Eine solche Gestaltung wird auch weiterhin in Teilen der Fachliteratur zum Buchdruck empfohlen. Anwendung in der bildenden Kunst Seit dem 19. Jahrhundert wurde der Goldene Schnitt zunächst in der ästhetischen Theorie (Adolf Zeising) und dann auch in künstlerischer, architektonischer und kunsthandwerklicher Praxis als ein ideales Prinzip ästhetischer Proportionierung bewertet. Er soll besonders angenehm, ansprechend, ausgewogen, harmonisch und schön wirken. Es gibt allerdings keinen empirischen Beleg für eine besondere ästhetische Wirkung, die von Proportionen des Goldenen Schnittes ausgeht. Schon der Begründer der empirischen Ästhetik, Gustav Theodor Fechner, stellte aufgrund eigener Experimente fest: „Hiernach kann ich nicht umhin, den ästhetischen Wert des Goldenen Schnittes … überschätzt zu finden.“ Architektur Frühe Hinweise auf eine Verwendung des Goldenen Schnittes stammen aus der Architektur. Die Schriften des griechischen Geschichtsschreibers Herodot zur Cheops-Pyramide werden gelegentlich dahingehend ausgelegt, dass die Höhe der Seitenfläche zur Hälfte der Basiskante im Verhältnis des Goldenen Schnittes stünde. Die entsprechende Textstelle ist allerdings interpretierbar. Andererseits wird die These vertreten, dass das Verhältnis für Pyramidenhöhe zu Basiskante die tatsächlichen Maße noch besser widerspiegele. Der Unterschied zwischen beiden vertretenen Thesen beträgt zwar lediglich 3,0 %, ein absoluter Beweis zugunsten der einen oder anderen These ist demzufolge damit aber nicht verbunden. Viele Werke der griechischen Antike werden als Beispiele für die Verwendung des Goldenen Schnittes angesehen wie die Vorderfront des 447–432 v. Chr. unter Perikles erbauten Parthenon-Tempels auf der Athener Akropolis. Da zu diesen Werken keine Pläne überliefert sind, ist nicht bekannt, ob diese Proportionen bewusst oder intuitiv gewählt wurden. In späteren Epochen sind mögliche Beispiele für den Goldenen Schnitt, wie der Dom von Florenz, Notre Dame in Paris oder die Torhalle in Lorsch (770 n. Chr.) zu finden. Auch in diesen Fällen ist die bewusste Anwendung des Goldenen Schnittes anhand der historischen Quellen nicht nachweisbar. Es gibt demzufolge keinen empirisch gesicherten Nachweis für eine signifikant größere Häufigkeit des Goldenen Schnittes in diesen Epochen im Vergleich zu anderen Teilungsverhältnissen. Ebenso fehlen historische Belege für eine absichtliche Verwendung des Goldenen Schnittes. Als ein Beispiel für eine Umsetzung des Goldenen Schnittes wird immer wieder das Alte Rathaus in Leipzig, ein Renaissancebau aus den Jahren 1556/57, genannt. Wobei nicht die Mitte des Rathausturmes die Gehäusefront im Goldenen Schnitt teilt, sondern die dazu etwas versetzte Mitte des Haupttores. Gleichwohl gibt es bei genauer historischer Quellenforschung keinen Beleg dafür. Insbesondere gibt es keinen Beleg dafür, dass Hieronymus Lotter als der damalige Baumeister den Goldenen Schnitt bewusst als Konstruktionsprinzip verwendet hat: Alle originären Quellen verweisen lediglich auf einen gotischen Vorgängerbau, auf dessen Grundmauern Lotter das Rathaus errichtet hat. Dass der Goldene Schnitt hier eine Rolle gespielt habe, ist quellenhistorisch nicht belegbar. Die erste quellenhistorisch gesicherte Verwendung des Goldenen Schnittes in der Architektur stammt aus dem 20. Jahrhundert: Der Architekt und Maler Le Corbusier (1887–1965) entwickelte ab 1940 ein Längen-Maßsystem, dessen Maßeinheiten zueinander im Verhältnis des Goldenen Schnitts stehen. Die Werte der darin enthaltenen kleineren Maßeinheiten sind Durchschnitts-Maße am menschlichen Körper. Er veröffentlichte dieses 1949 in seiner Schrift Der Modulor, die zu den bedeutendsten Schriften der Architekturgeschichte und -theorie gezählt wird. Bereits 1934 wurde ihm für die Anwendung mathematischer Ordnungsprinzipien von der Universität Zürich der Titel doctor honoris causa der mathematischen Wissenschaften verliehen. Für eine frühere Verwendung des Modulors ist dies jedoch aus den aufgezeigten Gründen kein Beleg. Plastik und Malerei Für die generelle These, dass der Goldene Schnitt als besonders ansprechend und harmonisch empfunden wird, gibt es keine gesicherten Belege und ist letztlich eine Frage der jeweils herrschenden Kunstauffassung. Viele Künstler setzten den Goldenen Schnitt bewusst ein, bei vielen Werken wurden Kunsthistoriker erst im Nachhinein fündig. Diese Befunde sind jedoch angesichts der Fülle von möglichen Strukturen, wie sie in einem reich strukturierten Gemälde zu finden sind, oft umstritten. So werden zahlreichen Skulpturen griechischer Bildhauer, wie der Apollo von Belvedere, der Leochares (um 325 v. Chr.) zugeschrieben wird, oder Werke von Phidias (5. Jahrhundert v. Chr.) als Beispiele für die Verwendung des Goldenen Schnittes angesehen. Auf letzteren bezieht sich die oft übliche Bezeichnung für den Goldenen Schnitt, die ungefähr 1909 von dem amerikanischen Mathematiker Mark Barr eingeführt wurde. Die ebenfalls gelegentlich verwendete Bezeichnung bezieht sich dagegen auf das griechische Wort für „Schnitt“. Der Goldene Schnitt wird in vielen Werken der Renaissance-Künstler vermutet, unter anderem bei Raffael, Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, bei Dürers Werken insbesondere in seinem Selbstbildnis von 1500 und seinem Kupferstich Melencolia I von 1514. Ein berühmtes Beispiel ist das Gemälde Mona Lisa von Leonardo da Vinci. Es weist Merkmale des Goldenen Schnitts auf und lässt mehrere Goldene Dreiecke sowie die Goldene Spirale erkennen. In Abbildung 1 teilt der Punkt (Mona Lisas linkes Auge) die Strecken und im Goldenen Schnitt. Die Dreiecke und sind Goldene Dreiecke, da bei jedem dieser sechs Dreiecke Grundseite und Schenkel im Verhältnis des Goldenen Schnitts zueinander stehen. In Abbildung 2 ist die Goldene Spirale eingezeichnet. Sie ist so positioniert, dass sie am linken Handgelenk beginnt und den oberen Rand des Kopfes berührt. Die Nasenspitze bildet dann den Punkt, auf den die Spirale zuläuft. Bekanntlich stellte auch Albrecht Dürer zahlreiche theoretische Untersuchungen an und beschäftigte sich mit mathematischen Fragestellungen. Im Zusammenhang mit dem Goldenen Schnitt ist besonders interessant, dass er in seiner Underweysung der messung 1525 ein in einen Kreis einbeschriebenes Fünfeck konstruiert. Daher gilt es nicht als ausgeschlossen, dass Dürer in seinen Bildern den Goldenen Schnitt verwendet hat. Allerdings hat Dürer in seinen theoretischen Arbeiten den Goldenen Schnitt an keiner Stelle erwähnt. Auch im 19. und 20. Jahrhundert spielte der Goldene Schnitt bei manchen Vertretern der bildenden Kunst eine Rolle. Georges Seurat (1859–1891), der Begründer des Neoimpressionismus, strebte einen streng geometrischen Bildaufbau an und verwendet in allen seinen großformatigen Bildern den goldenen Schnitt. Besonders deutlich ist dies in seinem Gemälde Die Zirkusparade. Neben einem goldenen Rechteck lassen sich etliche Einteilungslinien nach dem goldenen Schnitt erkennen. Allerdings existieren In einer vorbereitenden Zeichnung lediglich Linien, die nicht mit dem goldenen Schnitt korrespondieren. Damit bleibt offen, ob Seurat den goldenen Schnitt bewusst oder intuitiv angewandt hat. In der Fotografie wird der Goldene Schnitt zur Bildgestaltung eingesetzt. Als Faustformel wird die Drittel-Regel verwendet. Zeitgenössische bildende Kunst In der zeitgenössischen bildenden Kunst wird der Goldene Schnitt nicht nur als Gestaltungsmerkmal verwendet, sondern ist in manchen Arbeiten selbst Thema oder zentraler Bildinhalt. Bei Joseph Beuys kommt der Goldene Schnitt bei den Besprechungen der Arbeiten seiner Schülerinnen und Schüler oft als positiver Orientierungspunkt zur Sprache. Der Künstler Jo Niemeyer verwendet den Goldenen Schnitt als grundlegendes Gestaltungsprinzip in seinen Werken, die der konkreten Kunst zugeordnet werden. Der Künstler Ivo Ringe, der ebenso ein Vertreter der konkreten Kunst ist, nutzt den Goldenen Schnitt in vielen seiner Werke. Die Künstlerin Martina Schettina thematisiert den Goldenen Schnitt in ihren Arbeiten zum Fünfeck, bei dem die Diagonalen einander im Goldenen Schnitt teilen. Sie visualisiert auch die Konstruktionsmethode und Formeln zum Goldenen Schnitt. Irene Schramm-Biermann legt ihre künstlerischen Schwerpunkte auf Konkrete Kunst mit Bezug zur Mathematik und Landschaften. Die Darstellung im nebenstehende Bild lässt für den Betrachter offen: Resultiert die Goldene Spirale aus dem Goldenen Dreieck, oder war die Spirale der Ursprung? Verwendung in Literatur und Musik Literatur Der Goldene Schnitt wurde auch zur Gestaltung literarischer Werke herangezogen. Das vom römischen Dichter Vergil (70–19 v. Chr.) geschaffene Werk Äneis gilt als älteste bekannte Literatur, die auf dem Goldenen Schnitt aufbaut. Bei Untersuchungen wurden Zeilen in verschiedenen Abschnitten gezählt, wobei festgestellt wurde, dass deren Verhältnisse dem Goldenen Schnitt meist recht nahe kommen. Allerdings wurde genau dieser „Abstandsbegriff“ weit ausgelegt, wobei etwa Werte wie 0,6 und 0,636 als Annäherung von 0,618… akzeptiert wurden. Zudem finden sich im Text zahlreiche Halbverse (unvollständige Zeilen), die auf mangelnde redaktionelle Überarbeitung seitens Vergils zurückgeführt werden. Nach Bereinigung ergab sich in ca. 75 % aller Fälle eine bessere Annäherung an den Goldenen Schnitt. Die Studie wurde jedoch auch kritisch rezipiert. Vor dem Hintergrund der verbreiteten Zahlensymbolik im Mittelalter wurde das Liber ymnorum des Notker Balbulus (um 885) genauer untersucht. Dabei kam heraus, dass einige Segmente dieses Hymnus gemäß dem Goldenen Schnitt aufgebaut sind. Genauer gilt, dass die Anzahl der Silben im ersten Teil und der im zweiten Teil annähernd im Verhältnis des Goldenen Schnittes liegen. Als ein Beispiel wird auf den Laurentiushymnus verwiesen: In den ersten 144 Silben wird Laurentius angerufen und sein Martyrium gerühmt. Im Anschluss wird er 89 Silben lang um Fürbitte gebeten. Es bleibt jedoch unklar, ob das Auftreten dieser (großen) Fibonacci-Zahlen 89 und 144, ca. 300 Jahre vor Fibonacci, ein Zufall ist. Es existieren auch Hinweise auf den Goldenen Schnitt in Grimms Märchen. Sämtliche Charaktere wurden über die Eigenschaften gut – böse, stark – schwach und aktiv – passiv in 8 möglichen Gruppen eingeteilt. Dabei wurden die Gruppen „gut, stark, aktiv“, „gut, stark, passiv“, „gut, schwach, aktiv“ und „böse, stark, aktiv“ als „positiv“ bezeichnet, die anderen 4 als „negativ“. Es stellt sich nach dieser Gruppierung heraus, dass zwischen 60 % und 62 % der Märchencharaktere „positiv“ sind. Als Erklärung dieses „Zusammenhangs“ wird darauf verwiesen, dass der Goldene Schnitt in der Natur sehr häufig auftrete und daher vom Menschen unbewusst als ästhetischer Maßstab bei der Bewertung von Kunstwerken herangezogen werde. Dieser unbewusste Prozess gewinne umso mehr Bedeutung, je „naturnaher“, „unverbildeter“, und „volkstümlicher“ die Kunstwerke seien. Da Grimms Märchen bekanntlich direkt aus dem Munde des Volkes „abgelauscht sind“, sei es kein Wunder, dass hier der Goldene Schnitt als „natürliches Spannungsverhältnis“ in Erscheinung trete. J. Benjafield und C. Davis schreiben dazu: Nach Meinung Benjafields und Davis erkläre dies auch das Auftreten des Goldenen Schnitts in der Musik Béla Bartóks – ein Beleg dafür, dass Bartóks Musik sich in vielerlei Hinsicht aus der Volksmusik speise. Der Goldene Schnitt wurde auch in einem späten Gedicht Friedrich Hölderlins nachgewiesen. ln seinen letzten Lebenstagen, entweder im Mai oder Juni des Jahres 1843, schrieb Hölderlin in Tübingen Die Aussicht: Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben, Wo in die Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben, Ist auch dabei des Sommers leer Gefilde, Der Wald erscheint mit seinem dunklen Bilde; Daß die Natur ergänzt das Bild der Zeiten, Daß die verweilt, sie schnell vorübergleiten, Ist aus Vollkommenheit, des Himmels Höhe glänzet Den Menschen dann, wie Baume Blüth' umkränzet. – Die Aussicht, Friedrich Hölderlin Roman Jakobson und Grete Lübbe-Grothues entdeckten, dass dieses Gedicht mit Hilfe des Goldenen Schnitts, genauer gesagt aus den Verhältnissen , und , aufgebaut wurde. Hierzu schreiben sie: Die Frage, ob Hölderlin die Ästhetik des Goldenen Schnitts bewusst einsetzte, sei hier jedoch besonders schwierig zu beantworten, da Hölderlin bekanntlich in seinen letzten Lebensjahren stark an einer seelischen Krankheit litt. Immerhin gibt es nach Jakobson auffallende Anzeigen einer komplexen und zielbewussten Gestaltung und Vieles deute auf eine bewusste Verwendung der Verhältnisse , und hin. Akustik und Musik Der Goldene Schnitt tritt innerhalb der Musik in zwei Rollen auf. Zum einen können die Frequenzen zweier Töne ein Goldenes Verhältnis haben. Andererseits kann die Komposition eines Stückes aus Teilen bestehen, deren Längen sich verhalten wie der Goldene Schnitt. Frequenzverhältnisse Stehen die Frequenzen zweier Töne im Verhältnis der Fibonacci-Zahlen (oder ), so bildet sich als Klang eine kleine Sexte. Die Differenz des Verhältnisses (= 1,6) zum Goldenen Schnitt (= 1,618…) sei so gering, dass, wie Rudolf Haase behauptet, der Goldene Schnitt selbstverständlich in den Zurechthörbereich der kleinen Sexte fällt. Haases Vorstellung ist also die, dass der Reiz der kleinen Sexte darin begründet ist, dass die Frequenzen ihrer Einzeltöne im Goldenen Verhältnis stehen, und dass das einfache Verhältnis nur eine Annäherung daran ist. Komposition Der Goldene Schnitt wird gelegentlich in Strukturkonzepten von Musikstücken vermutet. So hat der ungarische Musikwissenschaftler Ernő Lendvai versucht, den Goldenen Schnitt als wesentliches Gestaltungsprinzip der Werke Béla Bartóks nachzuweisen. Seiner Ansicht nach hat Bartók den Aufbau seiner Kompositionen so gestaltet, dass die Anzahl der Takte in einzelnen Formabschnitten Verhältnisse bilden, die den Goldenen Schnitt approximieren würden. Allerdings sind seine Berechnungen umstritten. In der Musik nach 1945 finden sich Beispiele für die bewusste Proportionierung nach den Zahlen der Fibonacci-Folge, etwa im Klavierstück IX von Karlheinz Stockhausen oder in der Spektralmusik von Gérard Grisey. Instrumentenbau Der Goldene Schnitt wird gelegentlich im Musikinstrumentenbau verwendet. Insbesondere beim Geigenbau soll er für besonders klangschöne Instrumente bürgen. So wird behauptet, dass der berühmte Geigenbauer Stradivari den Goldenen Schnitt verwendete, um die klanglich optimale Position der F-Löcher für seine Violinen zu berechnen. Diese Behauptungen basieren jedoch lediglich auf nachträglichen numerischen Analysen von Stradivaris Instrumenten. Ein Nachweis, dass Stradivari bewusst den Goldenen Schnitt zur Bestimmung ihrer Proportionen angewandt habe, existiert jedoch nicht. Verwendung in Informatik und Numerik Datenstrukturen In der Informatik werden Daten in Hashtabellen gespeichert, um darauf schnell zuzugreifen. Die Position , an der ein Datensatz in der Tabelle gespeichert wird, berechnet sich durch eine Hashfunktion . Für einen effizienten Zugriff müssen die Datensätze möglichst gleichmäßig verteilt in die Tabelle geschrieben werden. Eine Variante für die Hashfunktion ist die multiplikative Methode, bei der die Hashwerte für eine Tabelle der Größe nach der folgenden Formel berechnet werden: Dabei stellen Gaußklammern dar, die den Klammerinhalt auf die nächste ganze Zahl abrunden. Der Informatiker Donald E. Knuth schlägt für die frei wählbare Konstante vor, um eine gute Verteilung der Datensätze zu erhalten. Verfahren des Goldenen Schnittes Das Verfahren des Goldenen Schnittes (auch: Goldener-Schnitt-Verfahren, Methode des Goldenen Schnittes oder Suchverfahren Goldener Schnitt) ist ein Verfahren der mathematischen nichtlinearen Optimierung, genauer berechnet es algorithmisch eine numerische Näherung für eine Extremstelle (Minimum oder Maximum) einer reellen Funktion einer Variablen in einem Suchintervall . Es basiert auf der analytischen Anwendung der ursprünglich geometrisch definierten stetigen Teilung. Im Gegensatz zum Intervallhalbierungsverfahren wird dabei das Suchintervall nicht bei jedem Schritt halbiert, sondern nach dem Prinzip des Goldenen Schnittes verkleinert. Der verwendete Parameter (tau) hat dabei nicht, wie bei dem allgemeineren Bisektionsverfahren, den Wert , sondern es wird gewählt, sodass sich zwei Punkte und für das Optimierungsverfahren ergeben, die das Suchintervall im Goldenen Schnitt teilen. Wird angenommen, dass jeder Punkt in jedem Intervall mit gleicher Wahrscheinlichkeit Extrempunkt sein kann, führt dies bei Unbestimmtheitsintervallen dazu, dass das Verfahren des Goldenen Schnittes um 14 % effektiver ist als die Intervallhalbierungsmethode. Im Vergleich zu diesem und weiteren sequentiellen Verfahren ist es – mathematisch gesehen – das für allgemeine Funktionen effektivste Verfahren; nur im Fall differenzierbarer Funktionen ist es der direkten mathematischen Lösung unterlegen. Dass sich dieses Verfahren in der manuellen Rechnung nicht durchgesetzt hat, liegt vor allem an den notwendigen Wurzelberechnungen für die einzelnen Zwischenschritte. Anzahl benötigter Divisionen im euklidischen Algorithmus Der klassische euklidische Algorithmus berechnet den größten gemeinsamen Teiler zweier natürlicher Zahlen und . Dabei müssen einige Divisionen durchgeführt werden. Je nach Beschaffenheit dieser Zahlen können aber mal mehr oder mal weniger Schritte erforderlich sein. Ist etwa , so endet der Algorithmus nach nur einem Schritt, egal wie groß diese Zahlen sind. Der Goldene Schnitt taucht in der anderen Richtung auf, nämlich beschreibt er die Anzahl der Schritte für die Fälle, in denen ganz besonders viele Divisionen gebraucht werden (worst case analysis). Bezeichnet die Anzahl der benötigten Divisionen, und , wobei zufällig ausgewählt werden, so gilt . Dies zeigt, dass der euklidische Algorithmus selbst in der schlechtest möglichen Situation immer noch (nur) logarithmische Laufzeit besitzt. Auffälligkeit Eine weitere Verbindung zwischen der Informationstheorie und dem Goldenen Schnitt wurde durch Helmar Frank mit der Definition der Auffälligkeit hergestellt. Er konnte zeigen, dass der mathematische Wert des Maximums der Auffälligkeit sehr nah an das Verhältnis des Goldenen Schnitts herankommt. Siehe auch Goldenes Rechteck Zehneck Fünfzehneck Zwanzigeck Vierzigeck Vesica piscis Bronzener Schnitt Liste besonderer Zahlen Liste mathematischer Konstanten Literatur Historische Literatur Luca Pacioli; Constantin Winterberg (Hrsg. und Übers.): De divina proportione. Venedig 1509 / Carl Graeser, Wien 1889 (im Internet-Archiv: Online, bei alo: literature.at/alo). Adolf Zeising: Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers. Rudolph Weigel, Leipzig 1854; . Adolf Zeising: Das Normalverhältniss der chemischen und morphologischen Proportionen. Rudolph Weigel, Leipzig 1856; . Gustav Theodor Fechner: Zur experimentalen Ästhetik. Hirzel, Leipzig 1871. Neuere Literatur Lieselotte Kugler, Oliver Götze (Hrsg.): Göttlich Golden Genial. Weltformel Goldener Schnitt? Hirmer, München 2016, ISBN 978-3-7774-2689-1, siehe hierzu: Portal Kunstgeschichte Albrecht Beutelspacher, Bernhard Petri: Der Goldene Schnitt. Spektrum, Heidelberg/Berlin/Oxford 1996, ISBN 3-86025-404-9. 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https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%84gyptische%20Hieroglyphen
Ägyptische Hieroglyphen
Die ägyptischen Hieroglyphen (, ) sind die Zeichen des ältesten bekannten ägyptischen Schriftsystems, das von etwa 3200 v. Chr. bis 394 n. Chr. im Alten Ägypten und in Nubien für die früh-, alt-, mittel- und neuägyptische Sprache sowie für das sogenannte ptolemäische Ägyptisch benutzt wurde. Die ägyptischen Hieroglyphen hatten ursprünglich den Charakter einer reinen Bilderschrift. Im weiteren Verlauf kamen Konsonanten- und Sinnzeichen hinzu, so dass sich die Hieroglyphenschrift aus Lautzeichen (Phonogrammen), Bildzeichen (Ideogrammen) und Deutzeichen (Determinativen) zusammensetzt. Mit ursprünglich etwa 700 und in der griechisch-römischen Zeit etwa 7000 Zeichen gehören die ägyptischen Hieroglyphen zu den umfangreicheren Schriftsystemen. Von den vielen tausend Zeichen verwendet ein Schreiber der Ramessidenzeit nur höchstens um die 700. Eine Reihenfolge ähnlich einem Alphabet existierte ursprünglich nicht. Erst in der Spätzeit wurden Einkonsonantenzeichen vermutlich in einer alphabetischen Reihenfolge angeordnet, die große Ähnlichkeiten mit den südsemitischen Alphabeten zeigt. Name Die Bezeichnung „Hieroglyphen“ ist die eingedeutschte Form des altgriechischen oder ‚heilige Einkerbungen‘, das aus und , zusammengesetzt ist. Diese Bezeichnung ist die Übersetzung des ägyptischen zẖꜣ n.j mdw.w nṯr ‚Schrift der Gottesworte‘, das die göttliche Herkunft der Hieroglyphenschrift andeutet. Geschichte Frühzeit und Entstehung Nach der altägyptischen Überlieferung hat Thot, der Gott der Weisheit, die Hieroglyphen geschaffen. Die Ägypter nannten sie daher „Schrift der Gottesworte“. Die Anfänge dieser Schrift lassen sich bis in die prädynastische Zeit zurückverfolgen. Die früher gewöhnlich zugunsten der Keilschrift entschiedene Frage, ob die sumerische Keilschrift oder die ägyptischen Hieroglyphen die früheste menschliche Schrift darstellen, muss wieder als offen gelten, seit die möglicherweise bislang ältesten bekannten Hieroglyphenfunde aus der Zeit um 3200 v. Chr. (Naqada III) in Abydos aus dem prädynastischen Fürstengrab U‑j zum Vorschein gekommen sind. Die nach Meinung Günter Dreyers voll ausgebildeten Hieroglyphen befanden sich auf kleinen Täfelchen, die – an Gefäßen befestigt – vermutlich deren Herkunft bezeichneten. Einige der frühen Zeichen ähneln sumerischen Schriftzeichen. Daher ist eine Abhängigkeit nicht ganz auszuschließen, aber auch in umgekehrter Richtung möglich. Diese Fragen werden kontrovers diskutiert. Die Hieroglyphenschrift begann offenbar als Notationssystem für Abrechnungen und zur Überlieferung wichtiger Ereignisse. Sie wurde rasch mit den zu kommunizierenden Inhalten weiterentwickelt und tritt bereits in den ältesten Zeugnissen als fertiges System auf. Verbreitung Die ägyptischen Hieroglyphen wurden zunächst überwiegend in der Verwaltung, später für alle Belange in ganz Ägypten benutzt. Außerhalb Ägyptens wurde diese Schrift regelmäßig nur im nubischen Raum verwendet, zunächst zur Zeit der ägyptischen Herrschaft, später auch, als dieses Gebiet eigenständig war. Um 300 v. Chr. wurden die ägyptischen Hieroglyphen hier von einer eigenen Schrift der Nubier abgelöst, der meroitischen Schrift, deren einzelne Zeichen jedoch ihren Ursprung in den Hieroglyphen haben. Die althebräische Schrift des 9. bis 7. Jahrhunderts v. Chr. benutzte die hieratischen Zahlzeichen, war ansonsten aber ein von der phönizischen Schrift abgeleitetes Konsonantenalphabet. Mit den Staaten des Vorderen Orients wurde vorwiegend in akkadischer Keilschrift kommuniziert. Es ist anzunehmen, dass sich die Hieroglyphen wesentlich schlechter zur Wiedergabe fremder Begriffe oder Sprachen eigneten als die Keilschrift. Wie groß der Anteil der Schriftkundigen an der Bevölkerung Ägyptens war, ist unklar, es dürfte sich nur um wenige Prozent gehandelt haben: Die Bezeichnung „Schreiber“ war lange synonym mit „Beamter“. Außerdem gab es in griechischer Zeit in den Städten nachweislich viele hauptberufliche Schreiber, die Urkunden für Analphabeten ausstellten. Späte Tradition und Untergang Von 323 bis 30 v. Chr. beherrschten die Ptolemäer (makedonische Griechen) und nach ihnen das römische und byzantinische Reich Ägypten, die Verwaltungssprache war deshalb Altgriechisch. Das Ägyptische wurde nur noch als Umgangssprache der eingesessenen Bevölkerung benutzt. Trotzdem wurde die Hieroglyphenschrift für sakrale Texte und das Demotische im Alltag verwendet. Die Kenntnis der Hieroglyphen wurde auf einen immer enger werdenden Kreis beschränkt, dennoch wurden ptolemäische Dekrete oft in Hieroglyphen geschrieben. So enthalten ptolemäische Dekrete die Bestimmung, dass sie „in Hieroglyphen, der Schrift der Briefe (d. h.: Demotisch) und in griechischer Sprache“ veröffentlicht werden sollten. Gleichzeitig wurden die Zeichen auf mehrere Tausend vervielfacht, ohne dass das Schriftsystem als solches geändert wurde. In dieser Form begegneten interessierte Griechen und Römer dieser Schrift in der Spätantike. Sie übernahmen bruchstückhaft Anekdoten und Erklärungen für Lautwert und Bedeutung dieser geheimen Zeichen und gaben sie an ihre Landsleute weiter. Mit der Einführung des Christentums gerieten die Hieroglyphen endgültig in Vergessenheit. Die letzte datierte Inschrift, das Graffito des Esmet-Achom, stammt von 394 n. Chr. Aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammt die Hieroglyphica des spätantiken Philosophs Horapollon, die eine Mischung aus richtigen und falschen Informationen zur Bedeutung der Hieroglyphen enthält, indem sie auch phonetische Zeichen als Logogramme auffasst und durch sachliche Übereinstimmungen zwischen Bild und Wort erklärt. Entzifferung Altägyptische Schriftsysteme Je nach Schreibmaterialien und Verwendungszweck lassen sich verschiedene Schriften unterscheiden: zunächst die Hieroglyphen und eine kursive Variante, das Hieratische. Obwohl die Zeichen unterschiedliche Formen annahmen, blieb das Funktionsprinzip der Hieroglyphenschrift erhalten. Die viel jüngere demotische Schrift stammt wiederum von der hieratischen Schrift ab und hat nur noch wenig Ähnlichkeit mit den Hieroglyphen. Hieroglyphen Hieroglyphen sind eine auf die Verwendung an Tempel- und Grabwänden ausgerichtete Monumentalschrift. Das Schriftsystem enthält neben orthographischen Aspekten viele Eigenheiten, die sich ausschließlich mit der ornamentalen Wirkung, der Platzausnutzung oder magischen Sichtweisen erklären lassen. Wie einige besonders gut erhaltene Beispiele noch zeigen – so etwa die Inschriften in den Gräbern im Tal der Könige –, wurden die Hieroglyphen ursprünglich vielfach farbig geschrieben. Die Farbe entsprach teils der Naturfarbe des dargestellten Gegenstandes, teils war sie rein konventionell festgelegt. In Einzelfällen konnte allein die Farbe zwei ansonsten formgleiche Schriftzeichen unterscheiden. Dies gilt besonders für mehrere Hieroglyphen mit rundem Umriss. Ägyptische Wörter werden auch innerhalb eines Textes durchaus variabel geschrieben. Die Hieroglyphenschrift ist trotz der starken Bildhaftigkeit, derer sich die Ägypter bewusst waren, kaum eine Bilderschrift. Hieratische Schrift Die hieratische Schrift ist ebenso alt wie die Hieroglyphenschrift. Sie ist eine kursive Variante der Hieroglyphenschrift, die zum Schreiben mit einer Binse auf Papyrus oder ähnlich geeignetem Material (wie Ostraka aus Kalkstein oder Ton) konzipiert war. Zunächst wurde sie auch für allgemeine Texte verwendet, religiöse Texte wurden im Mittleren Reich teilweise auf Papyrus in Hieroglyphen geschrieben; erst mit der Einführung des Demotischen als Alltagsschrift wurde sie auf die Niederschrift religiöser Texte beschränkt. Daher rührt auch ihr von Herodot überlieferter griechischer Name. Das Hieratische bildet die gleichen Elemente wie die Hieroglyphen ab. Dadurch, dass sie schnell geschrieben wurden, flossen die Zeichen häufiger ineinander und abstrahierten im Laufe der Zeit immer stärker von den bildhaften Hieroglyphen; dennoch blieben die Prinzipien des Schriftsystems die gleichen. Die folgende Tabelle stellt einigen Hieroglyphen ihre hieratischen Entsprechungen gegenüber: Kursivhieroglyphen Am Ende des Alten Reiches spaltete sich aus dem frühen Hieratisch eine Schriftform ab, die auf Särge und Papyri geschrieben wurde und sich im Gegensatz zum Hieratischen zwar an das Schreibmaterial anpasste, aber den hieroglyphischen Formen nahe blieb. Bis zur 20. Dynastie wurden religiöse Texte in dieser Schrift geschrieben, danach wurde sie weitgehend vom Hieratischen abgelöst. Demotische Schrift Um 650 v. Chr. wurde eine noch flüssigere und stärker von den Hieroglyphen abstrahierende Kursivschrift entwickelt, die demotische Schrift, auch Volksschrift genannt. Sie entstand als Kanzleischrift und wurde zur Gebrauchsschrift in Ägypten, bis sie im 4./5. Jahrhundert n. Chr. von der koptischen Schrift, einer um einige demotische Zeichen ergänzten Form der griechischen Schrift, abgelöst wurde. Auch wenn die demotische Schrift ihre Grundprinzipien mit den Hieroglyphen teilt, kann sie aufgrund größerer Abweichungen kaum noch als Subsystem der Hieroglyphen verstanden werden. Die Hieroglyphenschrift Schriftrichtung Ursprünglich wurden die Hieroglyphen meist in Spalten (Kolumnen) von oben nach unten und von rechts nach links geschrieben, aus graphischen Gründen konnte die Schreibrichtung jedoch variieren. In seltenen Fällen wurden Hieroglyphen als Bustrophedon geschrieben. Die Schriftrichtung ist sehr leicht festzustellen, da die Zeichen immer in Richtung Textanfang gewandt sind, also dem Leser „entgegenblicken“. Am deutlichsten wird dies bei der Darstellung von Tierformen oder Menschen. In einzelnen Fällen wie beispielsweise auf den Innenseiten von Särgen liegt jedoch eine retrograde Schrift vor, in der also die Zeichen gerade dem Textende zugewandt sind; dies gilt etwa für viele Totenbuchmanuskripte und könnte spezielle religiöse Gründe haben (Totenbuch als Texte aus einer „Gegenwelt“ o. Ä.). Die Worttrennung wurde in der Regel nicht angegeben, jedoch lässt sich das Ende eines Wortes häufig an dem das Wort abschließenden Determinativ erkennen. Funktionen der Schriftzeichen Phonogramme Einkonsonantenzeichen Ein einfaches hieroglyphisches Alphabet wird in der modernen Wissenschaft mit gut zwei Dutzend Zeichen gebildet, die jeweils einen einzelnen Konsonanten wiedergeben, also eine Art „konsonantisches Alphabet“ darstellen. Obwohl schon mit den Einkonsonantenzeichen die Wiedergabe des Ägyptischen möglich gewesen wäre, waren die Hieroglyphen aber nie eine reine Alphabetschrift. Die Einkonsonantenzeichen werden heute gerne zum Lernen der altägyptischen Sprache und zur Wiedergabe moderner Eigennamen verwendet, wobei hier die moderne wissenschaftliche Behelfsaussprache der Zeichen zugrunde gelegt wird, die in vielen Fällen nicht mit der ursprünglichen ägyptischen Lautung identisch ist. Aus wissenschaftshistorischen Gründen werden nämlich in der ägyptologischen Behelfsaussprache fünf bzw. sechs Konsonanten als Vokale ausgesprochen, obwohl sie in der klassischen ägyptischen Sprache Konsonanten bezeichnet hatten. Mehrkonsonantenzeichen Logogramme und Ideogramme Determinative Da mit Hieroglyphen nur die Konsonanten, nicht die Vokale, bezeichnet wurden, ergaben sich viele Wörter unterschiedlicher Bedeutung, die gleich geschrieben wurden, da sie den gleichen Konsonantenbestand hatten. Das Determinativ verkörperte ursprünglich als ein bildhaft vereinigendes Schriftzeichen die ihm zugrunde liegenden Phonogramme. Erst später sollten die Determinative mit anderen allgemeinen Begriffen verbunden werden. So wurden den meisten Wörtern sogenannte Determinative (auch Klassifikatoren oder Deutzeichen) zugesetzt, die die Bedeutung näher erklären. So bedeutet die Hieroglyphe „Haus“ mit dem Konsonantenbestand pr ohne Determinativ das Wort „Haus“ (ägyptisch pr(w)), mit zwei laufenden Beinen als Determinativ bedeutet es „herausgehen“ (ägyptisch pr(j)). Auch Namen wurden determiniert, ebenso manche Pronomina. Königs- oder Götternamen wurden durch die Kartusche, einer Schleife um das Wort, hervorgehoben. Die folgende Tabelle nennt einige Wörter, die alle den Konsonantenbestand wn aufweisen und nur durch ihre Determinative unterschieden werden können: Dazu ist jedoch anzumerken, dass sich das System der Determinative im Verlauf der ägyptischen Sprachgeschichte erst im Mittleren Reich voll stabilisiert hatte, während das Ägyptische des Alten Reiches noch mehr spezielle oder ad hoc gebildete Determinative verwendete. Im Neuen Reich nahm der Gebrauch weniger, besonders generischer Determinative weiter zu; teilweise konnte ein Wort hier mit mehreren Determinativen gleichzeitig geschrieben werden. Weitere Beispiele für Determinative sind: Phonetische Determinative Kalligraphische Besonderheiten Anordnung In hieroglyphischen Inschriften wurden die Zeichen meist nicht einfach aneinandergereiht, sondern zu rechteckigen Gruppen zusammengefasst. So wurde das Wort sḥtp.n=f „er stellte zufrieden“ im Mittleren Reich folgendermaßen geschrieben: s-Htp:t*p-A2-n:f Dies wird von oben nach unten und von links nach rechts in folgender Reihenfolge gelesen: Unterdrückung und Verstümmelung von Zeichen Gruppenschrift Zahlzeichen Die historische Schreibpraxis Schriftmedien Die Ägypter verwendeten als Schriftmedien Stein, Ton und Rollen aus Papyrus, Leder und Leinen, die sie gelegentlich kunstvoll mit kolorierten Bildern versahen. Die Werkzeuge des Schreibers waren: ein meist hölzernes Etui mit mehreren Schreibröhren, die am Ende entweder flachgehämmert oder schräg geschnitten waren, eine Platte als Unterlage und zum Glätten des Papyrus, ein Vorrat an schwarzer Tinte (aus Rußpulver, als Bindemittel wird Gummi arabicum verwendet), und einer mit roter Tinte für Titel, Überschriften und Kapitelanfänge (siehe Rubrum), nicht jedoch für Götternamen (aus Zinnoberpulver, einer Quecksilber-Schwefel-Verbindung oder aus Bleioxid), ein Fässchen für Wasser, mit dem die Tinte angerührt wird sowie ein Messer zum Schneiden des Papyrus. Der längste erhaltene Papyrus misst 40 Meter. Leder wurde vorwiegend für Texte von großer Bedeutung verwendet. Der Beruf des Schreibers Die Kenntnis des Schreibens war mit Sicherheit eine der Grundvoraussetzungen für alle Arten einer Laufbahn im Staat. Es gab auch keine eigene Bezeichnung für den Beamten – „sesch“ heißt sowohl „Schreiber“ als auch „Beamter“. Über das Schulsystem ist überraschend wenig bekannt. Für das Alte Reich wird das Famulussystem angenommen: Schüler lernten das Schreiben bei den Eltern oder wurden einem anderen Schreibkundigen unterstellt, der die Schüler zunächst für Hilfsarbeiten benutzte und ihnen dabei auch das Schreiben beibrachte. Ab dem Mittleren Reich gibt es vereinzelte Belege für Schulen, die aus dem Neuen Reich gut bezeugt sind. Die Ausbildung zum Schreiber begann mit einer der Kursivschriften (Hieratisch, später Demotisch). Die Hieroglyphen wurden später gelernt und aufgrund ihrer Eigenschaft als Monumentalschrift nicht von jedem Schreiber beherrscht. Die Schrift wurde hauptsächlich durch Diktate und Abschreibübungen, die in einigen Fällen erhalten sind, gelehrt, faule Schüler wurden durch Züchtigungen und Gefängnisstrafen diszipliniert. Aus dem Mittleren Reich stammt das Buch Kemit, das anscheinend speziell für den Schulunterricht geschrieben wurde. Die Lehre des Cheti beschreibt die Vorzüge des Schreiberberufes und zählt die Nachteile anderer, meist handwerklicher und landwirtschaftlicher Berufe auf. Aussprache Da die Hieroglyphenschrift zu einer Sprache gehört, deren Abkömmling seit spätestens dem 17. Jahrhundert mit Verdrängung des Koptischen als Verkehrssprache durch das Arabische tot ist (die koptische Kirche verwendet allerdings nach wie vor teilweise die koptische Sprache zu kultischen Zwecken) und in der Hieroglyphenschrift keine Vokale notiert werden, ist die Rekonstruktion der ägyptischen Wörter und die Transkription hieroglyphischer Namen und Wörter in moderne Alphabete nicht eindeutig. So kommen die recht verschiedenen Schreibweisen des gleichen Namens zustande, wie zum Beispiel Nofretete im Deutschen und Nefertiti im Englischen für ägyptisch Nfr.t-jy.tj. Neben dem Koptischen und den hieroglyphischen Schreibungen selbst geben die strittigen afroasiatischen Lautkorrespondenzen und Nebenüberlieferungen wie griechische und keilschriftliche Umschreibungen Hinweise auf die Aussprache ägyptischer Namen und Wörter. Das aus diesen Überlieferungen resultierende Urkoptisch, eine Sprache mit hieroglyphischem Konsonantenbestand und rekonstruierten Vokalen, wurde in verschiedenen Filmen (meist mit zweifelhaften Ergebnissen) aufgegriffen, unter anderem für den Film Die Mumie oder die Serie Stargate. Ägyptologen behelfen sich bei der Aussprache des Ägyptischen dadurch, dass im transkribierten Text zwischen vielen Konsonanten ein e eingefügt wird und einige Konsonanten als Vokale gesprochen werden (ꜣ und ꜥ als a, w als w oder u, j und y als i). Das ist die Regel, aber nicht ohne Ausnahme; so werden zum Beispiel Königs- und Gottesnamen auch nach überlieferten griechischen oder koptischen Schreibungen ausgesprochen, wie etwa „Amun“ statt „Imenu“ für ägyptisch Jmn.w. Im Einzelnen haben sich an den einzelnen Universitäten unterschiedliche Konventionen ausgebildet, wie ägyptologische Transliteration hilfsweise auszusprechen ist. So findet sich das Wort nfrt (Femininum von nfr: „schön“) sowohl als neferet ausgesprochen (so vielfach in Deutschland) wie auch als nefret (andernorts in Deutschland) oder als nefert (so unter anderem an russischen Universitäten). Es gibt auch systematische Differenzen bezüglich der Länge oder Kürze der es und des Wortakzents. Darstellung von Hieroglyphen auf Computersystemen Hieroglyphen sind im Unicodeblock Ägyptische Hieroglyphen (U+13000–U+1342F) codiert, der beispielsweise durch den ab Windows 10 mitgelieferten Font Segoe UI Historic abgedeckt wird. Außerdem existiert eine ganze Reihe von hieroglyphischen Textverarbeitungsprogrammen, die ein System zur Kodierung der Hieroglyphen mittels einfacher ASCII-Zeichen benutzen, das gleichzeitig die komplizierte Anordnung der Hieroglyphen abbildet. Die einzelnen Hieroglyphen werden dabei entweder anhand der Nummern der Gardiner-Liste oder ihrer Lautwerte kodiert. Diese Methode wird nach ihrer Publikation Manuel-de-Codage-Format, kurz MdC, genannt. Ein Beispiel für die Codierung einer hieroglyphischen Inschrift bietet der folgende Auszug aus einer Stele aus dem Louvre (Paris): sw-di-Htp:t*p i-mn:n:ra*Z1 sw-t:Z1*Z1*Z1 nTr ir:st*A40 i-n:p*w nb:tA:Dsr O10 Hr:tp R19 t:O49 nTr-nTr Hr:Z1 R2 z:n:Z2 Szp:p:D40 z:n:nw*D19:N18 pr:r:t*D54 sw-di-Htp:t*p i-mn:n:ra*Z1 sw-t:Z1*Z1*Z1 nTr ir:st*A40 i-n:p*w nb:tA:Dsr O10 Hr:tp R19 t:O49 nTr-nTr Hr:Z1 R2 z:n:Z2 Szp:p:D40 z:n:nw*D19:N18 pr:r:t*D54 Um ein originalgetreues Abbild der Anordnung der Hieroglyphen zu erzeugen, müssen komplexe Hieroglyphensatzprogramme neben den überlappungsfreien Anordnungen auch eine Funktion anbieten, Hieroglyphen zu spiegeln, ihre Größe stufenlos zu verändern und einzelne Zeichen teilweise oder ganz übereinander anzuordnen (vgl. die Zeichenfolge unten rechts im Bild, die hier nicht umgesetzt werden konnte). Zur Wiedergabe und zum Satz von Hieroglyphen auf dem Computer wurde eine Reihe von Programmen entwickelt. Zu diesen zählen SignWriter, WinGlyph, MacScribe, InScribe, Glyphotext und WikiHiero. Transkription Neben den phonetischen Umschriftzeichen enthalten die meisten Transkriptionssysteme auch sogenannte Strukturzeichen, die Morpheme voneinander abgrenzen, um die morphologische Struktur der Wörter zu verdeutlichen. So wird von bestimmten Forschern die altägyptische Verbform jnsbtnsn „diejenigen, die sie verschlungen haben“ als j.nsb.t.n=sn transkribiert, um die verschiedenen Präfixe und Suffixe zu kennzeichnen. Die Verwendung der Strukturzeichen ist noch weniger einheitlich als die phonetischen Transkriptionen – neben völlig strukturzeichenlosen Systemen, wie dem, das unter anderem in Elmar Edels Altägyptischer Grammatik (Rom 1955/64) Verwendung fand, gibt es Systeme mit bis zu fünf Strukturzeichen (Wolfgang Schenkel). Auch einzelne Zeichen werden nicht einheitlich benutzt; so dient der einfache Punkt („.“) in der Umschrift der Berliner Schule zur Trennung der Suffixpronomina, in einigen jüngeren Systemen dagegen zur Markierung der nominalen Feminin-Endung. Während James P. Allen ein Präfix j bestimmter Verbformen mit einem einfachen Punkt abtrennt, hat Wolfgang Schenkel hierfür den Doppelpunkt („:“) vorgeschlagen. Hieratische Texte werden vor der Transkription in Umschrift häufig erst in Hieroglyphen überführt (Transliteration) und so veröffentlicht, damit die Identifizierung der Schriftzeichen mit entsprechenden Hieroglyphen verdeutlicht werden kann. Die Identifizierung der kursiven Schriftzeichen ist nur durch Spezialisten durchführbar und nicht von allen mit der Hieroglyphenschrift Vertrauten einfach nachzuvollziehen. Demotische Texte hingegen werden, weil der Abstand zu den Hieroglyphen zu groß ist, üblicherweise nicht erst transliteriert, sondern direkt in Umschrift transkribiert. Die Bedeutungen der Bezeichnungen „Transkription“ und „Transliteration“ sind nicht international konsistent; insbesondere werden im englischen Sprachgebrauch die Bezeichnungen „Transcription“ und „Transliteration“ andersherum verwendet. Darstellung von Transkriptionszeichen auf Computersystemen Sämtliche für die ägyptologischen Transkriptionen verwendete Zeichen sind im internationalen Zeichenkodierungs-Standard Unicode enthalten. Zuletzt wurde im März 2019 das ägyptologische Jod in den Unicode-Standard aufgenommen (Unicodeblock Lateinisch, erweitert-D). Es sind allerdings nicht alle Zeichen in allen Fonts vorhanden, sodass sich u. U. die Benutzung spezieller Fonts wie New Athena Unicode empfiehlt. In Transkriptionen sind nur die Kleinbuchstaben üblich; Unicode enthält jedoch für alle diese Buchstaben auch Großbuchstaben-Varianten, die beispielsweise in Überschriften verwendet werden können. Wegen der Bedeutung der Ägyptologie in der Populärwissenschaft wurden die üblichen Umschriftzeichen bei der 2018 erfolgten Überarbeitung der deutschen Tastaturbelegungs-Norm DIN 2137 berücksichtigt. Somit können diese Zeichen mit der deutschen Standard-Tastaturbelegung E1 eingegeben werden. Ersatzdarstellungen für das ägyptologische Jod Da das erst im März 2019 zu Unicode hinzugefügte ägyptologische Jod in vielen Fonts noch nicht umgesetzt ist, wurden und werden dafür verschiedene Workarounds genutzt: Darstellungen mit Nicht-Unicode-Fonts Da erst seit 2019 alle für ägyptologische Transliterationen erforderliche Zeichen in Unicode zur Verfügung stehen, sind für zahlreiche wissenschaftliche Projekte weiterhin Nicht-Unicode-Fonts in Verwendung, die die benötigten Zeichen auf anderen Codepunkten enthalten als durch Unicode standardisiert. Neben allerlei privaten Fonts sind in der Wissenschaft insbesondere die TrueType-Fonts „Transliteration“ des CCER und „Trlit_CG Times“ weit verbreitet, in denen das Transkriptionssystem des Wörterbuchs der Aegyptischen Sprache von Erman und Grapow und von Alan Gardiners Egyptian Grammar weitestgehend genau auf die Tastaturbelegung des Manuel de Codage (siehe oben) abgebildet wird. Einen Zeichensatz des Ägyptologen Friedrich Junge, mit dem alle gängigen Transkriptionssysteme wiedergegeben werden können, der aber hinsichtlich der Tastaturbelegung vom Manuel de Codage abweicht, stellt die Zeitschrift Lingua Aegyptia zur Verfügung (Umschrift_TTn). Literatur (chronologisch sortiert) Einführungen W. V. Davies: Egyptian Hieroglyphs. 5th Imprint. British Museum Press, London 1992, ISBN 0-7141-8063-7, (Reading the past). Karl-Theodor Zauzich: Hieroglyphen ohne Geheimnis. Eine Einführung in die altägyptische Schrift für Museumsbesucher und Ägyptentouristen (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 6). Herausgegeben vom Verein zur Förderung des Ägyptischen Museums in Berlin-Charlottenburg e. V. 11. Auflage. von Zabern, Mainz 2000, ISBN 3-8053-0470-6 (). Marc Collier, Bill Manley: Hieroglyphen. Entziffern, lesen, verstehen. Knaur, München 2001, ISBN 3-426-66425-9, (Originalausgabe: How to read Egyptian hieroglyphs. British Museum Press, London 1998, ISBN 0-7141-1910-5). Gabriele Wenzel: Hieroglyphen. Schreiben und Lesen wie die Pharaonen. 3. Auflage, Nymphenburger, München 2003, ISBN 3-485-00891-5. Bridget McDermott: Hieroglyphen entschlüsseln. Die Geheimsprache der Pharaonen lesen und verstehen. Area, Erftstadt 2006, ISBN 3-89996-714-3. Petra Vomberg, Orell Witthuh: Hieroglyphenschlüssel. Harrassowitz, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-447-05286-3. Hartwig Altenmüller: Einführung in die Hieroglyphenschrift (= Einführungen in fremde Schriften.) 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Buske, Hamburg 2010, ISBN 978-3-87548-535-6. Michael Höveler-Müller: Hieroglyphen lesen und schreiben. In 24 einfachen Schritten. Beck, München 2014. ISBN 978-3-406-66674-2. Entzifferung Lesley Adkins, Roy Adkins: Der Code der Pharaonen. Lübbe, Bergisch Gladbach 2002, ISBN 3-7857-2043-2. Markus Messling: Champollions Hieroglyphen, Philologie und Weltaneignung. Kadmos, Berlin 2012, ISBN 978-3-86599-161-4. Grammatiken mit Zeichenlisten Adolf Erman: Neuaegyptische Grammatik. 2. völlig umgestaltete Auflage. Engelmann, Leipzig 1933, (Umfassende Darstellung der Eigenheiten der neuägyptischen Schreibungen: §§ 8–42). Herbert W. Fairman: An Introduction to the Study of Ptolemaic Signs and their Values. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale. Nr. 43, 1945, , S. 51–138. Alan Gardiner: Egyptian Grammar. Being an introduction to the study of hieroglyphs. Third edition, revised. Oxford University Press, London 1957, (Zuerst: Clarendon Press, Oxford 1927), (Enthält die ausführlichste Version der Gardiner-Liste, der Standard-Hieroglyphenliste, sowie eine umfangreiche Darstellung des Schriftsystems). Elmar Edel: Altägyptische Grammatik (= Analecta Orientalia, commentationes scientificae de rebus Orientis antiqui. Band 34/ 39). Pontificium Institutum Biblicum, Rom 1955–1964, (Bietet in §§ 24–102 eine sehr umfangreiche Darstellung der Schreibregeln und der Prinzipien der Hieroglyphen), (Dazu erschienen: Register der Zitate. Bearbeitet von Rolf Gundlach. Pontificium Institutum Biblicum, Rom 1967). Jochem Kahl: Das System der ägyptischen Hieroglyphenschrift in der 0.–3. Dynastie. Harrassowitz, Wiesbaden 1994, ISBN 3-447-03499-8, (= Göttinger Orientforschungen. Reihe 4: Ägypten. 29, ), (Zugleich: Dissertation, Universität Tübingen, 1992). James P. Allen: Middle Egyptian. An Introduction to the Language and Culture of Hieroglyphs. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-77483-7, (Lehrgrammatik mit Übungstexten, geht auch ausführlich auf den kulturellen Kontext der Texte ein). Pierre Grandet, Bernard Mathieu: Cours d'égyptien hiéroglyphique. Nouvelle édition revue et augmentée, Khéops, Paris 2003, ISBN 2-9504368-2-X. Friedrich Junge: Einführung in die Grammatik des Neuägyptischen. 3. verbesserte Auflage. Harrassowitz, Wiesbaden 2008, ISBN 978-3-447-05718-9, (Zu den Schreibmaterialien, der Transkription und Transliteration §§ 0.3 + 0.4; zu den Eigenheiten der neuägyptischen Schreibungen § 1). Daniel A. Werning: Einführung in die hieroglyphisch-ägyptische Schrift und Sprache. Propädeutikum mit Zeichen- und Vokabellektionen, Übungen und Übungshinweisen. 3. verbindliche Ausgabe, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2015. doi:10.20386/HUB-42129 (online, Version 2018). Zeichenlisten Ferdinand Theinhardt: Liste der hieroglyphischen Typen aus der Schriftgiesserei des Herrn F. Theinhardt. 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TV-Dokumentationsreihe von David Sington, F 2020; deutsche Synchronfassung: Arte 2020 (Auf: youtube.com); mitwirkend: Yasmin El Shazly (Ägyptologin), Lydia Wilson (Historikerin), Brody Neuenschwander (Kalligraph), Irving Finkel (Assyrologe), Günter Dreyer (Ägyptologe), Orly Goldwasser (Ägyptologin), Yongsheng Chen (Philologe), Pierre Tallet (Ägyptologe), Ahmad Al-Jaliad (Philologe) u. a. Weblinks Altägyptisches Wörterbuch und Textdatenbank der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Kurzfassung der Gardiner-Liste Beschreibung des Manuel-de-Codage-Formats Medu-Netscher – Die Schrift der alten Ägypter: Schriftzeichen/-System, Historie, Entzifferung, Bildergalerie, Literaturtipps Einzelnachweise 4. Jahrtausend v. Chr. Afrikanische Schrift
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Methan
Methan ist eine chemische Verbindung mit der Summenformel CH4 und der einfachste Vertreter der Stoffgruppe der Alkane. Unter Normalbedingungen ist es ein farb- und geruchloses, brennbares Gas. Methan ist in Wasser kaum löslich und bildet mit Luft explosive Gemische. Es verbrennt mit bläulich-heller Flamme in Gegenwart von ausreichend Sauerstoff zu Kohlenstoffdioxid und Wasser. Es kommt in der Natur unter anderem als Hauptbestandteil von Erdgas vor. Da es in Lagerstätten in großen Mengen existiert, ist es eine attraktive Energiequelle. Der Transport erfolgt durch Pipelines oder als tiefgekühlte Flüssigkeit mittels Tankschiffen. Des Weiteren kommt es als Methanhydrat gebunden am Meeresboden und in Permafrostgebieten vor, wobei die genaue Menge unbekannt ist. Methan dient als Heizgas und ist in der chemischen Industrie als Ausgangsstoff für technische Synthesen wie etwa der Methanolherstellung oder der Herstellung von halogenierten Methanderivaten von großer Bedeutung. Es wird weiterhin zur Herstellung von Wasserstoff im großindustriellen Maßstab verwendet. Das Gas entsteht in beträchtlichen Mengen durch biotische Prozesse, entweder anaerob durch Mikroorganismen oder aerob durch Phytoplankton, Pflanzen und Pilze. Anthropogene Quellen sind indirekt etwa der Reisanbau und die Schaf- und Rinderzucht. Abiotische Quellen wie Waldbrände oder Vulkanausbrüche setzen ebenfalls Methan frei. Methan ist der meist vertretene Kohlenwasserstoff in der irdischen Atmosphäre, wobei die Konzentration sowohl zwischen der Nord- und Südhalbkugel als auch jahreszeitlich schwankt. Als Treibhausgas besitzt Methan ein hohes Treibhauspotential. Es trug zur klimageschichtlichen Erderwärmung bei und beeinflusst die aktuelle globale Erwärmung. In der Erdatmosphäre wird es zu Wasser, Formaldehyd und schließlich zu Kohlenstoffdioxid oxidiert. Methan ist Bestandteil der Atmosphäre anderer Planeten und Monde und wurde sowohl in Kometen als auch im interstellaren Medium nachgewiesen. Etymologie Der Name Methan leitet sich von Méthylène her. Dies war der Name, den die französischen Chemiker Jean-Baptiste Dumas und Eugène-Melchior Péligot 1834 der Flüssigkeit, die heute als Methanol bezeichnet wird, gaben; er setzt sich seinerseits aus altgriechisch (méthy) für „Wein, berauschendes Getränk“ und (hýlē) für „Holz“ zusammen. Der deutsche Chemiker August Wilhelm von Hofmann schlug 1866 in einer englischen Veröffentlichung erstmals eine systematische Nomenklatur vor, wonach der Name für das Gas sich von Methylene ableitete und Methane genannt werden sollte. Daraus entstand die deutsche Form Methan. In alten Texten wurde Methan gelegentlich als Methylwasserstoff bezeichnet. Geschichte Altertum und Spätmittelalter Methan speist als Bestandteil von austretendem Erdgas sogenannte „Ewige Feuer“. Diese wurden so genannt, da das Vorhandensein einer Flamme in historischen Aufzeichnungen über lange Zeiträume berichtet wurde. Diese Feuer treten oft in erdölführenden Gebieten mit tektonischen Verwerfungen auf, etwa in Chimaira (Lykien). Bereits seit 2000 v. Chr. sind diese Feuer bekannt. Bei dem ewigen Feuer in Baba Gurgur im Irak handelt es sich möglicherweise um den Feuerofen, der bereits in der Bibel im Buch Daniel beschrieben ist und in den König Nebukadnezar Daniels Begleiter Shadrach, Meshach, und Abednego warf, weil sie sich weigerten, eine goldene Statue anzubeten . Das Orakel von Delphi befand sich im Apollon-Tempel, der um etwa 1000 vor Christus über einer ewigen Flamme errichtet wurde. Möglicherweise erfolgten die Wahrsagungen der Pythia unter Einfluss der Inhalation von narkotisch wirkenden Gasen wie Methan, Ethan und Ethen, als Pneuma bezeichnet, die in Spuren in einer dort vorhandenen Quelle nachgewiesen wurden. Methan als Bestandteil des Erdgases wurde bereits im 4. Jahrhundert vor Christus in China energetisch zum Eindampfen von Salzsole verwendet. Zum Teil traten aus den Bohrlöchern sowohl Methan als auch Sole aus, zum Teil wurde das Gas mittels Bambuspipelines von sogenannten trockenen Bohrlöchern aus zur Soleverarbeitung herangeführt. Die Natur des Gases war damals unbekannt, aber es war den Alchemisten im Mittelalter bekannt als Bestandteil von Fäulnisgasen, auch als „Sumpfluft“ bezeichnet. Das Auftreten von Schlagwettern, einem Gasgemisch aus Methan und Luft, war im Untertagebau schon früh als Gefahr bekannt, da eine Zündquelle eine Schlagwetterexplosion auslösen konnte. 17. bis 19. Jahrhundert Im Februar 1659 untersuchte der Engländer Thomas Shirley bei Wigan eine Quelle mit brennbarem Wasser. Er konnte zeigen, dass nicht das Wasser, sondern ein Gas, das vom Boden des aufgestauten Wassers aufstieg, das Phänomen verursachte. Er vermutete, dass das Gas aus einer darunterliegenden Kohlelagerstätte stammte und dass es Grubengas war. Der Priester Carlo Giuseppe Campi wies im Herbst 1776 Alessandro Volta auf das Phänomen der „entflammbaren Luft“ hin, die an einer Biegung des Flusses Lambro aufstieg. Dieses Phänomen war bereits einige Jahre zuvor von Antoine Laurent de Lavoisier, Benjamin Franklin und Joseph Priestley untersucht und beschrieben worden. Volta versuchte in den Sümpfen des Lago Maggiore den Boden mit Hilfe eines Stocks umzurühren, wobei er Gasblasen aufsteigen sah. Er sammelte das Gas in Flaschen, welches er mittels eines von ihm entwickelten Eudiometers quantitativ untersuchte. Volta entwickelte auch die sogenannte Volta-Pistole, ein Eudiometer, in dem eine Luft-Methan-Mischung gezündet werden konnte. Er schlug 1777 vor, die Volta-Pistole als eine Art Fernschreiber zu nutzen. Über eine Drahtleitung zwischen Mailand und Como sollte ein elektrischer Impuls ein Luft-Methan-Gemisch in Volta-Pistolen zur Explosion bringen, wobei eine Reihe solcher Entladungen einen alphanumerischen Code zur Informationsübertragung darstellen würde. Seine Untersuchungen beschrieb Volta in als Buch herausgegebenen Briefen an Carlo Campi. Um 1800 begannen Versuche zur Verwendung von Stadtgas, einer Mischung aus Methan, Kohlenstoffmonoxid, Wasserstoff und Stickstoff, für die Straßenbeleuchtung. William Henry untersuchte zu dieser Zeit die Eigenschaften von Mischungen brennbarer Gase, etwa ihre Löslichkeit in Flüssigkeiten in Abhängigkeit vom Partialdruck. Diese Arbeiten führten zur Formulierung des Henry-Gesetzes. Er bestimmte die relative Leuchtkraft von Gasen und die Unterschiede ihrer Zusammensetzung. Seine Ergebnisse bestätigten die Vermutung John Daltons über die Zusammensetzung von Methan und Ethen und, dass Kohlenstoff und Wasserstoff nur in bestimmten Verhältnissen miteinander verbunden sind. Nach dem Grubenunglück von Felling (Tyne and Wear) im Jahr 1812, einem der größten Grubenunglücke der damaligen Zeit, stellte Humphry Davy fest, dass das gefürchtete Grubengas hauptsächlich aus Methan bestand. Der Verlust von 92 Menschenleben war eine der Triebfedern für die Entwicklung der Davy-Lampe mit Flammsieb. Um 1821 fand William Hart, der als „Vater des Erdgases“ gilt, in Fredonia die erste Erdgasquelle in den Vereinigten Staaten. Das Gas wurde lokal für Beleuchtungszwecke genutzt. Hart gründete 1858 die erste US-amerikanische Erdgasgesellschaft, die Fredonia Gas Light Company. 20. Jahrhundert Mit Beginn der Erdölförderung wurde Methan als Hauptbestandteil des gleichzeitig geförderten Erdgases meist am Bohrlochkopf abgefackelt. Eine der ersten großen Pipelines wurde im Jahr 1891 gebaut. Sie war 193 Kilometer lang und verband Erdgasbohrungen in Indiana mit Chicago. Zu Beginn des Ausbaus und intensiveren Nutzung der Erdgaspipelines in den 1930er Jahren wurde Methanhydrat in den Erdgaspipelines gefunden, das sich aus Methan und Wasser bildete und die Pipelines verstopfte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubten Fortschritte in der Pipelinetechnik den Ausbau einer Pipelineinfrastruktur und der Nutzung von Methan als Bestandteil des Erdgases zur industriellen Nutzung sowie zur privaten Nutzung zu Heiz- und Kochzwecken. Mit steigendem globalem Energiebedarf wurde Methan ein stetig wachsender Faktor der Weltprimärenergieproduktion. Zwischen 1980 und 1990 stieg der Anteil von etwa 18 auf etwa 22 %. Vorkommen Irdisch Methan war neben Ammoniak und Wasserdampf ein Hauptbestandteil der irdischen Uratmosphäre. Es kommt vielfältig vor und wird auf der Erde ständig neu gebildet, etwa bei technischen, biologischen oder geologischen Prozessen wie der Serpentinisierung. Die Methankonzentration in der Erdatmosphäre hat sich vom Jahr 1750 bis zum Jahr 2021 von 0,73 auf 1,896 ppm mehr als verdoppelt und damit den höchsten Wert seit 800.000 Jahren erreicht. Seit dem Ausfall des Envisat-Satelliten liefern der japanische Greenhouse Gases Observing Satellite (GOSAT) sowie das Tropomi-Spektrometer des Sentinel-5P-Satelliten Daten der globalen Verteilung der Methankonzentration in der Atmosphäre. Im Jahr 2023 ist der Beginn einer weiteren Sentinel-Mission zur Beobachtung der Atmosphärenzusammensetzung geplant. Mikroorganismen bilden einen großen Teil des terrestrischen Methans. Beim Faulen organischer Stoffe unter Luftabschluss in Sümpfen oder im Sediment auf dem Grund von Gewässern bildet sich Sumpfgas, ein Gemisch aus Methan und Kohlenstoffdioxid. Biogas enthält etwa 60 % Methan und etwa 35 % Kohlenstoffdioxid, neben geringeren Mengen Wasserstoff, Stickstoff und Schwefelwasserstoff. Die Bildung erfolgt oberflächennah biotisch: einerseits anaerob im Zuge der Methanogenese vor allem aus Acetat, aber auch unter anderem aus Kohlenstoffdioxid, durch eine Gruppe von Archaeen, den Methanogenen. Sie nutzen einfache Verbindungen wie Kohlenstoffdioxid oder Methanol und reduzieren diese zu Methan, wobei sie – vor allem über die damit verbundene Oxidation von Reaktionspartnern – Energie gewinnen. Beispielsweise werden bei der Bildung von Methan und Wasser aus CO2 und Wasserstoff (H2) unter Standardbedingungen bei einem pH-Wert von sieben etwa 131 kJ/mol an Freier Enthalpie (Gibbs-Energie, ΔG0’) freigesetzt: Ein kleiner Teil der biotischen Entstehung basiert auf der aeroben Spaltung von Methylphosphonaten. Unterhalb der Oberfläche der Erde entsteht Methan im tieferen Untergrund bei hohen Temperaturen und Drücken und wird meist bei vulkanischen Aktivitäten frei. Als Bestandteil des Erdgases schwankt seine Konzentration je nach Lagerstätte zwischen 35 und 98 %. Andere Erdgasbestandteile können höhere Kohlenwasserstoffe, besonders Ethan sein, sowie Kohlenstoffdioxid und Stickstoff. Das meist zusammen mit Erdöl auftretende „Naßgas“ enthält Kohlenwasserstoffe wie Pentan, Hexan, Heptan und noch höhere Kohlenwasserstoffe, während „trockenes“ Erdgas Methan als Hauptbestandteil enthält. Das in Steinkohlelagern eingeschlossene Grubengas enthält hauptsächlich Methan. Es kann abiotisch thermal im Rahmen des Reifeprozesses von Kohle in der geochemische Phase der Inkohlung sowie aus allen Typen von Kerogenen und Erdöl entstehen. 2008 wurde nachgewiesen, dass Methan aus den Lost-City-Hydrothermalquellen geochemischen Ursprungs ist. Methan, das am Meeresgrund austritt, reagiert unter hohem Druck und niedriger Temperatur mit Wasser zu festem Methanhydrat, das auch als „Methaneis“ bezeichnet wird. Der Kohlenstoffgehalt der weltweiten Methanhydratvorkommen wurde Ende der 1980er Jahre etwa 11.000 Gigatonnen geschätzt, der Kohlenstoffgehalt der nachgewiesenen Erdgas, Kohle- und Ölreserven beträgt etwa 5000 Gigatonnen. Neuere Schätzungen gehen von wesentlich geringeren Vorkommen aus, wobei die Vorkommen auf etwa 1800 Gigatonnen Kohlenstoff geschätzt werden. Außerirdisch Die Atmosphären der Planeten Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun und des Zwergplaneten Pluto enthalten ebenfalls Methan, ebenso die Atmosphären von Monden wie Titan oder Enceladus. Nach Wasserstoff und Helium ist Methan die dritthäufigste Komponente der Uranusatmosphäre. Durch dessen Absorptionsbanden im roten Bereich und im nahen Infrarot erscheint Uranus aquamarin oder cyanfarben. Die etwas helleren blauen Farbtöne des Saturns sind wahrscheinlich auf denselben Effekt zurückzuführen. Außerhalb unseres Sonnensystems ist Methan als erstes organisches Molekül auf dem Exoplaneten HD 189733 b vom Typ Hot Jupiter nachgewiesen worden. Die Absorptionsspektren von kühlen Braunen Zwergen, die als Methan-T-Zwerge bezeichnet werden, werden von Methan und Wasser dominiert. Daneben gibt es heißere, sogenannte L-Zwerge, die ebenfalls Methanabsorptionsmerkmale aufweisen, die jedoch schwächer sind als die der T-Zwerge. Mars 2009 wurde über Methaneruptionen auf dem Mars berichtet; in der Atmosphäre des Mars wurde Methan nachgewiesen, etwa 10,5 ppb. Da es sich normalerweise nicht in der Atmosphäre halten kann und es keine Hinweise auf Meteoriten als Quelle gibt, muss es auf dem Planeten neu gebildet worden sein, was ein Indiz für Leben auf dem Mars sein könnte. Das Methan könnte vulkanischen Ursprungs sein, wofür auf dem Mars noch keine Hinweise gefunden wurden. Eine methanreiche Ur-Atmosphäre auf dem Mars und der dadurch verursachte Treibhauseffekt könnte eine Erklärung für das Paradoxon der schwachen jungen Sonne bieten. Die in der Frühzeit geringe Strahlungsleistung der jungen Sonne steht im Widerspruch zu einer Oberflächentemperatur auf dem Mars über dem Gefrierpunkt von Wasser, für die es Hinweise durch Spuren von fließenden und stehenden Gewässern in der Urgeschichte des Mars gibt. Titan Auf dem Saturnmond Titan herrscht bei −180 °C und etwa 1,6 Bar Atmosphärendruck fast der Tripelpunkt des Methans. Methan kann deshalb auf diesem Mond in allen drei Aggregatzuständen auftreten. Es gibt Wolken aus Methan, aus denen Methan regnet, das durch Flüsse, darunter der Vid Flumina, in Methanseen fließt, dort wieder verdunstet und so einen geschlossenen Methankreislauf bildet, analog zum Wasserkreislauf auf der Erde. Flüssiges Methan ist für Radarstrahlen durchsichtig, so konnte die Raumsonde Cassini die Tiefe des Sees Ligeia Mare zu 170 m bestimmen. Wahrscheinlich gibt es auf diesen Seen Eisberge aus Methan und Ethan. Diese schwimmen auf den Methanseen, wenn sie mindestens 5 % gasförmigen Stickstoff enthalten. Wenn die Temperatur nur geringfügig sinkt, zieht sich der Stickstoff soweit zusammen, dass das Eis zum Grund hinabsinkt. Steigt die Temperatur wieder, kann das Grundeis wieder zur Seeoberfläche aufsteigen. Bei bestimmten Temperaturen kann Oberflächen- und Grundeis gleichzeitig vorkommen. Für den Ontario Lacus, einen See nahe dem Südpol des Titan, wurde als Hauptbestandteil Ethan nachgewiesen. Enceladus Enceladus stößt Eruptionssäulen von salzhaltigem Wasser aus, das mit Ammoniak und Spuren von Methan und höheren Kohlenwasserstoffen versetzt ist. Dies wird als Resultat hydrothermaler Aktivität in einem Ozean aus flüssigen Wasser unter der Oberfläche des Mondes gedeutet. Dort könnten ähnliche chemischen Reaktionen ablaufen, die das Leben in der Nähe von Hydrothermalquellen in der Tiefsee auf der Erde ermöglichen. Molekularer Wasserstoff, der von methanogenen Mikroben verstoffwechselt werden kann, ist ebenfalls vorhanden. Daher wurden mehrere Missionen vorgeschlagen, um Enceladus weiter zu erforschen und seine Bewohnbarkeit zu beurteilen. Gewinnung und Darstellung Gewinnung als Erdgas Neben Methan kann Erdgas andere Gase wie Ethan, höhere Kohlenwasserstoffe, Sauergase wie Schwefelwasserstoff und Kohlenstoffdioxid sowie Inertgase wie Stickstoff, Helium und weitere Edelgase enthalten. Sogenannte „Trockene Erdgase“ enthalten etwa 75 bis 95 % Methan. Eine Abtrennung von anderen Kohlenwasserstoffkomponenten erfolgt meist nicht, Sauergase und Inertgase werden dagegen abgetrennt. Im 19. Jahrhundert trat Methan als Bestandteil des Erdgases zunächst als unerwünschtes Nebenprodukt der Erdölförderung auf. Da es zu dieser Zeit keine genügenden Transport- und Speichermedien für die geförderten Mengen gab, wurde es meist einfach in Gasfackeln verbrannt. Diese Methode wird noch in der heutigen Zeit angewandt, falls es keine kommerziell einträglichen Alternativen gibt. Zum Teil wird das Gas wieder zurück in die Erde gepresst. Alternativ kann es durch Abkühlung verflüssigt werden und als Flüssigerdgas transportiert werden. Gewinnung als Biogas Biogas ist ein Gasgemisch, das bei der mikrobiellen Zersetzung organischer Materie in Abwesenheit von Sauerstoff entsteht und zu etwa zwei Dritteln aus Methan und zu einem Drittel aus Kohlenstoffdioxid besteht. Biogas wird von Methanbildnern durch Methanogenese von landwirtschaftlichen und Grünabfällen, Abwässern, Lebensmittelabfällen sowie Abfällen aus der Viehzuchtindustrie gebildet und gilt als erneuerbare Energiequelle. Das in Biogasanlagen erzeugte Methan kann etwa als Brennstoff verwendet werden. Gewinnung aus Methanhydrat Eine Gewinnung des Methanhydrats könnte zur Lösung irdischer Energieprobleme beitragen, ist jedoch problematisch. Ein besonderes Problem besteht zum Beispiel darin, dass bei der Bergung viel Methan in die Erdatmosphäre gelangen würde und dort als sehr wirksames Treibhausgas zu einer weiteren Erwärmung und damit weiterer Freisetzung von Methan beitragen würde. Außerdem ist die Förderung von Methanhydrat nicht ungefährlich. Erste Förderversuche sind bereits im Gange. Die Folgen eines Raubbaus sind weitgehend ungeklärt; Forscher befürchten das Abrutschen der Kontinentalhänge, die zu großen Teilen aus Methaneis, das durch die Förderung instabil werden könnte, bestehen. Wegen der globalen Erwärmung und der damit verbundenen Meerwassererwärmung befürchten einige Forscher das Schmelzen und Verdampfen des Methanhydrats. Das würde zusätzlich Methan als Treibhausgas in die Erdatmosphäre bringen und den anthropogenen Treibhauseffekt verstärken. Die Freisetzung von Methan aus tauenden Permafrostböden ist ein weiteres Kippelement des Klimawandels. Methanisierung Die Methanisierung oder Sabatier-Prozess ist ein Prozess zur Erzeugung von synthetischem Erdgas. Dabei werden Kohle oder andere Kohlenstoff-haltige Materialien durch Kohlevergasung in Kohlenstoffmonoxid oder Kohlenstoffdioxid konvertiert, welche mit Wasserstoff katalytisch zu Methan umgesetzt werden. Diese Reaktion wurde im 19. Jahrhundert durch den Franzosen und Nobelpreisträger Paul Sabatier entdeckt und nach ihm benannt. . . Die Reaktion wird nicht großtechnisch zur Herstellung von Methan eingesetzt, sie spielt jedoch eine Rolle beim Entfernen von Kohlenstoffmonoxid-Spuren, die in manchen Prozessen als Katalysatorgift wirken. Laborsynthesen Für die Herstellung aus Aluminiumcarbid gibt es zwei Methoden. Aluminiumcarbid kann dazu mit Wasser zu Aluminiumoxid und Methan umgesetzt werden, oder mit Chlorwasserstoff zu Aluminiumchlorid und Methan. Die Methoden werden meist nur im Labor eingesetzt. Eine weitere Quelle für die Darstellung im Labormaßstab bietet die thermische Zersetzung von Natriumacetat. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Methan schmilzt bei −182,6 °C und siedet bei −161,7 °C. Aufgrund der unpolaren Eigenschaften ist es in Wasser kaum löslich, in Ethanol und Diethylether löst es sich jedoch gut. Die molare Schmelzenthalpie und die molare Verdampfungsenthalpie betragen 1,1 kJ/mol und 8,17 kJ/mol. Der Heizwert Hi liegt bei 35,89 MJ·m−3 beziehungsweise 50,013 MJ kg−1. Die Standardentropie beträgt 188 J·mol−1·K−1, die Wärmekapazität 35,69 J·mol−1·K−1. Der Tripelpunkt von Methan liegt bei 90,67 K und 0,117 bar, der kritische Punkt liegt bei 190,56 K und 45,96 bar. Festes Methan existiert in mehreren Modifikationen, zurzeit sind neun verschiedene bekannt. Bei der Abkühlung von Methan bei normalem Druck entsteht Methan I. Dabei handelt es sich um einen kubisch kristallisierenden Stoff . Die Positionen der Wasserstoffatome sind nicht fixiert, das heißt, die Methanmoleküle können frei rotieren. Deshalb handelt es sich um einen plastischen Kristall. Molekulare Eigenschaften Das Methanmolekül besteht aus einem Kohlenstoffatom (C), an welches vier Wasserstoffatome (H) kovalent gebunden sind, was es zum einfachsten Vertreter der Alkane CnH2n+2 (mit n = 1) macht. Im Zentrum des Moleküls liegt das C-Atom, um das herum die H-Atome tetraedrisch im Abstand von 108,7 Picometer (pm) angeordnet sind. Die im Falle des Methanmoleküls optimal realisierte Tetraederstruktur mit einem zeitgemittelten H–C–H-Bindungswinkel von 109,471° ist für den Aufbau gesättigter Kohlenwasserstoffe grundlegend und steht daher meist am Beginn jeder Einführung in die Organische Chemie. Qualitativ lässt sich diese regelmäßige Anordnung der vier gleichen H-Atome um das zentrale C-Atom bereits im einfachen VSEPR-Bild verstehen, da auf diese Weise die H-Atome – und damit die entlang der C–H-Bindungsachsen erhöhten Elektronendichten – die größtmögliche Entfernung zueinander einnehmen, was Abstoßungseffekte minimiert. Die vier gleich langen C–H-Bindungen lassen sich im Rahmen einer lokalisierten Valenzbindungstheorie mithilfe von Hybridorbitalen so beschreiben: Das C-Atom ist sp3-hybridisiert, die vier C–H-σ-Bindungen kommen durch paarweise Überlappung je eines der vier sp3-Hybridorbitale mit dem 1s-Orbital je eines H-Atoms zustande. Dieses Modell mit vier energetisch äquivalenten Orbitalen ist jedoch nicht in der Lage, das experimentell ermittelte Elektronenspektrum von Methan zu erklären und widerspricht auch theoretischen Berechnungen. Eine Beschreibung, die Theorie und Experiment in Einklang bringt, liefert die Molekülorbitaltheorie. So erhält man als Elektronenkonfiguration von Methan im Grundzustand (1a1)2(2a1)2(1t2)6, wobei das Molekülorbital 1a1 im Wesentlichen dem kernnahen 1s-Atomorbital des C-Atoms entspricht. Die beiden unterschiedlichen Energieniveaus für Valenzelektronen – das relativ energiearme 2a1-Orbital sowie das dreifach entartete t2-HOMO – entsprechen den gemessenen Ionisierungsenergien von 23 und 14 Elektronenvolt. Aufgrund der Tetraedersymmetrie lassen sie sich im Rahmen eines LCAO-Ansatzes mit symmetrieadaptierten Linearkombinationen der H-1s-Orbitale entwickeln. Durch Überlagerung aller so formulierten Molekülorbitale erhält man auch hier wieder vier äquivalente C–H-Bindungen wie aus dem Hybridorbitalmodell. Die mittels Infrarot- und Raman-Spektroskopie gewonnenen Messergebnisse stimmen mit einer Tetraedersymmetrie überein. Es gibt vier Normalmoden für Molekülschwingungen bei etwa 2914, 1534, 3018 und 1306 cm−1, die mit ν1, ν2, ν3 und ν4 bezeichnet werden. Die Schwingungen ν2 (nur bei Wechselwirkungen mit anderen Molekülen, das heißt Symmetriestörung), ν3 und ν4 sind infrarotaktiv. Das messbare Schwingungsspektrum setzt sich aus Linearkombinationen dieser Normalmoden zusammen, die im Bereich bis 4800 cm−1 zu jeweils einer Dyade (zwei Kombinationen im Bereich 940–1850 cm−1), Pentade (fünf Kombinationen im Bereich 2150–3350 cm−1) und Octade (acht Kombinationen im Bereich 3550–4800 cm−1) gruppiert werden können, zuzüglich einiger Übergänge zwischen angeregten Zuständen unterschiedlicher Polyaden (sog. hot bands). Chemische Eigenschaften Im Vergleich zu anderen Alkanen weist die C-H-Bindung im Methan eine höhere Bindungsenergie auf. In Reaktionen mit radikalischer Abstraktion des Wasserstoffatoms ist Methan gewöhnlich das am wenigsten reaktive Alkan. Das Methylkation (CH3+) ist das instabilste Carbeniumion. Daher ist Methan in Reaktionen unter Hydrid-Abstraktion ebenfalls wenig reaktiv. In Elektronentransferreaktionen reagiert Methan aufgrund seines hohen Ionisierungspotentials meist träge. Mit Eisen-, Kupfer- oder Aluminiumatomen reagiert photochemisch angeregtes Methan in einer Methanmatrix bei tiefen Temperaturen unter Insertion des Metalls in die H–C-Bindung unter Bildung eines Metallkomplexes wie etwa H–Fe–CH3. Methan ist stabil gegenüber herkömmlichen Säuren und Laugen. Mit Supersäuren wie Hexafluorantimonsäure lässt sich Methan zum Methaniumion (CH5+) protonieren. Der Name Methanium wurde in Analogie zum Ammoniumion gewählt. Mit Oxidationsmitteln wie Kaliumpermanganat oder Kaliumdichromat lässt es sich nicht oxidieren. Mit Oxidationsmitteln wie Peroxodisulfaten oder Cer(IV)-Salzen bildet Methan in Schwefelsäure einen Monomethylester (CH3-OSO3H). Methan ist brennbar und verbrennt an der Luft mit bläulicher, nicht rußender Flamme. Aus der Reaktion eines Methanmoleküls mit zwei Sauerstoffmolekülen entstehen zwei Wasser- und ein Kohlenstoffdioxidmolekül. Es kann explosionsartig mit Sauerstoff oder Chlor reagieren, wozu eine Initialzündung (Zufuhr von Aktivierungsenergie) oder Katalyse erforderlich ist. Mit Sauerstoff geht Methan unterschiedliche Reaktionen ein, je nachdem wie viel Sauerstoff für die Reaktion zur Verfügung steht. Nur bei genügend großem Sauerstoffangebot ist eine vollständige Verbrennung des Methans mit optimaler Energieausbeute möglich. Bei ungenügender Sauerstoffzufuhr hingegen entstehen Nebenprodukte wie Kohlenstoffmonoxid (CO) und Kohlenstoff (Ruß). Ferner ist in diesem Fall die Nutzenergie geringer. Mit Chlor und Brom geht Methan unter Lichteinfluss Substitutionsreaktion ein, wobei die Wasserstoffatome durch Halogenatome ersetzt werden. Bei einer solchen Reaktion kommt es oft zu Mehrfachsubstitutionen, da das zunächst gebildete monohalogenierte Produkt tendenziell schwächere H-C-Bindungen aufweist als Methan selbst und daher selektiv weiter oxidiert wird. Iodverbindungen lassen sich durch Halogenaustausch herstellen. Mit Dampf bildet sich bei hohen Temperaturen und unter Katalyse Wasserstoff, Kohlenstoffmonoxid und Kohlenstoffdioxid. Diese sogenannte Dampfreformierung ist der technische Prozess, mit dem technisch Wasserstoff und Synthesegas hergestellt werden. Bei Temperaturen von etwa 2000 °C bildet sich bei schneller Abkühlung Ethin. Ohne Abkühlung zerfällt Methan ab etwa 1100 °C in die Elemente. Bei einer Temperatur von etwa 1200 °C reagiert Methan mit Ammoniak zu Cyanwasserstoff und Wasserstoff. Verwendung Methan wird vorwiegend als Heizgas zur Wärmeerzeugung und zum Betrieb von Motoren durch Verbrennung genutzt. Die Verwendung von Methan als Bestandteil von Erdgas stieg von 1950 bis 2020 etwa um den Faktor 5. Neben Methan aus Erdgas wird zu diesem Zweck Biogas (Biomethan) mit einem Methangehalt von etwa 50 bis 70 % aus Mist, Gülle, Klärschlamm oder organischem Abfall gewonnen. Früher wurde Methan durch Pyrolyse von Holz gewonnen, bei der Holzgas entsteht (Holzvergasung). Holzgas, das unter anderem Methan enthält, diente wegen des Erdölmangels im Zweiten Weltkrieg zum Betrieb von zivilen Automobilen. Die aufheizenden Holzvergaser wurden meist außen angebaut. Rohes Biogas aus Abwasserreinigungsanlagen wird heute oft direkt mit Verbrennungsmotoren in Strom umgewandelt. Verwendung als Brenn- und Kraftstoff Durch das hohe Verhältnis von Wasserstoff zu Kohlenstoff im Methan wird bei der Verbrennung eine größere Menge an Energie pro freigesetztem Kohlenstoffdioxidmolekül geliefert als von flüssigen Kohlenwasserstoffen auf Basis von Erdöl, deren ungefähres Verhältnis von Wasserstoff zu Kohlenstoff etwa zwei beträgt oder von Kohle mit einem ungefähren Wasserstoff zu Kohlenstoffverhältnis von eins. Durch das hohe molare Verhältnis von Wasserstoff zu Kohlenstoff von 4 : 1 im Methan wird bei der Verbrennung von Methan eine größere Menge an Energie pro freigesetztem Kohlenstoffdioxidmolekül geliefert als bei allen anderen kohlenstoffhaltigen Energieträgern. Bei Verwendung von Methan als alternativem Kraftstoff in Motoren werden etwa 2 % des Methans nicht verbrannt und müssen durch einen Fahrzeugkatalysator umgesetzt werden. Vor der Einführung einer Abgasnachbehandlung und schwefelfreien Kraftstoffs hatten methanbasierte Kraftstoffe ein geringeres Versauerungs- und Eutrophierungspotential sowie geringere Effekte auf die menschliche Gesundheit als die Verbrennung von Dieselkraftstoff. Dies war auf die geringeren Stickoxidemissionen bei der Verbrennung zurückzuführen. In Fahrzeugen nach der aktuellen Abgasnorm sind die Emissionen nach der Abgasnachbehandlung unabhängig vom Kraftstoff auf ähnlichem Niveau. Methalox, ein Gemisch aus flüssigem Sauerstoff und flüssigem Methan, wird als Raketentreibstoff verwendet. Die ersten Versuche hierzu wurden von dem deutschen Raketenpionier Johannes Winkler Anfang der 1930er Jahre durchgeführt; am 14. März 1931 erreichte eine Hückel-Winkler-1 eine Höhe von 60 m. Am 12. Juli 2023 erreichte schließlich eine Zhuque 2 des chinesischen Raketenbauers LandSpace als erste methangetriebene Rakete der Welt den Orbit. Verflüssigtes Methan hat zwar einen geringeren spezifischen Impuls als flüssiger Wasserstoff, lässt sich aber aufgrund seines höheren Siedepunktes und der fehlenden Versprödungsneigung im Vergleich zu Wasserstoff leichter lagern und handhaben. Verwendung als Chemierohstoff Methan dient als wichtiges Ausgangsprodukt für die technische Synthese von Ethin, Cyanwasserstoff, Schwefelkohlenstoff, Halogenalkane und vielen anderen organischen Verbindungen. Methan ist ein wichtiger Rohstoff für die Herstellung von Wasserstoff sowie Kohlenstoffmonoxid. Die Folgechemie von Wasserstoff-Kohlenstoffmonoxid-Gemischen ist vielfältig. Sie werden unter anderem zur Herstellung von Methanol oder in der Fischer-Tropsch-Synthese für die Herstellung von Alkanen genutzt. Dampfreformierung und partielle Oxidation Die Dampfreformierung, die partielle Oxidation und die Wassergas-Shift-Reaktion sind großtechnische durchgeführte Reaktionen. Das zunächst entstehende Produkt der Dampfreformierung ist ein als Synthesegas bezeichnetes Gasgemisch, das unter anderem für die Produktion von Methanol verwendet wird. Die partielle Oxidation von Methan wird ebenfalls als katalytisches Verfahren durchgeführt. Dabei reagiert Methan mit Sauerstoff in einer exothermen Reaktion zu Kohlenstoffmonoxid und Wasserstoff. Der Energiebedarf der partiellen Oxidation ist daher geringer ist als bei der Dampfreformierung, erfordert jedoch den Einsatz von reinem Sauerstoff als Reaktand. Weiterhin besteht die Gefahr einer Explosion bei instabilen Prozessbedingungen. Eine Kombination beider Prozesse, bei der die partielle Oxidation den Energiebedarf der Dampfreformierung deckt, wird Autothermale Reformierung genannt. Ist Wasserstoff das Zielprodukt, wird das entstandene Kohlenstoffmonoxid mit weiterem Wasser in einem sogenannten Sekundärreformer einer Wassergas-Shift-Reaktion zu Kohlenstoffdioxid und weiterem Wasserstoff umgesetzt. Als Katalysatoren dienen Eisen(III)-oxid-Kontakte. Der im Jahr 2010 hergestellte Wasserstoff wurde zu 98 % durch Dampfreformierung hergestellt. Die Folgeprodukte der Dampfreformierung und der partiellen Oxidation sind vielfältig. Je nach Kohlenstoffmonoxid zu Wasserstoffverhältnis wird das Synthesegas zur Methanolherstellung oder zur Hydroformylierung von Olefinen eingesetzt. Reiner Wasserstoff wird zur Produktion von Ammoniak im Haber-Bosch-Verfahren oder für Hydrierungen eingesetzt. Thermokatalytische Zersetzung Bei den genannten drei Verfahren fällt entweder Kohlenstoffmonoxid oder Kohlenstoffdioxid als weiteres Produkt an. Eine Kohlenstoffdioxid-freie Route zu Wasserstoff besteht in der thermischen oder thermokatalytischen Zersetzung von Methan in Kohlenstoff und Wasserstoff. Die Herstellung von Wasserstoff aus Methan unter Abtrennung von Kohlenstoff bietet einen Weg, Energie aus Wasserstoff durch Verbrennung oder in Brennstoffzellen ebenfalls ohne Kohlenstoffdioxid zu erzeugen. Als Katalysator dient Nickel, der entweder als Netz oder als Nickelsalz auf verschiedenen Trägern eingesetzt werden kann. Gegenüber dem rein thermischen Zerfall, der bei etwa 1200 °C stattfindet, liegt das Temperaturniveau der thermokatalytischen Zersetzung bei etwa 500 bis 600 °C. Herstellung von Ethin Für die Herstellung von Ethin aus Methan sind verschiedene Prozesse entwickelt worden, etwa die autotherme Verbrennung im Sachsse-Bartholomé-Verfahren. Die Herstellung von Ethin gelingt weiterhin durch die thermische Spaltung von Methan im Lichtbogen bei Temperaturen von 2000 bis 3000 °C gemäß folgender Gleichung: Als Nebenprodukt fällt Ruß an. Die oxidative Kopplung von Methan zu Ethin durch die Reaktion mit Sauerstoff ist ebenfalls möglich, die Selektivität zu Ethin ist mit 20 % eher gering. Herstellung von Kohlenstoffdisulfid Methan geht außer mit Sauerstoff noch vielfältige weitere Reaktionen ein, etwa mit Schwefel. Die Reaktion zu Kohlenstoffdisulfid läuft bei einer Temperatur von etwa 600 °C in Gegenwart von Kieselgel- oder Aluminiumoxidkatalysatoren ab: Kohlenstoffdisulfid wird in großem Umfang zur Produktion von Kunstseide verwendet. Herstellung von Cyanwasserstoff Beim Andrussow-Verfahren reagiert Methan mit Ammoniak in Gegenwart von Sauerstoff zu Cyanwasserstoff und Wasser. Beim BMA-Verfahren der Degussa reagiert Methan mit Ammoniak in Gegenwart eines Platin-Katalysators bei Temperaturen von etwa 1200 °C direkt zu Cyanwasserstoff. Cyanwasserstoff wird zur Herstellung von Adiponitril, einem Zwischenprodukt für die Herstellung von Nylon 6,6, durch Hydrocyanierung verwendet, der katalytischen Addition von Cyanwasserstoff an 1,3-Butadien. Die Herstellung von Acetoncyanhydrin erfolgt durch die katalytische Addition von Cyanwasserstoff an Aceton. Weiterhin werden die α-Aminosäure DL-Methionin, die Verwendung in der Futtermittel-Supplementierung findet, sowie der Heterocyclus Cyanurchlorid aus Cyanwasserstoff hergestellt. Herstellung von Halogenmethanen Die Chlorierung von Methan kann katalytisch, thermisch oder photochemisch erfolgen. Bei der Chlorierung nach allen drei Prozessen entstehen neben Chlormethan auch die höhere chlorierten Produkte Dichlormethan, Chloroform und Tetrachlormethan. Die höher substituierten Produkte entstehen bereits zu Beginn der Reaktion, wenn noch genügend unreagiertes Methan vorliegt. Die Reaktion ist stark exotherm mit etwa 100 Kilojoule pro Substitutionsreaktion: mit ΔRH = −103,5 kJ·mol−1 mit ΔRH = −102,5 kJ·mol−1 mit ΔRH = −99,2 kJ·mol−1 mit ΔRH = −94,8 kJ·mol−1 Die Photochlorierung von Methan läuft bei Belichtung unter Beteiligung von Methyl- und Chlorradikalen als Kettenträger nach dem folgenden Schema ab: Höherhalogenierte Produkte entstehen nach demselben Schema, wobei die gezielte Synthese von Chloroform bevorzugt über die Chlorierung von Aceton und die Synthese von Tetrachlormethan über die Chlorierung von Kohlenstoffdisulfid erfolgt. (Dichlormethan) (Chloroform) (Tetrachlormethan) Die chlorierten Methanderivate finden vielfältige industrielle Anwendung. Methylchlorid wird zur Herstellung von Methylzellulose verwendet, früher wurde es zur Herstellung von Tetramethylblei verwendet. Dichlormethan wird vor allem als Lösungsmittel verwendet. Brommethan wird in der Schädlingsbekämpfung zu Bodenbegasung und Begasung von Transportbehältern eingesetzt. Biologische Bedeutung Methanogene Archaeen Die Methanogenese in Methanbildnern aus der Domäne der Archaeen oder Urbakterien ist eine Form der anaeroben Atmung. Als Kohlenstoffquelle dienen zum Beispiel Kohlenstoffdioxid, Essigsäure sowie C1-Verbindungen wie Methanol und Ameisensäure. Der überwiegende Teil des irdischen Methans stammt aus der biotischen Methanogenese durch die Reduktion von Kohlenstoffdioxid durch biologisch erzeugten Wasserstoff sowie durch den Zerfall von Essigsäure in Kohlenstoffdioxid und Methan durch Essigsäure-spaltende, acetoklastische Methanbildner. Methanotrophe Mikroben Methan wird durch bestimmte methanotrophe Prokaryoten, etwa Methylococcus capsulatus (Familie Methylococcaceae der Gammaproteobakterien) in Gewässern und Böden mit Sauerstoff zu Kohlenstoffdioxid und Wasser oxidiert. Es kann sich dabei um Bakterien oder Archaeen handeln, die unter aeroben oder anaeroben Bedingungen wachsen. Diese Umsetzung ist exergon und die Prokaryoten nutzen sie als Energiequelle. Diese sind oft in der Nähe von Methanquellen zu finden, etwa in Feuchtgebieten oder in aquatischen Umgebungen. Aufgrund ihrer Rolle als Methansenke, welche die Freisetzung von Methan in die Atmosphäre reduziert, wird ihr möglicher positiver Einfluss auf die Reduktion der globalen Erwärmung untersucht. In den Höhlen und unterirdischen Flüssen der Halbinsel Yucatán ist Methan die treibende Kraft für das dortige Leben. Das im Wasser gelöste Methan wird durch Bakterien umgewandelt und stellt somit die Grundlage des lokalen Nahrungsnetzes dar. Die dort lebenden Krebstiere beispielsweise beziehen bis zu 21 % ihrer Nahrung indirekt über methanotrophe Mikroben aus Methan. Die Umsetzung des Methans erfolgt unter anderem über das Enzym Methan-Monooxygenase, welches die Oxidation zu Methanol katalysiert. Die Methan-Monooxygenase liegt in einer löslichen Form mit zwei sauerstoffverbrückten Eisenatomen im aktiven Zentrum und einer unlöslichen Form vor, die ein Kupferatom im aktiven Zentrum enthält. Zoo- und Phytoplankton Meeresalgen wie Emiliania huxleyi und andere Haptophyta produzieren im Ozean signifikante Mengen Methan: Versuche mit 13C-markierten Substraten wie Hydrogencarbonat, methylierten Schwefelverbindungen wie Dimethylsulfid, Dimethylsulfoxid und Methioninsulfoxid führten zur Bildung von 13C-angereichertem Methan. Feldstudien etwa im Pazifischen Ozean zeigten, dass die Methanproduktion durch Algen wahrscheinlich ein häufig ablaufender und wichtiger Prozess in marinen Oberflächengewässern ist. Zooplankton setzt bei der Konsumtion von Algen ebenfalls Methan frei, das vermutlich im Verdauungstrakt gebildet wird. Ein möglicher Mechanismus ist Umsetzung neu gebildeter Methylamine wie Methylamin und Trimethylamin. Umweltrelevanz Methan könnte als Treibhausgas vor etwa 252 Mio. Jahren das größte Massenaussterben des Phanerozoikums mit verursacht haben. Der Anstieg seiner Konzentration in der Erdatmosphäre in der Moderne ist einer der Aspekte des Anthropozäns. Laut zweier Studien des Global Carbon Project stammten 2017 mehr als 60 % der Methan-Emissionen aus der menschlichen Wirtschaft. Das Global Carbon Project (CSIRO) wurde 2019 mit 2.195.267 US-Dollar von der Bill & Melinda Gates Foundation gefördert. 2021 erreichte die Konzentration in der Atmosphäre 262 Prozent des Niveaus vor der Industrialisierung. Die globale Durchschnittskonzentration von Methan stieg laut WMO-Schätzungen 2021 um 18 auf 1908 ppb. 2020 stieg die Konzentration um 15 ppb (ebenfalls deutlich mehr als im langjährigen Durchschnitt). Atmosphärenchemie In einer sauerstoffhaltigen Atmosphäre wird Methan langsam oxidiert, insbesondere durch Hydroxyl-Radikalen zu Kohlenstoffdioxid und Wasser. Dieser Prozess verläuft langsam; die Halbwertszeit wird auf 12 Jahre geschätzt. In der Erdatmosphäre reagiert Methan mit Sauerstoff zunächst zu Formaldehyd und gegebenenfalls zu Ozon. Durch weitere Oxidation entsteht schließlich Kohlenstoffdioxid. Treibhauspotenzial Das Treibhauspotenzial von Methan ist, auf einen Zeitraum von 100 Jahren bezogen, 28-mal höher als das der gleichen Gewichtsmenge Kohlenstoffdioxid. Nach einer neueren Untersuchung beträgt dieser Faktor 33, wenn Wechselwirkungen mit atmosphärischen Aerosolen berücksichtigt werden. Auf einen Zeitraum von 20 Jahren bezogen steigt dieser Faktor auf 84. Methan trägt rund 20 bis 30 % zum anthropogenen Treibhauseffekt bei. Nach Einschätzung des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) könnte mit Maßnahmen gegen Methan-Emissionen erreicht werden, dass die mittlere globale Temperatur bis 2045 um fast 0,3 °C langsamer steigt als erwartet. Im Vergleich zu Kohlendioxid hat Methan eine kürzere Verweildauer in der Erdatmosphäre (12 Jahre ggü. 5–200 Jahre). Das UN-Umweltprogramm UNEP hat im Oktober 2021 die Gründung einer Internationalen Beobachtungsstelle für Methanemissionen (IMEO – International Methane Emissions Observatory) angekündigt, mit der die von den USA und der EU initiierte „Globale Methan-Verpflichtung“ ergänzt werden soll. Parallel dazu verzeichnete die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) 2021 den höchsten Anstieg der Methan-Konzentration in der Atmosphäre seit Beginn der systematischen Messungen. Am schnellsten und kostengünstigsten ließe sich der Methanausstoß im Energiesektor vermindern. Laut Einschätzung der Internationalen Energieagentur (IEA) könnten 60 bis 80 Prozent dieser Emissionen ohne Mehrkosten unterbunden werden. Emissionsquellen für atmosphärisches Methan Die Methankonzentrationen stiegen zwischen 2000 und 2006 jährlich um etwa 0,5 ppb, seit 2006 mit einer mehr als zehnfach höheren Rate. Damit ist weit mehr Methan in der Erdatmosphäre als jemals während der letzten 650.000 Jahre. Eine im Februar 2020 erschienene Studie von Forschern der University of Rochester sieht starke Indizien dafür, dass rund zehnmal weniger Methan auf natürliche Weise aus geologischen Quellen austritt als bislang angenommen. Im Umkehrschluss hat die Förderung fossiler Energien (Öl, Gas und Kohle) einen deutlich höheren Anteil an den Methanemissionen. Jährlich werden auf der Erde etwa 600 Millionen Tonnen Methan emittiert. In Deutschland sank die Emission zwischen 1990 und 2018 von 121,2 Millionen Tonnen auf etwa 52,6 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent. Anfang 2014 berichtete das Forschungsmagazin Science nach einer Meta-Studie von über 200 Studien, die US-amerikanische Umweltschutzbehörde Environmental Protection Agency (EPA) habe den Methangas-Ausstoß in den USA seit 20 Jahren zu gering angegeben. In den USA wurden jährlich 40 Millionen Tonnen mehr in die Atmosphäre emittiert als bisher offiziell angenommen, sowohl aus natürlichen Quellen als auch aus der Viehhaltung von beispielsweise 88 Millionen Rindern im Land sowie aus Lecks in Förderanlagen und Pipelines. Basierend auf Daten aus Feldmessungen werden die jährlichen Methanemissionen aus der Öl- und Gaslieferkette auf etwa 13 Millionen Tonnen pro Jahr geschätzt und liegen damit 60 % über den Schätzungen der US-Umweltschutzbehörde. Bei der Öl- und Gasproduktion sind die gemessenen Emissionen sogar doppelt so hoch wie die behördlichen Schätzwerte. Mittels des Tropomi-Spektrometers wurden allein im Permian Basin in Texas 2018 eine jährliche Emission von 2,9 ±0,5 Millionen Tonnen gemessen. Unklar ist (Stand 2014), wieweit die fehlerhaften Angaben Einfluss auf die Rechenmodelle zur Entwicklung des Weltklimas haben. Fracking Der Ausstoß von Methan hat besonders in den Vereinigten Staaten signifikant zugenommen. Dieser könnte mit der Förderung von Schiefergas durch Fracking (Hydraulic Fracturing) zusammenhängen. Es gibt erhebliche Unsicherheiten über das Ausmaß der Methanleckagen im Zusammenhang mit Fracking und Hinweise darauf, dass die Leckagen die Vorteile der Verbrennung von Erdgas gegenüber anderen fossilen Brennstoffen zunichtemachen könnten. Laut einer 2020 veröffentlichten Studie emittieren Fracking-Anlagen doppelt so viel Methan wie zuvor geschätzt. Für die Hydraulic-Fracturing-Anlagen in Pennsylvania wird eine Leckagerate von etwa 10 % angenommen, die als repräsentativ für die Hydraulic-Fracturing-Industrie in den USA im Allgemeinen angesehen wird. Die Methanemissionen im Gebiet der Marcellus-Formation wurden pro Jahr zu etwa 0,67 Millionen Tonnen bestimmt. Permafrost Die Freisetzung von Methan aus Permafrost und vom Meeresboden ist eine mögliche Folge und eine weitere Ursache für die globale Erwärmung. Aus arktischen Permafrostböden wird Methan sowohl geologischen als auch biologischen Ursprungs freigesetzt, biogenes durch Umwandlung von Permafrost in Feuchtgebiete. Biogenes Methan wird in Abhängigkeit von den Wetterbedingungen wie Temperatur und Sonneneinfall freigesetzt, während Methan geologischen Ursprungs unabhängig davon freigesetzt wird. Öl- und Kohlegewinnung und Transport Durch nicht bemerkte Lecks in Raffinerien und beim Transport von Öl und Gas durch Pipelines entweichen erhebliche Mengen Methan in die Erdatmosphäre. Die Internationale Energieagentur (IEA) in Paris schätzte diese Menge Ende 2017 auf rund 75 Mio. Tonnen pro Jahr und damit 1,7 % der Gesamtfördermenge. Studien deuten darauf hin, dass die Methan-Emissionen aus Kohleminen stark unterschätzt wurden. So wurde 2014 in der Gegend um Four Corners durch Satellitendaten eine gewaltige Methanemission aus nahe gelegenen Kohleabbaustätten detektiert. Mit geschätzten 600.000 Tonnen Methan pro Jahr sind die Emissionen größer als die der gesamten britischen Öl-, Gas- und Kohleindustrie. Durch Leckagen in der Erdgasinfrastruktur kann es zu bedeutenden Freisetzungen von Methan kommen. So führte 2015 ein Leck in einer unterirdischen Speicheranlage im Aliso Canyon zu einer massiven Freisetzung von Erdgas, bei der etwa 100.000 Tonnen Methan entwichen. Bei einem Blowout in Ohio im Jahr 2018 wurden über einen Zeitraum von 20 Tagen etwa 57.000 Tonnen Methan emittiert. Reisanbau, Ziegen-, Schaf- und Rinderzucht Etwa 70 % der mikrobiellen Methanemission der Erde ist auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen. Die Methanemissionen in der Landwirtschaft und bei der Tierhaltung tragen dazu etwa 40 bis 46 % bei. Davon entfallen etwa 66 % auf die Rinderhaltung, 20 % auf den Nassreisanbau und etwa 7 % auf Wirtschaftsdünger. Viele Pflanzen produzieren ständig Methan und tragen so seit jeher zum Methangehalt der Atmosphäre bei. Die archaeellen Methanbildner im Pansen wiederkäuender Tiere sind für die ständige Neubildung von Methan verantwortlich. Ein Hausrind stößt täglich etwa 150 bis 250 Liter Methan aus, weil im Rindermagen Methanogene an der Zersetzung von Cellulose beteiligt sind. Die Senkung der Methanemission von Kühen durch Futterzusätze wird intensiv erforscht. Möglicherweise können die Methanemissionen der Wiederkäuer durch spezielle Impfungen gesenkt werden. Die Methanbildung reduziert auch die Energie, die den Tieren durch die Nahrungsaufnahme zur Verfügung gestellt wird und damit nicht für die Produktion von Milch, Fleisch oder Fasern zur Verfügung steht. Der Energieverlust ist auf etwa 6 bis 10 % der Bruttoenergieaufnahme geschätzt worden. Sicherheitsaspekte Methan ist hoch entzündlich, der Flammpunkt liegt bei −188 °C, die Zündtemperatur bei 595 °C. Methan bildet bei einem Volumenanteil zwischen 4,4 und 16,5 % in Luft explosive Gemische. Durch unbemerktes Ausströmen von Erdgas kommt es immer wieder zu folgenschweren Gasexplosionen, etwa die Explosion der New London School 1937. In Folge wurde die Beimengung von Methanthiol, Tetrahydrothiophen oder ähnlichen, leicht wahrnehmbaren Odoriermitteln zum Erdgas vorgeschrieben. Methanbehälter sollen an gut belüfteten Orten aufbewahrt und von Zündquellen ferngehalten werden und es sollten Maßnahmen gegen elektrostatische Aufladung getroffen werden. Die gefürchteten Grubengasexplosionen in Kohlebergwerken, sogenannte Schlagwetter, sind auf Methan-Luft-Gemische zurückzuführen. Methan wird, um die Dichte zu erhöhen, unter hohem Druck in Gasflaschen bei 200 bar aufbewahrt. Methan liegt in der handelsüblichen 50 Liter-Stahlflasche oder in Kraftfahrzeugtanks, oft mit Kohlenstofffasern verstärktes Epoxidharz über Aluminium-Liner, komprimiert auf 200 bar gasförmig vor, sogenanntes Compressed Natural Gas (CNG). Der Schifftransport in großen Mengen erfolgt in fast überdrucklosen Membrantanks, jedoch bei etwa −162 °C tiefkalt verflüssigt, sogenanntes Liquified Natural Gas (LNG). Schiffe mit Rohr- und Kugeltanks transportieren Erdgas bei einem Druck von etwa 200 bis 300 bar und bei höherer Temperatur. Methan wird bei tiefen Temperaturen flüssig gelagert, weil die Dichte dadurch enorm erhöht werden kann. Aus diesem Grund kann es beim Austritt dieses gekühlten Methans leicht zu Erfrierungen kommen. Methan selbst ist ungiftig, durch Verdrängung von Sauerstoff aus der normalen Atemluft jedoch kann die Aufnahme von Methan zu erhöhter Atemfrequenz (Hyperventilation) und erhöhter Herzfrequenz führen, kurzzeitig niedrigen Blutdruck, Taubheit in den Extremitäten, Schläfrigkeit, mentale Verworrenheit und Gedächtnisverlust auslösen, alles hervorgerufen durch Sauerstoffmangel. Methan führt nicht zu bleibenden Schäden. Wenn die Symptome auftreten, sollte das betroffene Areal verlassen und tief eingeatmet werden, falls daraufhin die Symptome nicht verschwinden, sollte die betroffene Person in ein Krankenhaus gebracht werden. Nachweis Der Nachweis von Methan kann mittels Infrarotspektroskopie erfolgen. Für den Nachweis extraterrestrischer Vorkommen ist der infrarotspektroskopische Nachweis etabliert. Methan kann mittels Gaschromatographie und mit Gaschromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung nachgewiesen und quantifiziert werden. Im Bergbau wurden früher zur Warnung vor Schlagwettern verschiedene qualitative Nachweismethoden eingesetzt, etwa die Davy-Lampe mit Flammsieb. Literatur Enoch Durbin: Methane: Fuel for the Future. Plenum Press, New York, London, 1982, ISBN 978-1-4684-4342-4. Reiner Wassman, Rhoda S. Lantin, Heinz-Ulrich Neue: Methane Emissions from Major Rice Ecosystems in Asia. Springer, 2000, ISBN 978-0-7923-6765-9. Peter Pfeifer, Roland Reichelt (Hrsg.): H2O & Co. Organische Chemie. Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-16032-X (Extrakapitel über Methan und Informationen zu den anderen Alkanen). Pflanzen – eine vergessene Methanquelle. In: Bergbau. Heft 1/2007, S. 7–8 (Digitalisat, PDF-Datei, 72,2 kB). Weblinks Einzelnachweise Kohlenwasserstoff Alkan Brenngas Klimatologie
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Periodensystem
Das Periodensystem (Langfassung Periodensystem der Elemente, abgekürzt PSE oder PSdE) ist eine Liste aller chemischen Elemente, geordnet nach steigender Kernladung (Ordnungszahl). Die Liste wird so in Zeilen (Perioden) unterteilt, dass in jeder Spalte (Hauptgruppe/Nebengruppe) der entstehenden Tabelle Elemente mit ähnlichen chemischen Eigenschaften stehen. Der Name Periodensystem (von ) weist darauf hin, dass sich mit ansteigender Ordnungszahl viele Eigenschaften der Elemente regelmäßig wiederholen. Das Periodensystem wurde 1869 unabhängig voneinander und fast identisch von zwei Chemikern vorgestellt, zunächst von dem Russen Dmitri Mendelejew und wenige Monate später von dem Deutschen Lothar Meyer. Historisch war das Periodensystem für die Vorhersage unentdeckter Elemente und deren Eigenschaften von Bedeutung, da die Eigenschaften eines Elements näherungsweise vorhergesagt werden können, wenn die Eigenschaften der umgebenden Elemente im Periodensystem bekannt sind. Heute dient es vor allem als übersichtliches Organisationsschema der Elemente und zur Ermittlung möglicher chemischer Reaktionen. Periodensystem Grundprinzip Ein Periodensystem ist eine systematische tabellarische Zusammenstellung der chemischen Elemente, in der die Elemente nach zwei Prinzipien angeordnet sind: Sie sind einerseits nach ansteigender Ordnungszahl (also der für jedes Element eindeutigen und charakteristischen Anzahl der Protonen im Atomkern) angeordnet. Andererseits ist die Darstellung so gewählt, dass Elemente mit ähnlichem chemischen Verhalten nahe zusammen stehen. Mit ansteigender Ordnungszahl ähneln sich die Eigenschaften der Elemente in gleichmäßigen, wenn auch unterschiedlich langen periodischen Abständen. Die Bezeichnung „Periodensystem“ weist darauf hin, dass diese Periodizitäten durch die gewählte Anordnung der Elemente dargestellt werden. Darstellung Es gibt verschiedene Varianten von Periodensystemen. Die bekannteste Darstellung ordnet die Elemente unter Berücksichtigung der Periodizitäten in einem zweidimensionalen tabellarischen Gitterraster an, in dem jedem Element ein Gitterkästchen entspricht. Die waagerechten Zeilen der Darstellung werden als Perioden bezeichnet, die senkrechten Spalten als Gruppen. Innerhalb jeder Periode nimmt die Ordnungszahl der Elemente von links nach rechts zu. Die Zeilenumbrüche sind so gewählt, dass chemisch ähnliche Elemente jeweils in derselben Spalte (Gruppe) stehen. Die Elemente einer Gruppe weisen also ähnliches chemisches Verhalten auf. So steht zum Beispiel in der letzten Spalte die Gruppe der chemisch trägen Edelgase, in der vorletzten Spalte die Gruppe der reaktionsfreudigen Halogene. Die Perioden weisen unterschiedliche Längen auf. Die erste Periode umfasst nur 2 Elemente. Es folgen zwei Perioden mit je 8 Elementen, zwei weitere Perioden mit je 18 Elementen und schließlich zwei Perioden mit je 32 Elementen. Die Langform des Periodensystems, in der die beiden letzten Perioden als durchgehende Zeilen dargestellt werden, ist wegen der benötigten Breite der Darstellung oft ungünstig. In der meistens benutzten mittellangen Form sind aus diesen Perioden herausgeschnittene Elementgruppen platzsparend unterhalb des Hauptsystems dargestellt. In dieser Form besitzt das Periodensystem 7 Perioden und 18 Gruppen. Es gibt auch eine noch kompaktere, aber heutzutage nur selten verwendete Kurzform des Periodensystems. Informationsinhalt Üblicherweise sind die Elemente mit ihrer Ordnungszahl und ihrem Elementsymbol aufgeführt. Je nach Anwendungszweck können weitere Informationen zum Element wie beispielsweise vollständiger Name, Masse, Schmelztemperatur, Dichte und Aggregatzustand angegeben sein. Etwaige Angaben zu „Schalen“ beziehen sich auf das Schalenmodell der Atomphysik. Oft werden farbliche Kodierungen benutzt, um unterschiedliche Eigenschaften darzustellen, beispielsweise die Zugehörigkeit zu den Metallen, Halbmetallen oder Nichtmetallen. Die Besonderheit des Periodensystems gegenüber einer bloßen tabellarischen Auflistung von Element-Eigenschaften liegt jedoch in der Information über die Beziehungen der Elemente untereinander, die sich aus der Platzierung der betreffenden Elemente ergibt. Die Zugehörigkeit eines Elements zu einer bestimmten Gruppe lässt sofort auf die wesentlichen chemischen Charakteristiken des Elements schließen, wie etwa seine Reaktionsfreudigkeit oder bevorzugte Bindungspartner. Die Positionierung innerhalb des Gesamtsystems erlaubt Rückschlüsse bezüglich derjenigen Eigenschaften, die einen systematischen Trend im Periodensystem aufweisen, wie etwa die Ionisierungsenergie. Umfang Mit der bisher letzten Erweiterung des Periodensystems im Jahre 2015 sind nun die Elemente 1 (Wasserstoff) bis 118 (Oganesson) lückenlos entdeckt oder erzeugt und beschrieben. In der Natur kommen die Elemente der Ordnungszahlen 1 bis 94 vor, wobei Technetium (OZ 43), Promethium (61), Astat (85), Neptunium (93) und Plutonium (94) in so geringen Mengen natürlich vorkommen, dass sie zuerst künstlich erzeugt und beschrieben wurden. Von diesen 94 natürlichen Elementen sind 83 primordial, existieren also seit der Entstehung der Erde. Die ursprünglichen Bestände der übrigen 11 sind wegen ihrer geringeren Halbwertszeiten längst zerfallen, sie werden aber durch radioaktive Zerfälle in den natürlichen Zerfallsreihen der primordialen Elemente ständig neu gebildet. Die Elemente der Ordnungszahlen 95 bis 118 wurden ausschließlich künstlich erzeugt. Die zuletzt entdeckten Elemente 113, 115, 117 und 118 wurden am 30. Dezember 2015 von der IUPAC (International Union of Pure and Applied Chemistry) bestätigt, womit nun auch die siebte Periode des Periodensystems vollständig ist. Bilder der jeweiligen Elemente finden sich in der Bildtafel der chemischen Elemente. Atombau Struktur eines Atoms Alle Substanzen sind aus Atomen aufgebaut. Ein Atom besteht aus Protonen und Neutronen, die den Atomkern bilden, und aus Elektronen, die den Atomkern als „Elektronenhülle“ umgeben. Die Protonen tragen jeweils eine positive und die Elektronen eine negative Elementarladung, so dass die Anzahl der Elektronen in der Elektronenhülle gleich der Anzahl der Protonen im Atomkern sein muss, wenn das Atom elektrisch neutral sein soll. Die Anzahl der Protonen beziehungsweise Elektronen eines elektrisch neutralen Atoms heißt seine „Ordnungszahl“. Chemische Verbindungen sind Substanzen, die aus zwei oder mehr Atomsorten aufgebaut sind. Dabei verbinden sich die Atome zu Molekülen. Die Bindungskräfte, welche die Atome in einem Molekül zusammenhalten, werden durch Wechselwirkungen der Elektronen vermittelt. Ausschlaggebend für die Eigenschaften der Bindungskräfte sind hauptsächlich die Eigenschaften der im äußeren Bereich der Hülle befindlichen Elektronen, der Valenzelektronen. Das chemische Verhalten eines Atoms – beispielsweise seine Neigung, mit bestimmten anderen Atomarten bevorzugt Verbindungen einzugehen – wird also durch die Struktur der Elektronenhülle und insbesondere der Valenzelektronen maßgeblich bestimmt. Diese Struktur ist für eine gegebene Anzahl von Elektronen stets dieselbe, so dass die Ordnungszahl das chemische Verhalten des Atoms bestimmt. Atome mit gleicher Ordnungszahl und daher gleichem Verhalten bei chemischen Reaktionen werden als chemische Elemente bezeichnet. Im Periodensystem sind alle existierenden Elemente so angeordnet, dass die aus dem Aufbau der Atome resultierenden Gesetzmäßigkeiten in den chemischen und atomphysikalischen Eigenschaften der Elemente erkennbar werden. Struktur der Elektronenhülle Die Elektronenhülle eines Atoms weist Strukturen auf, die von der Quantenmechanik untersucht und beschrieben werden. Sie kann in Hauptschalen unterteilt werden. Jede Hauptschale lässt sich wiederum in Unterschalen unterteilen, die aus Orbitalen bestehen. Der quantenmechanische Zustand, in dem sich ein gegebenes Elektron befindet, wird durch vier Quantenzahlen beschrieben: Die Hauptquantenzahl, die Nebenquantenzahl, die Magnetquantenzahl und die Spinquantenzahl. Die Hauptquantenzahl n = 1, 2, 3, … nummeriert die Hauptschalen. Alternativ können diese Schalen als K-Schale (für n = 1), L-Schale (für n = 2), M-Schale (für n = 3) und so weiter bezeichnet werden. Der Durchmesser der Hauptschalen nimmt mit steigender Hauptquantenzahl zu. Eine Hauptschale mit der Hauptquantenzahl n besitzt n Unterschalen, die sich in ihrer Nebenquantenzahl unterscheiden. Die Unterschalen werden mit den Buchstaben s, p, d, f und so weiter bezeichnet (die Wahl dieser Buchstaben ist historisch bedingt). Eine gegebene Unterschale in einer bestimmten Hauptschale wird durch ihren Buchstaben mit davorgesetzter Hauptquantenzahl identifiziert, beispielsweise 2p für die p-Unterschale in der L-Schale (n = 2). Die einzelnen Unterschalen teilen sich in Orbitale, die durch die Magnetquantenzahl unterschieden werden. Jede s-Unterschale enthält ein Orbital, jede p-Unterschale enthält drei Orbitale, jede d-Unterschale enthält fünf Orbitale und jede f-Unterschale enthält sieben Orbitale. Die Spinquantenzahl beschreibt die beiden möglichen Spinausrichtungen des Elektrons. Das Paulische Ausschließungsprinzip besagt, dass keine zwei Elektronen in einem Atom in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen können. Zwei Elektronen, die sich in demselben Orbital befinden, stimmen bereits in drei Quantenzahlen überein (nämlich jenen, die dieses Orbital beschreiben). Die beiden Elektronen müssen sich also in der vierten Quantenzahl, ihrer Spinausrichtung, unterscheiden. Damit sind die Variationsmöglichkeiten für die Quantenzahlen in diesem Orbital ausgeschöpft, jedes einzelne Orbital kann also maximal von zwei Elektronen besetzt werden. Es ergeben sich für die verschiedenen Schalen daher die folgenden maximalen Elektronenzahlen: Die K-Schale (n = 1) weist nur eine Unterschale (1s) auf und diese nur ein einziges Orbital. Da dieses mit höchstens zwei Elektronen besetzt werden kann, nimmt die K-Schale maximal zwei Elektronen auf. Die L-Schale (n = 2) hat zwei Unterschalen 2s und 2p, welche aus einem bzw. drei Orbitalen bestehen. Sie kann in ihren insgesamt vier Orbitalen also maximal acht Elektronen aufnehmen. Die M-Schale (n = 3) besitzt drei Unterschalen 3s, 3p und 3d, kann in ihren neun Orbitalen also maximal 18 Elektronen aufnehmen. Die N-Schale (n = 4) kann in ihren vier Unterschalen 4s bis 4f maximal 32 Elektronen aufnehmen und so weiter. Allgemein kann eine Schale mit der Hauptquantenzahl n insgesamt maximal 2·n2 Elektronen aufnehmen. Systematischer Aufbau des Periodensystems Denkt man sich die Atome der verschiedenen Elemente ausgehend vom Wasserstoff der Reihe nach so erzeugt, dass dem Atom ein Proton im Kern und ein Elektron in der Hülle (sowie gegebenenfalls die zur Stabilität des Kerns benötigten Neutronen) hinzugefügt werden, dann erhält man nacheinander die Atome aller Elemente in derselben Reihenfolge wie im Periodensystem. Dabei besetzt das hinzugekommene Elektron stets das energieärmste der noch freien Orbitale („Aufbauprinzip“). Da sich beim sukzessiven Auffüllen mit dem Beginn jeder neuen Schale das Besetzungsmuster der einzelnen Orbitale wiederholt, wiederholen sich auch die Strukturen der Valenzelektronen und dadurch bedingt die chemischen Eigenschaften der Atome. Perioden Das Periodensystem ist in Zeilen unterteilt, die als Periode bezeichnet werden. Jede Periode endet mit einem Edelgas, es wird dann eine neue Zeile begonnen. Im Allgemeinen steigt die Elektronenenergie mit der Hauptquantenzahl an, so dass das energieärmste freie Orbital für das hinzukommende Elektron meist zur kleinstmöglichen Hauptquantenzahl gehört. Innerhalb einer Hauptschale nimmt die Energie der Unterschalen im Sinne s → p → d → f zu und ist ab der d-Unterschale sogar höher als die Energie in der s-Unterschale zur nächsthöheren Hauptquantenzahl. Die Hauptschalen überlappen sich also energetisch. Daher können nur die beiden ersten Perioden durch eine bestimmte Hauptquantenzahl n=1 bzw. 2 charakterisiert werden, während ab der 3. Periode zwei oder sogar drei verschiedene Hauptquantenzahlen in derselben Periode auftreten. Dies hat Konsequenzen für den systematischen Aufbau des Periodensystems. Das nebenstehende Diagramm zeigt eine schematische, nicht-maßstäbliche Darstellung der Energieniveaus in der Elektronenhülle eines schweren Atoms. Die Striche auf der linken Seite symbolisieren die Hauptschalen, die Striche auf der rechten Seite deren Unterschalen. Die Kästchen stellen die Orbitale in jeder Unterschale dar, von denen jedes mit zwei Elektronen („Spin up“ und „Spin down“) belegt werden kann. Ab der Hauptschale n=3 überlappen sich die Unterschalen aufeinanderfolgender Hauptschalen energetisch. Der besseren Übersicht halber wird im folgenden Text jedem Elementnamen seine Ordnungszahl als Index vorangestellt. Die Farbe der Elementkästchen kennzeichnet die Schale, die gerade aufgefüllt wird. Erste Periode: 1Wasserstoff bis 2Helium Das einfachste Atom ist das 1Wasserstoff-Atom, das ein Proton im Kern und ein Elektron in der Hülle besitzt (es existieren auch Isotope mit einem oder mit zwei Neutronen). Das Elektron befindet sich in der K-Schale, die nur aus der s-Unterschale besteht. Es folgt das 2Helium-Atom mit zwei Protonen (sowie einem oder zwei Neutronen) und zwei Elektronen. Das hinzugekommene Elektron besetzt den noch freien Platz im einzigen Orbital der s-Unterschale. Damit ist die K-Schale ausgeschöpft und die erste Periode des Periodensystems gefüllt. Zweite Periode: 3Lithium bis 10Neon Mit dem nächsten Elektron beginnt das Auffüllen der L-Schale: 3Lithium hat ein Elektron im 2s-Orbital, 4Beryllium hat ein zweites Elektron im 2s-Orbital, das damit vollständig gefüllt ist. Nun beginnt das Auffüllen der 2p-Orbitale: 5Bor hat zusätzlich zum gefüllten 2s-Orbital ein Elektron im 2p-Orbital. Es folgen 6Kohlenstoff, 7Stickstoff, 8Sauerstoff, 9Fluor und 10Neon. Mit diesen acht Elementen ist auch die L-Schale vollständig gefüllt und die zweite Periode beendet. Dritte Periode: 11Natrium bis 18Argon Das Auffüllen der M-Schale beginnt mit demselben Muster. Bei Betrachtung der jeweiligen Konfigurationen der Valenzelektronen wird bereits deutlich, dass beispielsweise das erste Element dieser Periode (11Natrium, mit einem Valenzelektron) chemische Ähnlichkeiten mit dem ersten Element der vorhergehenden Periode (3Lithium, ebenfalls mit einem Valenzelektron) aufweisen wird. Vierte Periode: 19Kalium bis 36Krypton Nach dem achten Element der dritten Periode, dem 18Argon, kommt es jedoch zu einer Unterbrechung der Regelmäßigkeit. Bis dahin wurden die 3s- und 3p-Unterschalen der M-Schale aufgefüllt, es sind noch zehn Plätze in deren 3d-Unterschale frei. Da jedoch das 4s-Orbital der nächsthöheren Schale (N, n = 4) eine geringere Energie besitzt als die 3d-Orbitale der M-Schale, wird zunächst dieses 4s-Orbital mit zwei Elektronen gefüllt (19Kalium, 20Calcium). Das 19Kalium besitzt ein Valenzelektron und damit chemische Ähnlichkeit mit 11Natrium und 3Lithium. Da das Periodensystem diese und andere Ähnlichkeiten herausstellen soll, wird mit dem 19Kalium eine neue Periode begonnen. Erst nach 19Kalium und 20Calcium wird die 3d-Unterschale der M-Schale gefüllt, dies geschieht vom 21Scandium bis zum 30Zink. Diese im Periodensystem „eingeschobenen“ Elemente haben alle eine gefüllte 4s-Unterschale und unterscheiden sich nur im Füllungsgrad der darunter liegenden M-Schale. Sie weisen daher nur relativ geringe chemische Unterschiede auf, sie gehören zu den „Übergangsmetallen“. Mit dem 30Zink ist die M-Schale nun vollständig gefüllt, es folgt das weitere Auffüllen der restlichen N-Schale mit den Elementen 31Gallium bis 36Krypton. Fünfte Periode: 37Rubidium bis 54Xenon Das Auffüllen der N-Schale wird jedoch nach dem 36Krypton erneut unterbrochen. Mit dem 36Krypton ist die 4p-Unterschale abgeschlossen, und es sind noch die Unterschalen 4d und 4f zu füllen. Abermals hat jedoch die s-Unterschale der nächsthöheren Schale (O, n = 5) eine geringere Energie und wird bevorzugt aufgefüllt (37Rubidium, 38Strontium), womit man auch wieder eine neue Periode beginnen lässt. Dann folgen die zehn Übergangsmetalle 39Yttrium bis 48Cadmium, mit denen die verbliebene 4d-Unterschale gefüllt wird und anschließend die sechs Elemente 49Indium bis 54Xenon, mit denen die 5p-Unterschale gefüllt wird. Sechste Periode: 55Cäsium bis 86Radon In den weiteren Perioden wiederholt sich dieses Schema, das durch die energetische Lage der jeweiligen Unterschalen bestimmt wird. In der sechsten Periode werden nacheinander die folgenden Unterschalen gefüllt: 6s (55Cäsium und 56Barium), 5d (57Lanthan), 4f (58Cer bis 71Lutetium), 5d (72Hafnium bis 80Quecksilber) und 6p (81Thallium bis 86Radon). Im obigen Diagramm ist das Auffüllen der 4f-Unterschale als Einschub dargestellt, um die Breite des Diagramms zu beschränken. Siebte Periode: 87Francium bis 118Oganesson In der siebten Periode werden gefüllt: 7s (87Francium und 88Radium), 6d (89Actinium), 5f (90Thorium bis 103Lawrencium), 6d (104Rutherfordium bis 112Copernicium) und 7p (113Nihonium bis 118Oganesson). Einige Unregelmäßigkeiten beim Auffüllen der einzelnen Unterschalen sind der Einfachheit halber hier nicht wiedergegeben. Während des Auffüllens der 4d-Schale wandert beispielsweise bei einigen Elementen eines der s-Elektronen in die d-Unterschale. So hat etwa das 47Silber nicht wie erwartet zwei Elektronen in der 5s-Unterschale und neun Elektronen in der 4d-Unterschale, sondern nur ein 5s-Elektron und dafür zehn 4d-Elektronen. Eine Liste dieser Ausnahmen findet sich im Artikel zum Aufbauprinzip. Zusammenfassend ergibt sich das folgende Auffüllungsmuster (dargestellt in der Langform des Periodensystems): {| style="text-align: center; margin: 1em 0 1em 0; white-space: nowrap;" cellpadding="3" cellspacing="1" |colspan="34"|  |colspan="2" style="text-align: left"|Auffüllen der Schale |- |1  |style="background:#FFB3FB; border: 1pt black solid"| H |colspan="30" style="background:#FFFFFF" |   |style="background:#FFB3FB; border: 1pt black solid"| He |    |style="background:#FFB3FB" |     |K (n = 1) |- |2  |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| Li |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| Be |colspan="24" style="background:#FFFFFF" |   |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| B |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| C |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| N |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| O |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| F |style="background:#8AACDE; border: 1pt black solid"| Ne |    |style="background:#8AACDE" |     |L (n = 2) |- |3  |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Na |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Mg |colspan="24" style="background:#FFFFFF" |   |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Al |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Si |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| P |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| S |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Cl |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Ar |    |style="background:#A9F4FF" |     |M (n = 3) |- |4  |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| K |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ca |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Sc |colspan="14" style="background:#FFFFFF" |   |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Ti |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| V |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Cr |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Mn |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Fe |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Co |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Ni |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Cu |style="background:#A9F4FF; border: 1pt black solid"| Zn |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ga |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ge |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| As |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Se |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Br |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Kr |    |style="background:#B6FF81" |     |N (n = 4) |- |5  |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Rb |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Sr |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Y |colspan="14" style="background:#FFFFFF" |   |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Zr |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Nb |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Mo |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Tc |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ru |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Rh |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Pd |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ag |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Cd |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| In |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Sn |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Sb |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Te |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| I |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Xe |    |style="background:#FFDD81" |     |O (n = 5) |- |6  |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Cs |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Ba |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| La |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ce |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Pr |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Nd |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Pm |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Sm |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Eu |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Gd |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Tb |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Dy |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Ho |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Er |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Tm |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Yb |style="background:#B6FF81; border: 1pt black solid"| Lu |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Hf |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Ta |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| W |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Re |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Os |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Ir |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Pt |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Au |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Hg |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Tl |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Pb |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Bi |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Po |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| At |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Rn |    |style="background:#FF8181" |     |P (n = 6) |- |7  |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Fr |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Ra |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Ac |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Th |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Pa |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| U |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Np |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Pu |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Am |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Cm |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Bk |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Cf |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Es |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Fm |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Md |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| No |style="background:#FFDD81; border: 1pt black solid"| Lr |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Rf |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Db |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Sg |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Bh |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Hs |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Mt |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Ds |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Rg |style="background:#FF8181; border: 1pt black solid"| Cn |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Nh |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Fl |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Mc |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Lv |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Ts |style="background:#D4D4D4; border: 1pt black solid"| Og |    |style="background:#D4D4D4" |     |Q (n = 7) |} In Darstellungen des Periodensystems sind die Perioden üblicherweise mit arabischen Ziffern von eins bis sieben durchnummeriert. Die Periodennummer ist gleichzeitig die Hauptquantenzahl der Elektronen, die räumlich den äußersten Bereich des Atoms bilden und daher sein chemisches Verhalten hauptsächlich bestimmen. Eine Hauptschale kann, während sie die äußerste ist, nur bis zu acht Elektronen enthalten (die K-Schale: nur bis zu zwei). Das nächste hinzugefügte Elektron legt eine neue Hauptschale an, die nun die neue äußerste wird. Die betrachtete Hauptschale ist während ihres weiteren Auffüllens nur noch die zweitäußerste, drittäußerste und so weiter. Jedes Element besitzt also ungeachtet des Fassungsvermögens seiner äußersten Schale nur zwischen einem und acht Valenzelektronen. Blockstruktur Der oben beschriebene systematische Aufbau des Periodensystems geschah in der Weise, dass die Elemente in der Reihenfolge ansteigender Ordnungszahlen angeordnet wurden und mit bestimmten Elementen eine neue Zeile („Periode“) begonnen wurde. Das Kriterium für den Beginn einer neuen Periode war dabei nicht das physikalische Kriterium des Füllgrades der jeweiligen Hauptschale, sondern die chemische Ähnlichkeit mit den darüberstehenden Elementen der vorhergehenden Periode, also die gleiche Anzahl von Valenzelektronen. Daraus folgt die Struktur des Periodensystems, das dafür konstruiert ist, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen. Es ergibt sich die folgende Einteilung des Periodensystems in verschiedene Blöcke: Hauptgruppen In den ersten beiden Spalten („Gruppen“) des Periodensystems werden die beiden Orbitale der s-Unterschale der jeweils aktuellen Hauptschale aufgefüllt (s-Block). In den letzten sechs Gruppen werden die sechs p-Unterschalen der aktuellen Hauptschale aufgefüllt (p-Block). Diese acht Gruppen sind die Hauptgruppen des Periodensystems. Von einer Hauptgruppe zur nächsten nimmt die Anzahl der Valenzelektronen um jeweils eins zu. Für die 50 Hauptgruppenelemente ist aus ihrer Gruppenmitgliedschaft also sofort die Anzahl ihrer Valenzelektronen und damit ihr chemisches Verhalten in seinen wesentlichen Zügen ersichtlich. Sofern die Stoffeigenschaften der Elemente von den Valenzelektronen bestimmt werden, finden sich in den Elementen derselben Gruppe daher viele Übereinstimmungen. Die üblicherweise in römischen Ziffern geschriebene Gruppennummer ist zugleich die Anzahl der Elektronen in der jeweils äußersten Hauptschale (mit Ausnahme des 2Helium, das sich als Edelgas in der VIII. Hauptgruppe befindet, aber nur zwei Elektronen besitzt). Die Elemente der ersten Hauptgruppe besitzen jeweils ein Valenzelektron. Es handelt sich (mit Ausnahme des 1Wasserstoffs) um weiche, silbrig-weiße und sehr reaktionsfreudige Metalle, die Alkalimetalle. Ein Beispiel für die chemische Ähnlichkeit der Alkalimetalle ist der Umstand, dass sie alle mit 17Chlor zu farblosen Salzen reagieren, die in Würfelform kristallisieren. Auch die Formeln dieser Verbindungen entsprechen einander: LiCl, NaCl, KCl, RbCl, CsCl und FrCl. Es folgen die Erdalkalimetalle als zweite Hauptgruppe. Die Borgruppe ist die dritte Hauptgruppe, die Kohlenstoffgruppe die vierte und die Stickstoffgruppe die fünfte. Die Chalkogene stellen die sechste Hauptgruppe dar und die Halogene die siebte. Wie sich quantenmechanisch begründen lässt, sind nicht nur abgeschlossene Hauptschalen, sondern auch abgeschlossene Unterschalen besonders stabil. Die Elemente in der achten Hauptgruppe weisen alle eine abgeschlossene Haupt- oder Unterschale auf: Beim 2Helium ist die erste Hauptschale und damit auch deren einzige Unterschale 1s vervollständigt. Bei den anderen Elementen 10Neon, 18Argon, 36Krypton, 54Xenon und 86Radon ist jeweils – bei ab 18Argon noch nicht vollständiger Hauptschale – die p-Unterschale vervollständigt, diese Elemente besitzen acht Valenzelektronen (ein Oktett). Wegen der Stabilität ihrer Valenzelektronenstrukturen gehen diese Elemente so gut wie keine chemischen Bindungen ein. Sie sind alle gasförmig und werden als Edelgase bezeichnet. Andere Elemente können durch Abgabe oder Aufnahme von Elektronen ebenfalls Edelgasschalen und damit besonders stabile Zustände erreichen. So geben die Alkalimetalle ihr einzelnes Valenzelektron leicht ab und treten dann als einwertige Kationen auf, beispielsweise 3Li+, 11Na+ usw. Die Erdalkalimetalle erreichen die Edelgaskonfiguration durch Abgabe ihrer beiden Valenzelektronen und bilden dann zweiwertige Kationen, beispielsweise 4Be++, 12Mg++ usw. Den Halogenen andererseits fehlt ein Elektron zur Komplettierung eines Oktetts. Sie nehmen daher bevorzugt ein Elektron auf, es resultieren die einwertigen Anionen 9F-, 17Cl- usw. Zwischen den Hauptgruppen ist ein Block mit Nebengruppen eingeschoben: Nebengruppen: äußere Übergangsmetalle In den letzten vier Perioden wurde das Auffüllen der jeweils äußersten Hauptschale unterbrochen, um die d-Unterschale der zweitäußersten Hauptschale aufzufüllen. Die d-Unterschalen fassen jeweils 10 Elektronen, es ergibt sich in diesen vier Perioden also ein zusätzlicher Block mit 10 Gruppen. Alle 40 Elemente in diesem d-Block sind Metalle, sie werden als „äußere Übergangsmetalle“ bezeichnet. Sie alle besitzen zwei Valenzelektronen in der äußersten Schale (Ausnahmen siehe → Aufbauprinzip) und weisen daher geringere Unterschiede in ihrem chemischen Verhalten auf als die Hauptgruppenelemente. Die vorhandenen Unterschiede sind auf die unterschiedlichen Elektronenstrukturen der jeweils nächsttieferen Hauptschale zurückzuführen. Entsprechend dem sich wiederholenden Auffüllungsmuster zeigen auch in diesem Block untereinanderstehende Elemente deutliche Ähnlichkeiten in ihren chemischen Eigenschaften. Nebengruppen: innere Übergangsmetalle In den letzten beiden Perioden wurde zusätzlich das Auffüllen der d-Unterschalen der jeweils zweitäußersten Hauptschale unterbrochen durch das Auffüllen der f-Unterschalen der jeweils drittäußersten Hauptschale. Die f-Unterschalen fassen jeweils vierzehn Elektronen, es ergibt sich also in diesen beiden Perioden ein zusätzlicher Block mit 14 Gruppen. Die 28 Elemente in diesem f-Block werden als innere Übergangselemente bezeichnet. Sie besitzen zwei Valenzelektronen in der äußersten Hauptschale, ein Elektron in der d-Unterschale der vorletzten Hauptschale und unterscheiden sich nur im Füllungsgrad der jeweils drittletzten Hauptschale (Ausnahmen siehe → Aufbauprinzip). Ihre chemischen Unterschiede sind entsprechend gering. Die auf das 57Lanthan folgenden 14 inneren Übergangsmetalle von 58Cer bis 71Lutetium in der sechsten Periode heißen auch Lanthanoide. Die auf das 89Actinium folgenden 14 inneren Übergangsmetalle von 90Thorium bis 103Lawrencium in der siebten Periode heißen auch Actinoide. Periodizitäten und Tendenzen Einige Eigenschaften der Elemente variieren in systematischer Weise mit der Position im Periodensystem. Geht man innerhalb einer Periode von einer Hauptgruppe zur nächsten über („von links nach rechts“), ändern sich die physikalischen und chemischen Eigenschaften in systematischer, charakteristischer Weise, weil dabei die Anzahl der Valenzelektronen um jeweils eines zunimmt. In der nächsten Periode wiederholen sich die Eigenschaften, sofern sie von der Anzahl der Valenzelektronen bestimmt werden, in ähnlicher Weise, weil die Anzahl der Valenzelektronen erneut auf dieselbe Weise zunimmt. Geht man innerhalb einer Hauptgruppe von einer Periode zur nächsten über („von oben nach unten“), sind die betreffenden Eigenschaften in der Regel ähnlich (gleiche Anzahl von Valenzelektronen), aber graduell verschieden (verschiedene Hauptschalen als äußerste Schale). Atomradius Der Atomradius nimmt generell innerhalb einer Periode von links nach rechts ab, weil aufgrund der zunehmenden Kernladungszahl die Elektronen immer näher an den Kern herangezogen werden. Beim Übergang zur nächsten Periode nimmt der Atomradius sprunghaft wieder zu, weil nun die Belegung der nächstäußeren Hauptschale beginnt. Innerhalb einer Gruppe wird der Radius in der Regel von oben nach unten größer, weil jeweils eine Hauptschale hinzukommt. Erste Ionisierungsenergie Die „erste Ionisierungsenergie“ ist die Energie, die aufgewendet werden muss, um ein Elektron aus der Elektronenhülle zu entfernen, so dass aus dem neutralen Atom ein einfach positiv geladenes Ion wird. Das einzelne Valenzelektron der Alkalimetalle ist besonders locker gebunden und kann leicht abgelöst werden. Beim Fortschreiten innerhalb einer Periode muss wegen der zunehmenden Kernladungszahl eine immer größere Ionisierungsenergie aufgewendet werden, bis sie beim Edelgas mit seiner besonders stabilen Oktett-Konfiguration den maximalen Wert der Periode erreicht. Elektronenaffinität Die Elektronenaffinität ist die Bindungsenergie, die freigesetzt wird, wenn ein Atom ein zusätzliches Elektron an sich bindet, so dass aus dem neutralen Atom ein einfach negativ geladenes Ion wird. Die Halogene haben eine besonders große Elektronenaffinität, weil sie durch Aufnahme eines Elektrons ihr Elektronenoktett vervollständigen können. Elektronegativität Sind zwei Atome verschiedener Elemente chemisch aneinander gebunden, so zieht in der Regel eines der beiden die Elektronen der gemeinsamen Elektronenhülle stärker an, so dass sich der Ladungsschwerpunkt der Elektronenhülle zu diesem Atom hin verschiebt. Die Fähigkeit eines Atoms, in einer Bindung die Elektronen an sich zu ziehen, wird durch seine Elektronegativität gemessen. Die Elektronegativität der Hauptgruppenelemente wächst innerhalb einer Periode von links nach rechts, weil die Kernladung zunimmt. Innerhalb einer Gruppe wächst sie in der Regel von unten nach oben, weil in dieser Richtung die Anzahl besetzter Hauptschalen abnimmt und damit auch die Abschirmung der Kernladung durch die inneren Elektronen. Das Element mit der kleinsten Elektronegativität (0,7 nach Pauling) ist das links unten im Periodensystem stehende 55Cäsium. Das Element mit der größten Elektronegativität (4,0 nach Pauling) ist das rechts oben stehende 9Fluor, gefolgt von seinem linken Nachbarn, dem 8Sauerstoff (3,5). 1Wasserstoff und die Halbmetalle nehmen mit Werten um 2 eine Mittelstellung ein. Die meisten Metalle haben Werte um 1,7 oder weniger. Die Verschiebung des Ladungsschwerpunkts im Molekül hängt von der Differenz der Elektronegativitäten der beiden Atome ab. Je stärker der Ladungsschwerpunkt verschoben ist, umso größer ist der ionische Anteil der Bindung, weil die elektrostatische Anziehung der beiden ungleichnamigen Teilladungen umso stärker zur Bindung beiträgt. Besonders ausgeprägt ist der ionische Bindungscharakter wegen der beschriebenen Tendenz der Elektronegativitäten in Bindungen, bei denen der eine Bindungspartner links und der andere rechts im Periodensystem steht. Ein Beispiel dafür ist Natriumchlorid . Bindungen, bei denen beide Partner aus der linken Hälfte des Periodensystems stammen und daher beide zu den Metallen (siehe unten) gehören, sind metallische Bindungen. Bindungen, bei denen beide Partner aus der rechten Seite stammen, sind hauptsächlich kovalente Bindungen. Wertigkeit Eines der charakteristischsten Merkmale eines Elements ist seine Wertigkeit, also seine Eigenschaft, sich bei Bildung einer chemischen Verbindung mit bestimmten bevorzugten Anzahlen von Atomen der verschiedenen Partnerelemente zu vereinigen. Ein Atom, dem noch ein Elektron zur Komplettierung eines Valenzelektronen-Oktetts fehlt, kann eine Bindung mit einem einzelnen 1Wasserstoff-Atom eingehen, um in der gemeinsamen Elektronenhülle das einzelne Valenzelektron des Wasserstoff zur Vervollständigung seines eigenen Oktetts zu nutzen. Ein Atom, dem noch zwei Elektronen fehlen, wird dazu tendieren, eine Verbindung mit zwei 1Wasserstoff-Atomen einzugehen. Wie diese Beispiele zeigen, ist im Allgemeinen ein Zusammenhang zwischen der bevorzugten Anzahl der Bindungspartner und der Struktur der Valenzelektronen-Hülle – also der Gruppenzugehörigkeit im Periodensystem – zu erwarten. Allerdings sind die Zusammenhänge oft deutlich komplexer als in den hier dargestellten Beispielen. Ein einfaches Maß für die Wertigkeit eines Elements ist die Anzahl der 1Wasserstoff-Atome, die das Element in einem binären Hydrid an sich bindet. Ein anderes mögliches Maß ist das Doppelte der Anzahl an 8Sauerstoff-Atomen, die das Element in seinem Oxid bindet. Die Elemente der ersten und der vorletzten Hauptgruppe (der Alkalimetalle beziehungsweise Halogene) haben die Wertigkeit 1, ihre Hydride haben also die Formeln . Die Elemente der zweiten und der drittletzten Hauptgruppe (der Erdalkalimetalle und der Sauerstoffgruppe) haben im Allgemeinen die Wertigkeit 2, ihre Hydride sind also . In den anderen Hauptgruppen werden die Bindungsmöglichkeiten vielfältiger (so existieren unzählige Kohlenwasserstoff-Verbindungen), aber man trifft auch beispielsweise in der Stickstoffgruppe auf oder und in der Kohlenstoffgruppe auf . Der 8Sauerstoff ist zweiwertig, typische Oxide der einwertigen Alkalimetalle sind daher und typische Oxide der zweiwertigen Erdalkalimetalle sind , es kommen aber auch andere Oxidationsstufen vor. Die drei letztgenannten Oxide waren der Ausgangspunkt für Döbereiners Triadensystem (siehe unten). Basizität Die Basizität der Oxide und Hydroxide der Elemente nimmt von oben nach unten zu, von links nach rechts ab. In Wasser gelöste Oxide und Hydroxide von Metallen (siehe unten) bilden Laugen, in Wasser gelöste Oxide und Hydroxide von Nichtmetallen bilden Säuren. In Wasser gelöstes Calciumoxid bildet beispielsweise die Lauge Kalkwasser. Dasselbe Ergebnis erhält man, wenn man Calciumhydroxid in Wasser löst. Sowohl Natriumoxid als auch Natriumhydroxid ergeben in Wasser gelöst Natronlauge. Sowohl Kaliumoxid als auch Kaliumhydroxid ergeben in Wasser gelöst Kalilauge. Die Metalle aus der ersten Hauptgruppe lösen sich sogar als Elemente in Wasser und ergeben basische („alkalische“) Lösungen. Sie heißen daher Alkalimetalle. In Wasser gelöstes 11Natrium ergibt beispielsweise Natronlauge, in Wasser gelöstes 19Kalium ergibt Kalilauge. Kohlenstoffdioxid ist ein Beispiel für ein Nichtmetall-Oxid, das bei Lösung in Wasser eine Säure ergibt, nämlich Kohlensäure. Ein anderes Beispiel ist Schwefeltrioxid , dessen wässrige Lösung Schwefelsäure ist. Beispiele weiterer Regelmäßigkeiten Die reaktionsfreudigsten Elemente befinden sich in der I. und der VII. Hauptgruppe (Alkalimetalle beziehungsweise Halogene), weil diese Elemente eine besonders starke Tendenz aufweisen, durch Abgabe (bei den Alkalimetallen) beziehungsweise Aufnahme (bei den Halogenen) eines Elektrons ein vollständiges Elektronen-Oktett zu erlangen. Die Atomisierungsenthalpie, also die Energie, die zum Zerlegen eines aus einem Element E gebildeten Moleküls Ex benötigt wird, zeigt für die Hauptgruppenelemente eine deutliche Periodizität in Abhängigkeit von der ebenfalls periodischen Bindigkeit der Elemente, weil von dieser die Anzahl x der gebundenen Atome abhängt. Die Atomisierungsenthalpie zeigt Minima bei den 0-wertigen Edelgasen und Maxima bei den vierwertigen Elementen der IV. Hauptgruppe. Die Dichte der Hauptgruppenelemente zeigt den gleichen Verlauf, weil sie eng mit der Bindigkeit des jeweiligen Elements zusammenhängt: Die Alkalimetalle haben besonders kleine Bindigkeiten und Dichten, die größten Werte liegen bei den Elementen der mittleren Gruppen. Ein ähnliches Muster zeigt sich bei den Dissoziationsenthalpien von E2-Molekülen: Die Minima liegen wieder bei den Edelgasen, die Maxima jetzt bei den Elementen der V. Hauptgruppe (N2, P2 usw.), entsprechend den bei zweiatomigen Molekülen möglichen Bindigkeiten. Die Schmelz- und Siedetemperaturen, die Schmelz- und Verdampfungsenthalpien sind weitere Beispiele für physikalische Eigenschaften der Elemente, die ein periodisches Verhalten zeigen. Dies gilt sogar für die betreffenden Eigenschaften einfacher binärer Verbindungen, also beispielsweise die Schmelztemperaturen oder Schmelzenthalpien der Hydride, Fluoride, Chloride, Bromide, Iodide, Oxide, Sulfide und so weiter. Metalle, Halbmetalle und Nichtmetalle Die weitaus meisten Elemente sind Metalle. Sie sind meistens silbrig glänzend, formbar, gering flüchtig sowie strom- und wärmeleitend. Der Metallcharakter ist bei den links unten im Periodensystem stehenden Elementen am deutlichsten ausgeprägt und nimmt nach rechts oben hin ab. In dieser Richtung schließen sich die Halbmetalle an (mattgrau glänzend, spröde, gering flüchtig, nur mäßig strom- und wärmeleitend). Rechts oben im Periodensystem stehen die Nichtmetalle (farbig, nicht glänzend, spröde, meistens flüchtig, nicht stromleitend und nur schlecht wärmeleitend). Die ersten beiden Hauptgruppen (die Alkali- und Erdalkalimetalle) enthalten daher ausschließlich Metalle, die letzten beiden Hauptgruppen (die Halogene und Edelgase) nur Nichtmetalle. Die durch die Halbmetalle markierte Grenze zwischen Metallen und Nichtmetallen verläuft schräg durch die mittleren Hauptgruppen, so dass diese im Allgemeinen im oberen Teil Nichtmetalle, darunter Halbmetalle und im unteren Teil Metalle enthalten. Typische Halbmetalle sind etwa 5Bor, 14Silizium oder 32Germanium. Auf der Grenze befindliche Elemente können sogar je nach vorliegender Modifikation ihre Zugehörigkeit wechseln: Das auf der Grenze zwischen Metallen und Halbmetallen liegende 50Zinn ist als weißes β–Zinn ein Metall, als graues α–Zinn ein Halbmetall. Der auf der Grenze zwischen Halbmetallen und Nichtmetallen liegende 6Kohlenstoff ist als Graphit ein Halbmetall, als Diamant ein Nichtmetall. In der V. und VI. Hauptgruppe lässt sich der innerhalb einer Gruppe stattfindende Übergang gut beobachten: Die oben in den Gruppen stehenden Elemente 7Stickstoff, 8Sauerstoff und 16Schwefel sind ausgeprägte Nichtmetalle. Die darunter stehenden Elemente 15Phosphor, 33Arsen und 34Selen kommen sowohl in nichtmetallischen Modifikationen vor (weißer, roter und violetter Phosphor, gelbes Arsen, rotes Selen) wie auch in halbleitenden (schwarzer Phosphor, graues Arsen, graues Selen). Die unten in den Gruppen stehenden Elemente 51Antimon, 52Tellur, 83Bismut und 84Polonium treten bevorzugt in halbmetallischer oder metallischer Form auf. Die typischen Vertreter der Metalle auf der linken Seite des Periodensystems besitzen stets nur eine kleine Anzahl von Valenzelektronen und geben diese bereitwillig ab (niedrige Ionisierungsenergie, siehe oben), um ein Valenzelektronen-Oktett zu erreichen. Wenn Metallatome sich mittels chemischer Bindungen zu einem Metallgitter zusammenfügen, bilden die abgegebenen Valenzelektronen ein „Elektronengas“, das die positiv geladenen Metallatome einbettet und zusammenhält. Dies ist die so genannte metallische Bindung. Aus den Eigenschaften dieser Bindungsart folgen die für die Metalle charakteristischen Eigenschaften wie beispielsweise ihr Glanz oder ihre leichte Verformbarkeit. Insbesondere führt die große Anzahl frei beweglicher Elektronen zu einer hohen elektrischen Leitfähigkeit. Komplexere Beziehungen Sonderstellung der Kopfelemente Das Periodensystem ordnet die Elemente so an, dass die einer Gruppe zugehörigen Elemente einander chemisch und physikalisch ähnlich sind. Der Grad der Ähnlichkeit ist durchaus von Fall zu Fall unterschiedlich, es fällt jedoch auf, dass die ersten Mitglieder jeder Hauptgruppe (die „Kopfelemente“ Li, Be, B, C, N, O, F) weniger Ähnlichkeit mit den restlichen Mitgliedern ihrer Gruppe haben als diese jeweils unter sich. Gründe dafür sind unter anderem, dass aufgrund der kleinen Atomradien die Valenzelektronen dieser Atome besonders stark an die Kerne gebunden sind, und dass die Kopfelemente im Gegensatz zu den anderen Gruppenmitgliedern in der Außenschale ein Elektronenoktett nicht überschreiten können. Ein Beispiel für diese Sonderstellung ist die Gasförmigkeit von 7Stickstoff und 8Sauerstoff im Gegensatz zu anderen Vertretern der jeweiligen Gruppe. Ein anderes Beispiel ist der Umstand, dass die Kopfelemente keine höheren Oxidationszahlen annehmen können als ihrer Valenzelektronen-Struktur entspricht. So kann der 8Sauerstoff höchstens die Oxidationszahl +2 annehmen, während die anderen Mitglieder der Sauerstoffgruppe oft die Oxidationszahlen +4 und +6 aufweisen, die sie durch Beteiligung der dem Sauerstoff fehlenden d-Orbitale an der jeweiligen Bindung erlangen. Die Sonderstellung des Kopfelements ist besonders stark ausgeprägt im s-Block des Periodensystems (insbesondere wenn man den 1Wasserstoff anstelle des 3Lithiums als Kopfelement zählt), weniger ausgeprägt im p-Block, zwar vorhanden aber nur gering ausgeprägt im d-Block und noch weniger im f-Block. Schrägbeziehungen Die genannten Kopfelemente ähneln den im Periodensystem rechts unter ihnen stehenden Hauptgruppenelementen mehr als ihren eigenen Gruppenmitgliedern und sind damit Beispiele für Schrägbeziehungen. Dies betrifft insbesondere Ähnlichkeiten zwischen 3Lithium und 12Magnesium, 4Beryllium und 13Aluminium, 5Bor und 14Silicium. Der Grund dafür liegt darin, dass einige wichtige Trends von Elementeigenschaften wie etwa die Elektronegativität, die Ionisierungsenergie oder die Atomradien von links unten nach rechts oben und damit „schräg“ im Periodensystem verlaufen. Bewegt man sich im Periodensystem nach unten, nimmt beispielsweise die Elektronegativität ab. Bewegt man sich nach rechts, nimmt sie zu. Bei einer Bewegung nach unten rechts heben sich die beiden Trends näherungsweise auf und die Elektronegativität ist nur wenig verändert. Eine weitere Schrägbeziehung ist der Grimmsche Hydridverschiebungssatz. Springerbeziehung Eine ungewöhnliche Beziehung zwischen Elementen ist die Springer-Beziehung nach Michael Laing, die in Analogie zur Schachfigur des Springers dadurch gekennzeichnet ist, dass manche metallische Elemente ab der vierten Periode in einigen Merkmalen (z. B. Schmelzpunkte und Siedepunkte) ähnliche Eigenschaften wie ein metallisches Element besitzen, das eine Periode darunter und zwei Gruppen weiter rechts liegt. Beispiele sind 30Zink und 50Zinn, die gleiche Eigenschaften bei einer Legierung mit Kupfer, bei der Beschichtung von Stahl und in ihrer biologischen Bedeutung als Spurenelement aufweisen. Weitere Beispiele sind 48Cadmium und 82Blei, 47Silber und 81Thallium, sowie 31Gallium und 51Antimon. Beziehungen zwischen Haupt- und Nebengruppen Es bestehen zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen einer gegebenen Gruppe n und der um zehn Spalten weiter rechts liegenden Gruppe n+10. Ein markantes Beispiel sind 12Magnesium aus der zweiten und 30Zink aus der zwölften Gruppe, deren Sulfate, Hydroxide, Carbonate und Chloride sich sehr ähnlich verhalten. Andere ausgeprägte Beispiele sind 21Scandium aus der dritten Gruppe und 13Aluminium aus der dreizehnten Gruppe sowie 22Titan aus der vierten Gruppe und 50Zinn aus der vierzehnten Gruppe. Lediglich zwischen den Alkalimetallen in der ersten Gruppe und den Edelmetallen (29Kupfer, 47Silber, 79Gold) in der elften Gruppe besteht keinerlei Ähnlichkeit. In der heute gebräuchlichen mittellangen Form des Periodensystems sind diese Beziehungen nicht sehr offensichtlich. Den frühen Pionieren des Periodensystems, die sich ausschließlich an chemischen Ähnlichkeiten orientieren konnten, waren sie jedoch wohlbekannt. Die Beziehungen führen dazu, dass die „langen“ Perioden vier bis sieben (ohne die separat dargestellten Lanthanoide und Actinoide) eine doppelte Periodizität aufweisen: Sowohl ihre linke Hälfte (bis zu den Edelmetallen) als auch ihre rechte Hälfte (bis zu den Edelgasen) haben Eigenschaften, die mit den Hauptgruppen in den kurzen Perioden zwei und drei tendenziell parallel laufen. Das so genannte Kurzperiodensystem berücksichtigt diese Ähnlichkeiten, indem es die beiden kurzen Perioden zwei und drei als einen geschlossenen (nicht wie sonst zweigeteilten) Block darstellt, während es die vier langen Perioden teilt und ihre linke und rechte Hälfte jeweils als separate Zeilen untereinander aufführt. Man fasst dazu in jeder der 18 Elemente enthaltenden langen Perioden die Elemente der Eisen-, der Cobalt- und der Nickelgruppe zu einer Gruppe zusammen. Diese Perioden lassen sich dann in zwei Hälften zu je acht Gruppen (eine davon eine Dreiergruppe) teilen, die im Kurzperiodensystem untereinander angeordnet werden. Das Kurzperiodensystem hat dementsprechend nur 8 Spalten. Wegen der Existenz einer Dreiergruppe entspricht jedoch trotz der acht Spalten der Übergang zu dem eine Zeile tiefer liegenden Element dem Übergang zu dem in der Langform um zehn Gruppen weiter rechts liegenden Element. Durch unterschiedliche Einrückung können die ursprünglichen Haupt- und Nebengruppen unterschieden werden. Die Kurzform des Periodensystems stellt insbesondere den zwischen Neben- und Hauptgruppen parallelen Verlauf der Wertigkeiten (genauer: der maximalen Oxidationszahlen) dar, der in den Langformen verloren gegangen ist und dort nur noch in Form der Gruppen-Nummerierung überlebt (siehe nächsten Abschnitt). Die Kurzform ist andererseits weniger übersichtlich als die Langformen, außerdem betont sie die Ähnlichkeiten zwischen Haupt- und Nebengruppen insgesamt stärker als sie tatsächlich sind. Exkurs: Nummerierung der Gruppen Zwei der drei gebräuchlichen Nummerierungssysteme für die Gruppen gehen auf die Gruppenanordnung im soeben beschriebenen Kurzperiodensystem zurück. Die acht Gruppen des Kurzperiodensystems werden mit römischen Ziffern von I bis VIII durchnummeriert. Zieht man das Kurzperiodensystem wieder zur Langform auseinander, müssen die in einer Gruppe der Kurzform vereinigten Haupt- und Nebengruppenelemente wieder auf je zwei in der Langform separate Gruppen aufgeteilt werden. Will man dabei die Gruppennummerierung der Kurzform beibehalten, ergibt sich eine Verdoppelung jeder Gruppennummer. Zur Unterscheidung hängt man an die Gruppennummer ein a oder b an. In der hauptsächlich in den USA gebräuchlichen Konvention erhalten die Hauptgruppenelemente ein a, die Nebengruppenelemente ein b. Es ergibt sich die Nummerierungsfolge (Hauptgruppen fett dargestellt): Ia IIa IIIb IVb Vb VIb VIIb VIIIb Ib IIb IIIa IVa Va VIa VIIa VIIIa In der hauptsächlich in Europa gebräuchlichen Konvention erhält die erste Serie von I bis VIII durchgängig ein a, die zweite ein b. Es ergibt sich die Nummerierungsfolge Ia IIa IIIa IVa Va VIa VIIa VIIIa Ib IIb IIIb IVb Vb VIb VIIb VIIIb Der Vorteil der beiden aus der Kurzform abgeleiteten Nummerierungssysteme besteht darin, dass für die Hauptgruppen die Gruppennummer identisch ist mit der Zahl der Valenzelektronen. Es ist also sofort ersichtlich, dass beispielsweise die Elemente der IVten Hauptgruppe vier Valenzelektronen besitzen. Die IUPAC empfiehlt, die Gruppen der Reihe nach mit arabischen Ziffern von 1 bis 18 durchzunummerieren. Während diese Nummerierung transparent und eindeutig ist, geht der Zusammenhang zwischen der Gruppennummer und der Anzahl der Valenzelektronen verloren. Die Elemente mit vier Valenzelektronen befinden sich beispielsweise in Gruppe 14. Zusätzliche Einflüsse Die Eigenschaften unbekannter Elemente können näherungsweise vorausgesagt werden, wenn die Eigenschaften der umgebenden Elemente im Periodensystem bekannt sind. Die gesetzmäßige Variation der Eigenschaften innerhalb der Gruppen und Perioden wird jedoch durch zahlreiche Ausnahmen unterbrochen, die zur Komplexität des Fachgebiets Chemie beitragen. Je höher die Ordnungszahl wird, desto weniger eignet sich die Systematik des Periodensystems zur Vorhersage der Stoffeigenschaften, da aufgrund der höheren Ladung des Atomkerns die Geschwindigkeit kernnaher Elektronen und somit relativistische Effekte zunehmen. Bei Elementen ab der vierten Periode rücken die Elektronen der innersten Schalen (insbesondere die s-Orbitale) aufgrund der steigenden Anzahl positiver Ladungen im Atomkern näher an den Atomkern, wodurch die Geschwindigkeit dieser Elektronen beinahe Lichtgeschwindigkeit erreicht. Dadurch nimmt der Ionenradius entgegen der allgemeinen Tendenz ab und die Ionisierungsenergie für diese Elektronen zu (Effekt des inerten Elektronenpaares). Radioaktive Elemente Als weitere Informationen, die aber mit der Elektronenkonfiguration und daher mit der Stellung im PSE nichts zu tun haben, sind die radioaktiven Elemente gekennzeichnet: Das Element 82 (Blei) ist das letzte Element, von dem stabile, also nicht radioaktive Isotope existieren. Alle nachfolgenden (Ordnungszahl 83 und höher) weisen ausschließlich instabile und somit radioaktive Isotope auf. Dabei ist 83 (Bismut) ein Grenzfall. Es besitzt nur instabile Isotope, darunter jedoch eines mit einer extrem langen Halbwertszeit (209Bi mit a). Auch unterhalb Element 82 gibt es zwei Elemente mit ausschließlich instabilen Isotopen: 43 (Technetium) und 61 (Promethium). So bleiben tatsächlich nur 80 stabile Elemente übrig, die in der Natur vorkommen – alle anderen sind radioaktive Elemente. Von den radioaktiven Elementen sind nur Bismut, Thorium und Uran in größeren Mengen in der Natur vorhanden, da diese Elemente Halbwertszeiten in der Größenordnung des Alters der Erde oder länger haben. Alle anderen radioaktiven Elemente sind bis auf ein Isotop des Plutoniums entweder wie das Radium intermediäre Zerfallsprodukte einer der drei natürlichen radioaktiven Zerfallsreihen oder entstehen bei seltenen natürlichen Kernreaktionen oder durch Spontanspaltung von Uran und Thorium. Elemente mit Ordnungszahlen über 94 können nur künstlich hergestellt werden; obwohl sie ebenfalls bei der Elementsynthese in einer Supernova entstehen, wurden aufgrund ihrer kurzen Halbwertszeiten bis heute noch keine Spuren von ihnen in der Natur gefunden. Das letzte bislang nachgewiesene Element ist Oganesson mit der Ordnungszahl 118, dieses hat allerdings nur eine Halbwertszeit von 0,89 ms. Vermutlich gibt es bei höheren Ordnungszahlen eine Insel der Stabilität. Atommassen Da die Anzahl der Protonen im Atomkern mit der Ordnungszahl des Atoms identisch ist, nimmt die Atommasse mit der Ordnungszahl zu. Während die Ordnungszahl von einem Element zum nächsten jedoch stets um eine Einheit zunimmt, verläuft die Zunahme der Atommassen deutlich unregelmäßiger. Die Masse eines Protons beträgt 1,0073 atomare Masseneinheiten (1 u = 1,66·10−27 kg), die eines Neutrons 1,0087 u. Die Masse eines Elektrons von 0,0005 u ist dem gegenüber meist vernachlässigbar. Die Masse eines aus einem Proton und einem Elektron bestehenden Wasserstoffatoms beträgt 1,0078 u. Da alle Atome eine jeweils ganzzahlige Anzahl von Protonen und Neutronen (mit jeweils etwa 1 u Masse) im Kern besitzen, haben sie grundsätzlich auch eine in guter Näherung ganzzahlige Atommasse, die gerundet der Anzahl der im Kern enthaltenen Protonen und Neutronen entspricht (die Atommassen sind meist etwas kleiner als eine ganze Zahl, der „Massendefekt“ entspricht der bei der Bildung des Kerns freigesetzten Bindungsenergie). Im scheinbaren Widerspruch dazu weichen jedoch einige der Massenangaben im Periodensystem deutlich von der Ganzzahligkeit ab. Für das Chlor beispielsweise findet sich die Angabe 35,45 u. Der Grund dafür ist, dass zwei Atome mit derselben Anzahl von Protonen unterschiedliche Zahlen von Neutronen besitzen können. Solche Atome haben dieselbe Ordnungszahl und damit dasselbe chemische Verhalten, gehören also definitionsgemäß zum selben chemischen Element und befinden sich daher am selben Platz im Periodensystem. Weil sie aber verschiedene Neutronenzahlen besitzen, sind sie verschiedene „Isotope“ dieses Elements (von ísos „gleich“ und tópos „Ort, Stelle“). Die 20 Elemente bestehen nur aus einem einzigen natürlich vorkommenden Isotop, sie sind Reinelemente. Die anderen Elemente sind Mischelemente; sie bestehen in ihrem natürlichen Vorkommen aus einer Mischung verschiedener Isotope. Für diese Mischelemente ist im Periodensystem die mittlere Atommasse der natürlich vorkommenden Isotopenmischung eingetragen. Das natürlich vorkommende Chlor beispielsweise besteht zu 75,77 % aus dem Chlor-Isotop mit der Massenzahl 35 (mit 17 Protonen und 18 Neutronen im Kern) und zu 24,23 % aus dem Chlor-Isotop 37 (17 Protonen und 20 Neutronen). Seine mittlere Atommasse ist das mit der Häufigkeit gewichtete Mittel aus den (beinahe ganzzahligen) Atommassen 34,97 u und 36,97 u, beträgt also die oben genannten 35,45 u. Haben die Isotope zweier im Periodensystem aufeinanderfolgender Elemente sehr verschiedene Häufigkeitsverteilungen, kann es vorkommen, dass die mittlere Atommasse vom einen Element zum nächsten abnimmt. So hat das auf das 18Argon folgende 19Kalium zwar eine höhere Ordnungszahl, aber eine kleinere mittlere Atommasse. Dasselbe gilt für 27Cobalt und 28Nickel, 52Tellur und 53Iod, sowie 90Thorium und 91Protactinium. Da die Atommassen (von den erwähnten Ausnahmen abgesehen) einigermaßen regelmäßig mit der Ordnungszahl anwachsen, konnten sie im 19. Jahrhundert erfolgreich anstelle des eigentlichen Ordnungsprinzips, der noch unbekannten Ordnungszahl, der Suche nach Gesetzmäßigkeiten zugrunde gelegt werden. Geschichte Elemente Im antiken Griechenland und im antiken China wurde bereits vor mehr als 2000 Jahren spekuliert, dass die Vielzahl der Erscheinungen in der Natur sich auf eine kleine Anzahl von „Elementen“ zurückführen lassen müsse. In Griechenland vertrat Empedokles die Vier-Elemente-Lehre mit den Elementen Feuer, Wasser, Erde und Luft. In China gab es in der Fünf-Elemente-Lehre die Elemente Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Der heutige Begriff eines Elements als eines nicht weiter zerlegbaren Stoffes geht auf Joachim Jungius und Robert Boyle Mitte des 17. Jahrhunderts zurück. Antoine Laurent de Lavoisier legte 1789 eine erste systematische, 33 Einträge umfassende Tabelle mit vermuteten „einfachen Stoffen“ vor, von denen in der Tat 21 bereits Elemente im heutigen Sinn waren. Über die innere Struktur der Elemente und damit aller Materie überhaupt herrschte allerdings noch völlige Unklarheit. Gemäß John Daltons Atomhypothese (1808) setzen sich alle Stoffe aus kleinsten, nicht weiter teilbaren „Atomen“ zusammen, wobei die Atome eines chemischen Elements untereinander identisch, aber von den Atomen eines anderen Elements in Form und Gewicht verschieden sind. Chemische Reaktionen waren gemäß der Hypothese als Umgruppierungen der unzerstörbaren Atome anzusehen, und auch die Gesetze der konstanten Proportionen und der multiplen Proportionen war damit leicht erklärbar. Obwohl Atome von vielen Chemikern als Arbeitshypothese akzeptiert wurden, lag kein Beweis für ihre Existenz vor. Atommassen Während die Dichten der verschiedenen Elemente schon lange bekannt waren, war es wegen der Unkenntnis über die Anzahl und die Größe der Atome nicht möglich, deren absolute Massen zu ermitteln. Dalton hatte bereits eine auf den konstanten Proportionen beruhende, 14 Elemente umfassende und noch ziemlich ungenaue Liste von Verhältnissen der Atommassen zueinander erstellt. William Prout bemerkte, dass viele Atommassen ungefähr ganzzahlige Vielfache der Atommasse des Wasserstoffs waren und stellte 1815 die Hypothese auf, dass alle Elemente aus entsprechenden Mengen Wasserstoff als „Ursubstanz“ zusammengesetzt seien. Die bislang als nicht-ganzzahlig gelisteten Atommassen würden sich bei genaueren Messungen schon noch als ganzzahlig herausstellen. Prouts Hypothese veranlasste genauere Massenbestimmungen, hauptsächlich durch Jöns Jakob Berzelius und Jean Servais Stas, die die Nicht-Ganzzahligkeit vieler Atommassen bestätigten und damit Prouts Hypothese widerlegten, wegen ihrer deutlich verbesserten Genauigkeit aber auch als Grundstock für zuverlässigere Untersuchungen dienten. Der Grund für die auffallend große Zahl von Elementen mit ungefähr ganzzahligen Atommassen blieb freilich ungeklärt. In den 1850er-Jahren griff Stanislao Cannizzaro die von Amedeo Avogadro 1811 aufgestellte, aber bislang unbeachtet gebliebene Hypothese wieder auf, dass gleiche Volumina verschiedener Gase bei gleicher Temperatur und gleichem Druck die gleiche Anzahl von Teilchen enthalten. Diese Hypothese erlaubte es, die Massen gleicher (wenn auch unbekannter) Anzahlen von Atomen in gasförmigen Verbindungen systematisch miteinander zu vergleichen und so unter Bezug auf ein Referenzelement die relativen Atommassen der Elemente zu ermitteln. Mit ihrer Hilfe konnten auch zahlreiche bislang falsch angenommene Mengenverhältnisse in chemischen Verbindungen korrigiert werden. Auf dieser Grundlage veröffentlichte Cannizzaro zwischen 1858 und 1860 als Vorbereitung auf den Karlsruher Kongress (den auch Meyer und Mendelejew besuchten) zuverlässigere und konsistente Atommassen, die in den 1860er-Jahren schnelle Fortschritte bei der Entwicklung periodischer Systeme erlaubten. Vorläufer des Periodensystems Anfang des 19. Jahrhunderts wurde bereits nach Regelmäßigkeiten in den Beziehungen zwischen den Elementen gesucht. Hindernisse waren dabei unter anderem die Unsicherheiten in den Atommassen und der Umstand, dass zahlreiche Elemente noch gar nicht bekannt waren. Döbereiner stellte erstmals einen Zusammenhang zwischen der Atommasse und den chemischen Eigenschaften einzelner Elemente fest. Im Jahr 1824 veröffentlichte Falckner ein System natürlicher Elementfamilien. Gmelin erstellte 1843 eine tabellarische Sortierung der Elemente. Weitere Pioniere, die auch Mendelejew kannte, waren Pettenkofer (1850), Odling (1857), Dumas (1858) und Lenßen (1857). Chancourtois entwickelte 1862 eine dreidimensionale Darstellung, wobei er die Elemente nach steigenden Atommassen schraubenförmig auf einem Zylinder anordnete. Auch von Hinrichs (1864), Baumhauer (1867) und Quaglio (1871) wurden Versuche unternommen, das System spiralförmig darzustellen. 1863/64 stellte Newlands eine nach Atommassen geordnete Tabelle der Elemente in Achtergruppen (Gesetz der Oktaven) auf. Johann Wolfgang Döbereiner (Triadensystem) Johann Wolfgang Döbereiner unternahm den ersten Versuch, Elemente nach erkannten Gesetzmäßigkeiten zu ordnen. Im Jahre 1817 bestimmte er die Molekülmasse von Strontiumoxid und fand (in dem von ihm benutzten Massensystem) den Wert 50. Döbereiner bemerkte, dass dies genau das arithmetische Mittel aus den Massen von Calciumoxid (27,5) und Bariumoxid (72,5) war: Hieraus schöpfte er anfänglich den Verdacht, Strontium bestünde aus Barium und Calcium, was er aber in entsprechenden Versuchen hierzu nicht bestätigt fand. Aus moderner Sicht sind Calcium, Strontium und Barium drei im Periodensystem untereinander stehende Elemente aus der Gruppe der Erdalkalimetalle, was ihre identischen Wertigkeiten und daher ihre Ähnlichkeit bei der Bildung von Oxiden begründet. Da in diesem Bereich des Periodensystems die Periodenlänge 18 Elemente beträgt (eine Periode umfasst hier acht Hauptgruppen und zehn Nebengruppen), weisen sie untereinander dieselbe Differenz der Ordnungszahlen auf (18, Döbereiner noch unbekannt): und daher auch ungefähr dieselbe Differenz der Atommassen (knapp 50 u). Leopold Gmelin bemerkte 1827 in seinem „Handbuch der theoretischen Chemie“ bezüglich der Atommassen „einige merkwürdige Verhältnisse, welche ohne Zweifel mit dem innersten Wesen der Stoffe zusammenhängen.“ Unter anderem wies er auf eine weitere Dreiergruppe hin, nämlich Lithium, Natrium und Kalium. Bildet man das arithmetische Mittel der Atommassen von Lithium und Kalium, „so erhält man ziemlich genau [die Atommasse] des Natriums, welches Metall auch in seinen chemischen Beziehungen zwischen die beiden genannten zu stehen kömmt.“ Döbereiner veröffentlichte 1829 einen ausführlicheren „Versuch zu einer Gruppirung der elementaren Stoffe nach ihrer Analogie“. Eine neu aufgefundene Triade enthielt mit Chlor und Iod sowie dem erst im vorhergehenden Jahr isolierten Brom „drei Salzbildner“. Der Vergleich unter Verwendung der von Berzelius bestimmten Atommassen ergab Eine weitere neu gefundene Triade umfasste Schwefel, Selen und Tellur, die sich alle „mit dem Wasserstoff zu eigenthümlichen Wasserstoffsäuren verbinden“: Bei seinen Ordnungsversuchen legte Döbereiner Wert darauf, dass die zu einer Triade vereinigten Elemente auch tatsächlich chemische Ähnlichkeit aufwiesen: „Der Umstand, dass das arithmetische Mittel der Atomgewichte des Sauerstoffs = 16,026 und des Kohlenstoffs = 12,256 das Atomengewicht des Stickstoffs = 14,138 ausdrückt, kann hier nicht in Betracht kommen, weil zwischen diesen drei Stoffen keine Analogie statt findet.“ Ebenso bestand er auf der besonderen Bedeutung der Zahl drei. Die untereinander sehr ähnlichen Elemente Eisen, Mangan, Nickel, Cobalt, Zink und Kupfer stellten ein Problem für ihn dar, denn „wie soll man sie ordnen, wenn die Dreiheit (Trias) als Princip der Gruppirung angenommen wird?“ Hatte Gmelin 1827 noch die damals bekannten 51 Elemente einzeln in einer V-förmigen Anordnung dargestellt, um ihre „Verwandtschaft und Verschiedenheit“ anschaulich aufzuzeigen, war er 1843 dazu übergegangen, die 55 bekannten Elemente „je nach ihren physischen und chemischen Verhältnissen“ in Gruppen von meist drei Elementen zusammenzufassen, die dann wiederum „nach ihren Ähnlichkeiten“ in einem nach ansteigender Elektropositivität gereihten V-förmigen Schema angeordnet waren. In einigen von Gmelins Gruppen lassen sich heutige Hauptgruppen wiedererkennen (R = Rhodium, heute Rh; L = Lithium, heute Li; G = Glycium, heute Beryllium Be). Ernst Lenßen konnte 1857 praktisch alle damals bekannten Elemente in 20 Triaden einteilen (war dabei aber bezüglich der chemischen Ähnlichkeit weniger streng als Döbereiner). Er stellte sogar Dreiergruppen von Triaden zu „Enneaden“ (Neunergruppen) zusammen, in denen die Atommassen der jeweils mittleren Triaden wiederum über die Mittelwerts-Regel zusammenhingen. Er sagte anhand seines Systems unter anderem die Atommassen der zwar schon entdeckten aber noch nicht isolierten Elemente Erbium und Terbium voraus, keine seiner Voraussagen war jedoch erfolgreich. Er versuchte auch, Zusammenhänge mit anderen physikalischen und chemischen Eigenschaften herzustellen. John A. R. Newlands (Gesetz der Oktaven) Die bisherigen Ordnungsversuche waren größtenteils darauf beschränkt, isolierte Gruppen mit jeweils untereinander ähnlichen Elementen ausfindig zu machen. John Alexander Reina Newlands veröffentlichte 1864 eine Tabelle mit 24 Elementen (und einer Leerstelle für ein vermeintlich noch unentdecktes Element), in der die Elemente zwar wie üblich in der Reihenfolge wachsender Atommassen angeordnet waren, in der er aber nicht auf Muster in den Atommassen-Unterschieden, sondern auf sich wiederholende Unterschiede in den Platznummern ähnlicher Elemente hinwies. Dies war das erste periodische System, also eine Zusammenstellung von Elementen, die zeigt, dass sich die Eigenschaften der Elemente nach gewissen gleichmäßigen Intervallen wiederholen. Newlands war auch der erste, der die aus der Atommasse folgende Reihenfolge der Elemente Iod und Tellur vertauschte und der aus den chemischen Eigenschaften folgenden Anordnung den Vorzug gab. Im Jahr 1865 entwickelte Newlands ein weiteres System, das nun 65 Elemente umfasste. Es sollte zeigen, dass sich die chemischen Eigenschaften in jeder achten Position wiederholen, was er mit den Oktaven aus der Musik verglich. (Da die Edelgase noch nicht entdeckt waren, betrug die Periodenlänge in den ersten Perioden von Newlands Tabelle eigentlich sieben Elemente. Da er aber beide sich ähnelnde Elemente mitzählte, so wie man auch die Oktave in der Musik z. B. von einem C bis zum nächsten C inklusive zählt, ergibt sich eine Periodenlänge von 8.) Newlands nannte diese Beziehung der Elemente untereinander das „Gesetz der Oktaven“, womit zum ersten Mal das Wiederholungsmuster in den Elementeigenschaften als Naturgesetz betrachtet wurde. Auf die ersten beiden Perioden lässt sich das Gesetz der Oktaven perfekt anwenden, weil dann aber (wie man heute weiß) die Perioden länger werden, war das Gesetz in den darauffolgenden Perioden weniger erfolgreich. Auf Newlands geht die erste zutreffende Vorhersage eines noch unentdeckten Elements zurück: Aufgrund einer Lücke in einer seiner Tabellen sagte er 1864 die Existenz eines Elements mit der Atommasse 73 zwischen Silizium und Zinn voraus. Dem entspricht in der angekündigten Position und mit der Atommasse 72,61 das 1886 entdeckte Germanium. Seine Vorhersagen noch unbekannter Elemente zwischen Rhodium und Iridium sowie zwischen Palladium und Platin trafen jedoch nicht ein. Die Entdeckung der Periodizität wird gelegentlich auch Alexandre-Emile Béguyer de Chancourtois zugeschrieben, der 1862 die Elemente nach steigender Atommasse entlang einer dreidimensionalen Schraube so anordnete, dass eine Schraubenwindung 16 Einheiten entsprach, Elemente im Abstand von 16 Einheiten also senkrecht übereinander zu stehen kamen. Sein System blieb jedoch weitgehend unbeachtet und er entwickelte es nicht weiter. Dmitri Mendelejew und Lothar Meyer (Periodensystem) Das moderne Periodensystem wurde von Lothar Meyer und Dmitri Iwanowitsch Mendelejew entwickelt. Beide publizierten ihre Ergebnisse im Jahre 1869 und erhielten für ihre Arbeit 1882 gemeinsam die Davy-Medaille der britischen Royal Society. Mendelejew wird häufiger als Meyer als Begründer des heutigen Periodensystems genannt. Zum einen, weil Meyers Periodensystem ein paar Monate später veröffentlicht wurde, zum anderen, weil Mendelejew Voraussagen zu den Eigenschaften der noch nicht entdeckten Elemente machte. In Russland wird auch heute noch das Periodensystem als Tabliza Mendelejewa („Mendelejews Tabelle“) bezeichnet. Weder Mendelejew noch Meyer kannten die Arbeiten des jeweils Anderen zum Periodensystem. Die Arbeiten von Béguyer de Chancourtois von 1862, Newlands von 1863/64 oder Hinrichs von 1866/67 waren Mendelejew auch nicht bekannt. Lothar Meyer In seinem 1864 erschienenen Lehrbuch „Die modernen Theorien der Chemie“ präsentierte Meyer bereits eine 28 Elemente enthaltende und nach steigenden Atommassen geordnete Tabelle. Die Unterteilung in Zeilen war so vorgenommen, dass jede Spalte (den heutigen Hauptgruppen entsprechend) Elemente derselben Wertigkeit enthielt und die Wertigkeit sich von einer Spalte zur nächsten um eine Einheit änderte. Meyer wies darauf hin, dass die Differenz der Atommassen zwischen dem ersten und zweiten Element jeder Spalte ungefähr 16 betrug, die nächsten beiden Differenzen um etwa 46 schwankten und die letzte Differenz stets etwa 87 bis 90 betrug. Er äußerte die Vermutung, dies könne – ähnlich wie bei homologen Reihen von Molekülen – auf den systematischen Aufbau der Atome aus kleineren Bestandteilen hinweisen. Die Elemente Tellur und Iod hatte Meyer, ihren chemischen Eigenschaften entsprechend, gegenüber der aus den Atommassen folgenden Reihenfolge vertauscht. Meyer hatte einige Lücken in der Tabelle lassen müssen, darunter eine zwischen Silizium und Zinn, in der gemäß seinem Differenzenschema ein Element der Atommasse 73 zu erwarten war. Das fehlende Element war das 1886 entdeckte Germanium mit der Atommasse 72,61. Eine weitere, nicht nach Atommassen geordnete Tabelle enthielt 22 Elemente, die Meyer nicht in seinem Schema untergebracht hatte – sie entsprechen den heutigen Übergangsmetallen. Im Jahre 1870 (eingereicht im Dezember 1869, ein knappes Jahr nach Mendelejews erster Publikation eines Periodensystems) veröffentlichte Meyer eine erweiterte Version seiner Tabelle, in der es ihm unter Verwendung aktualisierter Atommassen gelungen war, „sämmtliche bis jetzt hinreichend bekannten Elemente demselben Schema einzuordnen“. Die Perioden verliefen in diesem System senkrecht, die Gruppen waagerecht. Die (noch nicht so genannten) Übergangsmetalle waren jetzt Teil der Tabelle. Sie waren ähnlich wie bei einem Kurzperiodensystem in Perioden angeordnet, die sich mit den (noch nicht so genannten) Hauptgruppen abwechselten. Um die Variation der Eigenschaften entlang der Perioden zu illustrieren, fügte Meyer ein Diagramm an, das die periodisch variierenden Atomvolumina in Abhängigkeit von der Atommasse zeigt (ähnlich dem Diagramm im Abschnitt Atomradius). Diese Veranschaulichung trug erheblich zur Akzeptanz des Periodensystems bei. Meyer erörterte verschiedene mit den Atomvolumina parallel laufende und damit ebenfalls periodische physikalische Eigenschaften der Atome, wie etwa die Dichten, Flüchtigkeit, Dehnbarkeit, Sprödigkeit oder die spezifische Wärme. Dmitri Mendelejew Mit dem Periodensystem in seiner heutigen Form ist hauptsächlich Mendelejews Name verbunden. Sein Periodensystem war vollständiger als andere Systeme jener Zeit, er bewarb und verteidigte sein System engagiert, arbeitete es über Jahrzehnte hinweg immer weiter aus und nutzte es für weit umfangreichere und detailliertere Vorhersagen als andere Ersteller periodischer Systeme. Auf der Suche nach einem Gliederungsschema für sein Chemielehrbuch erstellte Mendelejew am einen ersten Entwurf seiner Version des Periodensystems. Noch im März veröffentlichte er sein System mit einer ausführlichen Erläuterung in der Zeitschrift der Russischen Chemischen Gesellschaft. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass die meisten Eigenschaften der Elemente nicht als eindeutiges Ordnungsprinzip geeignet sind. So können beispielsweise die meisten Elemente verschiedene Wertigkeiten annehmen. Die meisten Eigenschaften der freien Elemente hängen von der jeweils vorliegenden Modifikation ab (Graphit und Diamant etwa sind Modifikationen des Kohlenstoffs mit deutlich unterschiedlichen Eigenschaften), und so weiter. Die einzige eindeutige und zahlenmäßig erfassbare Eigenschaft eines Elements, die sowohl in allen Modifikationen des freien Elements als auch in allen seinen Verbindungen erhalten bleibe, sei dessen Atommasse (die Ordnungszahl als eine weitere solche Eigenschaft war Mendelejew noch unbekannt). Er ordnete die Elemente der bereits als zusammengehörig bekannten „natürlichen Gruppen“ (wie etwa der Halogene, der Erdalkalimetalle, der Stickstoffgruppe usw.) nach ihren Atommassen und fand, dass diese Anordnung ohne weiteres Zutun „der unter den Elementen herrschenden natürlichen Aehnlichkeit“ entsprach. Er stellte fest: „Die nach der Größe ihres Atomgewichtes angeordneten Elemente zeigen eine deutliche Periodicität ihrer Eigenschaften,“ und versuchte, auf dieser Grundlage auch die übrigen Elemente gemäß ihrem chemischen Verhalten in das Schema einzupassen. In diesem Artikel sagte Mendelejew bereits aufgrund von Lücken, die in seinem System geblieben waren, die Existenz von zwei neuen Elementen mit Atommassen zwischen 65 und 75 voraus, die dem Aluminium und Silicium ähneln sollten. Auch Mendelejew hatte wie einige seiner Vorgänger Tellur und Iod gegenüber der aus den Atommassen folgenden Reihenfolge vertauscht. Seine Vorhersage, dass die Atommasse des Tellur korrigiert werden müsse, weil sie gemäß seinem System nicht 128 sein könne und vielmehr zwischen 123 und 126 liegen müsse, traf jedoch nicht ein – hier liegt tatsächlich eine Unregelmäßigkeit der Atommassen vor. Noch im selben Jahr erschienen auch zwei kurze deutschsprachige Beschreibungen des neuen Systems. Im Jahr 1871 erschien ein umfangreicher Artikel, in dem Mendelejew zwei weiterentwickelte Varianten seines Periodensystems vorstellte. Eine dieser Varianten war das erste Kurzperiodensystem. In diesem Artikel demonstrierte er unter anderem, wie sich anhand des Periodensystems die Atommasse eines Elements ermitteln oder korrigieren ließ, wenn sein chemisches Verhalten bekannt war. Der Artikel enthält auch die drei bekanntesten Vorhersagen über die Eigenschaften noch unbekannter Elemente, deren Existenz Mendelejew aus verbliebenen Lücken in seinem Periodensystem erschloss. Durch geschickte Interpolation zwischen den physikalischen und chemischen Eigenschaften der Nachbarelemente gelang es ihm, zahlreiche Eigenschaften der noch unbekannten Elemente zutreffend vorherzusagen. Mendelejew benannte die unbekannten Elemente nach dem in seinem Kurzperiodensystem jeweils über der betreffenden Lücke stehenden Element unter Anfügung der Vorsilbe Eka (sanskr. „eins“). Ekaaluminium wurde 1875 von Paul Émile Lecoq de Boisbaudran entdeckt und nach Frankreich, dem Land der Entdeckung, Gallium genannt. Ekabor wurde 1879 von Lars Fredrik Nilson entdeckt und – nach Skandinavien – mit dem Namen Scandium versehen. Ekasilizium wurde 1886 von Clemens Winkler entdeckt und erhielt nach dem Entdeckungsland Deutschland die Bezeichnung Germanium. Nicht alle von Mendelejews Vorhersagen waren derart erfolgreich. Von seinen Vorhersagen neuer Elemente traf insgesamt nur etwa die Hälfte zu. Das 1894 entdeckte Edelgas Argon schien eine erhebliche Bedrohung für die Allgemeingültigkeit von Mendelejews Periodensystem darzustellen, da es sich nicht in das bestehende System einfügen ließ. Als jedoch in rascher Folge weitere Edelgase entdeckt wurden (1895 Helium, 1898 Neon, Krypton und Xenon, 1900 Radon) wurde offenkundig, dass das Periodensystem lediglich um eine neue Elementgruppe zwischen den Halogenen und den Alkalimetallen erweitert werden musste, um sie alle aufnehmen zu können. Mendelejew sprach von einem „kritischen Test“, den sein Periodensystem „großartig überlebt“ habe. Mendelejew veröffentlichte im Laufe der Jahre etwa dreißig Versionen des Periodensystems, weitere dreißig liegen als Manuskript vor. Die älteste erhaltene Schautafel des Periodensystems stammt aus dem Zeitraum zwischen 1879 und 1886 und befindet sich in der University of St. Andrews. Die Farben geben die heutige Zuordnung der Elemente an:, , , , ,, , , , , . Das vermeintliche Element Didymium (Di) stellte sich später als eine Mischung aus den Seltenen Erden Praseodym und Neodym heraus. Um das rechts gezeigte moderne Periodensystem von Mendelejews Anordnung in die heute übliche Anordnung zu überführen, sind die beiden letzten Zeilen, um ein Kästchen nach rechts verschoben, oben anzufügen und das ganze System an der von links oben nach rechts unten laufenden Diagonalen zu spiegeln. Im gezeigten modernen Periodensystem sind die Atommassen der klareren Darstellung wegen auf ganze Zahlen gerundet. Henri Becquerel (Radioaktivität) Henri Becquerel entdeckte 1896, dass von Uran eine bislang unbekannte Strahlung ausging. Das Uranmineral Pechblende sandte deutlich mehr Strahlung aus, als es dem Gehalt an Uran entsprochen hätte. Marie und Pierre Curie entdeckten 1898 in der Pechblende die neuen und radioaktiven Elemente Polonium und Radium. Das Element Thorium erkannten sie ebenfalls als radioaktiv. Ernest Rutherford (Atomkern) Joseph John Thomson stellte 1897 fest, dass die in Gasentladungsröhren beobachteten Kathodenstrahlen leichte materielle Teilchen und keine Ätherwellen waren. Thomson konnte das Verhältnis e/m von Ladung und Masse der „Elektronen“ genannten Teilchen bestimmen und stellte fest, dass es unabhängig von Kathodenmaterial, Füllgas und sonstigen Umständen war, dass also die Elektronen offenbar universelle Bestandteile der Atome waren. Thomson erstellte 1904 das Plumpudding-Modell, gemäß dem die Elektronen in eine gleichmäßig positiv geladene Kugel eingebettet waren. Bei der Untersuchung radioaktiver Substanzen konnten verschiedene Arten von Strahlung unterschieden werden: Ablenkung im Magnetfeld zeigte, dass die durchdringenden Beta-Strahlen negativ geladen waren; Becquerel identifizierte sie schließlich als Elektronen. Ernest Rutherford und Thomas Royds stellten 1908 fest, dass es sich bei der weniger durchdringenden Alpha-Strahlung um zweifach positiv geladene Heliumionen handelte. Rutherfords Streuexperimente, bei denen er Metallfolien mit Alphateilchen beschoss, zeigten 1911, dass die positiven Ladungen der Atome in einem kleinen Kern konzentriert sind und die Elektronen sich außerhalb des Kerns aufhalten – ihre Anordnung und Anzahl waren jedoch noch unbekannt. Henry Moseley (Ordnungszahl) Die Analyse seiner Streuexperimente hatte Rutherford 1911 zur Feststellung geführt, dass die positive Ladung der Atomkerne etwa der halben Atommasse entspreche: . Antonius van den Broek wies darauf hin, dass die Atommasse von einem Element zum nächsten um zwei Einheiten zunehme, dass also gemäß Rutherfords Formel von einem Element zum nächsten die Anzahl der Ladungen im Kern um eins zunehme. Die Anzahl der möglichen Elemente sei daher gleich der Anzahl der möglichen Kernladungen und jeder möglichen Kernladung entspreche ein mögliches Element. Die Kernladungszahl bestimme demnach auch die Position jedes Elements im Periodensystem. (Die Zunahme der Atommassen um jeweils zwei Einheiten trifft nur in grober Näherung zu; van den Broek war hier von seiner Vermutung beeinflusst, alle Atome seien aus halben Alphateilchen der Massenzahl 2 aufgebaut.) Henry Moseley bestätigte, dass die Kernladungszahl (auch: Ordnungszahl) ein geeigneteres Ordnungsprinzip für die Elemente ist als die Atommasse. Er nutzte den Umstand, dass mit Elektronen beschossene Materialien neben dem Bremsspektrum (Röntgen 1895) auch Röntgenstrahlung mit einer für das Material charakteristischen Wellenlänge abgeben (Barkla, ca. 1906) und dass die Wellenlänge dieser Strahlung mittels Beugung an Kristallen bestimmt werden kann (von Laue 1912). Moseley bestimmte die Wellenlängen der charakteristischen Strahlung verschiedener Elemente und stellte fest, dass die Frequenzen dieser Strahlungen proportional zum Quadrat einer ganzen Zahl waren, die die Position des betreffenden Elements im Periodensystem beschrieb (Moseleysches Gesetz). Er erkannte diese Zahl als die Anzahl der Ladungen im Atomkern. Es war damit möglich, die Ordnungszahl eines Elements experimentell einfach zu bestimmen. Moseley wies nach, dass viele der etwa 70 angeblich neu entdeckten Elemente, die um die 16 zu füllenden Lücken in Mendelejews Periodensystems konkurrierten, nicht existieren konnten, weil im Raster der Ordnungszahlen kein Platz dafür war. Die gut zehn „Seltenen Erden“ (ihre genaue Anzahl war damals nicht bekannt) sind chemisch nur schwer voneinander zu trennen, weil sie einander sehr ähnlich sind. Mendelejew hatte keinen Platz für sie in seinem Schema gefunden. Moseleys Ordnungszahl wies ihnen eindeutig die Plätze 57 bis 71 zu. Die Pioniere des Periodensystems hatten die gelegentlichen Masseninversionen (wie etwa zwischen Iod und Tellur) noch durch Vertauschen der betreffenden Elemente im Atommassen-Schema korrigieren müssen, ohne jedoch eine Begründung dafür geben zu können, außer dass sie so besser ins Schema der chemischen Ähnlichkeiten passten. Moseleys Ordnungszahl bestätigte die korrekte Reihenfolge der vertauschten Elemente, die Atommassen waren hier irreführend gewesen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs meldete Moseley sich zum Kriegsdienst und fiel in der Schlacht von Gallipoli. Moseleys Nachfolger vervollständigten die systematischen Messungen und stellten fest, dass das Uran (das bis dahin schwerste bekannte Element) die Ordnungszahl 92 hat, dass also in der Elementreihe von Wasserstoff bis Uran genau 92 Elemente existieren. Man erkannte Lücken bei den Ordnungszahlen 43, 61, 72, 75, 85, 87 und 91, die in den folgenden Jahrzehnten mit den betreffenden Neuentdeckungen gefüllt werden konnten. Frederick Soddy (Isotope) Ernest Rutherford und Frederick Soddy stellten 1902 fest, dass die radioaktiven Elemente nicht nur Strahlung abgaben, sondern aus instabilen Atomen bestanden, die sich spontan unter Abgabe von Alpha-, Beta- oder Gamma-Strahlung in neue Elemente umwandelten (Transmutation) – in offenkundigem Widerspruch zur bisher angenommenen Unteilbarkeit und Unwandelbarkeit der Atome. Beginnend mit Actinium (Debierne 1899) wurden nach Polonium und Radon rasch zahlreiche weitere radioaktive Substanzen entdeckt (1912 war ihre Zahl auf etwa 30 angewachsen). Die neuen Substanzen wurden zunächst als eigenständige Elemente angesehen und es schien, als könne das Periodensystem nicht ihnen allen Platz bieten. Es stellte sich jedoch heraus, dass sie praktisch durchweg chemisch nicht von bereits bekannten Elementen zu unterscheiden waren und als solche bereits einen Platz im Periodensystem hatten. So ließ sich etwa ein zunächst „Radium D“ genanntes Zerfallsprodukt nicht von Blei unterscheiden. Andererseits zeigten genaue Bestimmungen der Atommassen, dass Bleiproben aus unterschiedlichen Quellen verschiedene Atommassen haben konnten. Theodore William Richards fand für Blei aus Pechblende eine Atommasse von 206,4 und für Blei aus Thorit 208,4. Aus mehreren ähnlichen Fällen zog Soddy 1911 den Schluss, dass ein und dasselbe Element eine Mischung aus verschiedenen Atommassen sein konnte und prägte 1913 für Atome mit gleicher Kernladungszahl aber unterschiedlicher Massenzahl den Begriff „Isotope“. Soddy und Kasimir Fajans stellten die Verschiebungssätze auf, gemäß welchen ein Atom eines gegebenen Elements durch Aussendung eines Alpha-Teilchens zwei Kernladungen einbüßt und in dasjenige Element übergeht, das im Periodensystem zwei Plätze weiter links steht, während es bei Aussendung eines Beta-Teilchens um einen Platz weiter nach rechts wandert. Für die Elemente zwischen Blei und Uran war damit einleuchtend, warum es sie mit unterschiedlichen Atommassen geben konnte. Ein Thorium-Atom (Ordnungszahl 90) kann beispielsweise über einen Alphazerfall aus Uran-235 (Ordnungszahl 92) entstanden sein und hat dann die Masse 231. Es kann aber auch über einen Betazerfall aus Actinium-230 (Ordnungszahl 89) entstanden sein und hat dann die Masse 230. Soddy konnte damit für Blei aus Uranerzen die Massenzahl 206 und für Blei aus Thoriumerzen die Massenzahl 208 vorhersagen, noch bevor Richards die Ergebnisse seiner Messungen vorlegte. In den 1920er-Jahren stürzte die große Anzahl der neu entdeckten Isotope das Periodensystem in eine Krise, da es schien, als müsse man anstelle der Elemente jetzt die wesentlich größere Zahl von Isotopen mit ihren unterschiedlichen Atommassen in eine systematische Ordnung bringen. Fritz Paneth und George de Hevesy zeigten jedoch, dass die chemischen Eigenschaften der Isotope eines Elements praktisch identisch waren, dass es also gerechtfertigt war, sie gemäß ihrer gemeinsamen Ordnungszahl (als neuem Ordnungskriterium anstelle der Atommasse) als dasselbe Element zu betrachten und so das Periodensystem beizubehalten. Francis William Aston entwickelte 1919 den ersten Massenspektrographen und stellte fest, dass auch die übrigen, nicht aus Zerfallsreihen stammenden Elemente ein Gemisch verschiedener Isotope sein konnten. Damit war geklärt, warum die (mittleren) Atommassen einiger Elemente wie etwa Chlor so deutlich von der Ganzzahligkeit abwichen. Und dass beispielsweise Iod zwar eine höhere Ordnungszahl, aber eine kleinere Atommasse hat als Tellur, war damit als Konsequenz der jeweiligen irdischen Isotopenmischungen der beiden Elemente verständlich. Niels Bohr (Aufbauprinzip) Wenn ein angeregtes Atom die Anregungsenergie wieder abstrahlt, hat die ausgesandte Strahlung in der Regel eine genau definierte, von der Art des Atoms und dem angeregten Zustand abhängige Wellenlänge. Rutherfords Atommodell, in dem die Elektronen sich um einen zentralen Kern bewegten, konnte verständlich machen, warum es überhaupt zu einer Abstrahlung kommt, da die Elektronen als bewegte Ladungen elektromagnetische Wellen aussenden mussten. Es konnte jedoch nicht erklären, warum nur bestimmte Wellenlängen abgestrahlt wurden. Außerdem hätten die in beständiger Bewegung befindlichen Elektronen ständig Energie abstrahlen und wegen dieses kontinuierlichen Energieverlustes in kürzester Frist in den Kern stürzen müssen. Niels Bohr griff Max Plancks Entdeckung auf, dass die Energieverteilung der Schwarzkörperstrahlung nur erklärt werden könne unter der Annahme, dass die Energieabstrahlung nicht kontinuierlich, sondern in Form diskreter „Energiepakete“ vonstattengeht. Er erstellte 1913 ein Atommodell des Wasserstoffs, bei dem ein Elektron den Kern nicht auf einer beliebigen, sondern auf einer von mehreren erlaubten Bahnen umkreist, wobei es – so ein nicht weiter begründetes Postulat Bohrs – keine Energie abstrahlt. Auf den höheren Bahnen ist das Elektron energiereicher. Fällt es auf eine tiefere Bahn zurück, gibt es die Energiedifferenz in Form von Strahlung ab. Die Frequenz dieser Strahlung ist nicht (wie gemäß der Maxwellschen Elektrodynamik zu erwarten gewesen wäre) die Oszillationsfrequenz des umlaufenden Elektrons, sondern nach einem weiteren Postulat Bohrs gegeben durch die Plancksche Bedingung mit der Planck-Konstanten . Es gelang Bohr, die Bedingung für die erlaubten Bahnen so zu formulieren, dass die Energiedifferenzen zwischen je zwei Bahnen gerade den beobachteten Frequenzen der Spektrallinien im Spektrum des Wasserstoffs entsprachen. Das Bohrsche Atommodell konnte somit erfolgreich das Wasserstoffspektrum beschreiben, es lieferte ebenfalls gute Ergebnisse für die Spektrallinien anderer Atome mit nur einem Elektron (H, He+, Li++ usw.). Bohr versuchte, auch die Elektronenkonfigurationen von Atomen mit mehreren Elektronen zu beschreiben, indem er die Elektronen auf die verschiedenen Bahnen seines Atommodells verteilte. Sein „Aufbauprinzip“ nahm an, dass die Elektronenkonfiguration eines Elements aus der Konfiguration des vorhergehenden Elements durch Hinzufügen eines weiteren Elektrons (meistens auf der äußersten Bahn) abgeleitet werden könne. War eine Bahn (in heutiger Ausdrucksweise eine „Schale“) voll, begann das Auffüllen der nächsten Bahn. Bohr konnte aus seinem Modell jedoch nicht ableiten, wie viele Elektronen eine Bahn aufnehmen konnte und verteilte die Elektronen, wie es von chemischen und spektroskopischen Gesichtspunkten nahegelegt wurde. Irving Langmuir (Valenzelektronen-Oktett) Auf der Grundlage der mittlerweile angesammelten Fülle von Einzelfakten über das chemische und kristallographische Verhalten der Substanzen formulierte Gilbert Newton Lewis 1916 die Oktett-Theorie der chemischen Bindung. Gemäß dieser Theorie streben die Atome stets ein Oktett von Valenzelektronen als besonders stabile Konfiguration an und können im Fall nicht-ionischer Bindungen diesen Zustand erreichen, indem sie mit anderen Atomen eine chemische Bindung eingehen und mit den Valenzelektronen dieser anderen Atome ihr eigenes Oktett komplettieren. Eine solche durch gemeinsam genutzte Elektronen vermittelte Bindung nannte Lewis eine kovalente Bindung. Er dachte sich die Valenzelektronen an den acht Ecken eines den Kern umgebenden Würfels angeordnet. Irving Langmuir ordnete die Oktette in Schalen an, deren Durchmesser den Bahnen im Bohrschen Atommodell entsprachen. Er konnte anhand der Oktett-Regel das individuelle Verhalten der chemischen Elemente erklären: Die Edelgase haben bereits ein vollständiges Valenzelektronen-Oktett und sind nicht geneigt, chemische Bindungen einzugehen. Elemente mit einem oder wenigen Elektronen in der Valenzschale tendieren dazu, diese Elektronen abzugeben. Elemente, denen ein oder einige Elektronen zur Vervollständigung eines Oktetts fehlen, streben danach, die fehlende Anzahl von Elektronen aufzunehmen. Langmuir konnte sogar die unterschiedlichen Wertigkeiten der Elemente erklären, also ihre Neigung, sich jeweils mit einer bestimmten Anzahl der jeweiligen Partneratome zu verbinden (Edward Frankland hatte das Konzept 1852 eingeführt). Nach Langmuir ist die Wertigkeit die Anzahl der zur Vervollständigung eines Oktetts aufgenommenen oder abgegebenen Elektronen. So nimmt Chlor ein Elektron auf, ist also einwertig und verbindet sich daher beispielsweise mit genau einem Wasserstoffatom. (Der heutige Begriff der Wertigkeit ist allgemeiner gehalten.) Auch die Natur der Isotope konnte von Langmuir verständlich gemacht werden: Da das chemische Verhalten von den Valenzelektronen bestimmt wird, haben alle Isotope eines Elements offenbar dieselbe Anzahl von Valenzelektronen und damit dasselbe für dieses Element charakteristische chemische Verhalten. Unterschiedliche Anzahlen von Partikeln im Kern hingegen haben zwar unterschiedliche Atommassen zur Folge, beeinflussen das chemische Verhalten aber nicht. Wolfgang Pauli (Ausschlussprinzip) Bohr griff 1921 das Problem der Hüllenkonfiguration von Mehrelektronen-Atomen wieder auf. Arnold Sommerfeld hatte das Bohrsche Atommodell um elliptische Bahnen erweitert und zu deren Beschreibung eine zweite Quantenzahl eingeführt. Bohr stellte eine neue Tabelle mit Elektronen-Konfigurationen auf, in der für jede Bahn-Nummer (in heutiger Sprechweise: jede Hauptquantenzahl) eine bestimmte Anzahl der Sommerfeldschen Quantenzahlen (in heutiger Sprechweise: der Nebenquantenzahlen) erlaubt war. Edmund Clifton Stoner erstellte 1924 eine Tabelle von Hüllenkonfigurationen, in der er eine dritte mittlerweile von Sommerfeld eingeführte Quantenzahl zum Abzählen der möglichen Elektronenzustände benutzte. Er konnte damit die Wertigkeiten der Elemente besser wiedergeben als Bohr. Es blieb jedoch nach wie vor das Problem, dass die Anzahl der zusätzlichen Spektrallinien, in die eine Spektrallinie sich aufspaltet, wenn das Atom in ein Magnetfeld gebracht wird, auf doppelt so viele mögliche Zustände der Elektronen schließen ließ, als bisher berücksichtigt worden waren. Wolfgang Pauli konnte Stoners Tabelle erklären, indem er eine vierte Quantenzahl (die „Spinquantenzahl“) einführte, die zwei verschiedene Werte annehmen kann und so die Anzahl möglicher Zustände verdoppelt, und indem er annahm, dass keine zwei Elektronen in der Atomhülle in allen vier Quantenzahlen übereinstimmen konnten (Paulisches Ausschließungsprinzip). Damit war die Begründung gefunden, warum die Hauptschalen jeweils 2, 8, 18, 32 usw. Elektronen aufnehmen können. Die von Friedrich Hund 1927 aufgestellte Hundsche Regel beschreibt die Reihenfolge, in der die einzelnen Orbitale einer Unterschale mit Elektronen gefüllt werden: Besitzen mehrere Orbitale dasselbe Energieniveau, werden sie zunächst mit einzelnen Elektronen (mit untereinander parallelen Spins) besetzt. Erst dann werden die Orbitale mit jeweils einem zweiten Elektron (gemäß dem Pauli-Prinzip mit entgegengesetztem Spin) belegt. Erwin Schrödinger (Wasserstoff-Problem) In den 1920er-Jahren wurde die Quantenmechanik entwickelt, beginnend mit de Broglie (1924), Heisenberg (1925) und Schrödinger (1926). Sie ersetzte die anschaulichen Elektronenbahnen des Bohrschen Atommodells durch abstrakte, mathematisch beschriebene „Orbitale“. Im Falle des einfachen Wasserstoffatoms lässt sich die quantenmechanische Schrödingergleichung exakt lösen. Für dieses so genannte „Wasserstoff-Problem“ gibt es nicht nur eine einzige Lösung, sondern einen ganzen Satz von Lösungsfunktionen, welche die verschiedenen möglichen Zustände des Elektrons beschreiben. Es handelt sich um einen Satz von diskreten, also einzeln abzählbaren mathematischen Funktionen, die daher durch „Kennziffern“ voneinander unterschieden werden können. Wie sich herausstellt, sind zur eindeutigen Kennzeichnung jedes Zustands genau vier solcher Kennziffern nötig, die sich mit den früher schon aus den Experimenten erschlossenen vier Quantenzahlen identifizieren lassen. Der Zusammenhang zwischen den ersten drei Quantenzahlen lässt sich aus der Schrödinger-Gleichung für das Wasserstoffatom ableiten: Die Hauptquantenzahl kann, mit 1 beginnend, jeden ganzzahligen Wert annehmen: Die Nebenquantenzahl kann in Abhängigkeit vom jeweils vorliegenden die folgenden ganzzahligen Werte annehmen: Die Magnetquantenzahl kann in Abhängigkeit vom jeweils vorliegenden die folgenden ganzzahligen Werte annehmen: Die Spinquantenzahl kann gemäß Paulis Forderung einen von zwei möglichen Werten annehmen: Damit liegt nun auch eine physikalisch-mathematische Begründung für die Anzahl möglicher Elektronenzustände bei gegebener Hauptquantenzahl vor, also für die Anzahl von Elektronen, die jede Hauptschale maximal aufnehmen kann. In der Hauptschale mit beispielsweise existieren 3 Unterschalen, die durch die Nebenquantenzahlen unterschieden werden: Die Unterschale mit enthält 1 Orbital mit . Die Unterschale mit enthält 3 Orbitale mit . Die Unterschale mit enthält 5 Orbitale mit . Insgesamt enthält diese Hauptschale also 9 Orbitale. Jedes Orbital kann zwei Elektronen mit aufnehmen, so dass die Hauptschale mit maximal 18 Elektronen enthalten kann. Summiert man die möglichen Anzahlen von Unterschalen und Orbitalen auf, stellt man fest, dass eine Hauptschale mit der Hauptquantenzahl insgesamt Elektronen aufnehmen kann, also für die bereits bekannten Elektronen. In Atomen mit mehreren Elektronen nehmen die Elektronen nicht die soeben beschriebenen Ein-Elektronen-Zustände des Wasserstoffatoms an, sondern Mehr-Elektronen-Zustände, für welche die eben beschriebenen Quantenzahlen streng genommen nicht mehr gültig sind. Sie weisen aber analoge Quantenzahlen auf, für die man dieselben Bezeichnungen verwendet. Glenn T. Seaborg (Transurane) Rutherford stellte 1919 fest, dass mit Alpha-Teilchen beschossener Stickstoff eine neue Art von Teilchen aussandte. Gemeinsam mit James Chadwick identifizierte er diese Teilchen als positiv geladene Wasserstoff-Kerne und nannte sie „Protonen“. Damit war die Quelle der positiven Ladung des Atomkerns identifiziert. Blackett und Harkins beobachteten 1925 in einer Nebelkammer, dass in solchen Fällen das Alpha-Teilchen verschluckt wurde, statt nur im Vorbeipassieren ein Proton aus dem Stickstoffkern zu schlagen. Daraus ließ sich schließen, dass gemäß der Gleichung aus dem Stickstoffatom ein Sauerstoffatom geworden war, das erste Beispiel einer künstlichen Elementumwandlung („Transmutation“). Wegen ihrer geringeren Ladung können Protonen die elektrische Abstoßung schwererer Kerne leichter überwinden als Alpha-Teilchen und eignen sich daher besser als Projektile in Beschuss-Experimenten, da sie diese Kerne leichter erreichen können. Da es aber keine natürlichen Quellen für Protonen mit der erforderlichen Energie gab, wurden Protonen-Beschleuniger entwickelt, teilweise als Linearbeschleuniger, insbesondere aber in Form des Zyklotrons (Lawrence und Livingston, 1931), was zahlreiche neue Transmutationen ermöglichte. Beryllium, Bor und Lithium gaben beim Beschuss mit Alpha-Teilchen eine bisher unbekannte, sehr durchdringende Strahlung ab, die Chadwick als ungeladene Teilchen mit der Masse eines Protons identifizierte. Dieses „Neutron“ erklärte, warum verschiedene Isotope eines Elements zwar dieselbe Kernladungszahl, aber verschiedene Massen besitzen konnten: Sie hatten unterschiedliche Anzahlen von Neutronen im Kern. Da es als ungeladenes Teilchen von den Kernen nicht abgestoßen wird, eignet sich das Neutron auch als Projektil in Beschuss-Experimenten. Im Zuge der Beschuss-Experimente gelang es, durch Transmutation neue, nicht natürlich vorkommende Isotope herzustellen (als erstes 1934 das Phosphor-Isotop mit der Massenzahl 30 durch Irène und Frédéric Joliot-Curie). Die künstlich erzeugten Isotope sind radioaktiv („künstliche Radioaktivität“) und fanden wegen ihrer gezielten Herstellbarkeit schnell Anwendung für wissenschaftliche und praktische Zwecke. Der Beschuss von Uranatomen mit Neutronen führte 1938 zur Entdeckung der Kernspaltung. In den durch Beschuss von Uran mit Neutronen erzeugten Produkten identifizierten Edwin Mattison McMillan und Philip Hauge Abelson 1940 das neue Element Neptunium. Mit der Ordnungszahl 93 war es das erste Transuran. Eine Arbeitsgruppe um Glenn T. Seaborg untersuchte das neue Element (es konnten in einem Zyklotron 45 Mikrogramm davon hergestellt werden) auf seine chemischen Eigenschaften. Es war zu erwarten, dass ein Beta-Zerfall des Isotops Neptunium-239 zur Bildung des Elements mit der Ordnungszahl 94 führen sollte. Gezielte Herstellung dieses Isotops durch Beschuss von Uran-238 mit Neutronen erlaubte Seaborg und Kollegen 1941 die Erzeugung des neuen Elements, Plutonium. {| style="float:left; text-align:center; margin:0 1em 1em 0;" cellpadding="3" cellspacing="1" | | I | II | III | IV | V | VI | VII | VIII | … |- | 5  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Rb |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Sr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Y |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Zr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Nb |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Mo |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Tc |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ru | … |- | 6  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Cs |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ba | S.E. |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Hf |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ta |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| W |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Re |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Os | … |- | 7  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Fr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ra |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ac |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Th |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pa |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| U |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| | … |- |colspan="10"| |- |colspan="3" style="text-align:right"| S.E. =  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| La |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ce |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Nd |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pm |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Sm | … |- |colspan="10"|   |- | 5  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Rb |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Sr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Y |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Zr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Nb |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Mo |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Tc |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ru | … |- | 6  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Cs |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ba | LAN. |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Hf |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ta |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| W |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Re |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Os | … |- | 7  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Fr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ra | ACT. |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Rf |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Db |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Sg |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Bh |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Hs | … |- |colspan="10"| |- |colspan="3" style="text-align:right"| LAN. =  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| La |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ce |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pr |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Nd |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pm |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Sm | … |- |colspan="3" style="text-align:right"| ACT. =  |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Ac |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Th |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pa |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| U |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Np |style="background:#F0F0F0; border: 1pt black solid"| Pu | … |} Bis dahin war etabliert, dass die Seltenen Erden („S.E.“ im nebenstehenden Periodensystem) einen Einschub in der sechsten Periode des Periodensystems darstellen, in der siebten Periode war die mögliche Existenz eines ähnlichen Einschubs jedoch noch nicht erkannt worden (obwohl Viatscheslaw Romanoff bereits 1934 die damals bekannten Actinoiden unter der Lathanoidenreihe einordnete) Francium, Radium und Actinium gehörten klar in die erste, zweite und dritte Gruppe der siebten Periode. Man ging davon aus, dass die darauffolgenden Elemente Thorium, Protactinium und Uran der vierten, fünften und sechsten Gruppe angehören müssten, im Periodensystem also jeweils unter den Übergangsmetallen Hafnium, Tantal und Wolfram zu stehen kämen. Einige Ähnlichkeiten mit diesen Gruppen wie etwa die Wertigkeit 4 des Thoriums oder die Wertigkeit 6 des Urans schienen die Einordnung zu bestätigen. Dieser Irrtum verzögerte den Forschungsfortschritt, denn bei der Identifizierung und Abtrennung neuer Elemente wurde oft ihre chemische Ähnlichkeit mit bekannten Elementen benutzt. Die neuen Substanzen wurden meist in zu geringen Mengen erzeugt, um sie isolieren zu können. Ließ man sie jedoch gemeinsam mit einem bekannten Element an einer chemischen Reaktion teilnehmen, deren Produkt man anschließend ausfällte, und fand sich die leicht messbare Radioaktivität im Niederschlag, dann war die chemische Ähnlichkeit mit dem bekannten Element gezeigt. (Marie und Pierre Curie hatten diese Technik genutzt, um das entdeckte Radium in einem Bariumchlorid-Niederschlag zu konzentrieren.) Verblieb die Radioaktivität jedoch in der Lösung, war die vermutete Ähnlichkeit widerlegt. Falsch angenommene chemische Ähnlichkeiten hatten unter anderem die Arbeit an Protactinium und Uran verzögert. Seaborg erkannte 1944, dass die neu erzeugten Transurane keine Übergangsmetalle waren, sondern zu einem Einschub in der siebten Periode gehören (den Actinoiden), der dem (jetzt Lanthanoide genannten) Einschub in der sechsten Periode entspricht. Seaborg und Mitarbeiter stellten 1944 das Element 96 (Curium) durch Beschuss von Plutonium-239 mit Helium-Ionen und kurz darauf Element 95 (Americium) durch Beschuss von Plutonium-239 mit Neutronen her. Der Beschuss von Americium-241 mit Heliumionen produzierte 1949 das Element 97 (Berkelium), es folgte Element 98 (Californium) durch Beschuss von Curium-242 mit Heliumionen. Mehrere Arbeitsgruppen identifizierten die Elemente 99 (Einsteinium) und 100 (Fermium) im Fallout des Kernwaffentests „Mike“ (1952). Mit immer größeren Beschleunigern konnten immer schwerere Atome als Projektile verwendet werden, so dass auch die Erzeugung immer schwererer Transurane gelang. Das bislang (Stand 2021) schwerste hergestellte Transuran ist Element 118 (Oganesson). Anhaltende Diskussionen zur Positionierung Auch heute noch gibt es Diskussionen um die Stellung mancher Elemente im Periodensystem. Einordnung der ersten Periode Aufgrund der Elektronenkonfiguration, nicht aber aufgrund der Elementeigenschaften, müsste Helium (Elektronenkonfiguration 1s2) in der zweiten Hauptgruppe, also im Periodensystem oberhalb von Beryllium eingeordnet werden. Helium besitzt nur zwei Elektronen, im Gegensatz zu den anderen Edelgasen mit acht Elektronen in der äußersten Schale. Da sich Helium aber chemisch wie ein Edelgas verhält, befindet es sich in der achten Hauptgruppe mit den anderen Edelgasen. Als die Edelgase um 1900 entdeckt wurden, erhielten sie die Zuordnung zur nullten Hauptgruppe, die heute nicht mehr existiert. Helium befand sich damals an der Spitze (d. h. in der ersten Periode) der nullten Hauptgruppe. Heute sind die Edelgase gemäß IUPAC in der achten Hauptgruppe positioniert. Wasserstoff lässt sich im Periodensystem im Vergleich zu Helium eindeutiger positionieren, denn er kann die für die erste Hauptgruppe typischen Oxidationszahlen 0 und +1 annehmen und kann wie das darunterliegende Lithium kovalente Bindungen eingehen und wird dadurch zu den Alkalimetallen gerechnet, auch wenn es das einzige gasförmige Alkalimetall ist und eine vergleichsweise hohe Elektronegativität aufweist. Wasserstoff bildet legierungsähnliche Metallhydride mit einigen Übergangsmetallen. Dennoch wird Wasserstoff aufgrund der nichtmetallischen chemischen Reaktivität gelegentlich in der siebten Hauptgruppe mit den Halogenen einsortiert. Daher wird Wasserstoff, wenn auch selten, in manchen Periodensystemen doppelt aufgeführt, in der ersten und siebten Hauptgruppe. Es wurde auch vorgeschlagen, Wasserstoff oberhalb des Kohlenstoffs einzusortieren, weil seine Elektronegativität, seine Elektronenaffinität und sein Ionisierungspotential eher dem Kohlenstoff entspricht, auch wenn es nur mit einem Elektron reagieren kann, im Gegensatz zu den Vertretern der Kohlenstoffgruppe (vierte Hauptgruppe), die mit vier Elektronen reagieren können. Um den abweichenden Eigenschaften des Wasserstoffs und des Heliums Rechnung zu tragen, werden beide in seltenen Fällen auch außerhalb des Periodensystems dargestellt. Lanthanoide und Actinoide Die Einordnung der Lanthanoide und Actinoide erfolgt relativ unterschiedlich im Vergleich zu Elementen anderer Perioden. Frühe Versuche reihten die Lanthanoide und Actinoide zwischen den Hauptgruppenelementen ein. Bohuslav Brauner sortierte die Lanthanoide und Actinoide 1902 unterhalb Zirkonium ein – diese Anordnung wurde in Anlehnung von mehreren Asteroiden in der gleichen Umlaufbahn als „Asteroid-Hypothese“ bezeichnet, die Brauner 1881 in einem Brief an Mendelejew beschrieb. Im Jahr 1922 ordnete Niels Bohr die Lanthanoide und Actinoide zwischen den s-Block und den d-Block ein. Von Glenn T. Seaborg wurde zwischen 1944 und 1949 ein Periodensystem entwickelt, das die Lanthanoide und Actinoide als Fußnoten unterhalb von Yttrium darstellt. Allerdings wurde auch kritisiert, dass eine solche Einteilung die Darstellung des Periodensystems auseinanderreißt. Scandium und Yttrium sind heute vergleichsweise festgesetzt, aber die in der ersten Nebengruppe darunter befindlichen Elemente variieren. Unterhalb von Yttrium befinden sich, je nach Darstellung, entweder die ersten Vertreter der Lanthanoide und Actinoide (Lanthan und Actinium, also in der Reihenfolge Sc-Y-La-Ac), seltener die letzten Vertreter der Lanthanoide und Actinoide (Lutetium und Lawrencium, also in der Reihenfolge Sc-Y-Lu-Lr) oder eine Lücke mit Fußnoten (also in der Reihenfolge Sc-Y-*-*). Diese drei Varianten richten sich nach der Diskussion, wo der f-Block beginnt und endet. In einer vierten Variante wird die dritte Gruppe unterbrochen und ein Actinoiden-Lanthanoiden-Zweig und ein Lutetium-Lawrencium-Zweig eingeschoben. Es gibt chemische und physikalische Argumente für die Variante mit Lawrencium und Lutetium unterhalb von Yttrium, aber diese Variante findet keine Mehrheit unter den Fachleuten zum Thema Periodensystem. Den meisten Chemikern ist diese Diskussion unbekannt. Die IUPAC hat 2015 eine Projektgruppe zur Anordnung der Lanthanoide und Actinoide eingerichtet. Im Januar publizierte die Projektgruppe einen einstweiligen Bericht. Darin formuliert sie drei desiderata: 1) Die Reihenfolge der Elemente soll ihrer Ordnungszahl folgen. 2) Der d-Block soll nicht zwei in hohem Maße ungleiche Teile aufgespalten werden. 3) Die Blöcke sollen in Übereinstimmung mit den darunterliegenden quantenmechanischen Anforderungen zwei, sechs, zehn und vierzehn Gruppen umfassen. Diese sind nur mit Sc-Y-Lu-Lr möglich. Periodensystem nach Entdeckern der Elemente Die Datierung der Entdeckung solcher chemischen Elemente, die bereits seit der Frühzeit oder Antike bekannt sind, ist nur ungenau und kann je nach Literaturquelle um mehrere Jahrhunderte schwanken. Sicherere Datierungen sind erst ab dem 18. Jahrhundert möglich. Bis dahin waren erst 15 Elemente als solche bekannt und beschrieben: 12 Metalle (Eisen, Kupfer, Blei, Bismut, Arsen, Zink, Zinn, Antimon, Platin, Silber, Quecksilber und Gold) und drei Nichtmetalle (Kohlenstoff, Schwefel und Phosphor). Die meisten Elemente wurden im 19. Jahrhundert entdeckt und wissenschaftlich beschrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren nur noch zehn der natürlichen Elemente unbekannt. Seither wurden vor allem schwer zugängliche, oftmals radioaktive Elemente dargestellt. Viele dieser Elemente kommen nicht in der Natur vor und sind das Produkt von künstlichen Kernverschmelzungsprozessen. Erst im Dezember 1994 wurden die beiden künstlichen Elemente Darmstadtium (Eka-Platin) und Roentgenium (Eka-Gold) hergestellt. Bis zu einer Festlegung der Elementnamen werden neue Elemente mit systematischen Elementnamen bezeichnet. Dieses Periodensystem gibt einen Überblick über die Entdecker bzw. Erzeuger der einzelnen Elemente durch Anklicken der Elementenkennung. Für die Elemente, für die kein Entdecker/Erzeuger bekannt ist, wird der aktuelle historische Wissensstand unter dem Übersichtsplan kurz wiedergegeben. 2019: Internationales Jahr des Periodensystems Die Vereinten Nationen (UN) haben 2019 zum „Internationalen Jahr des Periodensystems der chemischen Elemente“ (IYPT 2019) erklärt: Damit wollen sie weltweit das Bewusstsein dafür wecken, wie Chemie nachhaltige Entwicklung fördern sowie Lösungen für weltweite Herausforderungen bei Energie, Bildung, Landwirtschaft oder Gesundheit bieten kann. Es sollen so auch die jüngsten Entdeckungen und Benennungen vierer „superschwerer“ Elemente des Periodensystems mit den Ordnungszahlen 113 (Nihonium), 115 (Moscovium), 117 (Tenness) und 118 (Oganesson) bekannter gemacht werden. Die Widmung fällt zudem mit dem 150. Jahrestag der Entwicklung des Periodensystems zusammen. Veranstaltungen in Paris, Murcia und Tokio werden an das Ereignis erinnern. Künftige Erweiterungen des Periodensystems Experimente zur Erzeugung synthetischer Elemente werden fortgesetzt und werden voraussichtlich auch zur Erzeugung von Elementen mit Ordnungszahlen über 118 führen. Sofern diese sich in das bisherige Schema einfügen, wird in der achten Periode erstmals eine g-Unterschale (nämlich die der fünften Hauptschale) aufgefüllt. Da die g-Unterschale neun Orbitale enthält, die 18 Elektronen aufnehmen können, wird die achte Periode insgesamt fünfzig (2 · 52) Elemente umfassen: Acht Hauptgruppenelemente (Auffüllen der 8s- und der 8p-Unterschalen), zehn äußere Übergangselemente (Auffüllen der 7d-Unterschale), vierzehn innere Übergangselemente, bei denen die 6f-Unterschale aufgefüllt wird, und weitere achtzehn innere Übergangselemente, bei denen die 5g-Unterschale aufgefüllt wird. Analoges würde für die neunte Periode gelten. Möglicherweise werden die mit der Ordnungszahl zunehmenden relativistischen Effekte (siehe oben) jedoch die Periodizitäten immer mehr verschwimmen lassen. Sie beeinflussen das Verhalten der Elektronen und damit die chemischen Eigenschaften, so dass diese nicht mehr unbedingt der Position des Elements im Periodensystem entsprechen müssen. Dies deutet sich bereits bei den bekannten Elementen an: So sollten die Übergangsmetalle 104Rutherfordium und 105Dubnium in ihrem Verhalten den jeweils im Periodensystem darüberstehenden Übergangsmetallen Hafnium beziehungsweise Tantal ähneln. Experimente zeigen jedoch ein Verhalten, das eher den Actinoiden Plutonium beziehungsweise Protactinium ähnelt. Die darauf folgenden Elemente 106Seaborgium und 107Bohrium hingegen zeigen wieder das ihrer Position im Periodensystem entsprechende Verhalten. 114Flerovium sollte als Element der vierten Hauptgruppe dem Blei ähneln, scheint sich aber eher wie ein Edelmetall zu verhalten. Je schwerer die erzeugten Atome sind, umso kürzer ist im Allgemeinen ihre Lebensdauer. Theoretische Abschätzungen lassen erwarten, dass ab Ordnungszahlen von etwas über 170 die Lebensdauer der erzeugten Atome gegen Null geht, so dass gar nicht mehr von erzeugten Atomen gesprochen werden kann. Dies wäre, sofern zutreffend, die theoretische Obergrenze für den Umfang des Periodensystems. Andere Darstellungen des Periodensystems Langperiodensystem Die heutzutage meistens benutzte mittellange Form des Periodensystems (mit 18 Spalten und platzsparend ausgelagertem f-Block) wurde bereits detailliert erläutert. Verzichtet man auf das Auslagern des f-Blocks, der die Lanthanoide und Actinoide umfasst, erhält man die so genannte lange Form des Periodensystems mit 32 Spalten. In dieser Darstellung gibt es im Gegensatz zur mittellangen Form keine Unterbrechungen in der Abfolge der Ordnungszahlen. Ein erstes Langperiodensystem wurde 1905 von Alfred Werner vorgeschlagen. William B. Jensen empfahl das Langperiodensystem, da die in kürzeren Periodensystemen separat dargestellten Lanthanoide und Actinoide den Studenten als unwichtig und langweilig erscheinen würden. Trotz der lückenlosen Darstellung wird das Langperiodensystem wegen seines für den Buchdruck unhandlichen Formats selten verwendet. Ein über die Ordnungszahl 118 hinausgehendes Periodensystem befindet sich unter Erweitertes Periodensystem. Alternative Periodensysteme Die Form des Periodensystems von Dmitri Mendelejew hat sich durchgesetzt. Dennoch gab (und gibt) es weitere Vorschläge für alternative Ordnungen der Elemente nach ihren Eigenschaften. In den ersten hundert Jahren seit dem Entwurf Mendelejews von 1869 wurden schätzungsweise 700 Varianten des Periodensystems veröffentlicht. Neben vielen rechteckigen Varianten gab es auch kreis-, kugel-, würfel-, zylinder-, spiral-, pyramiden-, schichten-, blumen-, schleifen-, achteck- und dreieckförmige Periodensysteme. Die verschiedenen Formen dienen meistens der Hervorhebung bestimmter Eigenschaften. Die meisten Darstellungen sind zweidimensional. Die erste dreidimensionale Darstellung wurde bereits vor dem Periodensystem Mendelejews im Jahr 1862 von de Chancourtois veröffentlicht. Eine weitere dreidimensionale Darstellung aus mehreren Papierschleifen wurde 1925 von M. Courtines publiziert, und eine schichtenförmige wurde von A. N. Wrigley im Jahr 1949 erstellt. Paul-Antoine Giguère veröffentlichte 1965 ein aus mehreren Platten zusammengestelltes Periodensystem und Fernando Dufour eine baumförmige Darstellung im Jahr 1996. Das Periodensystem von Tim Stowe aus dem Jahr 1989 wurde einschließlich einer Farbdimension als vierdimensional beschrieben. Daneben gibt es eher chemisch und eher physikalisch orientierte Darstellungen des Periodensystems. Ein chemisch orientiertes Periodensystem wurde 2002 von Geoff Rayner-Canham für anorganische Chemiker veröffentlicht, bei dem Tendenzen und Muster sowie ungewöhnliche chemische Eigenschaften betont sind. Ein physikalisch orientiertes Periodensystem wurde 1928 von Charles Janet publiziert, mit einem stärkeren Fokus auf die Elektronenkonfiguration und Quantenmechanik, wie auch von Alper aus dem Jahr 2010. Letzteres wurde allerdings aufgrund der mangelnden Darstellung der Periodizität der Eigenschaften kritisiert. Zu den Mischformen gehört das Standardperiodensystem, das sowohl chemische als auch physikalische Eigenschaften wie Oxidationszahlen, elektrische und Wärmeleitfähigkeiten aufführt. Dessen Verbreitung wird der Ausgewogenheit und Praktikabilität der angezeigten Eigenschaften zugeschrieben. Kein alternatives Periodensystem, aber dennoch eine deutlich anders aussehende Darstellung ist das Kurzperiodensystem (siehe oben), bei dem Haupt- und Nebengruppen ineinander verschachtelt sind. Andere Klassifikationsmethoden richten sich nach dem natürlichen Vorkommen der Elemente in Mineralien (Goldschmidt-Klassifikation) oder nach der Kristallstruktur. Zitat Siehe auch Nukleosynthese Literatur Ekkehard Fluck, Klaus G. Heumann: Periodensystem der Elemente: physikalische Eigenschaften; [chemische, biologische und geologische Eigenschaften]. 5. Auflage, Wiley-VCH, Weinheim 2012, ISBN 978-3-527-33285-4. Periodensystem interaktiv! (CD-ROM für Windows und Mac OS X), Welsch & Partner, Tübingen. P. Kurzweil, P. Scheipers: Chemie. Vieweg + Teubner, Wiesbaden 2010, ISBN 978-3-8348-0341-2, Kapitel 3: Periodensystem der Elemente (PSE). N. N. Greenwood, A. Earnshaw: Chemistry of the Elements. 2nd ed., Elsevier, Oxford 2016, ISBN 978-0-7506-3365-9, Chapter 2: Chemical Periodicity and the Periodic Table. K. Seubert (Hrsg.): Das natürliche System der chemischen Elemente – Abhandlungen von Lothar Meyer (1864–1869) und D. Mendelejeff (1869–1871). Engelmann, Leipzig 1895 (Digitalisat). Stephen G. Brush: The reception of Mendeleev's Periodic Law in America and Britain. In: Isis. Band 87, 1996, S. 595–628. Jan W. van Spronsen: The Periodic System of Chemical Elements. A History of the First Hundred Years. Elsevier, Amsterdam, London und New York 1969, ISBN 978-0-444-40776-4. Masanori Kaji, Helge Kragh, Gábor Palló (Hrsg.): Early responses to the periodic system. Oxford University Press, 2015, ISBN 978-0-19-020007-7. Eric Scerri: The Periodic Table. Its Story and Its Significance. Oxford University Press, New York 2007, ISBN 978-0-19-530573-9. Weblinks Spektrum der Wissenschaft/Gesellschaft Deutscher Chemiker: Elemente, 150 Jahre Periodensystem, 2019 (PDF; 3,2 MB) webelements – Informationen zu den Elementen (englisch) Periodic Table (englisch), von Theodore Gray PDF-Druck-Version auf pse-online.de (135 kB) Setting the Table. A brief visual history of the periodic table. Animation auf sciencemag.org, zuletzt eingesehen am 1. Februar 2019 Ralph M. Cahn: Historische und philosophische Aspekte des Periodensystems der chemischen Elemente (PDF; 560 kB) Eric Scerri, Mendeleev’s Legacy: The Periodic System, Distillations, 12. April 2007 Internet Database of Periodic Tables, eine umfangreiche Sammlung historischer und moderner Periodensysteme (englisch) Periodensystem der europäischen Chemikalienagentur Echa – liefert neben chemischen und physikalischen Eigenschaften viele regulatorische und gesetzliche Informationen, die sonst nur schwer zu finden sind Einzelnachweise Klassifikation (Geowissenschaften) Dmitri Iwanowitsch Mendelejew Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Saturn%20%28Planet%29
Saturn (Planet)
Der Saturn ist von der Sonne aus gesehen der sechste Planet des Sonnensystems und mit einem Äquatordurchmesser von etwa 120.500 Kilometern (9,5-facher Erddurchmesser) nach Jupiter der zweitgrößte. Mit 95 Erdmassen hat er jedoch nur 30 % der Masse Jupiters. Wegen seines auffallenden und schon im kleinen Fernrohr sichtbaren Ringsystems wird er oft auch der Ringplanet genannt, obwohl auch bei den anderen drei Gasplaneten Ringsysteme gefunden wurden. Der Saturn hat eine durchschnittliche Entfernung zur Sonne von gut 1,43 Milliarden Kilometern, seine Bahn verläuft zwischen der von Jupiter und der des sonnenferneren Uranus. Er ist der äußerste Planet, der auch mit bloßem Auge gut sichtbar ist, und war daher schon Jahrtausende vor der Erfindung des Fernrohrs bekannt. Als Gasplanet hat Saturn keine feste Oberfläche. Seine oberen Schichten bestehen zu etwa 96 % Stoffanteil aus Wasserstoff. Von allen Planeten des Sonnensystems weist Saturn die geringste mittlere Dichte auf (etwa 0,69 g/cm³). Von den anderen Planeten hebt sich der Saturn durch seine ausgeprägten, hellen und schon lange bekannten Ringe ab, die zu großen Teilen aus Wassereis- und Gesteinsbrocken bestehen. Der scheinbare Winkeldurchmesser des Planetenkörpers beträgt je nach Erdentfernung zwischen 15″ und 20″, jener der Ringe zwischen 37″ und 46″. Die sogenannten Äquatorstreifen der Wolkenschichten sind auf Saturn weniger deutlich ausgeprägt als bei Jupiter, was wahrscheinlich mit einer hochlagernden Dunstschicht zusammenhängt. Bis 2023 wurden 145 Monde des Saturns entdeckt. Der mit Abstand größte Saturnmond ist Titan mit 5150 Kilometern Durchmesser. Benannt ist der Planet nach dem römischen Gott des Reichtums und der Ernte, Saturn. Sein astronomisches Symbol ♄ stilisiert die Sichel des Gottes. Umlaufbahn und Rotation Umlaufbahn Der Saturn läuft auf einer annähernd kreisförmigen Umlaufbahn mit einer Exzentrizität von 0,054 um die Sonne. Sein sonnennächster Punkt, das Perihel, liegt bei 9,04 AE und sein sonnenfernster Punkt, das Aphel, bei 10,12 AE. Seine Umlaufbahn ist mit 2,48° leicht gegen die Ekliptik geneigt. Weitere Bahndaten sind die Länge des aufsteigenden Knotens mit 113,72°, die Länge des Perihels mit 92,43° und die mittlere Anomalie mit 49,94° zur Epoche J2000.0. Für einen Umlauf um die Sonne benötigt der Saturn ungefähr 29 Jahre und 166 Tage. Rotation Die Äquatorebene des Saturn ist 26,73° gegen die Bahnebene geneigt. Er rotiert nicht wie ein starrer Körper, sondern zeigt als Gasplanet eine differentielle Rotation: Die Äquatorregionen rotieren schneller (eine Rotation in 10 Stunden, 13 Minuten und 59 Sekunden) als die Polregionen (10 Stunden, 39 Minuten und 22 Sekunden). Die Äquatorregionen werden als „System I“, die Polregionen als „System II“ bezeichnet. Aus Messungen des Saturnmagnetfeldes durch Raumsonden wurde für das Saturninnere eine noch etwas langsamere Rotationsperiode von 10 Stunden, 47 Minuten und 6 Sekunden hergeleitet. Durch neuere, kombinierte Auswertung von Messdaten, welche die Raumsonden Pioneer 11, Voyager 1 und 2 sowie Cassini-Huygens von der Schwerkraft, den Windgeschwindigkeiten und mittels Radio-Okkultationen geliefert haben, sind zwei US-amerikanische Wissenschaftler 2007 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Saturnkern eine Umdrehung in 10 Stunden, 32 Minuten und 35 Sekunden absolviert und somit um sieben Minuten schneller ist, als bislang gedacht. Demnach müsste der Kern kleiner sein als vermutet. In Hinsicht auf die Entstehung des Gasplaneten könnte das für die Scheiben-Instabilitäts-Hypothese sprechen. Nach dieser Hypothese ist der Saturn aus einer kollabierenden Verdichtung der protoplanetaren Scheibe entstanden. Früher wurde zumeist die Kern-Aggregations-Hypothese als Entstehungsmodell angenommen, nach der Saturn aus einem Kern von über zehn Erdmassen entstanden ist. In letzterem Modell hätte sich der Kern als Erstes aus festen Bestandteilen der Gas- und Staubscheibe gesammelt und erst danach das Gas aus seiner Umgebung ausreichend angezogen. Anfang 2019 wurde eine nochmals verbesserte Messung der Rotationsgeschwindigkeit des Saturn veröffentlicht, die ebenfalls aus Daten der Cassini-Mission abgeleitet werden konnte. Danach rotiert der Planet in zehn Stunden, 33 Minuten und 38 Sekunden einmal um seine eigene Achse. Die Präzessionsperiode der Saturnachse liegt nach einer Modellrechnung und Beobachtungen von Durchquerungen der Ringebene in einer Größenordnung von zwei Millionen Jahren. Physikalische Eigenschaften Der Saturn gehört zu den sogenannten Gasriesen. Mit einem Durchmesser von gut 120.000 km ist er nach Jupiter der zweitgrößte Planet des Sonnensystems. Obwohl sein Volumen 58 % des Volumens des Jupiters entspricht, beträgt seine Masse weniger als ein Drittel der Jupitermasse (etwa 95 Erdmassen). Der Saturn hat daher eine sehr geringe mittlere Dichte von nur 0,687 g/cm³. Im Durchschnitt ist sein Material also leichter als Wasser unter Normalbedingungen, was für keinen anderen Planeten des Sonnensystems zutrifft. Die Temperatur beträgt bei 1 bar Atmosphärendruck (dies wird bei Gasplaneten allgemein als „Oberfläche“ definiert) 134 K (−139 °C) und bei 0,1 bar Druck 84 K (−189 °C). Obere Schichten Seine Atmosphäre enthält wie die des Jupiters überwiegend Wasserstoff und Helium, jedoch in einer anderen Zusammensetzung. Der Wasserstoffanteil ist mit etwa 93 % der Masse deutlich höher, der Heliumanteil mit nur knapp 7 % entsprechend geringer. Des Weiteren kommen Spuren von Methan, Ammoniak und anderen Gasen vor. Während die Atmosphäre des Jupiters die Elemente Wasserstoff und Helium im gleichen Verhältnis wie die Sonne enthält, ist der Heliumanteil beim Saturn wesentlich geringer. Die eher detailarme, gelblich-braune Wolkendecke enthält überwiegend gefrorene Ammoniakkristalle. Innerer Aufbau Die Atmosphäre, die wie bei Jupiter hauptsächlich aus Wasserstoff besteht, geht mit zunehmender Tiefe aufgrund des hohen Druckes allmählich vom gasförmigen in den flüssigen Zustand über. Es existiert jedoch keine definierte Oberfläche, da der Druck in den Tiefen der Atmosphäre jenseits des kritischen Punkts ansteigt und unter diesen Bedingungen eine Unterscheidung zwischen Gas und Flüssigkeit nicht mehr möglich ist. Weiter in der Tiefe geht der Wasserstoff schließlich in seine metallische Form über. Diese Schichten haben jedoch im Gegensatz zum Jupiter aufgrund der kleineren Masse andere Mächtigkeitsverhältnisse. So beginnt im Saturn die metallische Schicht erst bei 0,47 Saturnradien (Jupiter: 0,77 Jupiterradien). Unterhalb dieser Schicht liegt ein Gesteinskern (genauer: Eis-Silikat-Kern), für den Modellrechnungen eine Masse von circa 16 Erdmassen ergeben. Damit besitzt der Saturnkern einen Masseanteil von 25 %, der des Jupiter lediglich 4 %. Das Innere des Gesteinskerns ist sehr heiß, es herrscht eine Temperatur von 12.000 Kelvin. Als Grund dafür wird unter anderem der Kelvin-Helmholtz-Mechanismus angenommen, eine langsame gravitationsbedingte Kompression. Dadurch strahlt der Saturn 2,3-mal so viel Energie ab, wie er von der Sonne empfängt. Ein alternativer oder zusätzlicher Mechanismus kann die Erzeugung von Wärme durch das „Herausregnen“ von Heliumtröpfchen im Inneren des Saturn sein. Wenn die Tröpfchen durch den Wasserstoff mit geringerer Dichte absteigen, setzt der Prozess Wärme durch Reibung frei und hinterlässt Saturns äußere Schichten, die an Helium verarmt sind. Diese absteigenden Tröpfchen könnten sich in einer Heliumhülle angesammelt haben, die den Kern umgibt. Es wird vermutet, dass Niederschläge von Diamanten im Saturn auftreten. Wetter Die Wolken, die in der Atmosphäre des Saturn zu sehen sind, bestehen vor allem aus auskristallisiertem Ammoniak. Saturn besitzt mindestens zwei Wolkenschichten. Die obere verdeckt die untere, wobei letztere nur im infraroten Bereich sichtbar ist, da Saturn Wärme aus seinem Inneren abstrahlt. Die obere Wolkenschicht des Saturn reflektiert das Licht der Sonne, wodurch sie gut beobachtet werden kann, außerdem weist sie gröbere Strukturen auf als die untere Schicht. Der Nordpol ist der Mittelpunkt eines Polarwirbels und einer stabilen Struktur in der Form eines nahezu regelmäßigen Sechsecks mit einem Durchmesser von fast 25.000 Kilometern. Das anscheinend mehrere 100 Kilometer tiefe Hexagon wurde bereits 1980 und 1981 von den Voyager-Sonden aufgenommen; es ist auch auf den von der Saturnsonde Cassini übermittelten Bildern von 2006 wieder zu sehen. Das Hexagon rotiert alle 10 Stunden 39 Minuten und 24 Sekunden einmal um sich selbst. Das ist die gleiche Zeitspanne, die auch die Radioemissionen von Saturn für eine Umdrehung benötigen. Zur Entstehung dieses Effekts existieren mehrere Hypothesen. Am Südpol befindet sich ein ortsfester, hurrikanähnlicher Sturm mit einem Durchmesser von etwa 8000 Kilometern. Auf Saturn wurden weitere Stürme beobachtet, wie zum Beispiel der „Große Weiße Fleck“, ein Effekt, der alle 29 Jahre auf der nördlichen Hemisphäre beobachtet werden kann und mit dem „Großen Roten Fleck“ auf dem Jupiter vergleichbar ist. Wissenschaftler entdeckten 2005 durch Beobachtungen mit dem Keck-Teleskop auf Hawaii einen „Hot Spot“ (eine im Vergleich zur Umgebung warme Stelle) am Südpol des Saturn. Damit unterscheidet sich Saturn von allen anderen Planeten, bei denen die kältesten Orte in den Polargebieten liegen. Mithilfe des Orbiters Cassini spürten im Januar 2008 Astronomen am Nordpol gleichfalls einen „Hot Spot“ auf, obwohl es dort schon jahrelang dunkel ist. Diese „Hot Spots“ entstehen durch Atmosphärengas, das sich in Richtung der Pole bewegt. Dabei wird es komprimiert und aufgeheizt; schließlich sinkt es am Pol in Form eines Wirbels in die Tiefen der Saturnatmosphäre ab. Es scheint sich bei beiden Wirbeln um langlebige Strukturen zu handeln, deren Existenz nicht von der Sonneneinstrahlung abhängt. Magnetfeld Der Saturn besitzt ein eigenes Magnetfeld, dessen Form der einfachen, symmetrischen Form eines magnetischen Dipols entspricht. Die Feldstärke am Äquator beträgt etwa 20 µT und ist damit etwa 20-mal schwächer als das äquatoriale Feld Jupiters (420 µT) und etwas schwächer als das äquatoriale Erdfeld (30 µT). Das magnetische Dipolmoment, das ein Maß für die Stärke des Magnetfeldes bei vorgegebenem Abstand vom Zentrum des Planeten ist, ist mit 4,6 · 1018 T·m3 580-mal stärker als das Magnetfeld der Erde (7,9 · 1015 T·m3). Das Dipolmoment Jupiters ist allerdings mit 1,55 · 1020 T·m3 trotz des ähnlich großen Planetendurchmessers etwa 34-mal so groß. Daher ist die Magnetosphäre des Saturn deutlich kleiner als die des Jupiters und erstreckt sich nur zeitweise knapp über die Umlaufbahn des Mondes Titan hinaus. Einzigartig im Sonnensystem ist die fast exakt parallele Ausrichtung der Magnetfeldachse und der Rotationsachse. Während z. B. bei Erde und Jupiter diese Achsen etwa 10° gegeneinander geneigt sind, sind sie bei Saturn parallel (Messfehler zurzeit (2017) kleiner als 0.06°). Sehr wahrscheinlich wird das Magnetfeld durch einen Mechanismus erzeugt, der dem Dynamo im Inneren Jupiters entspricht und eventuell von Strömen im metallischen Wasserstoff angetrieben wird. Es gibt aber auch konkurrierende Theorien, die die Ursache des Magnetismus in anderen Materialien und Schichten des Gasplaneten suchen. Genau wie bei anderen Planeten mit ausgeprägtem Magnetfeld wirkt die Magnetosphäre des Saturn als effizienter Schutzschild gegen das Weltraumwetter. Da der Sonnenwind mit Überschallgeschwindigkeit auf die Magnetosphäre trifft, bildet sich auf der sonnenzugewandten Seite eine Stoßwelle aus, die zur Bildung einer Magnetopause führt. Auf der sonnenabgewandten Seite bildet sich, wie bei Erde und Jupiter, ein langer Magnetschweif. Der große Mond Titan, dessen Umlaufbahn noch im Inneren der Magnetosphäre liegt, trägt durch seine ionisierten oberen Atmosphärenschichten (Ionosphäre) zum Plasma der Magnetosphäre bei. Die genaue Struktur der Magnetosphäre ist äußerst komplex, da sowohl die Ringe des Saturn als auch die großen inneren Monde mit dem Plasma wechselwirken. Ringsystem Den Saturn umgibt in seiner Äquatorebene ein auffälliges Ringsystem, das bereits in einem kleinen Teleskop problemlos zu sehen ist. Das Ringsystem wurde 1610 von Galileo Galilei entdeckt, der es aber als „Henkel“ deutete. Christiaan Huygens beschrieb die Ringe 45 Jahre später korrekt als Ringsystem. Giovanni Domenico Cassini vermutete als Erster, dass die Ringe aus kleinen Partikeln bestehen und entdeckte 1675 die Cassinische Teilung. Die Ringe werfen einen sichtbaren Schatten auf den Saturn – wie auch umgekehrt der Saturn auf seine Ringe. Der Schattenwurf auf die Saturnoberfläche ist umso ausgeprägter, je mehr die recht dünne Hauptebene des Ringsystems im Laufe eines Saturnjahres gegenüber der Sonne geneigt ist. Es gibt mehr als 100.000 einzelne Ringe mit unterschiedlichen Zusammensetzungen und Farbtönen, welche durch scharf umrissene Lücken voneinander abgegrenzt sind. Der innerste beginnt bereits etwa 7.000 km über der Oberfläche des Saturn und hat einen Durchmesser von 134.000 km, der äußerste hat einen Durchmesser von 960.000 km. Die größten Ringe werden nach der Reihenfolge ihrer Entdeckung von innen nach außen als D-, C-, B-, A-, F-, G- und E-Ring bezeichnet. Die Lücken zwischen den Ringen beruhen auf der gravitativen Wechselwirkung mit den zahlreichen Monden des Saturn sowie der Ringe untereinander. Dabei spielen auch Resonanzphänomene eine Rolle, die auftreten, wenn die Umlaufszeiten im Verhältnis kleiner ganzer Zahlen stehen. So wird die Cassinische Teilung durch den Mond Mimas verursacht. Einige kleinere Monde, sogenannte Hirten- oder auch Schäfermonde, kreisen direkt in den Lücken und an den Rändern des Ringsystems und stabilisieren dessen Struktur. Neue Messungen und Aufnahmen der Raumsonde Cassini haben ergeben, dass die Ringkanten und damit die Abtrennung der Ringe noch schärfer sind als bisher angenommen. So hatte man vermutet, dass sich in den Lücken ebenfalls einige Eisbrocken befinden, was aber nicht der Fall ist. Die Ringteilchen umkreisen den Saturn rechtläufig in dessen Äquatorebene; somit ist das Ringsystem ebenso wie die Äquatorebene um 27° gegen die Bahnebene geneigt. Alle 14,8 Jahre befindet sich das Ringsystem in der sogenannten „Kantenstellung“, in der der dünne Rand der Ringe genau der Erde zugewandt ist, so dass das Ringsystem nahezu unsichtbar wird. Das war zuletzt im Jahre 2009 der Fall. Mit dem Spitzer-Weltraumteleskop wurde am 6. Oktober 2009 ein wesentlich weiter außen liegender, vom Hauptringsystem unabhängiger Ring anhand seiner Infrarotstrahlung entdeckt, der mit dem Mond Phoebe den Saturn rückläufig umkreist. Visuell ist er auf Grund seiner sehr geringen Materiedichte nicht sichtbar. Der Ring befindet sich im Radius von 6 bis 12 Millionen Kilometern um den Saturn und seine Ringebene ist gegenüber den schon länger bekannten Ringen um 27° geneigt. Er verrät sich nur durch seine Wärmestrahlung mit ca. 80 Kelvin. Sein Material soll vom Saturnmond Phoebe stammen. Inzwischen (2015) wurde mit dem Weltraumteleskop WISE festgestellt, dass der Ring sogar von 6 Mio. – 16 Mio. km Saturnabstand reicht. Er besteht überraschend hauptsächlich aus sehr kleinem, dunklem Staub, der extrem dünn verteilt ist. Ein weiteres Phänomen sind radiale, speichenartige Strukturen, die sich von innen nach außen über die Ringe erstrecken und hierbei enorme Ausmaße annehmen: bei einer Breite von rund 100 Kilometern können sie bis zu 20.000 Kilometer lang werden. Diese „Speichen“ wurden erstmals von der Sonde Voyager 2 bei ihrer Passage im Jahr 1981 entdeckt, später konnte die Beobachtung unter anderem vom Weltraumteleskop Hubble bestätigt werden. Rätselhafterweise verschwanden diese Strukturen ab 1998 allmählich und konnten dann erst wieder ab September 2005 auf Aufnahmen der Raumsonde Cassini nachgewiesen werden. Als Ursache für die Streifenbildung wurde zunächst eine kurzlebige Wechselwirkung mit dem Magnetfeld des Saturn vermutet. US-amerikanische Astronomen fanden 2006 jedoch eine andere Erklärung für das Rätsel um die Speichenstrukturen: demnach bestehen die Speichen aus mikrometergroßen, durch die Ultraviolettstrahlung der Sonne bzw. den äußeren Fotoeffekt geladenen Staubpartikeln, die sich durch elektrostatische Kräfte aus den Ringen angehoben werden. Je nach Position des Saturn auf seiner Umlaufbahn ändert sich der Winkel zwischen den Saturnringen und der Sonne und somit auch der Einfallswinkel der Ultraviolettstrahlung. Die dunklen Streifen entstehen in periodischen Abständen immer, wenn die Sonne in der Ringebene des Saturn steht und bestehen dann für etwa acht Jahre. Eine streifenlose Phase hält dagegen sechs bis sieben Jahre lang an. Der Grund für die elektrostatische Aufladung der Ringe wird weiter kontrovers diskutiert. Eine andere Erklärung sei, dass Blitze in der oberen Atmosphäre des Saturn auftreten, welche Elektronenstrahlen erzeugen, die die Ringe treffen. Zur Entstehung der Saturnringe gibt es verschiedene Theorien. Nach der von Édouard Albert Roche bereits im 19. Jahrhundert vorgeschlagenen Theorie entstanden die Ringe durch einen Mond, der sich dem Saturn so weit genähert hat, dass er durch Gezeitenkräfte auseinandergebrochen ist. Der kritische Abstand wird als Roche-Grenze bezeichnet. Der Unterschied der Anziehungskräfte durch den Saturn auf beiden Seiten des Mondes überstieg in diesem Fall die mondinternen Gravitationskräfte, so dass der Mond nur noch durch seine materielle Struktur zusammengehalten worden wäre. Nach einer Abwandlung dieser Theorie zerbrach der Mond durch eine Kollision mit einem Kometen oder Asteroiden. Nach einer anderen Theorie sind die Ringe gemeinsam mit dem Saturn selbst aus derselben Materialwolke entstanden. Diese Theorie spielte lange Zeit keine große Rolle, denn es wurde vermutet, dass die Ringe ein nach astronomischen Maßstäben eher kurzlebiges Phänomen von höchstens einigen 100 Millionen Jahren darstellen. Dies hat sich jedoch im September 2008 relativiert. Larry Esposito, der US-Astronom, der Anfang der 1980er-Jahre Alter und Gewicht der Saturnringe vermessen hatte, korrigiert seine Schätzungen von damals. Neuen Forschungsergebnissen nach könnte das Alter des Ringsystems mehrere Milliarden Jahre betragen, womit von einem kurzlebigen Phänomen keine Rede mehr sein könnte. Die bisherigen Erkenntnisse über das Alter des Ringsystems wurden aus der Menge an Sternenlicht gewonnen, das durch die Ringe hindurchtritt. Esposito und seine Kollegen haben aber nun das Verhalten von mehr als 100.000 Teilchen in den Saturnringen simuliert. Dies war aufgrund neuer Daten der Raumsonde Cassini, die 2004 den Saturn erreichte, möglich. Diese Daten waren genauer als die jener Sonden, die den Saturn in den 1970er- und 1980er-Jahren besuchten. Die anhand der neuen Messdaten vorgenommenen Kalkulationen haben gezeigt, dass innerhalb der Ringe dynamische Prozesse ablaufen, die eine Kalkulation der Masse anhand des einfallenden Sternenlichts viel schwieriger gestalten als bislang gedacht. Den neu errechneten Daten zufolge könnten die Ringe mehr als dreimal so schwer sein. Monde Von den heute 145 bekannten Monden des Saturn ist Titan der größte mit einem Durchmesser von 5150 km. Die vier Monde Rhea, Dione, Tethys und Iapetus besitzen Durchmesser zwischen 1050 km und 1530 km. Telesto, Tethys und Calypso bewegen sich mit jeweils 60 Grad Versatz auf derselben Bahn um den Saturn. Ein zweites Gespann von „Trojaner-Monden“ sind Helene (Saturn XII – S/1980 S 6) und Polydeuces, die sich unter je 60 Grad Versatz eine Bahn mit Dione teilen. Eine weitere Besonderheit stellen die Monde Janus und Epimetheus dar, welche auf zwei fast gleichen Umlaufbahnen den Saturn umlaufen. Alle vier Jahre kommen sie einander sehr nahe und tauschen durch die gegenseitige Anziehungskraft ihre Umlaufbahnen um den Saturn. 1905 gab William Henry Pickering bekannt, einen weiteren Mond entdeckt zu haben. Pickering schätzte den Durchmesser auf 61 km. Der Mond wurde Themis genannt, da er aber nie wieder gesichtet wurde, gilt er als nicht existent. Anfang Mai 2005 wurde ein weiterer Mond entdeckt, provisorisch S/2005 S 1 genannt, der mittlerweile den offiziellen Namen Daphnis trägt. Er ist der zweite Mond neben Pan, der innerhalb der Hauptringe des Saturn kreist. Im Juni 2006 wurden mit dem Teleskop auf dem Mauna Kea, auf Hawaii, neun weitere Monde entdeckt, die auf stark elliptischen Bahnen zwischen 17,5 und 23 Millionen Kilometern den Saturn entgegen dessen Rotationsrichtung umkreisen. Daraus lässt sich schließen, dass es sich um eingefangene Überreste von Kometen oder Kleinplaneten handeln muss. Der 2009 vom Cassini Imaging Science Team entdeckte Mond S/2009 S 1 ist mit einem Durchmesser von ungefähr 300 Metern der bislang kleinste entdeckte Mond des Saturn. Zum Zeitpunkt des Eintritts der Raumsonde Cassini in den Saturnorbit wurden kleinere Körper mit nur etwa 100 m Durchmesser gefunden, vermutlich Überreste eines ehemals größeren Körpers, die kleine „Möndchen“ beziehungsweise die Saturnringe bilden. Die Forscher schätzen etwa eine Zahl von 10 Millionen solcher kleinen Gebilde in den Saturnringen. Sie erhoffen sich nun, mithilfe dieser Überreste eine eindeutige Erklärung für die Entstehung der Saturnringe zu finden. 2019 verkündete ein Team um Scott S. Sheppard von der Carnegie Institution for Science die Entdeckung von 20 neuen Monden mithilfe des Subaru-Teleskop des Mauna-Kea-Observatoriums auf Hawaii. 17 dieser Monde umkreisen Saturn entgegen dem Planetendrehsinn, so dass die Zahl rückläufiger Monde, die bisher schon die Mehrheit ausmachte, auf nun 63 steigt. Die Namen der Monde sollen aus den Vorschlägen eines bis 6. Dezember 2019 laufenden Wettbewerbs bestimmt werden und müssen aus der skandinavischen, gallischen oder Inuit-Mythologie stammen. Beobachtung Wie alle oberen Planeten ist der Saturn am besten in den Wochen um seine Opposition zu beobachten, wenn er der Erde am nächsten sowie der Sonne gegenüber steht und um Mitternacht kulminiert – vgl. die Liste der Saturnpositionen. Die Größe seiner im Fernrohr ab 20-facher Vergrößerung gut sichtbaren „Scheibe“ schwankt allerdings übers Jahr nur um ±10 Prozent, nicht wie bei Jupiter um fast 20 Prozent. Den Saturnring und den größten Mond Titan erkennt man bereits im Feldstecher, die Äquatorstreifen ab etwa 40-facher Vergrößerung, und alle nächstkleineren 4–5 Monde im Achtzöller (Standardfernrohr mit 20-cm-Objektiv). Einen Monat nach der Opposition kulminiert der Saturn bereits gegen 22 Uhr (bzw. 23 h MESZ) und ist dann am südwestlichen Abendhimmel als Stern 1. Größe zu sehen, bis er nach weiteren 3–4 Monaten für das freie Auge im Licht der untergehenden Sonne verschwindet. Im Unterschied zu den vier sonnennäheren Planeten sind Tagbeobachtungen des Saturn im Fernrohr kaum möglich, da er sich vom Himmelsblau nur knapp abhebt. Soweit dies dennoch gelingt, ist auch der Ring tagsüber bei geringer Vergrößerung erkennbar. Ungefähr alle 20 Jahre kommt es von der Erde aus gesehen zwischen den Planeten Jupiter und Saturn zu einer großen Konjunktion. Erforschung Vor dem Raumfahrtzeitalter Saturn ist seit alters her bekannt. In der Antike war er der entfernteste der fünf (nach damaliger Auffassung sieben, da Sonne und Mond ebenfalls als Planeten galten) bekannten Planeten des Sternhimmels. Im Jahre 1610 schickte der italienische Mathematiker, Physiker und Astronom Galileo Galilei an Johannes Kepler das Anagramm Smaismrmilmepoetaleumibunenvgttavrias, um sich die Priorität einer Entdeckung zu sichern, ohne sie bereits preisgeben zu müssen. Als Galilei sich seiner Beobachtungen sicher war, verriet er auch die Lösung. Sie lautet: Altissimum planetam tergeminum observavi – Den obersten Planeten habe ich dreigestaltig gesehen. Galilei hatte kurz zuvor erstmals den Saturn durch eines der ersten Fernrohre beobachtet und geglaubt, zu beiden Seiten der Saturnscheibe rundliche Ausbuchtungen zu erkennen. Im Jahre 1612 konnte Galilei allerdings nur noch die Saturnscheibe selbst erkennen, glaubte sich in seinen früheren Beobachtungen getäuscht zu haben und verfolgte die merkwürdige Angelegenheit nicht weiter. Da sich in jenem Jahre der Ring in Kantenstellung befand, war er in der Tat für die damaligen Fernrohre nicht erkennbar. Auch andere Astronomen wie Fontana, Gassendi, Hevelius, Riccioli oder Grimaldi vermochten in den folgenden Jahrzehnten lediglich das Vorhandensein der Anhängsel festzustellen, ohne die Erscheinung und ihr gelegentliches Verschwinden aber erklären zu können. Erst nachdem Christiaan Huygens am 25. März 1655 dank verbesserter selbstgebauter Fernrohre einen Mond (Titan) entdeckt und über mehrere Monate hinweg verfolgt hatte, brachte ihn die damit verbundene systematische Beobachtung des Planeten zur 1659 veröffentlichten Überzeugung, dass Saturn von einem freischwebenden Ring umgeben sei, und dass dessen stets verschieden wahrgenommene Gestalt sich aus den unterschiedlichen Neigungen erklärt, mit denen er sich während eines Saturnumlaufs dem Betrachter darbietet. Huygens bestimmte die Neigung des Rings gegen die Ekliptik zu 31° und die Knotenlänge zu 169½°. Giovanni Domenico Cassini entdeckte 1671 den Saturnmond Iapetus, 1672 Rhea, 1684 Dione und Tethys. Cassini beschrieb 1675 auch die nach ihm benannte Teilung in den Saturnringen. Die merkliche Abplattung des Saturn war bereits von Grimaldi als 1/12 gemessen worden, aber erst William Herschel gelang es 1790, die Rotationsdauer zu bestimmen; er erhielt 10h 16m, was mit der Abplattung gut übereinstimmte. Herschel hatte 1789 auch die beiden Monde Mimas und Enceladus entdeckt. Der achte Mond, Hyperion, wurde 1848 etwa gleichzeitig von Bond und Lassell gefunden. Die Monde sowie die von Saturn auf die anderen Planeten ausgeübten Störungen erlaubten es, die Masse von Saturn zu bestimmen. Newton fand 1/3021 Sonnenmassen (1726, aus der Umlaufzeit von Titan), Bouvard 1/3512 (1821, aus den Störungen), Leverrier 1/3530 (1876, aus den Störungen), Hall 1/3500 (1889, Umlaufzeit von Titan). 1850 wiesen Bond und Lassell den schon von früheren Beobachtern gelegentlich beschriebenen inneren, durchscheinenden Krepp-Ring nach. Die von D. Lamey ab 1868 gesehenen vier äußeren Nebelringe konnten allerdings nicht bestätigt werden. William Henry Pickering entdeckte 1898 den weit außen kreisenden Mond Phoebe. Pioneer 11 Als erste Sonde überhaupt flog Pioneer 11 am 1. September 1979 in 21.000 km Entfernung am Saturn vorbei. Dabei flog die Sonde zwischen dem A-Ring und dem F-Ring, der erst durch die Sonde entdeckt wurde. 17 Stunden vor dem Vorbeiflug wurde der Mond Epimetheus entdeckt, an dem die Sonde in 2500 km Abstand vorbeiflog. Es wurden 220 Bilder von Saturn und eines von Titan gemacht, die aber keine Einzelheiten unter einer Auflösung von 500 km zeigten. Man fand heraus, dass die schwarzen Lücken in den Ringen hell waren, wenn sie in Richtung der Sonne beobachtet wurden. Dies bedeutet, dass diese Spalten nicht frei von Materie sind. Außerdem wurde das Magnetfeld von Saturn untersucht, über das man vorher noch nichts wusste. Weitere Ergebnisse waren, dass Saturn Energie abgibt, der Wasserstoff-Anteil von Saturn größer als der des Jupiter ist und dass Titan eine dichte Wolkendecke besitzt. Voyager 1 Am 12. November 1980 besuchte die Raumsonde Voyager 1 den Saturn. Sie lieferte die ersten hochauflösenden Bilder des Planeten, der Ringe und Satelliten. Dabei wurden erstmals Oberflächendetails verschiedener Monde sichtbar. Zudem wurden mehrere Monde neu entdeckt. Der Vorbeiflug an Titan war anfangs außergewöhnlich schlecht verlaufen, da die dichte Smogschicht über Titan keine Aufnahmen ermöglichte. Daraufhin wurden die Kameras umprogrammiert und man analysierte die Atmosphäre des Titan. Dabei fand man heraus, dass diese aus Stickstoff, Methan, Ethylen und Cyankohlenwasserstoffen besteht. Die Datenrate, mit der die Sonde Bilder übertragen konnte, betrug 44.800 Bit/s. Daher musste die Voyager-Sonde schon früh damit beginnen, Bilder aufzunehmen, um genügend Daten zu erhalten. Das Fly-by-Manöver veränderte die Richtung der Raumsonde und sie verließ die Ebene des Sonnensystems. Voyager 2 Knapp ein Jahr nach Voyager 1, am 25. August 1981, kam die Schwestersonde Voyager 2 beim Ringplaneten an. Man bekam noch mehr hochauflösende Bilder von den Monden des Saturn. Durch Vergleich mit den Voyager-1-Bildern stellte man Änderungen der Atmosphäre und der Saturn-Ringe fest. Da die schwenkbare Plattform der Kamera für ein paar Tage stecken blieb, konnten einige geplante Bilder jedoch nicht gemacht werden. Bei der Atmosphäre wurden Temperatur- und Druckmessungen durchgeführt. Durch die Sonde wurden einige Monde bestätigt und man fand mehrere neue Monde nahe oder innerhalb der Ringe. Die kleine Maxwell-Lücke im C-Ring und die 42 km breite Keeler-Lücke im A-Ring wurden entdeckt. Die Schwerkraft des Saturn wurde genutzt, um die Sonde in Richtung Uranus zu lenken. Cassini-Huygens Nach siebenjährigem Flug passierte die Raumsonde Cassini-Huygens am 11. Juni 2004 den Saturnmond Phoebe mit einem Abstand von nur 2068 km und untersuchte diesen aus der Nähe. Am 1. Juli 2004 steuerte die Sonde in eine Umlaufbahn um den Saturn. Anfang 2005 beobachteten Wissenschaftler mithilfe von Cassini Gewitter auf dem Saturn, deren Blitze vermutlich etwa 1000-mal mehr Energie als die der Erde freisetzten. Dieser Sturm wurde 2007 als der stärkste jemals beobachtete beschrieben. Am 20. September 2006 entdeckte man anhand einer Aufnahme von Cassini einen bisher unbekannten planetarischen Ring, der sich außerhalb der helleren Hauptringe befindet, aber innerhalb des G- und E-Rings. Vermutlich stammt das Material dieses Ringes von Zusammenstößen von Meteoriten mit zwei Saturnmonden. Im Oktober 2006 spürte die Sonde einen Hurrikan mit einem Durchmesser von 8000 km auf, dessen Auge am Südpol von Saturn liegt. Der Orbiter „Cassini“ führte zusätzlich die Landungssonde „Huygens“ mit sich, die am 14. Januar 2005 auf dem Mond Titan landete und dabei Aufnahmen von Methanseen auf der Mondoberfläche schoss. Durch einen Bedienfehler an Cassini, der als Relaisstation zur Kommunikation mit der Erde diente, wurde aber nur jedes zweite Bild der Sonde zurück zur Erde übertragen. Am 26. Oktober 2004 machte Cassini aus einer Höhe von 1200 km außerdem Radarfotos der Oberfläche von Titan. Am 10. März 2006 berichtete die NASA, dass Cassini unterirdische Wasserreservoirs dicht unter der Oberfläche des Mondes Enceladus gefunden habe. Das längste jemals beobachtete Gewitter, mit einer Dauer von 11 Monaten, wurde im Jahr 2009 von der Cassini-Sonde aufgezeichnet. Am 15. September wurde beim European Planetary Science Congress bekanntgegeben, dass dieses Mitte Januar des Jahres begonnen hatte und immer noch anhielt. Dieses neunte von der Sonde gemessene Gewitter übertraf das zwischen November 2007 und Juli 2008. Die aufgezeichneten Radiowellen sollen etwa 10.000-mal stärker, als die von Gewittern auf der Erde sein und einen Durchmesser von bis zu 3000 km haben. Das Gewitter hielt von Mitte Januar bis Mitte Dezember 2009 an. Die Sonde entdeckte außerdem vier weitere Monde des Saturn. Am 15. September 2017 ließ man die Sonde nach Aufbrauchen des Treibstoffs absichtlich in der Saturnatmosphäre verglühen, um auszuschließen, dass die nicht mehr kontrollierbare Sonde mit einem Saturnmond kollidiert und diesen biologisch kontaminiert. Bis zum Tag davor hatte sie Untersuchungen durchgeführt und Bildmaterial zur Erde gesendet. Kulturgeschichte Da der Saturn mit bloßem Auge gut sichtbar ist und als Wandelstern auffällt, wurde er schon im Altertum mit mythologischen Deutungen belegt. Im Alten Ägypten symbolisierte er als Hor-ka-pet („Himmelsstier“) die Gottheit Horus. Die Sumerer nannten ihn Lubat-saguš („Stern der Sonne“), während die Babylonier Saturn bezüglich seiner Umlaufgeschwindigkeit Kajamanu („der Beständige“) nannten. Im antiken Griechenland galt er als Planet des Gottes Kronos, bei den Römern erhielt er daher den Namen des entsprechenden Gottes Saturnus. In der hinduistischen Astrologie bezeichnet Navagraha den Saturn als Shani. In der mittelalterlichen Astrologie stand Saturn, der traditionell mit einer Sichel oder Sense dargestellt wird, u. a. für Unglück – Sorgen, Melancholie, Krankheiten und harte Arbeit –, doch auch für Ordnung und Maß. Daran anknüpfend ist Saturn in der Bildenden Kunst (u. a. Albrecht Dürer: Melencolia I) und in der Literatur (u. a. Georg Trakl: Trübsinn) ein Symbol für die Melancholie geblieben. In der chinesischen und japanischen Kultur steht der Saturn für die Erde. Dies basiert auf der Fünf-Elemente-Lehre. Die osmanische und indonesische Sprache bezeichnet Saturn, abgeleitet vom arabischen زحل, als Zuhal. Im hebräischen wird Saturn als Shabbathai bezeichnet. Konradin Ferrari d’Occhieppo vermutete 1965, dass der Stern von Betlehem eine sehr seltene und enge dreifache Saturn-Jupiter-Konjunktion im Sternzeichen Fische war. in der Tat trafen sich die beiden Gasriesen im Laufe des Jahres 7 vor Christus dreimal, am 27. Mai, 6. Oktober und 1. Dezember. Dieses Jahr scheint gut in den ungefähren Zeitraum der Geburt Jesu zu passen. Babylonische Astronomen könnten das Treffen der Planeten Saturn und Jupiter als wichtigen Hinweis gedeutet haben. Der englische Tagesname Saturday bezieht sich noch deutlich auf den Planeten Saturn, der als einer der sieben Wandelsterne des geozentrischen Weltbilds unter den sieben babylonischen Wochentagen zum ursprünglichen Namensgeber des Samstags wurde. Dem Saturn wurde in der Antike das Metall Blei zugeordnet; die Bleivergiftung nennt man daher Saturnismus. Siehe auch Liste der Planeten des Sonnensystems Liste der besuchten Körper im Sonnensystem Literatur Thorsten Dambeck: Saturnmond in Fetzen: Die Saturnringe könnten die Trümmer eines zerborstenen Mondes sein. Bild der Wissenschaft, 9/2006, S. 60–63, Reinhard Oberschelp: Giuseppe Campani und der Ring des Planeten Saturn. Ein Dokument in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek. Reihe Lesesaal, 35. C. W. Niemeyer, Hameln 2011, ISBN 3-8271-8835-0 (u. a. mit Abb. von 1666) Ronald Weinberger: Präzise Bestimmung der Rotation des Saturn. Naturwissenschaftliche Rundschau 59 (12), S. 664–665 (2006), Harro Zimmer: Saturn – Aufbruch zum Herrn der Ringe, Primus, Darmstadt, 2006, ISBN 978-3-89678-281-6 Dokumentarfilme Die Planeten: Saturn. TV-Dokumentationsreihe von Nic Stacey, BBC Studios 2019, deutsche Bearbeitung ZDF; zuletzt gesendet auf ZDFinfo 27. April 2022. Weblinks RPIF-Bestandsverzeichnis: Saturn Der Planet Saturn: Wissenswertes und Flash-Film NASA-Seite zum Saturn (englisch) Liste der Saturnmonde (englisch) A View of Earth from Saturn NASA Earth Observatory, Image of the Day, 16. Januar 2007 Polarlichter sind einzigartig. Auf: wissenschaft.de vom 19. Februar 2005. Über einen Artikel in Nature (Band 433, 2005, S. 717, S. 720 und S. 722). Medien Einzelnachweise Planet des Sonnensystems Astronomisches Objekt mit Ringsystem Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Afrikanischer%20Strau%C3%9F
Afrikanischer Strauß
Der Afrikanische Strauß (Struthio camelus) ist eine Vogelart aus der Familie der Strauße und ist nach dem eng verwandten Somalistrauß der größte lebende Vogel der Erde. Während er heute nur noch in Afrika südlich der Sahara heimisch ist, war er in früheren Zeiten auch in Westasien beheimatet. Für den Menschen war der Strauß wegen seiner Federn, seines Fleisches und seines Leders seit jeher von Interesse, was in vielen Regionen zur Ausrottung des Vogels führte. Merkmale Die Männchen des Straußes sind bis zu 250 Zentimeter hoch und haben ein Gewicht bis zu 135 Kilogramm. Weibchen sind kleiner: Sie sind 175 bis 190 Zentimeter hoch und 90 bis 110 Kilogramm schwer. Die Männchen, Hähne genannt, haben ein schwarzes Gefieder. Davon setzen sich die Schwungfedern der Flügel und der Schwanz weiß ab. Die Weibchen, Hennen genannt, tragen dagegen ein erdbraunes Gefieder; Flügel und Schwanz sind bei ihnen heller und haben eine weißlichgraue Farbe. Das Jugendkleid ähnelt dem Aussehen des Weibchens, ohne die charakteristische Absetzung von Flügeln und Schwanz. Frisch geschlüpfte Küken sind dagegen rehbraun, ihr Daunenkleid weist dunkle Tupfen auf. Die Daunen des Rückengefieders sind igelartig borstig aufgestellt. Die nackten Beine sowie der Hals sind je nach Unterart grau, graublau oder rosafarben. Beim Männchen leuchtet die Haut während der Brutzeit besonders intensiv. Der Strauß hat einen langen, überwiegend nackten Hals. Der Kopf ist in Relation zum Körper klein. Die Augen sind mit einem Durchmesser von 5 Zentimetern die größten aller Landwirbeltiere. Das Becken der Strauße ist ventral durch eine Schambeinfuge (Symphysis pubica) geschlossen. Dies ist nur bei straußenartigen Vögeln so. Es wird von den drei spangenartigen Beckenknochen (Darmbein, Sitzbein, Schambein) gebildet, zwischen denen große Öffnungen bestehen, die durch Bindegewebe und Muskulatur verschlossen sind. Der Strauß hat sehr lange Beine mit einer kräftigen Laufmuskulatur. Seine Höchstgeschwindigkeit beträgt etwa 70 km/h; eine Geschwindigkeit von 50 km/h kann der Strauß etwa eine halbe Stunde halten. Als Anpassung an die hohe Laufgeschwindigkeit besitzt der Fuß, einzigartig bei Vögeln, nur zwei Zehen (Didactylie). Zudem können die Beine als wirkungsvolle Waffen eingesetzt werden: Beide Zehen tragen Krallen, von denen die an der größeren, inneren Zehe bis zu 10 cm lang ist. Skelett Das Brustbein trägt wie bei allen Straußenartigen keinen Brustbeinkamm. Dadurch wirkt es platt und flach wie ein Floß (lateinisch Ratis), weshalb diese Vogelgruppe auch als Ratiten bezeichnet wird. Wie alle Vögel besitzt der Strauß einen vollständigen Schultergürtel. Eine Besonderheit ist die starke Verschmelzung von Rabenbein (Os coracoideum) und Schlüsselbein (Clavicula), zwischen denen lediglich ein ovales Loch offen bleibt. Die Flügel sind für Laufvögel recht groß, aber wie bei allen Laufvögeln nicht zum Fliegen geeignet. Das Eigengewicht eines Straußes liegt weit über dem Gewicht, das es einem Vogel noch ermöglichen würde, sich in die Luft zu erheben. Die Flügel dienen stattdessen zur Balz, zum Schattenspenden und zum Halten des Gleichgewichts beim schnellen Laufen. Als einziger rezenter Vogel hat der Strauß an allen drei Fingern Krallen. Stimme Zu den typischsten Lautgebungen des Straußes gehört ein Ruf des Männchens, der dem Brüllen eines Löwen ähnelt. Ein tiefes „bu bu buuuuu huuu“ wird mehrmals wiederholt. Der Laut wird bei der Balz und beim Austragen von Rangstreitigkeiten ausgestoßen. Daneben sind Strauße beiderlei Geschlechts zu pfeifenden, schnaubenden und knurrenden Lauten in der Lage. Nur junge Straußenküken geben auch melodischere Rufe von sich, die dazu dienen, das Muttertier auf sich aufmerksam zu machen. Verbreitung und Lebensraum Das natürliche Verbreitungsgebiet des Straußes ist Afrika, insbesondere Ost- und Südafrika. Ausgestorben ist er auf der Arabischen Halbinsel, in Westasien sowie in Afrika nördlich der Sahara. Strauße leben in offenen Landschaften wie Savannen und Wüsten. Sie bevorzugen Habitate mit kurzem Gras und nicht zu hohem Baumbestand; wo das Gras höher als einen Meter wächst, fehlen Strauße. Gelegentlich dringen sie in Buschland vor, bleiben dort aber nicht lange, da sie an schneller Fortbewegung gehindert werden und dort nicht weit blicken können. Reine Wüsten ohne Vegetation eignen sich nicht als ständiger Lebensraum, werden aber auf Wanderungen durchquert. Weil Strauße ihren gesamten Flüssigkeitsbedarf aus der Nahrung beziehen können, benötigen sie keinen Zugang zum Wasser, und lange Trockenperioden sind ebenfalls kein Problem für sie. Afrikanische Strauße wurden erstmals 1869 nach Australien eingeführt, weitere Importe folgten in den 1880er Jahren. Mit den importierten Straußen sollten in Australien Farmen für die Belieferung der Modeindustrie mit Federn aufgebaut werden. Bereits vor der Jahrhundertwende gab es verwilderte Strauße, deren Ansiedlung auf einigen Farmen gezielt gefördert wurde. 1890 lebten 626 Strauße in der Nähe von Port Augusta und der Stadt Meningie, 1912 betrug die Zahl 1.345 Individuen. Nachdem die Nachfrage nach Straußenfedern nach Ende des Ersten Weltkrieges zusammenbrach, kam es zu weiteren Freilassungen, die Zahl der ausgewilderten Strauße ist jedoch nicht bekannt. Im australischen Bundesstaat Western Australia konnten sich Strauße freilebend nicht etablieren, in New South Wales vermehrten sich in den Regionen, in denen Strauße ausgewildert wurden, diese Strauße in den ersten Jahren, der Bestand blieb dann über einige Zeit stabil und nahm dann stetig ab. In vielen Regionen, in denen Strauße über mehrere Jahre lebten, waren sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder verschwunden. Nördlich von Port Augusta gab es in den 1970er Jahren noch einen Bestand von 150 bis 200 Straußen. Während der langanhaltenden Dürre von 1980 bis 1982 starben die meisten dieser Vögel. Nach 1982 wurden dort nur noch 25 bis 30 Strauße gezählt. Mit der Unterart Struthio camelus camelus wurden im 20. Jahrhundert in Vorderasien partiell Aussiedlungsversuche unternommen. Eine Population lebt im Mahazat-as-Sayd-Schutzgebiet in Saudi-Arabien, eine weitere im Reservat Hai Bar in Israel. Lebensweise Strauße sind tagaktive Vögel, die besonders in den Dämmerungsstunden aktiv sind. In Zeiten mit knappem Nahrungsangebot müssen sie große Wanderungen unternehmen und sind in der Lage, in der Mittagssonne zu wandern. Nachts ruhen sie, wobei sie für gewöhnlich die Hälse aufrecht und die Augen geschlossen halten. Nur für kurze Tiefschlafphasen werden Hals und Kopf auf das Rückengefieder oder auf den Boden gebettet. Außerhalb der Brutzeit leben Strauße für gewöhnlich in lockeren Verbänden, die zwei bis fünf, in manchen Gegenden aber auch hundert und mehr Tiere umfassen können. In Wüstengegenden sammeln sich bis zu 680 Tiere um Wasserlöcher. Der Zusammenhalt der Straußenverbände ist locker, denn die Mitglieder der Gruppe kommen und gehen nach Belieben. Oft sieht man auch einzelne Strauße. Trotzdem gibt es innerhalb der Gruppen klare Hierarchien. Rangstreitigkeiten werden meistens durch Drohlaute und Drohgebärden geregelt; dabei werden Flügel und Schwanzfedern aufgestellt und der Hals aufrecht gehalten. Der rangniedrigere Vogel zeigt seine Unterwerfung, indem er den Hals U-förmig biegt und den Kopf nach unten hält; auch Flügel und Schwanz zeigen nach unten. Selten kann eine Rangstreitigkeit auch in einen kurzen Kampf münden. Zur Fortpflanzungszeit lösen sich die losen Verbände auf und geschlechtsreife Männchen beginnen mit dem Sammeln eines Harems. Ernährung Strauße sind vorwiegend Pflanzenfresser, nehmen gelegentlich aber auch Insekten und andere Kleintiere zu sich. Vorwiegend fressen sie Körner, Gräser, Kräuter, Blätter, Blüten und Früchte. Insekten, wie Raupen und Heuschrecken, sind nur Beikost. Bevorzugt wird Nahrung, die vom Boden aufgepickt werden kann. Nur ausnahmsweise werden Blätter oder Früchte von Sträuchern oder Bäumen abgelesen. Strauße können ihre Nahrung optimal verwerten, wofür ein 14 Meter langer Darm sorgt. Der Muskelmagen kann bis zu 1300 Gramm Nahrung aufnehmen. Um die Zerkleinerung der Nahrung zu fördern, schlucken Strauße Sand und Steine (Gastrolithen) und haben die Neigung, alle möglichen kleinen Objekte aufzupicken, die ähnliche Zwecke erfüllen könnten. In Straußenmägen wurden daher schon Münzen, Nägel und ähnliche Gegenstände gefunden. Bis zu 45 Prozent des Muskelmagen-Inhalts können solche als Verdauungshilfe geschluckten Materialien betragen. Feinde Die wichtigsten Feinde des Straußes sind Löwen, Leoparden und Geparde. Indem sich Strauße meistens in Gruppen aufhalten, schützen sie sich durch gemeinsame Beobachtung vor der Gefahr. Dadurch verringert sich für den einzelnen Vogel das Risiko, als Beute auserwählt zu werden; zudem hat jedes Gruppenmitglied mehr Zeit zum Fressen. In den Savannen schließen sich Strauße oft den Herden von Zebras und Gazellen an, da diese Tiere wachsam nach denselben Raubtieren Ausschau halten. „Kopf im Sand“ Eine alte Redensart besagt, dass der Strauß bei Bedrohung durch Feinde „den Kopf in den Sand steckt“. Tatsächlich rettet sich der Strauß, der sehr schnell laufen kann, meist durch Davonlaufen. Er ist aber auch in der Lage, sich mit einem gezielten Tritt zu verteidigen, der einen Löwen oder einen Menschen zu töten vermag. Vor allem brütende Strauße legen sich jedoch bei nahender Gefahr oft auf den Boden und halten Hals und Kopf dabei gerade ausgestreckt. Da aus der Ferne der flach am Boden liegende Hals nicht mehr zu sehen ist, könnte dieses Verhalten zu der Legende geführt haben. Denkbar wäre auch, dass man bei der Beobachtung von Straußen auf größere Distanz durch flirrende Luft über heißem Steppenboden einer optischen Täuschung erlegen ist. Bei diesem Effekt „verschwindet“ der Kopf grasender Strauße optisch für den entfernten Betrachter. Fortpflanzung Revier, Balz, Begattung und Gelege Die Paarungszeit ist in unterschiedlichen Regionen Afrikas sehr verschieden. In den Savannen Afrikas fällt sie in die Trockenzeit zwischen Juni und Oktober. In trockeneren Gegenden, zum Beispiel in der Wüste Namib, dauert die Fortpflanzungszeit hingegen das ganze Jahr an. Die Hähne werden in der Paarungszeit territorial. Sie verteidigen dann ein Revier mit einer Fläche zwischen 2 und 15 Quadratkilometern. Die Größe des Reviers ist dabei abhängig vom Nahrungsangebot. Je fruchtbarer der Landstrich ist, in dem sich das Revier befindet, desto kleiner ist es. Zur Revierverteidigung zählen revieranzeigende Rufe sowie ein Patrouillieren des Reviers. Andere Männchen werden vom territorialen Hahn durch Drohgebärden aus dem Revier vertrieben, Weibchen jedoch mit einem Balzritual empfangen. Obwohl es auch monogame Paare gibt, hat in der Regel ein Hahn einen ganzen Harem. Eines der Weibchen ist dabei eindeutig als Haupthenne auszumachen. Es bleibt mit dem Hahn oft über mehrere Jahre zusammen und hat, ebenso wie der territoriale Hahn, ein eigenes Territorium mit einer Größe von bis zu 26 Quadratkilometern. Daneben gibt es mehrere meist recht junge rangniedrige Weibchen, die sogenannten Nebenhennen. Strauße haben einen Penis, der zur Begattung ausgestülpt wird, aber auch immer dann sichtbar ist, wenn sich der Hahn erleichtert. Denn dabei stört der Penis, der meist in dem Kanal der Kloake ruht. Viele Vogelarten pressen bei der Begattung nur die Kloakenöffnungen aufeinander; aber Enten, Gänse und auch die Straußenverwandtschaft verfügt über einen ausstülpbaren Penis. Der Hahn paart sich zunächst mit der Haupthenne, dann mit den Nebenhennen. Der Paarung geht ein Balzritual voraus, bei dem der Hahn seine Flügel präsentiert und sie abwechselnd auf und ab schwingt. Gleichzeitig bläst er seinen farbigen Hals auf und lässt ihn ebenfalls abwechselnd nach links und rechts pendeln. Mit stampfenden Füßen geht der Hahn in dieser Position auf die Henne zu. Das Weibchen zeigt seine Paarungsbereitschaft mit einer „Demutsgeste“, bei der es den Kopf und die Flügel hängen lässt. Im Anschluss an die Paarung wählt die Haupthenne eine der Nestgruben, die der Hahn zuvor angelegt hat. Dies sind mit den Füßen in die Erde gekratzte Kuhlen mit einem Durchmesser von etwa drei Metern. Die Nebenhennen legen ihre Eier in dasselbe Nest und werden nach dem Legen von der Haupthenne vertrieben. Oft gehen sie danach in das Revier eines anderen Straußenhahns, mit dem sie sich ebenfalls paaren. Die Haupthenne legt durchschnittlich acht, selten bis zu zwölf Eier. Hinzu kommen je Nebenhenne zwei bis fünf Eier. In den großen Gemeinschaftsnestern liegen am Ende bis zu 80 Eier. Die Eier sind glänzend weiß, bis zu 1.900 Gramm schwer und haben einen Durchmesser von 15 Zentimetern, ihr Inhalt entspricht dem von 24 Hühnereiern. Die Eierschale ist 2 bis 3 mm dick. Damit zählen sie absolut gesehen zu den größten Eiern der Welt, in Relation zur Körpergröße des ausgewachsenen Tiers sind sie jedoch die kleinsten. Das unbefruchtete Ei besteht zuerst aus einer einzigen Zelle. Brutpflege und Aufzucht der Jungvögel Nur das eigentliche Paar verbleibt schließlich am Nest und sorgt gemeinsam für die Brut. Da ein Vogel mit seinem Körper nur maximal 20 Eier bedecken kann, entfernt die Haupthenne zuvor die überschüssigen Eier der inzwischen vertriebenen Nebenhennen. In der Mitte des Nestes werden die eigenen Eier platziert, die von der Haupthenne offenbar an Größe und Gewicht erkannt werden. Obwohl die eigenen Eier also bevorzugt werden, ist immer noch Raum für zehn bis fünfzehn Eier von Nebenhennen, die mit ausgebrütet werden. Doch nicht nur die Nebenhennen profitieren von dieser Verhaltensweise: Wird das Gelege von Eierräubern angegriffen, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit die außen liegenden Eier der Nebenhennen betroffen, was die Eier der Haupthenne zusätzlich schützt. Für gewöhnlich werden die Eier bei Tage von der Henne und bei Nacht vom Hahn bebrütet. Zahlreiche Raubtiere, vor allem Schakale, Hyänen und Schmutzgeier, versuchen immer wieder, die brütenden Vögel vom Nest fortzulocken, um an die Eier zu gelangen. Nur zehn Prozent aller Gelege werden erfolgreich ausgebrütet. Nach sechs Wochen schlüpfen die Küken. Sie tragen bereits ein hellbraunes Daunenkleid und sind Nestflüchter. Die Elternvögel fahren mit der Brutpflege fort, indem sie ihre Flügel über den Jungen ausbreiten, um sie so vor Sonne und Regen zu schützen. Im Alter von nur drei Tagen verlassen die Küken erstmals das Nest und folgen den Eltern überallhin. Gelegentlich treffen zwei Straußenpaare aufeinander. Dabei kommt es zu Drohgebärden und oft zu Kämpfen, bei denen ein Paar siegreich ist und anschließend die Jungen des unterlegenen Paares übernimmt. Auf diese Weise kann ein starkes Paar etliche Junge anderer Paare um sich sammeln. In einem Fall wurde ein Straußenpaar mit 380 Küken beobachtet. Dieses Verhalten führt, wie das Ausbrüten der Eier der Nebenhennen, wiederum dazu, dass bei einem Angriff von Raubtieren mit höherer Wahrscheinlichkeit die fremden und nicht die eigenen Küken betroffen sind. Trotzdem vollenden nur etwa 15 Prozent der Küken ihr erstes Lebensjahr. Mit drei Monaten wechseln die Jungen vom Daunen- zum Jugendkleid. Nach einem Jahr sind sie so groß wie die Elternvögel. Geschlechtsreif werden weibliche Strauße mit zwei Jahren. Männliche Jungstrauße tragen das Federkleid adulter Hähne bereits mit zwei Jahren. Fortpflanzungsfähig sind sie jedoch erst mit drei bis vier Jahren. Afrikanische Strauße haben eine Lebenserwartung von etwa 30 bis 40 Jahren; in Zoos werden sie auch bis über 50 Jahre alt. Systematik Der Afrikanische Strauß ist eine Art der Strauße (Struthionidae), von denen neben dem Somalistrauß (Struthio molybdophanes) ansonsten nur fossile Arten bekannt sind. Welche andere Familie als Schwestergruppe der höheren Gruppe der Struthioniformes ausgemacht werden kann, ist umstritten. Diskutiert werden die erst in jüngerer Zeit ausgestorbenen Elefantenvögel Madagaskars und die Nandus; bei Letzteren sind viele Zoologen davon überzeugt, dass sie ihre Ähnlichkeit zum Strauß in konvergenter Evolution erworben haben. Eine neuerdings wieder diskutierte Hypothese sieht als Schwestergruppe des Straußes ein gemeinsames Taxon von Nandus und Steißhühnern. Oft wird der Strauß als basales Taxon an der Wurzel der Laufvögel eingeordnet; hier gibt es jedoch auch zahlreiche andere Ansätze (Näheres siehe Laufvögel). Vier Unterarten werden für gewöhnlich unterschieden: Der Nordafrikanische Strauß (Struthio camelus camelus) lebt in den Savannen Westafrikas und ist über die Sahelzone bis ins westliche Äthiopien verbreitet; nördlich der Sahara ist er ausgestorben. Der Massai-Strauß (Struthio camelus massaicus) lebt in Kenia und Tansania. Der Südafrikanische Strauß (Struthio camelus australis) findet sich im südlichen Afrika. Der heute ausgestorbene Arabische Strauß (Struthio camelus syriacus) lebte in Westasien. Populationen der Westsahara wurden bisweilen als sechste Unterart abgetrennt, die Zwergstrauß (Struthio camelus spatzi) genannt wurde. Sie sind im Schnitt kleiner, und ihre Eierschalen haben eine andere Struktur. Von der Fachwelt wird diese Unterart größtenteils abgelehnt. Der ebenfalls ursprünglich als Unterart geführte Somalistrauß wird aufgrund von DNA-Analysen heute als eigenständige Art (Struthio molybdophanes) betrachtet. Unterschieden sind die einzelnen Unterarten vor allem durch die Farben der Hautpartien von Hals und Beinen der Hähne. Die Hennen der Unterarten sind dagegen kaum voneinander zu unterscheiden. Hals und Beine sind beim Nordafrikanischen Strauß, beim Massaistrauß und beim Südafrikanischen Strauß rosafarben, beim Somali-Strauß blaugrau. Die Intensität des Rosatons ist bei jeder Unterart verschieden. Der Nordafrikanische Strauß hat zudem einen Halsring aus weißen Federn; etwas weniger stark ausgeprägt findet man diesen auch beim Massai-Strauß. Er fehlt beim Somali-Strauß und beim Südafrikanischen Strauß. Fossilgeschichte Der Ursprung der Familie der Straußenvögel ist bisher wenig geklärt. Als ältester Vertreter gilt manchen Fachleuten die Gattung Palaeotis, deren Fossilien aus dem Mittleren Eozän in der Grube Messel und im Geiseltal gefunden wurden. Diese Vertreter größerer Laufvögel zeigen allerdings anderen Bearbeitern zufolge mehr Ähnlichkeiten mit den Nandus und könnten als deren Schwestergruppe eingestuft werden. Neueren Untersuchungen zufolge steht aber Palaeotis an der Basis der Entwicklung der Gruppe der Laufvögel und ist somit ein entfernter Vorfahre des Afrikanischen Straußes. Vögel, die unbestritten zu den Straußen gehören, sind seit dem Miozän belegt. Damit ist Struthio eine sehr alte Vogelgattung. Struthio orlovi aus dem Miozän der Republik Moldau ist die älteste bekannte Art. Im Pliozän lebten mehrere Arten in Asien, beispielsweise in der Mongolei und in Ostasien (Struthio chersonensis, Struthio mongolicus, Struthio wimani). Der Asiatische Strauß (Struthio asiaticus) lebte im Pleistozän in den Steppen Zentralasiens. Im Pleistozän tauchte der heute lebende Afrikanische Strauß auf, dessen Verbreitungsgebiet während der letzten Eiszeit auch Spanien und Indien umfasste. An der Fundstätte Dmanissi, wo sich die ältesten menschlichen Fossilien außerhalb Afrikas fanden, entdeckte man 1983 und 2012 je einen Oberschenkelknochen des Riesenstraußes (Struthio dmanisensis). Erste Erkenntnisse über das Vorkommen von Straußen in Indien gehen in die 1880er Jahre zurück. Damals fanden sich Knochen in den Siwaliks am Südabfall des Himalaya. 1958 entdeckte Dr. Sali die ersten Eierschalen. Das Britische Museum in London hat die Richtigkeit des Fundes bestätigt. Seit einigen Jahren sind auch Bruchstücke von Straußeneierschalen aus China nachgewiesen. Weiter nördlich finden sich Abbildungen von Straußen in der Felsbildkunst der Inneren Mongolei. Durch den Wechsel von trockenem Klima zum feuchten Monsunklima am Ende der Eiszeit wurde den asiatischen Straußen die Lebensgrundlage entzogen. Geschichte, mythologische und magische Aspekte In der sogenannten Apollo-11-Höhle in Namibia fanden Archäologen künstliche Perlen aus Straußenei, die aus dem 9. Jahrtausend v. Chr. stammen. Bei archäologischen Ausgrabungen fanden sich gravierte Straußeneier möglicherweise aus dem Capsien (um 6500 v. Chr. oder früher). Ebenso gibt es Fragmente verzierter Straußeneier aus dem Epipaläolithikum aus der nördlichen Sahara. Diese sind mit geometrischen Mustern geschmückt, wie sie auch naturalistische Darstellungen von der Natur geben. Auf diesen, ebenso wie auf Steinplaketten derselben Zeit, sind unter anderem auch Strauße abgebildet. In Indien sind über 40 Fundstellen mit Bruchstücken von Straußeneierschalen entdeckt worden. Sie liegen in den westlichen und zentralen Bundesstaaten Uttar Pradesh, Maharastra, Madhya Pradesh und Rajasthan. Radiocarbonuntersuchungen belegen, dass einige vor 25.000 bis 40.000 Jahren mit Gravierungen versehen wurden. Zusammen mit den Eischalen wurde eine Steinindustrie des Oberen Paläolithikums (Altsteinzeit) gefunden. Im Alten Ägypten waren Strauße wichtige Zucht- und Jagdtiere, die als Eier-, Fleisch- und Federlieferanten große Bedeutung hatten. Die Jagd auf Strauße war bis ins Neue Reich ein besonderes gesellschaftliches Vergnügen. Die großen, weißen Schmuckfedern galten aufgrund ihrer ebenmäßigen und symmetrischen Bewimperung und eleganten Gestalt als Symbol des Lichts und der Gerechtigkeit und schmückten königliche Standarten und Prunkwedel. Aus dem antiken Griechenland und Syrien sind Strauße als Zug- und sogar Reittiere belegt. Straußeneier dienten als Grabschmuck mit kultischer Funktion: Die ältesten Funde stammen aus der altägyptischen Stadt Abydos und werden auf etwa 1800 v. Chr. datiert, punische Gräber bei Karthago und Gräber in Fessan waren ebenso mit Straußeneiern geschmückt. 1771 wurde von Straußeneiern an einem muslimischen Grab bei Palmyra berichtet. In Europa fanden sich Straußeneier als Grabbeigabe in Mykene und mehrfach in antiker Zeit in Italien. In vielen Regionen Schwarzafrikas haben Strauße Eingang in Rituale, Märchen und Fabeln gefunden. Einen praktischen Nutzen haben die Eier für die Khoisan, die sie als Trinkgefäße verwenden oder Halsbänder und Armreife aus den Schalen fertigen. Auf der Arabischen Halbinsel fanden Archäologen an zahlreichen Stellen bemalte Straußeneierschalen aus dem 2. und 1. Jahrtausend v. Chr., die als Behälter verwendet wurden. Es bestand vermutlich ein Jagdverbot auf die Vögel in Gegenden, wo man sie als Gottheiten ansah. Im Unterschied zum alten Mesopotamien wurde ihr Fleisch offensichtlich nicht verzehrt. In der islamischen Zeit dienten die Eierschalen besonders in den Moscheen als Öllampen. Richard Francis Burton schilderte sie Mitte des 19. Jahrhunderts als beliebtes Souvenir von Mekka-Pilgern. Dass es ein Verbot gab, Straußeneier während der Pilgerreise zu zerschlagen, lässt sich als Hinweis auf eine gewisse Verehrung des Vogels deuten. Im islamischen Volksglauben Nordafrikas hat sich der magische Aspekt des Straußenvogels mancherorts noch erhalten. So krönen fünf (zur Zahl vergleiche Hamsa) Straußeneierschalen das Minarett von Chinguetti in Mauretanien. Eine ebensolche beschützende Funktion sollen Straußeneier haben, die sehr häufig an den Dachspitzen äthiopisch-orthodoxer Kirchengebäude befestigt sind oder über den Türen zum Altarraum hängen. Analog wie der Strauß stets seine Eier bewacht, beschirmen diese nun das Gotteshaus. Ein anderer Bezug zum Strauß verweist auf seine Vorbildfunktion: So wie der Vogel seine im Sand vergrabenen Eier nicht aus dem Blick verliert, möge der Gläubige beim Gebet seine ungeteilte Aufmerksamkeit Gott zukommen lassen. Im christlichen europäischen Mittelalter konnte dasselbe Bild gegenteilig interpretiert werden, indem der Strauß seine vergrabenen Eier vergisst und so zum Sünder wird, der seine Pflichten gegenüber Gott vernachlässigt. Eine sprichwörtlich negative Vorstellung ist auch der Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt. Im Christentum war der Strauß ebenso wie das Einhorn ein Symbol für die Jungfräulichkeit. Es wurden Vorstellungen des Physiologus aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. aufgegriffen, wonach der Vogel seine Eier von der Sonne ausbrüten lässt oder die Eier nur anzuschauen braucht, damit sie bebrütet werden. Ab dem 16. Jahrhundert wurde der Strauß zu einem der Attribute der Gerechtigkeit (Iustitia). Aus den Schalen von Straußeneiern wurden prunkvolle, reichverzierte Trinkgefäße und Pokale gefertigt. Das exotische, kostbare Material wurde in Fassungen aus Edelmetall montiert und als Reliquiar oder profanes Prunkstück in den Kirchenschätzen oder Kunst- und Wunderkammern Europas aufbewahrt. Im Iran gilt der Strauß, persisch shotor-morgh (shotor „Kamel“, morgh „Vogel“), als Sinnbild eines Drückebergers: Fordert man ihn auf zu fliegen, behauptet er ein Kamel zu sein, will man ihm aber Lasten aufladen, gibt er an, ein Vogel zu sein. Daher lautet das persische Sprichwort: Entweder sei ein Vogel und fliege, oder sei ein Kamel und trage! Das bedeutet „Entscheide dich!“ oder „Übernimm Verantwortung!“. Nutzung Als im 18. Jahrhundert Straußenfedern als Hutschmuck der reichen Damenwelt Europas in Mode kamen, begann die Jagd auf die Vögel solche Ausmaße anzunehmen, dass sie den Bestand der Art bedrohte. In Westasien, Nordafrika und Südafrika wurde der Strauß restlos ausgerottet. Im 19. Jahrhundert begann man, Strauße in Farmen zu züchten, da frei lebende Strauße extrem selten geworden waren. Die erste dieser Farmen entstand 1838 in Südafrika. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden immer mehr Straußenfarmen auch in Europa und Nordamerika eröffnet. In Teilen Südamerikas erlebt die Straußenzucht seit einigen Jahren einen Boom. Vor allem in Brasilien, Kolumbien, Peru und Bolivien gelten die Farmen als lukrative alternative Erwerbsquelle. Heute spielen die Federn in der Straußenzucht kaum noch eine Rolle. Man züchtet die Strauße nun vor allem wegen ihres Fleisches und der graublauen Haut, aus der man Leder herstellt. Das Fleisch des Straußes hat einen ganz eigenen Geschmack, der am ehesten mit Rindfleisch oder dem des Bison zu vergleichen ist. Aus den Schalen der Eier fertigt man Lampenschirme und Schmuckgegenstände. In Südafrika (Weltmarktanteil: 75 %) werden je 45 % der Einnahmen aus der Straußenzucht durch Fleisch und Haut erzielt, 10 % durch Federn. In Europa wird durch Fleisch 75 % und die Haut 25 % eingenommen. Als Reit- und Zugtiere werden Strauße erst in jüngerer Zeit als Touristenattraktion genutzt. Dies hat jedoch nirgendwo eine kulturelle Tradition. Der Umgang mit Straußen ist nicht ungefährlich. Vor allem die Hähne sind während der Brutzeit angriffslustig. Eindringlinge werden dabei mit Fußtritten traktiert. Die Wucht und vor allem die scharfen Krallen können dabei zu schweren Verletzungen oder gar zum Tode führen. Der Arabische Strauß wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerottet. Diese Unterart war in Palästina und Syrien noch bis zum Ersten Weltkrieg recht häufig, wurde dann aber durch motorisierte Jagden mit Schusswaffen vernichtet. Das letzte wild lebende Tier starb 1966 in Jordanien. 1973 wurden Strauße in der Wüste Negev in Israel freigesetzt, wodurch sie dort inzwischen wieder heimisch sind. Es handelt sich jedoch um Nordafrikanische Strauße, also eine andere Unterart. Die Art insgesamt ist nicht bedroht, da sie vor allem in Ostafrika noch häufig ist. Regional ist der Strauß jedoch selten, so in Westafrika. Etymologie Das Wort Strauß stammt vom altgriechischen strouthiōn (στρουθίον), was so viel wie ‚großer Spatz‘ bedeutet. Die Griechen bezeichneten den Strauß auch als ‚Kamelspatz‘ (στρουθοκάμηλος strouthokamēlos), was den wissenschaftlichen Namen der Art, Struthio camelus, erklärt. Auffallend ist, dass der Strauß in verschiedenen Sprachen den verdeutlichenden Zusatz Vogel trägt. Dem deutschen Vogel Strauß entspricht so der niederländische struisvogel und der schwedische fågeln struts. Die englische Bezeichnung ostrich, das französische autruche und das portugiesische und spanische avestruz gehen alle gleichermaßen auf das lateinische avis struthio zurück – avis bedeutet ebenfalls ‚Vogel‘. Literatur Monika Baur-Röger: Prähistorische Straußenei-Artefakte aus der Ostsahara. In: Archäologische Informationen Bd. 12 Nr. 2 (1989) S. 262 Josep del Hoyo: Ostrich to Ducks. Lynx, Barcelona 1992, ISBN 84-87334-10-5 (Handbook of the Birds of the World. Band 1.) Stephen J. Davies: Ratites and Tinamous. Oxford University Press, Oxford 2002, ISBN 0-19-854996-2. Egon Friedell: Kulturgeschichte Ägyptens und des alten Orients. Beck, Hamburg 2009, ISBN 978-3-406-58465-7. Caesar Rudolf Boettger: Die Haustiere Afrikas. Ihre Herkunft, Bedeutung und Aussichten bei der weiteren wirtschaftlichen Erschliessung des Kontinents. Fischer, Michigan 1958. Burchard Brentjes: Die Haustierwerdung im Orient – Ein archäologischer Beitrag zur Zoologie. Ziemsen, Trier 1965 Weblinks Einzelnachweise Urkiefervögel Wikipedia:Artikel mit Video Tierischer Rekord
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ytterbium
Ytterbium
Ytterbium [, ] ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Yb und der Ordnungszahl 70. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Wie die anderen Lanthanoide ist Ytterbium ein silberglänzendes Schwermetall. Die Eigenschaften des Ytterbiums folgen nicht der Lanthanoidenkontraktion, und auf Grund seiner Elektronenkonfiguration besitzt das Element eine deutlich geringere Dichte sowie einen niedrigeren Schmelz- und Siedepunkt als die benachbarten Elemente. Ytterbium wurde 1878 von Jean Charles Galissard de Marignac bei der Untersuchung von Gadolinit entdeckt. 1907 trennten Georges Urbain, Carl Auer von Welsbach und Charles James unabhängig voneinander ein weiteres Element, das Lutetium, von Marignacs Ytterbium ab. Der bisherige Name wurde dabei nach längerer Diskussion entgegen den Wünschen Welsbachs, der Aldebaranium vorgeschlagen hatte, beibehalten. Technisch werden das Element und seine Verbindungen auf Grund der komplizierten Abtrennung von den anderen Lanthanoiden nur in geringen Mengen, unter anderem als Dotierungsmittel für Yttrium-Aluminium-Granat-Laser genutzt. Ytterbium(III)-chlorid und Ytterbium(II)-iodid sind Reagenzien in verschiedenen organischen Synthesereaktionen. Geschichte Ytterbium wurde 1878 vom Schweizer Chemiker Jean Charles Galissard de Marignac entdeckt. Er untersuchte Gadolinit genauer und versuchte durch Zersetzung von Nitraten in heißem Wasser das unlösliche Erbium von den anderen Mineralbestandteilen abzutrennen. Dabei entdeckte er, dass die erhaltenen Kristalle nicht einheitlich aus rotem Erbiumnitrat bestanden, sondern weitere farblose Kristalle zurückblieben. Das gemessene Absorptionsspektrum zeigte, dass es sich um Kristalle eines bislang unbekannten Elements handeln muss. Dieses nannte er nach dem Fundort des Gadolinites in Ytterby (Schweden) sowie wegen der Ähnlichkeit zum Yttrium Ytterbium. Eine Trennung der beiden Elemente gelang in einem anderen Experiment durch die Zugabe von hyposchwefliger Säure zu einer Lösung der Chloride. 1907 erkannten unabhängig voneinander der Franzose Georges Urbain, der Österreicher Carl Auer von Welsbach und der Amerikaner Charles James, dass das von Marignac gefundene Ytterbium kein Reinelement ist, sondern ein Gemisch zweier Elemente darstellt. Sie konnten dieses Gemisch in das nun reine Ytterbium und in Lutetium trennen. Dabei nannte Carl Auer von Welsbach die Elemente Aldebaranium (nach dem Stern Aldebaran) und Cassiopeium, während Urbain Neoytterbium und Lutetium als Namen festlegte. 1909 wurde vom internationalen Atomgewichts-Ausschuss, bestehend aus Frank Wigglesworth Clarke, Wilhelm Ostwald, Thomas Edward Thorpe und Georges Urbain, bestimmt, dass Urbain die Entdeckung des Lutetiums zusteht und damit auch die von ihm bestimmten Namen Bestand haben. Es wurde jedoch für das Ytterbium der alte Name Marignacs beibehalten. Elementares Ytterbium wurde erstmals 1936 von Wilhelm Klemm und Heinrich Bommer erhalten. Sie gewannen das Metall durch Reduktion von Ytterbium(III)-chlorid mit Kalium bei 250 °C. Weiterhin bestimmten sie die Kristallstruktur und die magnetischen Eigenschaften des Metalls. Vorkommen Ytterbium ist auf der Erde ein seltenes Element, seine Häufigkeit in der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 3,2 ppm. Ytterbium kommt als Bestandteil von Seltenerd-Mineralen, vor allem denjenigen des Yttriums und der schwereren Lanthanoide wie Xenotim und Gadolinit vor. So enthält Xenotim aus Malaysia bis zu 6,2 % Ytterbium. Ceriterden wie Monazit und Bastnäsit enthalten dagegen geringere Anteile an Ytterbium, so enthält Monazit je nach Lagerstätte zwischen 0,12 und 0,5 % des Elements. Es sind mehrere seltene Minerale bekannt, in denen Ytterbium das häufigste Seltenerdmetall ist. Dazu zählen Xenotim-(Yb) mit einem Anteil von 32 Gewichtsprozent Ytterbium am Mineral und der Verhältnisformel (Yb0,40Y0,27Lu0,12Er0,12Dy0,05Tm0,04Ho0,01)PO4 und Keiviit-(Yb) mit der Verhältnisformel (Yb1,43Lu0,23Er0,17Tm0,08Y0,05Dy0,03Ho0,02)2Si2O7. Diese Minerale sind jeweils Teile einer Mischkristallreihe, aus der auch andere natürlich vorkommende Zusammensetzungen, vor allem mit Yttrium als Hauptbestandteil, bekannt sind. Wichtigste Quellen für Ytterbium sind die Monazit- und Xenotimvorkommen in China und Malaysia (dort als Begleitmineral von Kassiterit). Auf Grund der geringen Nachfrage wird die Situation der Versorgung mit Ytterbium nicht als kritisch angesehen. Die chemische Evolution von Ytterbium, die auf der Fähigkeit zum Einfangen schneller Neutronen basiert, wird mit der Verwandlung von Sternen in Rote Riesen, mit Supernovae und der Kollision von Neutronensternen in Verbindung gebracht. Gewinnung und Darstellung Die Gewinnung von Ytterbium ist vor allem durch die schwierige Trennung der Lanthanoide kompliziert und langwierig. Die Ausgangsminerale wie Monazit oder Xenotim werden zunächst mit Säuren oder Laugen aufgeschlossen und in Lösung gebracht. Die Trennung des Ytterbiums von den anderen Lanthanoiden ist dann durch verschiedene Methoden möglich, wobei die Trennung durch Ionenaustausch die technisch wichtigste Methode für Ytterbium, wie auch für andere seltene Lanthanoide, darstellt. Dabei wird die Lösung mit den seltenen Erden auf ein geeignetes Harz aufgetragen, an das die einzelnen Lanthanoid-Ionen unterschiedlich stark binden. Anschließend werden sie in einer Trennsäule mit Hilfe von Komplexbildnern wie EDTA, DTPA oder HEDTA vom Harz gelöst, und durch die unterschiedlich starke Bindung am Harz erzielt man somit die Trennung der einzelnen Lanthanoide. Eine chemische Trennung ist über unterschiedliche Reaktionen von Ytterbium-, Lutetium- und Thuliumacetat mit Natriumamalgam möglich. Dabei bildet Ytterbium ein Amalgam, während die Lutetium- und Thuliumverbindungen nicht reagieren. Die Gewinnung metallischen Ytterbiums kann durch Elektrolyse einer Schmelze aus Ytterbium(III)-fluorid und Ytterbium(III)-chlorid erfolgen, mit Alkali- oder Erdalkalimetallhalogeniden zur Schmelzpunktreduktion, sowie flüssigem Cadmium oder Zink als Kathode. Daneben lässt es sich auch durch metallothermische Reduktion von Ytterbium(III)-fluorid mit Calcium, oder Ytterbium(III)-oxid mit Lanthan oder Cer herstellen. Wird die letzte Reaktion im Vakuum ausgeführt, destilliert Ytterbium ab und kann so von anderen Lanthanoiden getrennt werden. Eigenschaften Physikalische Eigenschaften Ytterbium ist wie die anderen Lanthanoide ein silberglänzendes, weiches Schwermetall. Es besitzt mit 6,973 g/cm3 eine ungewöhnlich niedrige Dichte, die deutlich niedriger ist als diejenige der benachbarten Lanthanoide wie Thulium bzw. Lutetium und vergleichbar mit der von Neodym oder Praseodym ist. Vergleichbares gilt auch für den verhältnismäßig niedrigen Schmelzpunkt von 824 °C und den Siedepunkt von 1430 °C (Lutetium: Schmelzpunkt 1652 °C, Siedepunkt 3330 °C). Diese Werte stehen der sonst geltenden Lanthanoidenkontraktion entgegen und werden durch die Elektronenkonfiguration [Xe] 4f14 6s2 des Ytterbiums verursacht. Durch die vollständig gefüllte f-Schale stehen nur zwei Valenzelektronen für metallische Bindungen zur Verfügung und es kommt daher zu geringeren Bindungskräften und zu einem deutlich größeren Metallatomradius. Es sind drei verschiedene Kristallstrukturen bei Atmosphärendruck sowie drei weitere Hochdruckmodifikationen des Ytterbiums bekannt. Bei Raumtemperatur kristallisiert das Metall in einer kubisch-dichtesten Kugelpackung mit dem Gitterparameter a = 548,1 pm. Bei höheren Temperaturen und Drücken geht diese Struktur in eine kubisch-innenzentrierte Kugelpackung über, wobei bei Atmosphärendruck die Übergangstemperatur bei etwa 770 °C, und bei Raumtemperatur der Übergangsdruck bei 4 GPa liegt. Bei tiefen Temperaturen ist eine hexagonal-dichteste Struktur stabil, wobei der strukturelle Phasenübergang, welcher zwischen 0 und 45 °C liegt, stark abhängig ist von Reinheit, Druck und Spannungen im Metall. Diese Phasen besitzen unterschiedlichen Magnetismus. Während die hexagonale Phase (wie durch die vollständig besetzten Orbitale zu erwarten) diamagnetisch ist, zeigt die kubisch-flächenzentrierte Struktur Paramagnetismus (wahrscheinlich durch geringe Mengen Yb3+ im Metall). Die Reihenfolge der Hochdruckmodifikationen entspricht nicht der bei anderen Lanthanoiden häufig zu findenden Reihenfolge. So sind keine Modifikationen des Ytterbiums mit einer doppelt-hexagonal-dichtesten Struktur oder einer Samarium-Struktur bekannt. Auf die ab 4 GPa stabile kubisch-innenzentrierte Struktur folgt bei 26 GPa eine hexagonal-dichteste Phase. Der nächste Phasenübergang erfolgt bei weiterer Druckerhöhung bei 53 GPa und oberhalb dieses Druckes bildet sich wiederum eine kubisch-dichteste Struktur aus. Ein weiterer bekannter Phasenübergang erfolgt bei 98 GPa. Ab diesem Druck ist bis mindestens 202 GPa eine hexagonale Struktur am stabilsten, mit der , was auch hP3-Struktur genannt wird. Mit der Druckerhöhung erfolgt auch eine Änderung der Elektronenstruktur des Ytterbiums, wobei ein Elektron vom f-Orbital in ein d-Orbital übergeht, und die Elektronenkonfiguration ist dann wie bei anderen Lanthanoiden dreiwertig (trivalent). Chemische Eigenschaften Ytterbium ist ein typisches unedles Metall, das vor allem bei höheren Temperaturen mit den meisten Nichtmetallen reagiert. Mit Sauerstoff reagiert es bei Standardbedingungen an trockener Luft langsam, schneller bei Anwesenheit von Feuchtigkeit. Feinverteiltes metallisches Ytterbium ist, wie andere unedle Metalle, an Luft und unter Sauerstoff entzündlich. Mischungen von feinverteiltem Ytterbium und Organohalogenverbindungen wie Hexachlorethan oder Polytetrafluoroethylen brennen mit smaragdgrüner Flamme. Die Reaktion von Ytterbium mit Wasserstoff ist keine vollständige, denn der Wasserstoff tritt in die Oktaederlücken der Metallstruktur ein und es bilden sich nicht-stöchiometrische Hydrid-Phasen aus, wobei die Zusammensetzung von der Temperatur und dem Wasserstoffdruck abhängt. In Wasser löst sich Ytterbium nur langsam, in Säuren schneller unter Wasserstoffbildung. In Lösung liegen meist dreiwertige, farblose Ytterbiumionen in Form des Hydrates [Yb(H2O)9]3+vor. Das gelbgrüne zweiwertige Ytterbiumion ist in wässriger Lösung nicht stabil, es oxidiert unter Wasserstoffbildung mit einer Halbwertszeit von etwa 2,8 Stunden zum dreiwertigen Ion. Wird Ytterbium in flüssigem Ammoniak gelöst, bildet sich wie bei Natrium durch solvatisierte Elektronen eine blaue Lösung. Isotope Es sind insgesamt 33 Isotope zwischen 148Yb und 181Yb sowie weitere 12 Kernisomere des Ytterbiums bekannt. Von diesen kommen sieben mit unterschiedlicher Häufigkeit in der Natur vor. Das Isotop mit dem größten Anteil an der natürlichen Isotopenzusammensetzung ist 174Yb mit einem Anteil von 31,8 %, gefolgt von 172Yb mit 21,9 %, 173Yb mit 16,12 %, 171Yb mit 14,3 % und 176Yb mit 12,7 %. 170Yb und 168Yb sind mit Anteilen von 3,05 bzw. 0,13 % deutlich seltener. Das radioaktive Isotop 169Yb mit einer Halbwertszeit von 32 Tagen entsteht zusammen mit dem kurzlebigen 175Yb (Halbwertszeit 4,2 Tage) durch Neutronenaktivierung bei der Bestrahlung von Ytterbium in Kernreaktoren. Es kann als Gammastrahlenquelle, etwa in der Nuklearmedizin und Radiographie, genutzt werden. Verwendung Ytterbium und seine Verbindungen werden nur in sehr geringem Umfang kommerziell eingesetzt. Als Legierungsbestandteil verbessert es die Kornfeinung, Festigkeit und mechanischen Eigenschaften rostfreien Stahls. Es wurde untersucht, Ytterbiumlegierungen in der Zahnmedizin zu nutzen. Ytterbium wird wie andere Lanthanoide als Dotierungsmittel für Yttrium-Aluminium-Granat-Laser (Yb:YAG-Laser) genutzt. Vorteile gegenüber Nd:YAG-Lasern liegen in der höheren möglichen maximalen Dotierung, einer längeren Lebensdauer des höheren Energieniveaus sowie einer größeren Absorptions-Bandbreite. Auch in Faserlasern ist Ytterbium ein wichtiges Dotierungsmittel, das auf Grund ähnlicher Vorteile wie beim YAG-Laser besonders für Hochleistungsfaserlaser genutzt werden kann. Dazu zählen die hohe Dotierung, ein großer Absorptionsbereich zwischen 850 und 1070 nm und ebenso der große Emissionsbereich zwischen 970 und 1200 nm. Experimentell wurde Ytterbium als Alternative zu Caesium für den Betrieb von Atomuhren untersucht. Dabei konnte eine viermal so hohe Präzision wie bei einer Caesium-Atomuhr gemessen werden. Ytterbium wird zurzeit als Ersatz für Magnesium in schweren Wirkladungen für kinematische Infrarottäuschkörper untersucht. Dabei zeigt Ytterbium aufgrund einer deutlich höheren Emissivität von Ytterbium(III)-oxid im Infrarotbereich im Vergleich zu Magnesiumoxid eine höhere Strahlungsleistung als herkömmliche Wirkmassen auf der Basis von Magnesium/Teflon/Viton (MTV). Biologische Bedeutung und Toxizität Ytterbium kommt nur in minimalen Mengen im Körper vor und besitzt keine biologische Bedeutung. Nur wenige Lebewesen wie Flechten sind in der Lage, Ytterbium aufzunehmen, und besitzen Ytterbiumgehalte von über 900 ppb. Bei Braunalgen (Sargassum polycystum) wurde eine Biosorption von 0,7 bis 0,9 mmol·g−1 gemessen. Ytterbium und seine löslichen Verbindungen sind leicht toxisch, für Ytterbium(III)-chlorid wurde bei Mäusen ein LD50-Wert von 395 mg/kg für intraperitoneale und 6700 mg/kg für perorale Gabe bestimmt. Im Tierversuch an Kaninchen reizt Ytterbiumchlorid die Augen nur leicht und Haut nur bei Verletzungen. Ytterbium gilt als teratogen; in einer Studie mit Goldhamster-Embryos wurden nach Gabe von Ytterbiumchlorid Skelettänderungen wie zusammengewachsene oder zusätzliche Rippen oder Veränderungen an der Wirbelsäule festgestellt. Verbindungen Es sind Verbindungen des Ytterbiums in der Oxidationsstufe +2 und +3 bekannt, wobei wie bei allen Lanthanoiden +3 die häufigere und stabilere Stufe ist. Halogenide Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Ytterbium zwei Reihen von Salzen mit den Formeln YbX2 und YbX3. Die Dihalogenide oxidieren dabei leicht zu den Trihalogeniden, bei höheren Temperaturen disproportionieren sie zu Ytterbiumtrihalogeniden und Ytterbium. Mehrere Ytterbiumhalogenide werden als Reagenz in organischen Synthesen verwendet. So ist Ytterbium(III)-chlorid eine Lewis-Säure und kann als Katalysator etwa in Aldol-Reaktionen, Diels-Alder-Reaktionen oder Allylierungen genutzt werden. Ytterbium(II)-iodid kann wie Samarium(II)-iodid als Reduktionsmittel oder für Kupplungsreaktionen eingesetzt werden. Ytterbium(III)-fluorid wird als inerter und nicht giftiger Füllstoff in der Zahnmedizin verwendet. Es setzt kontinuierlich das für die Zahngesundheit wichtige Fluorid frei und ist zudem ein gutes Röntgenkontrastmittel. Metallorganische Verbindungen Es sind eine Reihe von metallorganischen Verbindungen bekannt. Verbindungen mit einer Sigma-Bindung zwischen Ytterbium und Kohlenstoff sind nur in geringem Umfang bekannt, da es bei diesen wie bei vielen Übergangsmetallen leicht zu Folgereaktionen wie β-Hydrideliminierungen kommt. Sie sind daher mit sterisch anspruchsvollen Resten wie der tert-Butylgruppe oder einer größeren Zahl kleiner Reste wie in einem Hexamethylytterbat-Komplex [Yb(CH3)6]3+ stabil. Die wichtigsten Liganden des Ytterbiums sind Cyclopentadienyl und dessen Derivate. Sandwichkomplexe des Ytterbiums sind nicht mit Cyclopentadienyl, sondern nur mit größeren Liganden wie Pentaphenylcyclopentadienyl bekannt. Weiterhin kennt man Komplexe mit η5 koordinierten Cyclopentadienyl-Liganden: CpYbX2, Cp2YbX und Cp3Yb (X kann dabei ein Halogenid, Hydrid, Alkoxid oder weiteres sein). Weitere Verbindungen Mit Sauerstoff reagiert Ytterbium zu Ytterbium(III)-oxid, Yb2O3, das wie die anderen dreiwertigen Oxide der schwereren Lanthanoide in der kubischen Lanthanoid-C-Struktur kristallisiert. Dieses lässt sich durch Reaktion mit elementarem Ytterbium zu Ytterbium(II)-oxid reduzieren, das in einer Natriumchlorid-Struktur kristallisiert. Eine Übersicht über Ytterbiumverbindungen bietet die :Kategorie:Ytterbiumverbindung. In der Popkultur In der Serie Warehouse 13 befindet sich die Büchse der Pandora in einer Kammer aus Ytterbium im Warehouse, bis dieses zerstört wird und die Hoffnung die Büchse verlässt. Literatur Ian McGill: Rare Earth Elements. In: Ullmann's Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2005, . Weblinks Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Richard%20L%C3%B6wenherz
Richard Löwenherz
Richard Löwenherz (französisch , englisch ; * 8. September 1157 in Oxford; † 6. April 1199 in Châlus) war von 1189 bis zu seinem Tod als Richard I. König von England. Richards Lebensjahre bis zu seinem Regierungsantritt waren von Konflikten mit seinem Vater Heinrich II. und mit seinen Brüdern um das Erbe überschattet. Erst durch den Tod seines älteren Bruders Heinrich und ein Bündnis mit dem französischen König Philipp II. konnte er sich den englischen Königsthron sichern. Sein ererbter Herrschaftskomplex, das „angevinische Reich“, umfasste neben England die Normandie und weite Teile Westfrankreichs. Als Herrscher musste Richard ein wirtschaftlich und kulturell sehr heterogenes Konglomerat unterschiedlicher Territorien zusammenhalten. Während seiner Regierungszeit hielt er sich insgesamt nur sechs Monate in England auf. Auf einem gemeinsam mit Philipp unternommenen Kreuzzug, der heute als Dritter Kreuzzug gezählt wird, eroberte Richard 1191 Zypern. Dann setzte er ins Heilige Land über, wo er erfolgreich die bereits zwei Jahre andauernde Belagerung Akkons beendete. Das eigentliche Ziel des Unternehmens, die Rückeroberung Jerusalems, konnte jedoch nicht erreicht werden. Noch auf dem Kreuzzug kam es zwischen Richard und dem französischen König zum Zerwürfnis. Während seiner Rückkehr auf dem Landweg wurde Richard 1192 vom österreichischen Herzog Leopold V., mit dem er sich gleichfalls überworfen hatte, festgesetzt und Kaiser Heinrich VI. übergeben. Damit rächte sich Leopold für eine Verletzung der Ehre (honor), die ihm der englische König während des Kreuzzugs zugefügt hatte. Rund 14 Monate verbrachte Richard in der Region am Oberrhein in Gefangenschaft. Der französische König nutzte dies aus und eroberte eine Reihe von Burgen und Gebieten. Für Richards Freilassung musste aus dem ganzen angevinischen Reich die enorme Summe von 100.000 Mark Silber durch Besitzverkauf und besondere Besteuerung beschafft werden. Den Ertrag verwendete Heinrich VI. vor allem zur Finanzierung der Eroberung Siziliens. Nach seiner Freilassung versuchte Richard die von Philipp II. besetzten Gebiete zurückzuerobern. Er starb kinderlos bereits am 6. April 1199 bei der Belagerung von Cabrol bei Limoges. Richards Bild als idealer Ritter und tatkräftiger König ist bis in die Gegenwart in Literatur, Musik und darstellender Kunst legendenhaft verklärt worden. Die zeitgenössische Legendenbildung wurde vor allem vom Dritten Kreuzzug inspiriert. Im 16. Jahrhundert wurde dieser Stoff mit den Geschichten um den englischen Dieb Robin Hood verwoben. Zu einer völlig anderen Einschätzung gelangten die Historiker im protestantischen Großbritannien ab dem 18. Jahrhundert; für sie war Richard ein verantwortungsloser und egoistischer Monarch, der das Inselreich vernachlässigt habe. In der breiteren Öffentlichkeit hingegen galt er ab dem 19. Jahrhundert als ein Symbol nationaler Größe. Die neuere Forschung bemüht sich um ein differenzierteres Bild, wobei die Tendenz zu einer positiven Einschätzung überwiegt. Leben Herkunft und Jugend Richard Löwenherz entstammte dem adligen Geschlecht der Plantagenets. Dieser Name wurde jedoch als Dynastiebezeichnung erst ab dem 15. Jahrhundert verwendet, erstmals 1460 durch Herzog Richard von York. Er geht auf König Richards Großvater Gottfried V. zurück, der Graf von Anjou, Tours und Maine war. Der Legende nach trug er einen Ginsterbusch (planta genista) als Helmzier oder pflanzte in seinen Ländereien Ginsterbüsche zum Sichtschutz bei der Jagd. Der englische König Heinrich I. starb 1135 ohne männliche Erben. Daher sollte ihm seine Tochter Mathilde auf den Thron folgen. Gegen sie und ihren Ehemann Gottfried V. formierte sich aber eine Opposition, die Stefan von Blois zum König erhob. Der Konflikt führte zu einem Bürgerkrieg. In dieser angespannten Lage wurde am 5. März 1135 der spätere König Heinrich II. als Sohn Mathildes und Gottfrieds geboren. Er hatte durch seine Eltern nicht nur Anspruch auf das Herzogtum Normandie und die Grafschaft Anjou, sondern auch auf den englischen Thron. Im Mai 1152 heiratete er Eleonore von Aquitanien. Sie hatte von ihrem Vater Wilhelm X. das reiche südwestfranzösische Herzogtum Aquitanien geerbt. Eleonore hatte im Juli 1137 den Sohn des französischen Königs geheiratet und war dadurch zur Königin von Frankreich gekrönt worden. Sie trennte sich 1152 mit kirchlicher Billigung von ihrem königlichen Ehemann Ludwig VII. Durch die Heirat mit Eleonore wurde Richards Vater Heinrich zu einem der mächtigsten Fürsten in Europa und zum größten Rivalen des französischen Königs. Im Mai 1153 wurde der Bürgerkrieg mit dem Vertrag von Winchester beendet. Der gesundheitlich geschwächte Stefan von Blois blieb König bis zu seinem Lebensende, akzeptierte aber Mathildes Sohn, den späteren Heinrich II., als Nachfolger. Nach dem Tod Stefans im Oktober 1154 wurde Heinrich zwei Monate später zum englischen König gewählt. Er ließ sich in Westminster mit Eleonore krönen. Aus der Ehe gingen fünf Söhne (Wilhelm, Heinrich, Richard, Gottfried und Johann) und drei Töchter (Eleonore, Johanna und Mathilde) hervor. Als drittgeborener Sohn war Richard zunächst nicht für die Thronfolge vorgesehen. Heinrich II. übertrug die Erziehung seiner Söhne seinem Kanzler Thomas Becket, an dessen Hof die Kinder von verschiedenen kultivierten Geistlichen unterrichtet wurden. So wurde Richard gründlich in der lateinischen Sprache ausgebildet. Heinrich versuchte durch Heiratsbündnisse Einfluss auf den südfranzösischen Raum zu nehmen. Für Richard wurde 1159 eine Verlobung mit der Tochter von Raimund Berengar IV., Graf von Barcelona beschlossen. Dadurch wollte Heinrich einen Bündnispartner gegen die Grafschaft Toulouse gewinnen. Die geplante Ehe kam jedoch nicht zustande, da Raimund 1162 überraschend starb. Richard hielt sich in der Umgebung seiner Mutter auf. Er reiste im Mai 1165 mit ihr in die Normandie. Über seine weitere Ausbildung und auch über seine Aufenthaltsorte sind bis 1170 keinerlei Angaben überliefert. Mit seiner Mutter war er 1171 im Süden Frankreichs unterwegs. Dabei lernte er die Sprache und Musik Aquitaniens kennen. Sein Vater verlieh ihm bereits in frühen Jahren die Grafschaft Poitou und übertrug ihm die Verwaltung des Herzogtums Aquitanien. Kampf um die Thronfolge und Krönung Heinrich II. entschloss sich, das angevinische Reich als ungeteiltes Erbe weiterzugeben. Er sah seinen ältesten überlebenden Sohn Heinrich – Wilhelm war schon 1156 gestorben – als Nachfolger in der Königswürde vor. Im Januar 1169 traf er in Montmirail zu Friedensverhandlungen mit dem französischen König Ludwig VII. zusammen. Dort erneuerte er am 6. Januar 1169 die Lehenshuldigung für den Festlandbesitz und ließ zugleich seine Söhne Heinrich und Richard als Erben der französischen Lehen von Ludwig anerkennen. Der älteste Sohn Heinrich leistete Ludwig den Lehenseid für die Normandie, Anjou und Maine, Richard für Aquitanien. Gottfried wurde als Herzog der Bretagne bestätigt und erhielt die Grafschaft Mortain. Johann blieb zunächst ohne Ausstattung. Mit 14 Jahren wurde Richard volljährig. Bereits im Juni 1170 ließ Heinrich seinen gleichnamigen Sohn zum Mitkönig krönen. Im Juni 1172 wurde Richard im Alter von 14 Jahren in der Abtei St. Hilaire in Poitiers feierlich als Herzog von Aquitanien investiert. Heinrich versprach im Frühjahr 1173 seinem jüngsten Sohn Johann die Burgen von Chinon, Loudun und Mirebeau in der Normandie. Heinrich der Jüngere fasste dies als Beeinträchtigung seiner Rechte auf. Dies war der Anlass einer Revolte der Königssöhne gegen ihren Vater. Wegen des jugendlichen Alters der Prinzen Richard und Gottfried ist anzunehmen, dass sie unter dem Einfluss ihrer Mutter Eleonore handelten. Als eigene Motive der beiden kommen ein ausgeprägter Machtwille und die Einschränkung ihrer Rechte im Herzogtum Aquitanien in Betracht. Richard belagerte im Frühjahr und Sommer 1174 königstreue Städte wie La Rochelle, doch im September 1174 musste er gegenüber seinem Vater kapitulieren. Am 29. September 1174 kam es in Montlouis bei Tours zu einem Ausgleich. Richard erhielt die Hälfte der Einnahmen von Aquitanien und zwei Residenzen. Die Söhne hatten eigenes Einkommen und Ländereien, blieben jedoch weiterhin ohne Einfluss auf die Politik ihres königlichen Vaters. Ebenfalls 1174 wurde Richards Heirat mit Alice, der wohl 1170 geborenen Schwester Philipps II. von Frankreich, vereinbart. Sie wurde an den Hof Heinrichs II. geschickt und sollte dort auf ihre Rolle als spätere Gemahlin Richards vorbereitet werden. Den jüngsten Sohn Johann wollte der König mit Aquitanien versorgen, doch weigerte sich Richard, das Herzogtum seinem Bruder zu überlassen. Als Herzog von Aquitanien fiel ihm die Aufgabe zu, gegen die dort opponierenden Adligen vorzugehen. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Belagerung und Zerstörung einer Vielzahl von Burgen. In der einzigen Feldschlacht besiegte er Ende Mai 1176 Vulgrin von Aimar. Bis Ende 1176 konnte er unter anderem Aixe und Molineuf einnehmen. Im Januar 1177 eroberte er Dax und Bayonne. Doch bereits 1178 brachen neue Revolten aus. Im Mai 1179 nahm Richard die als uneinnehmbar geltende Festung Taillebourg ein. Vor allem dadurch erwarb er sich einen Ruf als brillanter Kriegsherr. Mit der Einnahme der Festung Taillebourg erreichte Richard, dass die Opponenten zeitweise ihren Widerstand einstellten. Nach Dieter Berg beschränkte sich Richard auf militärische Aktionen gegen aufständische Barone und unterließ es, eine politische Lösung zu suchen. Die Quellen geben keine Hinweise, dass Richard unter den Großen seiner Territorien eine Klientel von herzogstreuen Gefolgsleuten aufbaute. Ebenfalls nahm er keine Reformen im Bereich des Verwaltungs- und Rechtswesens vor. Von Sommer 1179 bis Sommer 1181 ist über die Aufenthalte Richards nichts bekannt. Im Mai 1182 fanden in Anwesenheit Heinrichs II. Verhandlungen in Grandmont in La Marche statt. Bei den Grafen in Aquitanien war Richard als Herzog wegen seines brutalen Vorgehens und seiner ständigen Rechtsverstöße verhasst. Die persönlichen Verfehlungen Richards griffen auch englische Chronisten auf. Nach Roger von Howden machte Richard die Frauen, Töchter und Verwandten der Unterworfenen zu seinen Konkubinen. Nach Befriedigung seiner Lust habe er sie dann an seine Soldaten weiter gegeben. Die militärischen Auseinandersetzungen wurden in der Folgezeit fortgesetzt. Nach dem Tod des ältesten Sohnes Heinrich im Juni 1183 war die Thronfolge wieder völlig offen. Bei einer Einigung Heinrichs II. mit Richard im Jahr 1185 blieb Johann weiterhin „ohne Land“. Ein Jahr darauf starb Gottfried bei einem Turnier in Paris. Heinrich II. weigerte sich jedoch, Richard als alleinigen Erben anzuerkennen, und forderte weiterhin von ihm, Aquitanien für Johann Ohneland aufzugeben. Um eine Enterbung zugunsten seines Bruders Johann abzuwenden, verbündete Richard sich mit dem französischen König und besuchte Philipp II. im Juni 1187 in Paris. Der Kapetinger speiste nicht nur mit Richard aus der gleichen Schüssel, sondern beide teilten auch das Bett. Das gemeinsame Essen und Schlafen in einem Bett waren in der Kultur des hochmittelalterlichen Adels geläufige Rituale, mit denen Freundschaft und Vertrauen visualisiert wurde. Die demonstrativ inszenierte Nähe wurde im 20. Jahrhundert als Zeichen für Homosexualität gedeutet. Solche Verhaltensweisen werden jedoch in der neueren Forschung als demonstrative Gesten der Verbundenheit und des Vertrauens gewertet. Mit dem Bündnis versuchte Richard Druck auf seinen Vater aufzubauen, ihn als Erben anzuerkennen. Er konnte seine Hoffnungen auf das angevinische Erbe weniger durch seinen Vater als durch den Kapetinger verwirklichen. Am 18. November 1188 leistete Richard demonstrativ das homagium für die Normandie und Aquitanien. Der französische König forderte von Heinrich, dass dieser die Großen Englands sowie die der Festlandsbesitzungen veranlassen sollte, Richard als Erben den Lehnseid zu schwören. Heinrich weigerte sich, Richard endgültig als Erben seines Reiches anzuerkennen. Es kam zum offenen Konflikt. Am 4. Juli 1189 musste Heinrich im Vertrag von Azay-le-Rideau das Homagium für seine Festlandsbesitzungen leisten, eine feste Zusage für die Ehe zwischen Richard und Alice nach dem Kreuzzug geben, zu dem er sich Ende 1187 verpflichtet hatte, und Richard als alleinigen Erben anerkennen. Außerdem musste er 20.000 Mark als Entschädigungszahlung leisten. Zwei Tage später starb Richards Vater in Chinon. Am 20. Juli 1189 konnte Richard in Rouen offiziell die Herrschaft der Normandie antreten. Bei einem Treffen mit dem französischen König zwischen Chaumont-en-Vexin und Trier erkannte er den Friedensvertrag von Colombières vom 4. Juli 1189 an. Er erklärte sich auch zu zusätzlichen Kriegsentschädigungen und zur baldigen Hochzeit mit Alice bereit. Richard versicherte sich der Loyalität wichtiger Barone, darunter der Ritter Maurice von Craon und Wilhelm Marshal. Für seine Krönung kam er für vier Monate nach England. Am 13. August traf er in Portsmouth ein. Sein Ansehen versuchte er zunächst durch einen großen Triumphzug durch England aufzubessern. Am 3. September wurde Richard in Westminster in einer aufwändigen Zeremonie von Erzbischof Balduin von Canterbury gesalbt und daraufhin gekrönt. Beim anschließenden Festbankett übernahmen die Grafen und Barone Aufgaben entsprechend ihren Hofämtern. Bürger aus London und Winchester dienten im Keller und in der Küche. Nahezu alle Großen des angevinischen Reiches waren zur Krönung erschienen. Im Zusammenhang mit der Krönung kam es zu Judenverfolgungen, die später wegen unzulänglicher Strafmaßnahmen zu Pogromen eskalierten, nachdem der König ins Heilige Land aufgebrochen war. Dritter Kreuzzug Nach der Niederlage des Königs von Jerusalem, Guido von Lusignan, gegen Saladin am 4. Juli 1187 in der Schlacht bei Hattin und der Einnahme Jerusalems am 2. Oktober 1187 rief Papst Gregor VIII. am 29. Oktober 1187 zum Kreuzzug auf. Richard verpflichtete sich im November 1187 zur Kreuzzugsteilnahme. Er war persönlich von der Kreuzzugsbewegung ergriffen. Seine Mutter hatte 1147 bis 1149 am Zweiten Kreuzzug teilgenommen. Außerdem war Guido von Lusignan für seinen angevinischen Besitz ein Lehensmann Richards. Das erste Heer war im Mai 1187 unter Führung Kaisers Friedrichs I. Barbarossa aufgebrochen. Bei der Überquerung des Flusses Göksu ertrank Friedrich am 10. Juni 1190. Der Großteil seines Heeres kehrte daraufhin in die Heimat zurück. Die verbliebenen Kreuzfahrer wurden vom Sohn des verstorbenen Kaisers, Friedrich von Schwaben, angeführt. Dieser erlag jedoch am 20. Januar 1191 einer Krankheit. Ranghöchster Kreuzfahrer war fortan der österreichische Herzog Leopold V. Die beiden anderen Hauptheere sollten dann von König Philipp II. von Frankreich und Richard Löwenherz angeführt werden. Lange vor dem Eintreffen der beiden westeuropäischen Monarchen war Leopold an der Belagerung Akkons beteiligt. Er verfügte aber nur über geringe Ressourcen und konnte damit kaum etwas durchsetzen. Vorbereitungen Nach der Krönung Richards zum englischen König hatte der Kreuzzug oberste Priorität. Für dessen Durchführung waren vor allem die Sicherung der Herrschaft während seiner Abwesenheit und die Finanzierung des Unternehmens entscheidend. Zeitgenössische Chronisten klagten, dass für den König alles verkäuflich sei – Ämter, Baronien, Grafschaften, Sheriffbezirke, Burgen, Städte, Ländereien. Nach Dieter Berg setzte Richard bei der Ämtervergabe vorrangig auf Kontinuität. Bei der Besetzung der Spitzenämter wurden vor allem erfahrene Funktionsträger seines Vaters berücksichtigt. Neben Wilhelm Longchamp, einem Vertrauten Richards, wurde mit Hugo du Puiset ein erfahrener Gefolgsmann Heinrichs als chief justiciar eingesetzt. Richard Fitz Neal behielt sein Amt des treasurers. Die Kontinuität setzte sich auch im Bereich der earldoms fort. Neu ernannt wurden lediglich der Königsbruder Johann für Gloucester, Roger Bigod für Norfolk und Hugo du Puiset für Northumberland sowie König Wilhelm von Schottland für Huntingdon. Innerhalb weniger Monate konnte Richard im englischen regnum enorme Geldsummen und Transportschiffe für den Kreuzzug beschaffen. Im Abrechnungsjahr 1190, dem Jahr der Vorbereitung auf den Kreuzzug, wurde eine erhebliche Steigerung der Einnahmen des Schatzamts festgestellt. Wichtige Barone konnten sich gegen Gebühren von ihrem Kreuzzugsgelübde lösen. Dazu kamen einmalige Zahlungen von Baronen bei Heirat oder Erbschaft und Sonderzahlungen der englischen Judenschaft für den königlichen Judenschutz. Nach dem Chronisten Richard von Devizes hätte Richard sogar London für den Kreuzzug verkauft, wenn er dafür einen Käufer gefunden hätte. Die Flotte konnte er zunächst durch Aktivitäten bei den Cinque Ports, Shoreham und Southampton auf 45 Schiffe ausbauen und dann durch Kauf bzw. Miete auf über 200 erweitern. Parallel zu den Kreuzzugsvorbereitungen verfolgte Richard eine eheliche Verbindung mit Berengaria von Navarra. Das angestrebte Ehebündnis war Bestandteil seiner aquitanischen Politik. Wohl schon 1188 hatte er Kontakte zum Königshof von Navarra aufgenommen. Die Ehe mit Berengaria entsprach seinen außenpolitischen Zielen besser als die Verbindung mit der kapetingischen Prinzessin Alice. Die angestrebte Heirat mit Berengaria sollte vielleicht auch für einen Nachkommen sorgen und dadurch die Regelung der Nachfolge angesichts des gefährlichen Kreuzzugsunternehmens gewährleisten. Mit Berengarias Vater Sancho VI. von Navarra wurde auch der letzte iberische Monarch, dessen Territorien an den angevinischen Besitz angrenzten, an Richard gebunden. Zu Alfons II. von Aragón hatte Richard bereits seit einiger Zeit gute Kontakte aufgebaut, zum kastilischen Hof hatte er durch die Heirat seiner Schwester Eleonore mit Alfons VIII. verwandtschaftliche Beziehungen. Mit der Pflege der Beziehungen zu den iberischen Herrschern wollte Richard auch möglichen Angriffen von deren Seite auf das aquitanische Herzogtum vorbeugen. Reise Am 30. Dezember 1189 und am 16. März 1190 traf Richard zu Gesprächen mit dem französischen König in Nonancourt bzw. Dreux zusammen. Die beiden Herrscher verpflichteten sich eidlich, keinen Krieg zu führen, bis sie sich nach der Rückkehr vom Kreuzzug vierzig Tage friedlich in ihren Reichen aufgehalten hätten. Falls einer von ihnen während des Unternehmens ums Leben kommen sollte, war geplant, dass der andere die Kriegskasse und die Truppen des Verstorbenen übernimmt. Am 4. Juli 1190 brachen die Könige in Vézelay zusammen auf, weil keiner dem anderen soweit vertraute, dass er vor ihm aufbrechen wollte. Aufgrund der Versorgungslage konnten die beiden Heere jedoch nicht gemeinsam ziehen. Richard traf am 23. September 1190 auf Sizilien ein. Seine Einfahrt in den Hafen Messina inszenierte er als ein feierliches Ereignis, während der Ankunft des französischen Königs eine Woche vorher kaum jemand größere Beachtung geschenkte hatte. Auf Sizilien überwinterte er. Dort waren, nachdem König Wilhelm II. von Sizilien, ein Schwager Richards, kinderlos gestorben war, Nachfolgekämpfe ausgebrochen. Die Großen hatten Tankred von Lecce erhoben, der aus dem Geschlecht der normannischen Könige von Sizilien stammte, aber von unehelicher Geburt war. Am 18. Januar 1190 wurde er von Erzbischof Walter von Palermo zum König gekrönt. Tankred hatte Richards Schwester Johanna, die Witwe Wilhelms II., inhaftiert und ihr das Wittum verweigert. Zwischen den englischen und französischen Kreuzfahrern und der einheimischen Bevölkerung kam es zu Konflikten. Richard eroberte daraufhin Messina. Unter dem Eindruck dieses Ereignisses ließ Tankred Johanna umgehend frei und schlug dem englischen König 20.000 Unzen Gold als Kompensation für das Wittum vor. Außerdem bot er an, eine seiner Töchter mit Richards Neffen Arthur von der Bretagne zu verheiraten und eine Mitgift von 20.000 Unzen Gold zu zahlen. Richard erklärte sich wohl im Oktober 1190 bereit, Tankreds Königtum zu unterstützen. Für den Fall eigener Kinderlosigkeit setzte Richard im Oktober 1190 in Messina seinen Neffen Arthur von der Bretagne als Erben ein. Der dreijährige Arthur war damit auch als potentieller Thronfolger in England vorgesehen. Verlierer dieser Regelung war Richards Bruder Johann, der sich bei Kinderlosigkeit Richards als Alleinerbe und damit Thronerbe in England ansah. Johann nutzte nach Bekanntwerden dieser Abmachungen Richards Abwesenheit zum Versuch, auf der Insel seine eigenen Thronansprüche durchzusetzen. Richard hatte parallel zu seinen Kreuzzugsvorbereitungen seine Mutter Eleonore in das Königreich Navarra geschickt, um dort sein Heiratsprojekt voranzutreiben. Dem französischen König erklärte er, dass er Alice nicht heiraten könne. Sein Vater Heinrich II. sei für seine außerehelichen Affären bekannt. Alice sei Heinrichs Geliebte gewesen und habe von ihm einen Sohn. Das Kirchenrecht erlaube ihm nicht, eine Frau zu heiraten, die mit seinem eigenen Vater Verkehr gehabt habe. Diese Beschuldigung stellte für den Kapetinger eine große Erniedrigung dar. Richard zahlte Philipp für die Auflösung des Eheversprechens 10.000 Mark Silber. Eilig verließ der französische König Messina am 30. März mit dem Ziel Outremer, nur wenige Stunden vor der Ankunft Eleonores und Berengarias – sonst hätte er womöglich an der Hochzeit teilnehmen müssen. Er kam am 20. April in Akkon an. Die Fastenzeit verhinderte jedoch eine Heirat in Sizilien. Am 10. April 1191 verließ Richard Messina mit einer Flotte von mehr als 200 Schiffen. Einige Schiffe kamen durch einen heftigen Sturm vom Kurs ab und strandeten an der Küste Zyperns, darunter auch das Schiff von Johanna und Berengaria. Dort wurden sie von den Zyprioten entwaffnet und unter Bewachung gestellt. Eroberung Zyperns und Heirat mit Berengaria von Navarra Im April 1191 wandte sich Richard gegen Zypern, wo sich vor sechs Jahren ein Spross der 1185 in Byzanz gestürzten Komnenendynastie, Isaak Komnenos, als Kaiser unabhängig gemacht hatte. Binnen eines Monats konnte Richard die Insel erobern und Isaak gefangen nehmen. Er nahm dabei Rücksicht auf den Rang des Gefangenen, denn die Haft in Ketten galt als besondere Demütigung. Nach verschiedenen Quellen hatte sich Isaak nur unter der Bedingung ergeben, dass ihm keine eisernen Ketten angelegt würden. Richard hielt sich daran und legte ihm silberne statt der üblichen eisernen Ketten an. Über den Anlass der Eroberung Zyperns herrscht in der Forschung keine Einigkeit. Nach einer älteren Forschungsmeinung war die Eroberung eine Folge zufälliger Ereignisse. Nach John Gillingham hingegen verfolgte Richard mit der Einnahme Zyperns einen spätestens im Winter 1190/91 gefassten strategischen Plan. Richard habe die Absicht verfolgt, die gefährdete Position der Kreuzfahrer im Heiligen Land durch eine ungefährdete rückwärtige Basis abzusichern. Gemäß Dieter Berg wollten die Kreuzfahrer einfach Beute machen und sich ein strategisch wichtiges Territorium sichern. Oliver Schmitt zufolge lässt sich die These von einem vorher gefassten Plan in den Quellen nicht nachweisen. Laut Michael Markowski ging es Richard weniger um langfristige strategische Ziele, sondern vor allem um die Herausstellung der eigenen Person als Idealtyp des abendländischen Ritters. In Limassol heiratete Richard am 12. Mai 1191 seine Verlobte Berengaria von Navarra. Als Königin hatte Berengaria für die weitere Herrschaftszeit Richards keine besondere Bedeutung. Anfang Juni 1191 verließ Richard Zypern. Auf der Insel ließ er nur ein sehr kleines Aufgebot zurück. Mit Richard von Camville und Robert von Turnham hatte er dort zwei seiner Befehlshaber als Gouverneure eingesetzt. Wenige Wochen später wurde Zypern für 100.000 Golddinare an den Templerorden verkauft. Richards Eroberung war folgenreich, denn Zypern blieb für fast vier Jahrhunderte unter lateinischer Herrschaft. Verlauf des Kreuzzuges im Heiligen Land Die Beute aus Zypern nutzte Richard, um seinen Feldzug im Heiligen Land zu verlängern. Am 8. Juni 1191 traf seine Flotte vor der von den Kreuzfahrern belagerten Stadt Akkon ein. Dort war Philipp zwar bereits im April 1191 angekommen, er hatte aber keinen militärischen Erfolg erzielen können. Die Belagerung der Stadt dauerte bereits fast zwei Jahre, doch wesentliche Fortschritte gelangen erst nach Richards Ankunft. Am 12. Juli 1191, rund fünf Wochen nach dem Eintreffen seiner Flotte, kapitulierte Akkon. Bei Richards Einzug in die eroberte Stadt machte er sich jedoch aufgrund einer Ehrverletzung den österreichischen Herzog dauerhaft zum Feind. Die Ehre war im Umgang der Protagonisten von größter Bedeutung; Ehre und Ehrgefühl spielten für Ethos und Mentalität des Adels eine zentrale Rolle, auf sie musste zwingend Rücksicht genommen werden. Dabei wurde Ehre nicht als moralische Kategorie verstanden; gemeint war der Respekt, den eine Person aufgrund ihres Ranges und ihrer sozialen Stellung erwarten konnte. Nach übereinstimmenden Angaben der Quellen setzte Leopold seine Fahne in der eroberten Stadt an markanter Stelle, womit er seinen Anspruch auf Beute und seinen Rang demonstrieren wollte. Diese Fahne wurde jedoch durch Richard oder zumindest mit seiner Duldung heruntergerissen und in den Schmutz getreten. Nach einer anderen Überlieferung hatte Leopold sein Zelt zu dicht an dem des Königs errichtet, worauf Richard eigenmächtig das Zelt des Herzogs zum Einsturz brachte. Mit der Nähe zum Ranghöchsten hatte Leopold seinen Rang im politischen Kräfteverhältnis öffentlich demonstrieren und behaupten wollen. Die Verstimmung war jedenfalls so massiv, dass Leopold und Richard nicht mehr persönlich, sondern nur noch über Vermittler miteinander kommunizierten. Richard leistete Leopold keine Genugtuung. Der österreichische Herzog zog gedemütigt und ohne Beute in seine Heimat ab. Nach John Gillingham stand Leopolds Anspruch auf Beute aber in keinem angemessenen Verhältnis zu seinem tatsächlichen Anteil an der Eroberung von Akkon. Damit folgt Gillingham einer Einschätzung, die bereits Heinrich Fichtenau 1966 vertreten hatte. Für die Umsetzung der Kapitulationsvereinbarung wurden tausend Verteidiger Akkons gefangen gehalten. Philipp II. kehrte Ende Juli 1191 in seine Heimat zurück. Als Grund für seine Abreise nannte der französische König das seiner Gesundheit nicht zuträgliche Klima. Nach dem kinderlosen Tod Philipps I. von Elsass müsse er sich auch um die Herrschaftsnachfolge in seiner Grafschaft Flandern kümmern. In der Forschung wird jedoch eher angenommen, dass er wegen der Konflikte mit dem englischen König abgezogen sei. Richard war fortan der uneingeschränkte Führer der Kreuzfahrerkontingente. Als sich nach der Eroberung Akkons die Zahlung des Lösegelds für die rund 3.000 muslimischen Gefangenen verzögerte, ließ Richard diese am 20. August 1191 hinrichten. Von späteren Historikern wurde er deswegen als rücksichtslos und brutal beschrieben. In der jüngeren Forschung wird aber stärker berücksichtigt, dass dieses Vorgehen den damaligen Gepflogenheiten im Abendland entsprach. Beim weiteren Vormarsch entlang der Küste errang Richard in der Schlacht von Arsuf am 7. September 1191 einen Sieg über Saladins Heer, er konnte dieses jedoch nicht vernichten. Vergeblich blieben daher im Januar und Juni 1192 seine Vorstöße auf Jerusalem. Parallel bestand immer wieder diplomatischer Kontakt mit Saladin. Richard schlug eine Heiratsverbindung zwischen Saladins Bruder Malik al Adil und seiner Schwester Johanna vor. Als Mitgift waren die Küstenstädte zwischen Akkon und Askalon im Gespräch. Wegen des Religionsunterschieds lehnten jedoch sowohl Johanna als auch al Adil eine Verbindung ab. Im April 1192 wurde Konrad von Montferrat, ein Anwärter auf den Thron des Königreichs Jerusalem und Gegner König Guidos von Lusignan, von Assassinen ermordet. Richard, der Guido unterstützt hatte, stimmte daraufhin einem Kompromiss zu: Guido wurde die Herrschaft auf Zypern übertragen und zum neuen König von Jerusalem wurde Graf Heinrich von der Champagne, ein Neffe Richards, gewählt. Ende Juli 1192 nahm Saladin nach kurzer Belagerung Jaffa ein. Der rasch herbeigeeilte Richard konnte die Stadt jedoch Anfang August 1192 im Handstreich zurückerobern und Saladin in der folgenden Schlacht von Jaffa vertreiben. Inzwischen war Richard erkrankt. Angesichts der Begrenztheit der verfügbaren militärischen Kräfte und der örtlichen Machtverhältnisse entschloss er sich, den Kreuzzug mit einem Waffenstillstand zu beenden. Auch aus Sorge vor Gebietsverlusten in Nordfrankreich wollte er heimkehren. Am 2. September 1192 schlossen Richard und Saladin mit dem Vertrag von Ramla den Waffenstillstand auf drei Jahre und acht Monate. Askalon, Darum und Gaza wurden an die Muslime zurückgegeben. Die Küstenstädte von Jaffa bis Tyrus verblieben den Christen. Jerusalem blieb unter der alleinigen Kontrolle Saladins, christlichen Pilgern wurde aber der Zugang zur Stadt gestattet. Da die Christen auf die Rückeroberung der Heiligen Stadt verzichten mussten, hatte der Kreuzzug sein eigentliches Ziel verfehlt. Nach Dieter Berg war Richard in erster Linie für den Fehlschlag verantwortlich. Durch den Abzug des französischen Königs wegen der Konflikte mit Richard war das Heer geschwächt. Berg hält es für unverständlich, dass Richard dennoch das Heer zweimal vor die Mauern Jerusalems führte, ohne einen Angriff wagen zu können. Anderer Meinung ist John Gillingham, der den ungünstigen Urteilen späterer Historiker entgegenhält, dass Richard von seinen Zeitgenossen als bedeutender Kreuzfahrer gewürdigt wurde. Am 9. Oktober 1192 trat Richard auf einem Schiff die Rückreise nach Europa an. Bei seiner Erkrankung 1191/92, die als major oder medius hemitritaeus beschrieben wird, kann es sich um eine Form von Malaria tertiana gehandelt haben. Gefangenschaft bei Kaiser Heinrich VI. Richard war auf seiner Rückreise nach einem Schiffbruch gezwungen, die Landroute über das römisch-deutsche Reich zu nehmen. Da er Vergeltung von seinem Intimfeind Herzog Leopold V. von Österreich befürchtete, reiste er verkleidet und mit nur wenigen Begleitern, darunter Balduin von Béthune, Philipp von Poitiers, Wilhelm de l’Etang und der Kaplan Anselm. Sein Ziel war Bayern, das Einflussgebiet Heinrichs des Löwen. Schon der Zwang zur Verkleidung war in einer nach Rang geordneten mittelalterlichen Gesellschaft, in der Ehre und Status öffentlich demonstriert wurden, beschämend. Dieter Berg beurteilt Richards Verkleidung als „befremdliches und zugleich amateurhaftes Versteckspiel“. Es sei unklar, warum Richard nicht offen um freies Geleit als Kreuzfahrer nachsuchte. Graf Meinhard von Görz wurde Anfang Dezember 1192 auf die Reisegruppe aufmerksam und erkannte den König, doch zunächst konnte dieser entkommen. Seine Flucht endete wenige Tage vor Weihnachten 1192 im Herrschaftsgebiet des Herzogs Leopold. Die widersprüchlichen Angaben der Quellen erhellen die konkreten Umstände der folgenden Gefangennahme nicht. Alle Quellen stimmen jedoch darin überein, dass es Leopolds Rache für die erlittene Ehrverletzung gewesen sei. Die ausführlichste Darstellung bietet die Chronik Ottos von Freising mit der Fortsetzung Ottos von St. Blasien. Sie ist voller Häme über die Ereignisse. Nach ihrer Schilderung war Richard als einfacher Pilger verkleidet und wurde von Leopold laut ausgelacht, als dieser ihn in Erdberg bei Wien beim nicht standesgemäßen Hühnerbraten in einer schäbigen Behausung gefangen nehmen konnte. Zum Verhängnis sei ihm sein Repräsentationsbedürfnis geworden. Als einfacher Knecht habe er ein Huhn gebraten, dabei aber vergessen, einen wertvollen Ring vom Finger zu ziehen. Die englischen Chronisten hingegen orientierten sich am Modell ritterlichen Handelns. Sie betonten, dass Richard sich selbst in dieser schwierigen Lage als König würdevoll verhalten habe. Er sei im Schlaf überrascht worden, habe sein Schwert nur dem Herzog übergeben wollen, habe sich von der Übermacht des Herzogs nicht einschüchtern lassen, oder er habe sich vom Herzog persönlich gefangen nehmen lassen. Viele Geistliche in Europa sahen die Gefangennahme eines Kreuzfahrers als schwere Sünde an. Für die dem österreichischen Herzog nahestehenden Chronisten war es die berechtigte Rache für die erlittene Ehrverletzung in Akkon. Die hofnahe englische Überlieferung berichtet recht ausführlich über die Ereignisse zwischen Gefangenschaft und Freilassung, die deutschen Quellen hingegen schweigen nahezu vollständig. John Gillingham deutet das Schweigen als ein Zeichen dafür, dass die Gefangenschaft eines unter dem Schutz der Kirche stehenden Kreuzfahrers als unwürdig und für Leopolds Ehre abträglich betrachtet wurde. Nach Knut Görich liegt das Schweigen aber auch darin begründet, dass es keine hofnahen Geschichtsschreiber unter den deutschen Chronisten gab. Richard wurde Hadmar II. von Kuenring, einem der mächtigsten Ministerialen des Babenbergerherzogs, übergeben und auf der Burg Dürnstein bei Krems an der Donau inhaftiert. Bereits am 28. Dezember 1192 informierte der Kaiser den französischen König Philipp II. über die Gefangennahme Richards. Er teilte ihm mit, dass er den „Feind unseres und den Unruhestifter deines Reiches“ (inimicus imperii nostri, et turbator regni tui) nun festgesetzt habe. Bei der päpstlichen Kurie sorgte Richards Gefangennahme für Entrüstung. Papst Coelestin III. forderte die Freilassung und drohte mit der Exkommunikation, da Richard als Kreuzfahrer unter dem Schutz der Kirche stehe und das Recht auf freie Rückreise habe. Leopold wurde von Papst Coelestin III. im Juni 1194 exkommuniziert. Kaiser Heinrich VI. versuchte aus Richards Gefangenschaft politischen Nutzen zu ziehen. Er stand wegen der Ermordung des Lütticher Bischofs Albert von Löwen unter politischem Druck, denn ihm wurde die unterbliebene Bestrafung der Mörder zur Last gelegt. Richard hatte gute Verbindungen zur norddeutschen Fürstenopposition, die möglicherweise als Gegenleistung für seine Freilassung zur Mäßigung gegenüber Kaiser Heinrich bewegt werden konnte. Heinrich begann mit Leopold im Frühjahr 1193 Verhandlungen über die Auslieferung des englischen Königs. Am 6. Januar 1193 wurde Richard als Gefangener nach Regensburg überführt und dort dem Kaiser präsentiert. Eine Einigung zwischen Leopold und Heinrich VI. blieb jedoch aus, worauf der österreichische Herzog Richard wieder zurückbrachte. Richard blieb trotz der Gefangenschaft eingeschränkt handlungsfähig. So konnten auch in diesem Zeitraum Rechtsdokumente ausgefertigt werden. Zunächst wurden lediglich Briefe und writs (königliche Verfügungen) verfasst. Nach erfolgreichen Freilassungsverhandlungen gehörte ab Sommer 1193 der Kanzler Wilhelm von Longchamp zu Richards persönlichem Gefolge. Spätestens seit diesem Zeitpunkt wurden auch wieder königliche Urkunden konzipiert. Aus seiner Gefangenschaft betrieb Richard die Wahl Hubert Walters zum Erzbischof von Canterbury. Als Justiciar stellte Walter während der Abwesenheit des Königs die Herrschaft sicher. Als Johann Ohneland von der Gefangenschaft seines Bruders Richard erfuhr, suchte er in Paris umgehend die Unterstützung Philipps II. Im Januar 1193 begab er sich an dessen Hof. Auf diese Weise wollte er sich das Erbe sichern. Vom französischen König wurde er mit der Normandie belehnt. Philipp unterstützte Johanns Ambitionen auf den englischen Thron, und dieser leistete ihm einen Lehenseid. Außerdem bot Philipp unzufriedenen Adligen in den englischen Festlandsbesitzungen seinen Schutz an. Heinrich und Leopold besiegelten in Würzburg eine Einigung über die Freilassungsbedingungen. Im Würzburger Vertrag vom 14. Februar 1193 wurden 100.000 Mark Reinsilber als Lösegeld festgelegt, je zur Hälfte an Leopold und Heinrich VI. Außerdem sollte Richard sich zur Unterstützung des nächsten Sizilienfeldzuges des Kaisers verpflichten. Im März 1193 warf Heinrich auf dem Hoftag in Speyer vor den Reichsfürsten dem englischen König zahlreiche Verbrechen vor, darunter der Mord an Konrad von Montferrat, einem Lehnsmann des Reiches, den er veranlasst habe. Richard habe mit Isaak von Zypern einen Verwandten des Kaisers inhaftiert und dessen Land veräußert. Er habe die Fahne von Heinrichs Verwandten Herzog Leopold geschmäht. Außerdem habe er mit der Unterstützung König Tankreds dem Kaiser das sizilische Königreich, das Erbe seiner Gemahlin Konstanze, vorenthalten wollen. Er habe auch seine Lehnspflichten gegenüber König Philipp missachtet. Mit Saladin habe er einen schändlichen Frieden geschlossen. Die Klagepunkte sollten zeigen, dass Heinrich den englischen König nicht willkürlich und ohne triftigen Grund in Gefangenschaft hielt. Richard erhielt Gelegenheit, in freier Rede vor dem Fürstengericht die einzelnen Vorwürfe zu entkräften. Er bot außerdem einen gerichtlichen Zweikampf an, den aber keiner der Anwesenden gegen den Herrscher durchführen wollte. Nachhaltigen Eindruck hinterließ Richard in der Reichsversammlung mit dem Eingeständnis, er habe Fehler begangen, und mit seiner demonstrativen Geste, sich vor dem Kaiser zu Boden zu werfen und Gnade zu erbitten. Heinrich gewährte ihm dies, indem er den knienden König an sich zog und ihm den Friedenskuss gab. John Gillingham erklärt Heinrichs Verhalten mit der feindseligen Stimmung auf dem Hoftag, die ihn bewogen habe, Richard in Gnade aufzunehmen. Roger von Howden überliefert eifrige Verhandlungen dazu am Vortag, in denen „der Kaiser vieles forderte, was Richard selbst unter Todesgefahr nicht zuzugestehen bereit war“. Über den Gegenstand der Verhandlungen ist jedoch nichts bekannt. Nach Klaus van Eickels verlangte der Staufer eine besonders demütigende Form der Unterwerfung, die Richard nicht zu leisten bereit war. Gerd Althoff konnte anhand zahlreicher Vergleichsbeispiele zeigen, dass Kniefall und Friedenskuss keine spontanen Emotionen ausdrückten, vielmehr waren solche Szenen im Mittelalter inszeniert. Dieter Berg bewertet den Ausgang des Hoftages als wichtigen Prestigeerfolg Richards. Dieser blieb jedoch in Haft und wurde bis Mitte April auf der Burg Trifels festgesetzt. Danach hielt er sich im Gefolge des Kaisers auf, zunächst in der elsässischen Pfalz Hagenau. Am 25. März 1193 akzeptierte Richard auf einem Hoftag zu Speyer die in Würzburg festgelegte Summe. Er musste 100.000 Mark Silber zahlen. Außerdem hatte er 50 Schiffe und 200 Ritter für ein Jahr zu stellen. Die Forderung der persönlichen Teilnahme am Sizilienfeldzug des Kaisers wurde fallengelassen. Im Wormser Freilassungsvertrag vom 29. Juni 1193 wurden die Details geregelt. Das Abkommen von Worms wird von Roger von Howden überliefert. Das Lösegeld wurde auf 150.000 Silbermark erhöht. Für die Freilassung sollten 100.000 Mark Reinsilber nach Kölner Gewicht bezahlt werden. Das entsprach etwa 23,4 Tonnen Silber. Für die weiteren 50.000 Mark sollten Geiseln gestellt werden, davon sechzig für den Kaiser und sieben für den Herzog von Österreich. Das Lösegeld sollte in London an kaiserliche Gesandte übergeben, von diesen geprüft und dann in Transportbehältnisse versiegelt werden. Die Bereitstellung des Lösegeldes, das den dreifachen Jahreseinnahmen der Krone entsprach, war eine immense Herausforderung. Im königlichen Schatzamt, dem Exchequer, wurde eine Sonderabteilung, das scaccarium redemptionis, eingerichtet, die mit dem Einzug der Lösegeldsteuern beauftragt war. Der hohe Klerus musste liturgisches Gerät und den vierten Teil seiner jährlichen Einnahmen abgeben. Eine Sondersteuer von 25 Prozent musste eingeführt und königlicher Besitz verkauft werden. Der Gewinn aus der Wollproduktion, der eigentlich für die Zisterzienser vorgesehen war und normalerweise von königlichen Abgaben befreit war, wurde konfisziert. Das im 13. Jahrhundert kompilierte Red Book of the Exchequer überliefert, dass jeder Inhaber eines Ritterlehens 20 Schilling abzugeben hatte. Heinrich VI. legte zu Weihnachten 1193 als Tag für die Freilassung Richards den 17. Januar 1194 fest. Ein beträchtlicher Teil des Lösegelds war mittlerweile beschafft und in das Reich gebracht worden. Richard hatte unterdessen das Weihnachtsfest 1193 in Speyer verbracht. Philipp II. und Johann Ohneland versuchten die vom Kaiser bereits zugesagte Freilassung durch weitreichende finanzielle Versprechen zu verhindern. Philipp erklärte sich zur Zahlung von 100.000 Mark und Johann von 50.000 Mark für die Auslieferung Richards bereit. Alternativ boten sie für jeden weiteren Monat von Richards Gefangenschaft 1.000 Mark an. Heinrich war sich angesichts des neuen Angebots über die weitere Behandlung des Gefangenen unschlüssig geworden und stellte daher die Entlassung auf dem Mainzer Hoftag im Februar 1194 den anwesenden Fürsten zur Diskussion. Die Großen bestanden jedoch auf der vereinbarten Freilassung des englischen Königs. Richard profitierte damit von seinen bereits bestehenden persönlichen Verbindungen mit den Großen, die er in den vergangenen Monaten aufgebaut hatte. Heinrich gelang es jedoch, Richard zu zwingen, das englische regnum vom Kaiser zu Lehen zu nehmen und jährlich einen Tribut von 5000 Pfund zu zahlen. In diesem Zusammenhang berichtet einzig Roger von Howden davon, dass Richard zum König von Burgund gekrönt werden sollte. Dieses Herrschaftsgebiet gehörte zwar nominell zum Reich, jedoch übte der Kaiser dort keine tatsächliche Herrschaft aus. Nach Knut Görich könnte es sich um eine demonstrative Ehrung handeln, um dem englischen König die Lehnsübertragung seines eigenen Reiches erträglicher zu machen. Am 4. Februar 1194 wurde Richard auf dem Hoftag in Mainz aus der Haft entlassen. Er leistete die Lehenshuldigung für seine gesamten Herrschaftsgebiete. Es waren 100.000 Mark Silber an Heinrich bezahlt und für die weiteren 50.000 Mark Geiseln gestellt worden, darunter die beiden Söhne Heinrichs des Löwen, Otto und Wilhelm. Die Erzbischöfe von Köln und Mainz übergaben Richard seiner Mutter Eleonore von Aquitanien. Nach seiner Freilassung verbrachte er einige wenige Tage in den Wäldern von Nottingham. Die Verknüpfung der Sage von Robin Hood, der mit seinen Getreuen in den Wäldern des Sherwood Forest lebte, mit der Geschichte von Richard Löwenherz erfolgte jedoch erst im 16. Jahrhundert. Die Lösegeldzahlung bedeutete für Leopold die Wiederherstellung seiner auf dem Kreuzzug durch Richard verletzten Ehre. Er finanzierte damit die Erweiterung seiner Residenzstadt sowie die Gründungen von Wiener Neustadt und Friedberg. Sein plötzlicher Tod am 31. Dezember 1194 durch einen Sturz vom Pferd wurde von den Zeitgenossen als Gottesurteil über die Gefangennahme Richards angesehen. Heinrich nutzte seinen Anteil für die Eroberung des normannischen Königreichs Sizilien. Mit der Lösegeldzahlung sollen erstmals in großem Ausmaß Sterlinge auf den europäischen Kontinent in Umlauf gekommen sein. In London führten die ständigen Geldforderungen des Königs 1196 zu einem Aufstand unter Wilhelm Fitz Osbert, der niedergeschlagen wurde. Restauration der Herrschaft in England Nach seiner Freilassung betrat Richard am 13. März 1194 für zwei Monate noch einmal englischen Boden. Trotz der langen Gefangenschaft funktionierten nach John Gillingham die angevinischen Verwaltungsstrukturen gut. Auf der Insel traf er Maßnahmen zur Stabilisierung seiner Herrschaft und bemühte sich um möglichst große Geldsummen für die geplanten Heerzüge gegen den französischen König. Richard berief für Ende März und Anfang April 1194 einen Hoftag zu Nottingham ein. Auf dem gut besuchten Hoftag, an dem auch die Königinmutter sowie der Bruder des schottischen Königs teilnahmen, wurden zahlreiche Strafmaßnahmen gegen Rebellen und personelle Veränderungen in der Verwaltung beschlossen. Wenige Tage später, am 17. April, zeigte sich Richard im Beisein seiner Mutter Eleonore in der Kathedrale von Winchester. Seine Festkrönung sollte die Schande seiner Gefangenschaft auslöschen und seine Ehre wiederherstellen. William von Newburgh notierte, dass Richard bei der Krönung in Winchester wie ein neuer König aufgetreten sei und durch den Glanz der Krone seines Reiches die Schmach seiner Gefangenschaft abgewaschen habe. Im Jahr 1195 vereinbarte Richard mit König Wilhelm I. von Schottland die Ehe zwischen seinem Neffen Otto, dem späteren römisch-deutschen Kaiser Otto IV., und Wilhelms Tochter Margarete von Schottland, die voraussichtlich die schottische Thronfolgerin werden sollte. Damit wollte Richard seinen Einfluss auf Schottland ausdehnen, und für Ottos Geschlecht, die Welfen, stand mit dem Heiratsprojekt eine neue Machtbasis in Aussicht. Wilhelm trat jedoch von der Vereinbarung zurück, nachdem er erfahren hatte, dass seine Frau schwanger war. Auch der Druck des schottischen Adels könnte für seinen Rückzug ausschlaggebend gewesen sein. Für die Beschaffung von neuen Finanzmitteln spielte der Finanz- und Verwaltungsapparat eine wichtige Rolle. Amts- und Funktionsträger, die bei Richards Herrschaftsantritt bereits für ihre Ämter hohe Geldzahlungen geleistet hatten, mussten erneut zahlen. Im Frühjahr 1194 wurde das Steuer- und Heerwesen umfassend reformiert. Die Feudal-Abgaben wie das scutagium machten 1194 41,1 Prozent und 1198 42,7 Prozent der Gesamteinnahmen aus. Nach der Einführung eines neuen Siegels 1198 mussten alle Privilegienempfänger ihre Dokumente gegen Gebühren neu besiegeln lassen. Bei sämtlichen Juden auf der Insel wurde 1194 eine Bestandsaufnahme durchgeführt. Sie mussten alle ihre Geld- und Kreditgeschäfte schriftlich dokumentieren und die Nachweise in Dokumentenkästchen, den sogenannten archae, hinterlegen. Diese Kästchen wurden in 27 Städten eingerichtet. Außerdem wurde 1194 mit dem Exchequeur of the Jews ein eigenes Schatzamt für die Juden geschaffen. Mit diesen Maßnahmen wollte die Krone deren Wirtschafts- und Finanztätigkeit sowie die Finanzkraft der unter königlichem Schutz stehenden Juden besser einschätzen. So sollte verhindert werden, dass bei zukünftigen Pogromen jüdische Schuldscheine vernichtet würden und dadurch dem Königtum ein materieller Schaden entstünde. Höfische Kultur und Herrschaftspraxis Der Hof entwickelte sich ab dem 12. Jahrhundert zu einer zentralen Institution königlicher und fürstlicher Macht. Selbst ein zeitgenössischer Kenner des Hofes wie Walter Map erwähnte in seiner Schrift De nugis curialium die Schwierigkeit einer klaren Definition des hochmittelalterlichen Hofes. Martin Aurell, einer der besten Kenner der kontinentalen Geschichte der Plantagenets, definierte den Hof als Mittelpunkt, der sowohl Residenz als auch zentraler Gerichtsort war. Vom Hof aus versuchten die Plantagenets ihr „Mosaik aus Königreichen, Fürstentümern und Herrschaften“ zu beherrschen. Der Hof sei aber auch ein kulturelles Zentrum gewesen. Er habe für die Plantagenets die Anbindung an das normannische Herrscherhaus und den Artussagenkreis hergestellt und für die Verbreitung ihres Ruhms durch Spielleute gesorgt. Bis weit in das 14. Jahrhundert wurde mittelalterliche Herrschaft durch ambulante Regierungspraxis ausgeübt. Für die anglo-normannischen Könige und die anglo-angevinischen Herrscher galt dies nicht nur für ihr insulares Reich, sondern ebenso für ihre festländischen Besitzungen. Das Angevinische Reich bestand seit 1154 neben England aus den französischen Herzogtümern Normandie und Aquitanien sowie den Grafschaften Maine und Anjou. Für ihren Besitz auf dem Festland waren die englischen Könige Vasallen des französischen Königs. Für den letzten anglonormannischen Herrscher Heinrich I. war Rouen der bevorzugte Aufenthaltsort gewesen. Unter Richards Vater Heinrich II. hatte sich der Schwerpunkt des Itinerars nach Chinon an der Loire und damit noch weiter nach Süden verschoben. Richard war in seiner gesamten Zeit als König nur zweimal in England: vier Monate zu seiner Krönung am 3. September und zwei Monate nach seiner Freilassung aus der Gefangenschaft 1194. In der zweiten Hälfte seiner Herrschaftszeit hielt sich Richard durchweg in seinen französischen Besitzungen auf. Seine Frau Berengaria hat weder zu Lebzeiten ihres Gemahls noch nach seinem Tod England betreten. Sie ist damit die einzige englische Königin, die niemals auf der Insel war. Richards Itinerar überschnitt sich dabei nicht mit dem Berengarias, die ihre Aufenthalte vor allem im Tal der Loire in Beaufort-en-Vallée, Chinon und Saumur hatte. Anscheinend versuchte Richard kaum mit Berengaria einen Nachkommen zu zeugen. Im 20. Jahrhundert haben Historiker dieses Verhalten als Ausdruck der vermuteten Homosexualität angesehen. Klaus van Eickels nimmt hingegen an, dass Richard zeugungsunfähig war und dies wusste, nachdem aus seinen zahlreichen vorehelichen Affären kein Nachwuchs hervorgegangen war. Als König, der ständig auf Reisen war, bewegte sich Richard in einem mehrsprachigen Umfeld. Er sprach sicherlich Anglonormannisch, konnte Latein verstehen und lesen. Englisch sprach er wohl eher selten. Provenzalisch war die Sprache seiner Mutter und wurde in Aquitanien gesprochen. In dieser Sprache kommunizierte er wohl auch mit seiner Frau Berengaria. Während des Kreuzzuges und in der Zeit der Gefangenschaft war die Hofhaltung stark eingeschränkt. Die Regierungsgeschäfte übernahmen in den wichtigsten Provinzen von Richard eingesetzte hohe Beamte. Zur Kontrolle dieses Systems musste der Hof ständig reisen. Die Verwaltungsstrukturen waren in England und in der Normandie am weitesten entwickelt. Bereits unter Heinrich I. hatte sich mit dem sogenannten Exchequer eine beginnende und vor allem separate Verwaltung von geldlichen Einnahmen und Ausgaben als eigenes „Schatzamt“ gebildet. Die Regierungsgeschäfte führten bei Abwesenheit des Herrschers fähige Amtsverwalter wie Hubert Walter und königliche Institutionen wie das besagte Schatzamt. Hubert Walter war einer der wichtigsten Amtsträger im Umfeld des Königs. Bei Richards Herrschaftsantritt wurde er für seine Verdienste auf den vakanten Bischofsstuhl von Salisbury erhoben. Dort ist er in der Kathedrale jedoch nur einmal nachweisbar. Er begleitete Richard auf den Dritten Kreuzzug und führte während der Erkrankung des Königs die Verhandlungen mit Saladin. Zurück in England wurde er zum Erzbischof von Canterbury gewählt. Er kümmerte sich auch um das Lösegeld und übte ab Weihnachten 1193 als Justiciar während der Abwesenheit des Königs die Regentschaft in England aus. Da er im März 1195 auch päpstlicher Legat für England wurde, hatte er als Vertreter des Königs nicht nur vizekönigliche Macht, sondern auch die geistliche Führung in England inne. Seit dem Frühjahr 1194 hielten sich vor allem weltliche Barone und einfache Ritter in der Umgebung des Königs auf. Sie gewannen durch die Kämpfe gegen den französischen König immer größere Bedeutung. Dagegen ging der Einfluss der geistlichen Gruppierung zurück. Zu ihr zählten die Bischöfe von London, Richard Fitz Neal und Wilhelm de Sainte-Mère-Église, von Durham, Hugo de Puiset, und von Rochester, Gilbert de Glanville. Neuere Forschung hebt auch die Bedeutung von Richards Mutter für die Ordnung und Sicherheit des Reiches während der Abwesenheit ihres Sohnes hervor. Nach Jane Martindale übte Eleonore nach 1189 zunächst in England und dann in Aquitanien eine königliche Macht aus. Ralph V. Turner zufolge ging es Eleonore in ihren letzten fünfzehn Lebensjahren vor allem darum, das angevinische Reich intakt zu bewahren. Für die englischen Könige wurde König Artus zur zentralen Identifikationsfigur. Kurz nach seiner Krönung ließ Richard im Kloster Glastonbury eine Ausgrabung durchführen. Das Kloster galt als eine der ältesten christlichen Kultstätten und wurde seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts mit dem legendären Avalon identifiziert. Bei der Ausgrabung wurden nach zeitgenössischer Vorstellung die Gräber von König Artus und seiner Gemahlin Guinevere entdeckt. Das vorgebliche Artusgrab wird als Fälschung angesehen; deren Zweck wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Die Schrift gewann im ausgehenden 12. Jahrhundert als Herrschaftsmittel zunehmend Bedeutung, auch in der Verwaltung. An den Höfen Europas etablierten sich schriftliche Verfahrensformen wie die Pipe Rolls, auf denen die jährlichen Einnahmen der Krone festgehalten wurden. Die Pipe Rolls bieten nicht nur Einblicke in das soziale Gefüge Englands, sondern sind auch eine wichtige prosopographische Quelle. In den Abrechnungen werden auch Ereignisse aus dem politischen Alltag deutlich. So zeigen Eintragungen, dass sich Richard Teile der Herrschaftsinsignien in die Gefangenschaft bringen ließ. In der Kanzlei, dem wichtigsten Bestandteil des Hofes, wurden ab 1199 die ausgehende Korrespondenz sowie Urkunden archiviert und registriert. Auf seinem Siegel wird Richard auf einem Ross gezeigt, mit einem erhobenen Schwert in der Rechten. Die Siegel dienten den englischen Königen der Repräsentation und der Veranschaulichung der eigenen Legitimität, wobei sie andere Strategien verfolgten als die römisch-deutschen Herrscher. Die englischen Könige hielten in der rechten Hand ein nach oben gerecktes Schwert, die römisch-deutschen Könige bevorzugten stattdessen Reichsapfel und Zepter. Richards Gefangenschaft war der Anlass für die Entstehung des Artusromans Lanzelet aus der Feder Ulrichs von Zatzikhoven. Längere Zeit gewährte Richard einem Sänger namens Blondel an seinem Hof Unterhalt. Die damals berühmtesten Troubadoure wie Peire Vidal, Arnaut Daniel, Guiraut de Borneil oder Bertram de Born (der Ältere) hielten sich in der Umgebung von Richard Löwenherz auf. Vom englischen Monarchen selbst sind lediglich zwei Lieder erhalten. Beide werden zu den Sirventes gezählt. In der Forschung wird jedoch angenommen, dass sein dichterisches Gesamtwerk umfangreicher gewesen sein muss. Das erste Lied, Ja nus hons pris ne dira, besteht aus sechs Strophen und ist mit Altfranzösisch und Okzitanisch in zwei Sprachen überliefert. Thematisiert wird darin die Erfahrung der Gefangenschaft und des Treuebruchs. Die Entstehung des Lieds wird um den Jahreswechsel 1193/1194 datiert, also in die Endphase von Richards Gefangenschaft gesetzt. Das zweite Lied, Daufin, je’us vuoill derainier, entstand zwischen 1194 und 1199. Darin kritisiert Richard die Grafen der Auvergne, weil sie in seiner Abwesenheit ihre Ländereien nur halbherzig gegen den französischen König verteidigt hätten. Letzter Lebensabschnitt Englisch-französische Auseinandersetzungen Am 12. Mai 1194 landete Richard in Barfleur. Er verzichtete auf eine strenge Bestrafung seines Bruders Johann Ohneland und nahm ihn wieder in Gnaden auf. Nach dem Ausgleich mit Johann widmete er sich den Vorbereitungen für den Kampf gegen den französischen König. Bei Richards überraschendem Angriff am 5. Juli 1194 konnte sich der französische König nur durch Flucht retten. Dabei verlor er neben Männern und Ausrüstung auch sein Siegel und das königliche Archiv. Am 23. Juli 1194 wurde in Tillières bei Verneuil mit Unterstützung eines päpstlichen Legaten ein Waffenstillstand bis zum 1. November 1195 geschlossen. Richard machte in dieser Vereinbarung größere Zugeständnisse. Wahrscheinlich wollte er die folgenden Monate für den Aufbau weiterer finanzieller Mittel und neuer militärischer Kräfte nutzen. Nach dieser Vereinbarung konnte der Kapetinger über große Territorien in der Normandie verfügen, Richard hingegen durfte lediglich vier normannische Burgen wieder aufbauen und durfte keine weiteren Rekuperationspläne verfolgen. Richard nutzte die gewonnene Zeit, um die Kriegskasse wieder aufzufüllen. Im Jahr 1194 wurde eine allgemeine Steuer in Höhe von 10 Prozent auf alle Exportgüter eingeführt. Für den Kampf gegen Philipp konnte John Gillingham zeigen, dass Richard als Herrscher teilweise auch mit geschönten oder gefälschten Briefen die öffentliche Meinung in Europa zu beeinflussen suchte. Seit Herbst 1194 liefen auf beiden Seiten die Vorbereitungen für neue Kämpfe. Bis zum Juli 1195 wurde der Waffenstillstand allerdings eingehalten. Im November/Dezember 1195 kam es bei Issoudun zur Schlacht, aus der Richard siegreich hervorging. Im Friedensvertrag von Gaillon 1196 musste er zwar dauerhaft auf das normannische Vexin verzichten, doch konnte er seine Stellung in anderen Teilen der Normandie, in Aquitanien und im Berry festigen. Im Jahr 1196 ließ Richard innerhalb kürzester Zeit Château Gaillard errichten. Dadurch sollte der Zugang zur Normandie über das Seinetal gesperrt werden. Im Juni 1196 nahmen die beiden Könige die Kampfhandlungen wieder auf, da sie beide mit dem erreichten Status unzufrieden waren. Im Juli 1197 konnte Richard den flämischen Grafen Balduin IX. als Verbündeten gewinnen und mit dem südwalisischen Fürsten Gruffydd ap Rhys ap Gruffydd einen Ausgleich erzielen. Dies gab ihm die Möglichkeit für einen Zweifrontenkrieg gegen den Kapetinger. Im Sommer 1198 griff er Philipp bei einem Feldzug durch das Vexin erneut an. Der französische König versuchte vergeblich die Burg Gisors zu erreichen; die Brücke über die Epte brach unter der Last der schwer bewaffneten Ritter zusammen, zwanzig Ritter ertranken, der König wurde aus dem Wasser gerettet. Hunderte Ritter gerieten in Gefangenschaft. In der Schlacht von Gisors im September 1198 in der Normandie erlitt Philipp eine deutliche Niederlage. Tod und Nachfolge Der mächtige Herzog Heinrich der Löwe wurde 1180 von Friedrich Barbarossa auf Betreiben mehrerer Fürsten gestürzt und musste für mehrere Jahre ins englische Exil gehen. Seine Kinder Heinrich von Braunschweig, Otto von Braunschweig, Wilhelm von Lüneburg und Richenza hatten seit 1182 vorwiegend am angevinischen Hof gelebt und wurden dort erzogen. Der kinderlose Richard zog anscheinend zeitweilig Heinrichs Sohn Otto für die eigene Nachfolge in Erwägung. Richards Bruder Gottfried war bereits früh verstorben. Otto wurde von Richard im Februar 1196 zum Ritter geschlagen und im Spätsommer 1196 mit der Grafschaft Poitou belehnt. Damit wurde Otto faktisch zum Stellvertreter des Königs in Aquitanien. Es gelang Richard jedoch nicht, Otto als seinen Nachfolger durchzusetzen. Der Tod Heinrichs VI. 1197 schuf im Reich nördlich der Alpen ein Machtvakuum, denn Heinrichs Sohn Friedrich war noch ein kleines Kind und weilte weit weg in Sizilien. In einem Reich ohne geschriebene Verfassung führte dies 1198 zu zwei Königswahlen und zum „deutschen“ Thronstreit zwischen dem Staufer Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto. Dadurch bekam der englisch-französische Gegensatz ein weiteres Aktionsfeld. Richard unterstützte Otto, denn er wollte im Reich nördlich der Alpen einen zuverlässigen Partner für seine Auseinandersetzung mit dem französischen König haben. Nach John Gillingham investierte Richard in hohem Maße diplomatische Mühen und Geld für den antistaufischen Kandidaten wegen seiner demütigenden Gefangenschaft bei dem verstorbenen Staufer. Die Gefangenschaft hatte Richards Ehre (honor) beeinträchtigt, worauf er – wie Knut Görich betont – mit Rache am Beleidiger zu reagieren hatte, denn Ehre hatte zentrale Bedeutung als verpflichtende Norm. Die Kapetinger hingegen verbündeten sich am 29. Juni 1198 mit dem Staufer Philipp von Schwaben. Am 9. Juni 1198 wurde Otto vor allem wegen der Unterstützung seines reichen Onkels Richard zum König gewählt. Zuvor war am 8. März in Mühlhausen Philipp von Schwaben zum König gewählt worden. Der Thronstreit endete erst einige Jahre nach Richards Tod mit der Ermordung Philipps. Richard begab sich im März 1199 in das Limousin. Dort war eine Revolte des Grafen Ademar von Angoulême sowie des Vizegrafen Aimar von Limoges und seines Sohnes Guido ausgebrochen. Als sich der nicht ausreichend geschützte Richard am 26. März 1199 den Mauern der Burg Châlus-Chabrol näherte, wurde er durch einen Armbrustbolzen tödlich verwundet. Ein Arzt konnte lediglich den Bolzen herausschneiden. Zehn Tage später erlag der König seiner Verletzung: Am Abend des 6. April 1199 starb er vor den Mauern der Burg Châlus-Chabrol an Wundbrand. Richard gehört zu den wenigen mittelalterlichen Herrschern, die als anerkannter König ihr Leben im Kampf verloren. Die Todesumstände regten zur Legendenbildung an. Dem Armbrustschützen, der ihn getroffen hatte, soll er auf dem Sterbebett vergeben haben. Die Burg habe er wegen der Aussicht auf einen großen, darin behüteten Schatz belagert. Diese Erklärung basierte jedoch auf einer zeitgenössischen Legende. In einer quellenkritischen Untersuchung konnte John Gillingham zeigen, dass die Belagerung Teil von Richards aquitanischer Politik war und als vorbeugende Maßnahme gegen die Pläne des französischen Königs zu verstehen ist. Richards Gehirn und Eingeweide wurden in Charroux im Poitou beigesetzt, das Herz in der Kathedrale von Rouen, dem Zentrum englischer Herrschaft in der Normandie. Der restliche Körper wurde mit den königlichen Insignien am 11. April 1199 in der Abtei Fontevraud neben seinem Vater bestattet. Richard war der erste König von England, der mit seinen Krönungsinsignien bestattet wurde. Die Grabdarstellung Richards als liegender Toter mit Ruhekissen und Fußstütze ist für diese Zeit ungewöhnlich. Neben Richards Grabmal sind nur die Gräber seiner Schwester Mathilde, seiner Mutter Eleonore, seines Vaters Heinrichs II. und Heinrichs des Löwen in dieser Form gestaltet. Eleonore stiftete ihm am 21. April 1199 ein Jahrgedächtnis. Richards Bruder Johann Ohneland konnte sich innerhalb kurzer Zeit mit der Unterstützung Eleonores gegen seinen Konkurrenten und Neffen Arthur I. als Königsnachfolger durchsetzen. Am 27. Mai 1199 wurde er von Erzbischof Hubert Walter von Canterbury zum englischen König gekrönt. Johann behielt die hohen Abgabenforderungen bei. Er beendete im Jahr 1200 durch den Vertrag von Le Goulet zunächst den Konflikt mit Philipp II. Bereits 1202 kam es jedoch erneut zum Krieg mit Frankreich, der 1204 zum Verlust der Normandie und weiterer Gebiete auf dem Festland führte. Nach der Niederlage des mit Johann verbündeten Welfen Otto in der Schlacht bei Bouvines 1214 gegen den französischen König musste Johann die Verluste in Frankreich akzeptieren und war nun politisch geschwächt. Die Barone Englands waren nicht mehr bereit, die Willkür Johanns und seine finanziellen Forderungen hinzunehmen. Dies war eine wesentliche Voraussetzung für die 1215 erfolgte Durchsetzung der Magna Carta Libertatum. Beiname ‚Löwenherz‘ Richard ist der einzige englische Herrscher, dessen Löwenattribut dauerhaft in Geschichtsschreibung und Legende verankert geblieben ist. Für seinen Beinamen sind zahlreiche zeitgenössische Belege überliefert. Noch vor Herrschaftsantritt und Kreuzzug wurde Löwenherz in den Chansons de geste zur üblichen Auszeichnung eines neuen Heldentypus, des christlichen, sich im Heidenkampf bewährenden Ritters. Bereits vor dem Herrschaftsantritt sprach 1188 Gerald von Wales von Richard als „löwenherzigem Prinzen“. Der Chronist Richard von Devizes erläuterte, wie der englische Herrscher auch außerhalb seines Reiches zu seinem Löwennamen kam. Richard habe unmittelbar nach seiner Ankunft in Messina, anders als der französische König Philipp II. Augustus, Verbrechen seiner Männer an der örtlichen Bevölkerung bestraft. Die Sizilianer bezeichneten Philipp daraufhin als ein Lamm, während Richard den Löwenbeinamen erhielt. Eine ähnliche Gegenüberstellung findet sich auch bei Bertran de Born. Zur Ankunft Richards vor Akkon im Juni 1191 schrieb Ambroise in seiner 1195 endenden Chronik des Dritten Kreuzzuges (L’estoire de la guerre sainte), „der treffliche König, das Herz des Löwen“ (le preuz reis, le quor de lion) sei angekommen. Der mittelenglische Versroman über Richard Löwenherz (Kyng Rychard Coer de Lyoun) aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erzählt eine andere Episode, wie Richard zu seinem Beinamen gekommen sei: Bei seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land sei er in Gefangenschaft geraten und habe die Tochter des Königs verführt. Als der König daraufhin zur Strafe einen hungrigen Löwen in die Zelle Richards schickte, habe dieser dem Tier das Herz herausgerissen. Daraufhin habe der König Richard als Teufel bezeichnet, der den Beinamen Löwenherz verdiene. Rezeption In der historiographischen und belletristischen Literatur und in der breiten Öffentlichkeit erschien Richard Löwenherz als Ideal des Monarchen und Kreuzfahrers. Eine völlig andere Entwicklung zeigte sich in der wissenschaftlichen Literatur. In der modernen Forschung ist er teils als Egozentriker und seine Herrschaft als missglückt beurteilt worden. Nach Dieter Berg sind für die Rezeptionsgeschichte des Löwenherz-Bildes mindestens vier Entwicklungsstränge zu unterscheiden. Der erste Strang betraf die Darstellung der Aktivitäten Richards auf dem Kreuzzug im Vergleich mit denen seines Widersachers Saladin. Die Schilderung der militärischen Qualitäten und der persönlichen Tapferkeit Saladins ermöglichte es, die Siege und den Ruhm Richards umso intensiver zu verherrlichen. Im zweiten Strang wurde Material von der lateinischen Chronistik in die volkssprachliche Literatur übertragen. Die legendenhaften Elemente verstärkten sich und führten zu einer „Popularisierung“ des Herrscherbildes. Der dritte Strang war das 1260 auftauchende Blondel-Motiv, das mit anderem Erzählgut angereichert wurde. Im vierten Entwicklungsstrang wurde die Lebensgeschichte des Königs mit Erzählgut über den Balladenhelden Robin Hood verwoben. Hoch- und Spätmittelalter Für die Schriftkultur waren das 12. und das 13. Jahrhundert eine Blütezeit. Vor allem in England gab es eine Vielzahl an Geschichtsschreibern. Geistliche Chronisten wie Richard von Devizes, Wilhelm von Newburgh und Gervasius von Canterbury und weltliche Schreiber wie Radulfus von Diceto und Roger von Howden schilderten ausführlich das herrscherliche Handeln. Die zeitgenössische Chronik Rogers von Howden ist eines der wichtigsten Geschichtswerke über die Zeit Richards. Roger wollte die Geschichte Englands von Beda Venerabilis im 8. Jahrhundert bis in seine eigene Zeit darstellen. Für ihn wurde Richard zum Hoffnungsträger nach den Jahren der Krise am Ende der Herrschaft Heinrichs II. Als hofnaher Geschichtsschreiber war Roger gut über die Geschehnisse informiert. Mit Richards Tod ging in seinen Augen zugleich die ganze Welt unter: „In seinem Tod vernichtet die Ameise den Löwen. Oh Schmerz, in einem solchen Untergang geht die Welt zugrunde“ (In hujus morte perimit formica leonem. / Proh dolor, in tanto funere mundus obit). Dauerhaft wurde die Tendenz zur Verherrlichung des Monarchen durch den Kreuzzug gefördert. Mitglieder der englischen Heereskontingente schilderten in ihren historiographischen Berichten die Geschehnisse im Heiligen Land als Augenzeugen. In den Werken von Ambroise (L’estoire de la guerre sainte) und eines anonymen Kaplans der Templer (Itinerarium peregrinorum et gesta regis Ricardi) wurde Richard zu einem Kreuzzugshelden stilisiert, der vor allem dem französischen König weit überlegen gewesen sei. Kritische Urteile von kapetingischer Seite wie von Rigord und Wilhelm dem Bretonen, die Richard als hinterhältig und skrupellos schilderten, steigerten auf angevinischer Seite die Verherrlichung des englischen Königs nur noch weiter. Ein Vergleich der zeitgenössischen europäischen Geschichtsschreibung mit der arabischen Chronistik und Dichtung zum Dritten Kreuzzug zeigt, dass Richards Ritterlichkeit bereits zu seinen Lebzeiten allgemein besonders hervorgehoben wurde. Eine weitere Steigerung der Heroisierung setzte mit dem plötzlichen Tod des Monarchen ein. Vor allem in den Totenklagen verschiedener Troubadoure wurde er verherrlicht. Der Troubadour Gaucelm Faidit gehörte zu seinen Begleitern beim Kreuzzug. Er schilderte ausführlich die Heldentaten im Heiligen Land und sang in seiner Totenklage überschwänglich, dass an Richard weder Karl noch Artus herangereicht hätten. Kritische Stimmen sind selten. Für Gerald von Wales war der plötzliche Tod des Monarchen die göttliche Strafe dafür, dass er die Freiheiten der Kirche durch schwere materielle Belastungen geschmälert und damit eine Tyrannei auf der Insel ausgeübt habe. Die vermeintliche Vernachlässigung des Inselreiches durch Richards ständige Abwesenheit wurde von den Zeitgenossen jedoch nicht kritisiert, sondern erst von den Historikern des 19. Jahrhunderts getadelt. Die angevinischen Herrscher hatten für die Legitimation ihrer Dynastie keine eigenen Mythen und Ideologien. Da ihre Herkunft auf Wilhelm den Eroberer zurückgeht, konnten sie sich weder auf die alten englischen Könige noch auf die Karolinger berufen. Als Alternative betonten sie vor allem ritterliche Ideale. Schon zu Lebzeiten förderte Richard die Legendenbildung um sein Leben und seine Taten. Im Gegensatz zu seinem Vater ging es Richard jedoch weniger um eine Verherrlichung der Dynastie als um die Glorifizierung seiner eigenen Person. Dabei stellte er sich bewusst in die Tradition des sagenumwobenen König Artus. Nach seinem Biographen Roger von Howden befand sich mit Excalibur das legendäre Schwert dieses Königs in Richards Besitz. Richard griff einen Mythos über seinen Vorfahren Fulko Nerra auf und ließ diesen bereits 1174 am Hof verbreiten. Fulkos Frau war unbekannter Herkunft. Bei einem erzwungenen Besuch eines Gottesdienstes entpuppte sie sich als teuflisches Wesen. Mit dieser Legende hob Richard das Unheimliche und Bedrohliche in der Geschichte seiner Familie gegenüber den eigenen Untertanen hervor. In der deutschsprachigen Literatur des Hochmittelalters hatte Richard ebenfalls einen hervorragenden Ruf. Walther von der Vogelweide kritisierte die mangelnde Herrschertugend der Freigebigkeit (milte) beim staufischen König Philipp von Schwaben. Ihm galten als Vorbilder für richtiges Herrscherverhalten Saladin und Richard Löwenherz (den von Engellant). In den Carmina Burana, einer wohl um 1230 im südlichen deutschen Sprachraum entstandenen Liedersammlung, wird in einer Strophe, die von einer Frau gesungen wurde, vom chunich von Engellant geschwärmt. Für ihn würde sie auf allen Besitz verzichten, wenn denn der chunich von Engellant in ihren Armen liegen würde. Hinter dem chunich von Engellant wird in der Forschung Richard Löwenherz vermutet. Bereits der erste mittelalterliche Korrektor änderte im 14. Jahrhundert die Passage ab und überschrieb sie mit die chunegien, womit wohl auf Richards Mutter Eleonore angespielt wurde. Auch seine Feinde bewunderten Richard. Trotz des Massakers von Akkon wurde er von muslimischer Seite gelobt. John Gillingham konnte anhand von drei arabischen Chronisten aus dem engsten Umkreis Saladins zeigen, dass sie Richard mit Achtung und Respekt würdigten. Nach dem Historiker Ibn al-Athīr war Richard die herausragendste Persönlichkeit seiner Zeit hinsichtlich Tapferkeit, List, Standhaftigkeit und Widerstandskraft. Wilhelm der Bretone meinte, dass England niemals einen besseren Herrscher gehabt hätte, wenn Richard gegenüber dem französischen König angemessenen Respekt gezeigt hätte. Richard Löwenherz galt schon bald nach seinem Tod als Maßstab für andere Könige und wurde „Staunen der Welt“ (stupor mundi) genannt. In einem anonymen Panegyrikus wurde Edward I., der 1272 englischer König wurde, als neuer Richard (novus Ricardus) gepriesen. Nach Ranulf Higden, dem englischen Chronisten des 14. Jahrhunderts, bedeutete Richard den Engländern das Gleiche wie Alexander den Griechen, Augustus den Römern und Karl der Große den Franzosen. Matthäus Paris, Mönch im Kloster St. Albans, war der Verfasser einer großen Chronik (Chronica majora). Er schreibt Richard Löwenherz die Großherzigkeit als Eigenschaft zu. Margaret Greaves konnte zeigen, dass das Beispiel des großherzigen Richard Löwenherz in der englischen Literatur bis ins 17. Jahrhundert ein Topos bleibt. Um 1260 tauchte erstmals das Blondel-Motiv auf. Nach der Sage begab sich Blondel während Richards Gefangenschaft auf die Suche nach dem inhaftierten Herrscher. Er zog singend durch die Lande und verbrachte einen ganzen Winter als Sänger auf einer Burg. Zum Osterfest fand er durch die erste Strophe eines mit Richard gemeinsam komponierten Liedes die Aufmerksamkeit des Herrschers. Richard gab sich durch den Gesang der zweiten Strophe zu erkennen. Blondel reiste daraufhin nach England. Nach einer Fassung veranlasste er dort den Beginn der Verhandlungen der englischen Barone zur Freilassung des Königs, nach einer anderen Version initiierte er sie selbst. Zu der historisch nachweisbaren Person Blondel de Nesle gibt es keinerlei persönliche Beziehungen. Das Blondel-Motiv wurde bis weit in das 19. Jahrhundert vielfältig literarisch verarbeitet. Frühe Neuzeit Der schottische Chronist John Major ordnete die Geschichten um Robin Hood in seiner 1521 erschienenen lateinischen Geschichte Britanniens (Historia majoris Britanniae) in Richards Zeit ein. Erzählungen um Robin Hood hatten seit dem 13. Jahrhundert kursiert. John Majors Einordnung Robin Hoods als Zeitgenosse von Richard Löwenherz war genauso spekulativ wie die seiner Vorgänger, setzte sich jedoch langfristig durch. Im Drama The Downfall of Robert Earle of Huntington von Anthony Munday aus dem Jahr 1598 musste der edle Räuber während der Tyrannei Johann Ohnelands als Geächteter in die Wälder gehen. Nach der Rückkehr vom Kreuzzug stellte Richard Löwenherz als strahlender Held die Ordnung wieder her. Bis in das 17. Jahrhundert blieb das Bild Richards als Ideal des abendländischen Königs und vorbildlichen Kreuzfahrers vorherrschend. Raphael Holinshed (1578) zufolge war Richard „ein bemerkenswertes Beispiel für alle Prinzen“ („a notable example to all princes“). Für John Speed (1611) war Richard der „triumphierende und leuchtende Stern der Ritterlichkeit“ („this triumphal and bright shining star of chivalry“). Moderne Öffentliche Würdigungen Deutsche Dichter trugen maßgeblich dazu bei, dass sich der Mythos um Richard Löwenherz in der Neuzeit fortsetzte. Georg Friedrich Händel (1727) und Georg Philipp Telemann (1729) komponierten Opern zu diesem Thema. In der deutschen Romantik wurde Richard Löwenherz zu einem Freiheitssymbol verklärt. Größere Bekanntheit erreichten auch Heinrich Heines Gedicht im Romanzero (1851) und Johann Gabriel Seidls Text (Blondels Lied) in der Vertonung durch Robert Schumann (1842). Maßgeblich hat das Bild Robin Hoods und des englischen Königs Sir Walter Scotts Ivanhoe (1819) für die kommenden Jahrzehnte geprägt. Ivanhoe wurde im 19. Jahrhundert in zwölf Sprachen übersetzt, und es existieren 30 Theaterfassungen. In Ivanhoe kämpft Robin Hood auf angelsächsischer Seite gegen die normannischen Besatzer und ihren König Richard Löwenherz. In seinem 1825 veröffentlichten Roman Tales of the Crusaders rückte Scott den englischen König in den Mittelpunkt des Geschehens. Eleanor Anne Porden, Benjamin Disraeli, William Wordsworth und Francis Turner Palgrave setzten die Verherrlichung in ihren Werken fort. Die Geschichte vom Sänger Blondel fand im 19. Jahrhundert eine Vielzahl an Bearbeitungen, darunter Opern wie Il Blondello (Il suddito essemplaro), Il Blondello (Riccardo cuor di Leone), Richard und Blondel, Il Blondello oder Blondel. In der späteren Rezeption des Blondel-Motivs trat die Person Richards gegenüber Elementen wie unverbrüchliche Treue und Freundschaft zurück. Die beginnende Industrialisierung in England brachte neben Belastungen für die Umwelt auch soziale Umwälzungen mit sich. In der Literatur und Kunst wurde das Mittelalter als Gesellschafts- und Lebensform idealisiert. Im Gemälde Robin Hood and his Merry Men von Daniel Maclise lassen sich Kreuzritter und Räuber unter Kastanien und Eichen zu Speisen und Trank nieder. Richard Löwenherz wurde spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu einer Symbolfigur nationaler Größe. Im Krimkrieg stand England in Konkurrenz mit Frankreich und Russland um die Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer und um Einfluss im osmanischen Reich. Der englische König Richard Löwenherz erschien durch seine Heldentaten im Heiligen Land als geeignete Identifikationsfigur für Englands Streben nach Vorrangstellung. Im Jahr 1853 wurde vorgeschlagen, Richards sterbliche Überreste von Fontevraud nach England zu überführen. Im Ersten Weltkrieg wurde das Vorgehen der britischen Armee im Nahen Osten unter General Edmund Allenby und die Einnahme Jerusalems mit Richard Löwenherz in Verbindung gebracht und als „last crusade“ (letzter Kreuzzug) bezeichnet. Die Idealisierung setzte sich auch in der Kunst und Architektur fort. Der italienische Bildhauer Baron Carlo Marochetti schuf ein großes Reiterstandbild. Die Statue war ursprünglich für die Londoner Weltausstellung von 1851 vorgesehen und wurde 1860 vor den Houses of Parliament aufgestellt. Die Herrscherheroisierung stieß allerdings bereits bei den Zeitgenossen auf herbe Kritik. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Statue bei einem deutschen Bombenangriff 1940 beschädigt. Das in die Luft gereckte Schwert wurde zwar verbogen, zerbrach jedoch nicht. Radiosendungen nahmen dies zum Anlass, anhand der Figur Richards die Moral der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Richard wurde zu einem Symbol für die Stärke der Demokratie. Erst als sich das Kriegsgeschehen zugunsten der Alliierten wandelte, stellte im Oktober 1943 ein Abgeordneter den Antrag, das Schwert zu richten. Nach dem Urteil von Winston Churchill aus dem Jahr 1956 war Richard würdig, mit König Artus und den anderen ehrwürdigen Rittern einen Platz an der Tafelrunde einzunehmen. Im 20. Jahrhundert wurde der Stoff von Richards Leben auch in Comic und Film verarbeitet, wie in Cecil B. DeMilles Kreuzritter – Richard Löwenherz (1935), jedoch trat seine Figur hinter der von Robin Hood zurück. In den Filmen wird Richard als vielgestaltige Figur rezipiert: als Kriegsheld, Kriegsverbrecher, Retter Englands, Kämpfer für Gerechtigkeit oder liebender Sohn. Als trinkfreudiger, übergewichtiger und stets lachender König tritt Richard Löwenherz im Film Robin Hood (1922) auf. In den Filmen Robin Hood – König der Diebe (1991) und Helden in Strumpfhosen (1993) wird Richard als gütige Vaterfigur porträtiert. In beiden Filmen spielt er nur eine untergeordnete Rolle. Auch im erfolgreichen Blockbuster Königreich der Himmel von Ridley Scott (2005) hat Richard einen kurzen Auftritt. Der Film Der Löwe im Winter (Regie Anthony Harvey, GB/USA 1968) nach dem Theaterstück von James Goldman hatte wesentlichen Anteil daran, die Vorstellung zu festigen, Richard Löwenherz sei homosexuell gewesen. Richard Lesters Film Robin und Marian (mit Sean Connery und Audrey Hepburn, 1976) zeigt Richard als narzisstischen Tyrannen, der zu Beginn des Films stirbt. Im Film Robin Hood (2010) ist Richard ein zynischer und unbarmherziger Psychopath. Die Filmhandlung beginnt mit der Belagerung der Burg Chalus. Robin, gespielt von Russell Crowe, erinnert König Richard an das Massaker in Akkon und wird daraufhin gefangen gesetzt. Er kann sich jedoch befreien, als der König bei der Belagerung fällt. In den letzten Jahrzehnten fand, wie Dieter Berg feststellt, eine „Trivialisierung und Kommerzialisierung“ von Richard Löwenherz in der Öffentlichkeit statt. Der mittelalterliche Herrscher wurde in Computerspielen verarbeitet, fungierte als Namensgeber für Camembert-Käse (Coeur de Lion) oder für einen Calvados in der Normandie (Coeur de Lion). Dabei tritt die historische Persönlichkeit des englischen Königs gegenüber der zeitgenössischen Vermarktung zurück. In Annweiler wurde 800 Jahre nach der Gefangennahme des Königs 1993 eine kleine Löwenherz-Ausstellung organisiert. Eine Sonderabfüllung mit Riesling Spätlese wurde dabei nach dem englischen König benannt. Forschungsgeschichte Die Geschichtsschreibung sah in Richard seit dem 17. Jahrhundert überwiegend den „bad king“. Diese negative Sichtweise verbreitete sich zunächst in allgemeineren Darstellungen zur Geschichte Englands. Richards Vernachlässigung des englischen Reichs wurde etwa durch Samuel Daniel kritisiert, der 1621 die großen finanziellen Belastungen des Reichs durch Richard hervorhob, sowie durch Winston Churchill den Älteren, der Richard als egozentrische Persönlichkeit beschrieb. Seit dem 18. Jahrhundert ging in protestantischen Kreisen Englands die Verurteilung der mittelalterlichen Kreuzzüge mit heftiger Kritik an der katholischen Kirche einher. David Hume kritisierte 1786 die Kreuzzüge und die militärischen Gräuel, die Richard als Kreuzfahrer zu verantworten habe. Die kritische Sichtweise in der Geschichtsschreibung wurde seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vor allem von William Stubbs entscheidend beeinflusst. Für ihn war Richard „a bad son, a bad husband, a selfish ruler, and a vicious man“ („ein schlechter Sohn, ein schlechter Gatte, ein selbstsüchtiger Herrscher und ein lasterhafter Mann“). Ihm sei es nur um das Kriegführen und um die Verherrlichung seiner eigenen Person gegangen. Die Tyrannei seines Bruders Johann sei die Konsequenz von Richards Herrschaft. Diese ablehnende Position blieb in der gesamten wissenschaftlichen Literatur im 19. Jahrhundert vorherrschend. In der Darstellung von James Henry Ramsay von 1903 war Richard ein „simple Frenchman“. Er kritisierte die Missachtung Englands in Richards politischem Wirken. Die rücksichtslose Ausbeutung und Vernachlässigung des Inselreiches und der Egozentrismus des Monarchen wurden auch von den nachfolgenden Historikern wie Kate Norgate (1924) hervorgehoben. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb die Beurteilung Richards als verantwortungsloser und egoistischer Monarch vorherrschend, wie die einflussreichen Handbuchdarstellungen seit den 1950er Jahren von Frederick Maurice Powicke und Austin Lane Poole zeigen. Er wurde vielfach sogar als einer der schlechtesten Herrscher Englands überhaupt angesehen. Der einflussreiche Erforscher der Kreuzzugsgeschichte Steven Runciman lobte zwar seine militärischen Fähigkeiten („gallant and splendid soldier“), jedoch war Richard auch für ihn „a bad son, a bad husband and a bad king“ (ein schlechter Sohn, ein schlechter Ehemann und ein schlechter König). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihm außerdem Homosexualität und ein homoerotisches Verhältnis mit dem Sänger Blondel unterstellt. Die Homosexualität Richards vertrat 1948 als erster Historiker John Harvey in seinem weit verbreiteten Werk The Plantagenets. Wenige Jahre später wurde dieses Motiv in der populärwissenschaftlichen Literatur und in Spielfilmen verarbeitet, etwa von Gore Vidal oder Norah Lofts. In den 1980er Jahren kam es zu einer Revision der negativen Beurteilung. Vor allem die grundlegenden Arbeiten von John Gillingham hatten daran maßgeblichen Anteil. Seine 1999 veröffentlichte Biographie gilt als Standardwerk. Zur Legende wurde Richard demnach durch seine kriegerischen Eigenschaften. Für Gillingham war Richard Löwenherz nach mittelalterlichen Maßstäben geradezu ein idealer Monarch. Er erklärte ihn zu einem der besten Monarchen Englands überhaupt. Eine Vielzahl an Detailstudien und weitere Biographien setzten die Tendenz zu einer positiveren Sichtweise fort („lionizing Lionheart“). Nach der Biographie von Ulrike Kessler (1995) war der englische König kein politisch verantwortungsloser Herrscher, sondern ein Meister politischer Taktik. Aus Anlass des 800. Todesjahres von Richard Löwenherz fand 1999 im aquitanischen Thouars eine internationale Tagung über Hof und höfisches Leben zur Zeit Heinrichs II. und seiner Söhne statt. Die Akten der Tagung wurden von Martin Aurell 2000 herausgegeben. Jean Flori legte 1999 eine Biographie Richards vor. Er untersuchte, inwieweit Richard für seine Zeitgenossen dem Ideal eines ritterlichen Königs entsprach. Dieter Berg legte 2007 die grundlegende Darstellung in deutscher Sprache vor. Er knüpfte in seiner Biographie wiederum an die negativen Urteile der älteren Forschung an. Berg wählte für seine Darstellung „bewußt kein(en) ausschließlich biographische(n) Zugang“, sondern beabsichtigte eine Würdigung Richards „im gesamteuropäischen Kontext“. Für ihn war Richard hauptverantwortlich für den „Fehlschlag des Dritten Kreuzzuges“. Er sei unfähig gewesen, die strukturellen Defizite des angevinischen Reichs „infolge des Fehlens einheitlicher Herrschafts- und Verwaltungseinrichtungen in den disparaten Reichsteilen“ zu lösen. Außerdem habe seine Finanzpolitik verheerende Auswirkungen gehabt. Die sehr unterschiedlichen Urteile in der Forschung erklären sich wohl aus der Verschiedenheit der Blickwinkel und der Einschätzung der zeitgenössischen Quellen. Das Historische Museum der Pfalz richtete von September 2017 bis April 2018 mit Richard Löwenherz: König – Ritter – Gefangener erstmals seit 25 Jahren wieder eine Landesausstellung aus. Bis dahin hatte kein Museum auf dem europäischen Festland Richard mit einer Sonderausstellung gewürdigt. Quellen Ambroise, L’estoire de la guerre sainte Histoire en vers de la troisième croisade (1190–1192) (= Collection de documents inédits sur l’histoire de France. Band 11). Herausgegeben und übersetzt von Gaston Paris, Paris 1897 (online). Richard von Devizes, Chronicon de rebus gestis Ricardi primi. In: Chronicles of the reigns of Stephen, Henry II., and Richard I. (= Rolls Series. Band 82.3). Herausgegeben von Richard Howlett, London 1886, S. 381–454. Roger von Howden, Chronica (= Rolls Series. Band 52). Herausgegeben von William Stubbs, 4 Bände, London 1868–1871 (online verfügbar Band 1; Band 2; Band 3; Band 4). Wilhelm von Newburgh, Historia rerum Anglorum. In: Chronicles of the reigns of Stephen, Henry II., and Richard I. (= Rolls Series. Bände 82.1 und 82.2). Herausgegeben von Richard Howlett, London 1884–1885 (online verfügbar Band 1; Band 2). Literatur Lexikonartikel Darstellungen Ingrid Bennewitz, Klaus van Eickels (Hrsg.): Richard Löwenherz, ein europäischer Herrscher im Zeitalter der Konfrontation zwischen Christentum und Islam. Mittelalterliche Wahrnehmung und Rezeption. University of Bamberg Press, Bamberg 2018, ISBN 978-3-86309-625-0 (online). Dieter Berg: Die Anjou-Plantagenets. Die englischen Könige im Europa des Mittelalters. Kohlhammer, Stuttgart 2003, ISBN 3-17-014488-X, S. 65–92. Richard Löwenherz: König – Ritter – Gefangener. Herausgegeben von Alexander Schubert für die Stiftung Historisches Museum der Pfalz Speyer. Schnell + Steiner, Regensburg 2017, ISBN 978-3-7954-3165-5. Biographien Thomas Asbridge: Richard I. The Crusader King. Allen Lane, London 2018, ISBN 978-0-14-197685-3. Dieter Berg: Richard Löwenherz. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, ISBN 978-3-534-14511-9. Jean Flori: Richard Cœur de Lion. Le roi-chevalier. Payot & Rivages, Paris 1999, ISBN 2-228-89272-6. John Gillingham: Richard I. Yale University Press, New Haven u. a. 1999, ISBN 0-300-07912-5. Weblinks Veröffentlichungen zu Richard Löwenherz im Opac der Regesta Imperii Anmerkungen Monarch (England) Herzog (Aquitanien) Herzog (Normandie) Graf (Anjou) Graf (Maine) Graf (Poitou) Ritter (Mittelalter) Herrscher des Mittelalters Herrscher (12. Jahrhundert) Familienmitglied des Hauses Plantagenet Kreuzfahrer (Dritter Kreuzzug) Geisel (Mittelalter) Engländer Geboren 1157 Gestorben 1199 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Eberswalde
Eberswalde
Eberswalde ist die Kreisstadt des Landkreises Barnim im Nordosten des Landes Brandenburg. Sie wird auch Waldstadt genannt, denn ringsum dehnen sich Waldgebiete aus – südlich der Naturpark Barnim, nördlich das Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin mit dem Totalreservat Plagefenn. Die Gemeinde besitzt seit dem 14. Jahrhundert Waldflächen. Von den 1468 ha sind etwa 1000 ha Erholungswald, 271 ha Naturschutzgebiete und ökologisch bedeutsame Lebensräume. Der etwa 1080 ha große Stadtforst dient zugleich als Wirtschaftswald. Den Begriff Waldstadt prägte der Stadthistoriker Rudolf Schmidt, verwendeten zahlreiche Publikationen und Postkarten des 19. und 20. Jahrhunderts. Bis zur Wende bestimmte hauptsächlich die Schwerindustrie (Kran- und Rohrleitungsbau, Walzwerke und andere Großbetriebe) den Stadtcharakter, wovon auch die Namen einiger Ortsteile, wie Eisenspalterei, Kupferhammer und Messingwerk zeugen. Geographie Lage Eberswalde liegt circa 40 Kilometer nordöstlich der Berliner Stadtgrenze und etwa 22 Kilometer westlich der Oder (Hohenwutzen). Nach Bad Freienwalde beträgt die Entfernung ungefähr 17 Kilometer in ostsüdöstlicher Richtung. Unmittelbar nördlich der Stadt verläuft der Oder-Havel-Kanal. In Zentrum mündet die Schwärze in den Finowkanal. Geologie Eberswalde liegt inmitten des nach der Stadt benannten Eberswalder Urstromtals, das in der jüngsten, der Weichsel-Eiszeit entstanden ist. Da sich die Finow kräftig in den Boden des Urstromtales eingeschnitten hat, liegt die Altstadt deutlich tiefer als der eigentliche Boden des Urstromtales. Lediglich einige Stadtteile wie Nordend, Ostende und Südend befinden sich im Niveau des Urstromtales oder schon außerhalb davon an den Hängen des Barnim. Als Baugrund ist überwiegend Sand und Kiessand anzutreffen, jedoch treten auch großflächig Eisstauseeablagerungen auf, die früher in zahlreichen Tongruben am Stadtrand oder in der Umgebung abgebaut wurden, zum Beispiel im Ortsteil Macherslust. Der Grundwasserpegel liegt in der Innenstadt nur wenige Meter unter der Oberfläche. Einige Gebäude der Innenstadt sind deshalb als Pfahlbauten errichtet, was Neubauvorhaben hydrostatisch sehr kompliziert und teuer macht. Ausdehnung des Stadtgebiets Eberswalde erstreckt sich entlang des Finowkanals auf einer Länge von 14,1 km in ostwestlicher Richtung. Die größte Ausdehnung in nordsüdlicher Richtung besteht zwischen Nordend und Südend mit einer Länge von 7,7 km. Nachbarstädte und -gemeinden Die nächstgelegenen Städte sind Bernau bei Berlin (Richtung Westsüdwest), Joachimsthal (Richtung Nordwest) und Oderberg (Richtung Osten). Eberswalde grenzt an folgende Gemeinden (im Uhrzeigersinn, von Norden beginnend): Britz, Chorin, Niederfinow, Hohenfinow, Breydin, Melchow und Schorfheide (Ortsteil Finowfurt). Stadtgliederung Zur Stadt Eberswalde gehören folgende Ortsteile: Brandenburgisches Viertel Eberswalde 1 Eberswalde 2 Finow Sommerfelde Spechthausen Tornow Hinzu kommen die Wohnplätze Clara-Zetkin-Siedlung, Eisenspalterei, Finowtal, Försterei Kahlenberg, Geschirr, Kupferhammer, Macherslust, Mäckersee, Nordend, Ostende, Stadtmitte, Stadtsee, Westend und Wolfswinkel. Das Stadtzentrum von Eberswalde wurde zum Ende des Zweiten Weltkrieges stark beschädigt, die Bebauung weist noch immer große Lücken auf. Wo bis Kriegsende noch Wohnhäuser standen, wurden in der DDR-Zeit überwiegend Grünflächen angelegt, die seit 1990 nach und nach wieder bebaut werden. Neben dem historischen Marktplatz mit Löwenbrunnen entstand so der Pavillonplatz, der bis 2007 mit dem Paul-Wunderlich-Haus, einem Verwaltungsgebäude, neu bebaut wurde. Der jetzige Marktplatz ist etwa doppelt so groß wie der historische, die nördliche Hälfte entstand durch die Schäden des Krieges. Einige Reste der mittelalterlichen Stadtmauer in der Nagelstraße gehören ebenso zum Stadtzentrum wie das Leibnizviertel (umgangssprachlich auch „Keks-Ghetto“ genannt; benannt nach dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz), eine Neubausiedlung aus DDR-Zeiten. Die erhaltenen mehrgeschossigen Gebäude im Stadtzentrum gehören zur Gründerzeit und entstanden zwischen 1880 und 1914. In diesen Jahren dehnte sich Eberswalde stark vom Marktplatz Richtung Westen aus, da sich der Bahnhof der Stadt etwa zwei Kilometer außerhalb befand. Dies ist dem Umstand zu verdanken, dass die Eberswalder Stadtväter damals die Eisenbahn nicht wünschten, sich aber schnell die Notwendigkeit einer Verkehrsanbindung der Bahn ergab. Entlang der Eisenbahnstraße entstanden so die ersten Wohnhäuser, diese Straße kann noch heute als Hauptstraße von Eberswalde angesehen werden. Der Stadtteil Nordend liegt an der Landesstraße 200 Richtung Angermünde am Hang des Eberswalder Urstromtals. Hier findet sich neben dem Martin Gropius Krankenhaus überwiegend Eigenheimbebauung. In Ostende am südlichen Rand des Urstromtals stehen ebenfalls überwiegend Eigenheime. Beide Stadtteile entstanden im Rahmen der Stadterweiterung zwischen den Weltkriegen. Das ehemalige Kasernengelände am südlichen Ortsausgang wird seit Ende der 1990er-Jahre Südend genannt. Die ehemaligen Artilleriekasernen wurden in der NS-Zeit gebaut, waren bis 1994 im Besitz der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (später Westgruppe der Truppen) und sind zu großen Teilen zu einem Behördenzentrum mit Finanzamt und Landeskriminalamt ausgebaut worden. Neben diesen Kasernen sind einige Wohngebäude angeordnet. Nach dem Ersten Weltkrieg begann eine Erweiterung der Stadt westlich des Bahnhofes, der neue Stadtteil erhielt den Namen Westend. In der Gegend um den Luisenplatz nahe dem Bahnhof sowie entlang der Heegermühler Straße entstanden mehrgeschossige Wohnbauten. Hinter der Boldtstraße wurden die Ardeltwerke gebaut, dies war ein metallverarbeitender Betrieb, der im Deutschen Reich 1933 bis 1945 für die Rüstungsproduktion eingesetzt wurde. Für die wohlhabenderen Angestellten des Werkes wurden Eigenheime in Westend errichtet. Hinter dem Betrieb, aus dem in den 1950er-Jahren der VEB Kranbau Eberswalde wurde, beginnt Finow (ehemals Heegermühle). Der ehemals eigenständige Ort Finow wurde 1970 mit Eberswalde zur Stadt Eberswalde-Finow zusammengelegt. Der Ortsteil Kupferhammer liegt jenseits des Finowkanals nördlich von Westend und ist geprägt von Eigenheimbebauung sowie dem stadtbildprägenden Mischfutterwerk. Der hier anschließende Ortsteil heißt Wolfswinkel und ist ein ehemaliges Industriegebiet. Die Bezeichnung Eisenspalterei ist allerdings üblicher. Hier befanden sich neben dem Walzwerk-Altwerk der Rohrleitungsbau Finow (ehemals Seiffert-Werke), heute verkleinert als Finow Rohrsysteme GmbH. Das große ehemalige Fabrikgelände des Rohrleitungsbaus ist in ein Gewerbezentrum umgewandelt worden. Auf dem Gelände des Altwerkes fand im Jahre 2002 die zweite Brandenburgische Landesgartenschau statt. Als Nachnutzung des 17 ha großen Geländes wurde daraus der Familiengarten Eberswalde. Südlich von der Eisenspalterei wurde Ende der 1970er-Jahre mit dem Bau eines Neubauviertels begonnen. Ursprünglich Max-Reimann-Viertel getauft, heißt es seit der Wende Brandenburgisches Viertel. Die Errichtung wurde notwendig, da mit der Inbetriebnahme eines großen fleischverarbeitenden Betriebes in Britz (Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde/Britz – SVKE), einige tausend Menschen nach Eberswalde zogen und für diese nicht genügend Wohnraum zur Verfügung stand. Dieser Stadtteil wird im Volksmund seit Baubeginn Ghetto genannt und wurde bis zur Wende kontinuierlich weiter ausgebaut. Um die Jahrtausendwende wurde jedoch mit dem Rückbau oder einem Teilabriss aufgrund des hohen Leerstandes der Wohnungen begonnen. Weiter westlich folgt das eigentliche Finow mit historischem Ortskern, den Neubausiedlungen (Ringstraße/Kopernikusring) und dem ausgedehnten Gelände des Walzwerk-Neuwerks, auf dem sich einige kleinere Firmen ansiedelten. Zu Finow gehört ebenfalls die Messingwerksiedlung, die vom Industriellen Hirsch für seine Arbeiter errichtet wurde, sowie jenseits des Oder-Havel-Kanals die Clara-Zetkin-Siedlung, die fast ausschließlich aus Eigenheimen besteht. Die Dörfer Sommerfelde (östlich von Eberswalde), Tornow (östlich von Sommerfelde) und Spechthausen (südlich von Eberswalde) gehören seit 1993 und 2006 ebenfalls zur Stadt. Geschichte Herkunft und Entwicklung des Stadtnamens Der Name Eberswalde geht auf das männliche Wildschwein zurück, das auch das Wappentier ist. Die wald- und wildschweinreiche Umgebung, insbesondere die Schorfheide nordwestlich der Stadt, wirkten hier namensgebend. Der Ortsname bedeutet genau Waldsiedlung eines Ever (Kurzform von Vollnamen wie Everhard, Everger und anderen, zu mittelniederdeutsch ever, = Eber). Die erste urkundliche Erwähnung von eversvolde stammte aus dem Jahr 1276. Während des gesamten 14. und 15. Jahrhunderts wurden vor Ort häufig Urkunden der Markgrafen von Brandenburg ausgestellt. In allen Dokumenten ab 1294 fand sich nur der Eigenname Everswolde. Die für Kaiser Karl IV. angefertigte Beschreibung der Mark Brandenburg von 1373 sprach ganz ähnlich von civitas Everswalde. Im nicht vor 1376 niedergeschriebenen Landbuch Kaiser Karls IV. tauchte erstmals die Doppelbezeichnung Eberswalde vel Nova civitas – Eberswalde oder Neustadt auf. Warum es zu dieser Namenswahl kam, blieb ungeklärt. Die Formulierung fand ab 1378 in markgräflichen Urkunden Verwendung. Für die nächsten Jahrhunderte sollte es bei Neustadt Eberswalde bleiben. Am 30. Mai 1877 erfolgte die offizielle Umbenennung in Eberswalde. Von 1970 bis 1993 war mit Eberswalde-Finow erneut ein Doppelname in Gebrauch. Seit dem 1. Juli 1993 heißt die Stadt wieder Eberswalde. Ur- und Vorgeschichte Bereits in ur- und vorgeschichtlicher Zeit besaß die hiesige Furt durch die Finow eine große Bedeutung und Anziehungskraft. Die ältesten archäologischen Funde stammten aus der Jüngeren Altsteinzeit und der Jungsteinzeit. Während der Bronzezeit waren das Finowtal und seine unmittelbare Umgebung dichter besiedelt. Der in dieser Epoche angefertigte Eberswalder Goldschatz (9. Jahrhundert v. u. Z.) erlangte überregionale Bekanntheit und zählt zu den bedeutendsten seiner Art in Mitteleuropa. Etwa ab 600 begann die Einwanderung der Slawen. Westlich der Hospitalkapelle St. Georg soll sich ein befestigter Wohnplatz der Elbslawen befunden haben. Nachgewiesen wurde ein Slawischer Burgwall nördlich des Nachbarorts Finowfurt. Anfänge der deutschen Ortschaft Johann Albrecht Beling berichtete in seiner Eberswalder Chronik aus dem Jahre 1769 von je einem Dorf südlich und nördlich der Eberswalder Furt. Beide wurden im Zuge der Deutschen Ostsiedlung vermutlich Ende des 12. Jahrhunderts gegründet. Die Böden der hiesigen Feldflur lieferten nur geringe Erträge. Von Anfang an mussten die Einwohner mit Handel und Gewerbe ihr Einkommen bestreiten. Aus dem südlichen Dorf Eberswalde entwickelte sich schnell eine Marktsiedlung. Die genaue Lage von Jakobsdorf konnte nicht abschließend geklärt werden. Alle seine Hufen befanden sich aber nachweislich nördlich der Finow, entlang des Rosengrunds und der Oderberger Straße. Im Jahr 1212 schloss Albrecht II., Markgraf von Brandenburg ein militärisches Bündnis mit dem gebannten Kaiser Otto IV. Zum einen ging es dem Askanier um die Abwehr der in die Germania Slavica vordringenden Dänen, zum anderen um die territoriale Erweiterung der Markgrafschaft Brandenburg. Vermutlich unternahm Albrecht bereits 1213 einen Feldzug nach Pommern. Wohl um diese Ereignisse herum wurde die unweit nördlich der Finow verlaufende Grenze zur pommerschen Uckermark befestigt. Dabei entstand mutmaßlich auch die weiter östlich, am Ausgang des Finowtals gelegene Burg Oderberg. Südlich der Eberswalder Furt wurde auf einem Sporn des Barnimplateaus (heute Schloss- oder Hausberg) eine Feste errichtet. Diese Ebersburg wurde zur zweiten Keimzelle der mittelalterlichen Stadt. Am Fuß des Schlossbergs entwickelte sich das Suburbium Ebersberg. Die Ernennung des Dorfs zum Oppidum Eberswalde soll anno 1254 durch Johann I., Markgraf von Brandenburg erfolgt sein, was zur 750-Jahr-Feier im Jahr 2004 führte. Eine urkundliche Bestätigung dafür wurde bisher nicht gefunden. Entgegen früheren Annahmen wuchsen die beiden südlichen Siedlungen nicht mit dem jenseits der Finow gelegenen Jakobsdorf baulich zusammen. Die erste Erwähnung für die Ebersburg stammte von 1261, die der Ortschaft eversvolde aus einer von Albrecht III. unterzeichneten Urkunde vom 23. April 1276. Erhebung zur Stadt und weitere Entwicklung Der Einheit aus Marktflecken und Burgsiedlung wurde schließlich das Stadtrecht verliehen. Wann genau, wurde nicht überliefert. Mit Hilfe zweier Informationen ließ sich der Zeitraum auf um 1275 eingrenzen. Zum einen die oben aufgeführte Ersterwähnung von 1276, zum anderen die Ausgrabungen in der Töpferstraße. Letztere ergaben eine erste Ausbauphase des eher randseitigen Quartiers um 1283. Der Grundriss der Stadt lässt noch heute die nach einheitlichem Plan angelegte Gitterform gut erkennen. Breite Straße sowie der Straßenzug aus Zum Untertor, Mühlenstraße und Kirchgasse (heute An der Friedensbrücke und Erich-Schuppan-Straße) nahmen den Fernverkehr auf. Westlich der beiden Hauptachsen bildete die Hinterstraße (heute Kirchstraße) eine dritte Nord-Süd-Verbindung. In Querrichtung gliederten sechs, annähernd parallele Nebenstraßen das Gebiet. Im Zentrum lag zwischen beiden Hauptstraßen der Marktplatz, darauf ein vermutlich massiv ausgeführtes Rathaus. Den höchsten Punkt der Altstadt, südlich des Markts beanspruchte der ebenfalls rechteckige Kirchplatz. Der Bau der Stadtkirche St. Maria Magdalena begann wahrscheinlich nach 1280. Eine Anfang des 14. Jahrhunderts errichtete Stadtmauer mit 34 Wiekhäusern sowie vorgelagerten doppelten Wällen und Gräben umgab das Areal. Vier Tore ermöglichten das Betreten oder Verlassen. Auf der Innenseite der Mauer verlief ein ringartiger Straßenzug. Bald nach der Erhebung zur Stadt gaben die Jakobsdorfer ihren Wohnplatz auf und übersiedelten nach Eberswalde. Die erste Urkunde, in der Eberswalde genannt ist, stammt von 1294. Sie betrifft eine Schenkung des Markgrafen Albrecht für einen Altar in der dortigen Pfarrkirche. Die Grenzbriefurkunde vom 24. August 1300 bezeichnete Eberswalde erstmals als Stadt (). Laut dem Dokument war sie zu diesem Zeitpunkt in allen wesentlichen Elementen ausgebildet. Außerdem führte es die städtischen Gemarkungsgrenzen und Privilegien sowie eine seit alters her bestehende Zollstätte zu Land und zu Wasser auf. Der Landesherr gewährte anno 1306 Eberswalde die Zollfreiheit in der gesamten Mark Brandenburg, zudem durfte sie nun selbst Zölle erheben. Der 1307 den umliegenden Dörfern (Karutz, Gersdorf, Sommerfelde) auferlegte Mahlzwang stellte eine weitere Einnahmequelle dar. Im Jahr 1317 kam mit der Verlegung der Handelsstraße Frankfurt–Stettin über Eberswalde der Straßen- und Stapelzwang hinzu. In den folgenden Jahrzehnten kaufte der Rat den Markgrafen weitere Rechte und Grundstücke ab, so 1326 das Untergericht sowie den Marktplatz und das Rathaus, 1350 die Holzgerechtsame, 1353 die Mühle und schließlich 1431 das Obergericht, zunächst wiederkäuflich, dann 1543 erblich. Eine dominierende Rolle unter den Zünften und Gilden spielten die Bäcker, Gewandschneider, Knochenhauer und Schuster, die als Viergewerke bezeichnet wurden. Diese Vorrangstellung zeigt sich u. a. im besonderen Mitspracherecht bei der Wahl des Bürgermeisters und der Ratsherrn. Zu den wichtigsten Erwerbszweigen gehörte das Bierbrauen. Mit ungefähr 70 Grundstücken verbanden sich Braugerechtsamen. Für die umliegenden Dörfer bestand ein Abnahmezwang. Weitere Einnahmen wurden aus der Viehzucht, der Fischerei und dem Holzverkauf gezogen. Zu Lasten von Niederfinow und Oderberg entwickelte sich Eberswalde ab 1317 zum wirtschaftlichen Zentrum des Oberbarnims. Mit rund 1.200 Einwohnern zählte sie aber zu den kleineren Städten der Mittelmark. Die Stadtkirche Eberswalde unterstand anfangs als Tochterkirche der Pfarrkirche in Heegermühle. In Umkehrung der Verhältnisse wurde sie 1317 deren Mutterkirche. Im Laufe des 14. Jahrhunderts ließen sich in der Ortschaft Mönche verschiedener Bettelorden und Bruderschaften nieder. Die Urkunden sprachen von Franziskanern aus Angermünde, Dominikanern aus Strausberg und Augustiner-Eremiten aus Königsberg. Die Stadt wies ihnen Hausstätten auf dem Gelände des heutigen Pfarr- und Gemeindehauses (Kirchstraße) zu, aber vor allem im Kalandshof (am Westende der heutigen Ratzeburgstraße, Erstnennung 1339). Das Heilig-Geist-Hospital (Ecke Steinstraße/An der Friedensbrücke, Erstnennung 1322) kümmerte sich um die Kranken, Siechen und Durchreisenden. Nach Errichtung der Stadtbefestigung übernahmen um Mitte des 14. Jahrhunderts zwei neu erbaute Hospitäler diese Aufgaben, an der südlichen Ausfallstraße das St.-Gertrud und an der nördlichen das St.-Georg (Leprosorium, Ersterwähnung 1359, um 1620 verfallen). Um dieselbe Zeit wurde das Heilig-Geist-Hospital inklusive seiner Ländereien an den Stadtrat verschenkt. Das Landbuch Kaiser Karls IV. von 1375 vermerkte mehrere Rechtsverhältnisse zu Eberswalde. Stadtherr war der Markgraf von Brandenburg. Ihm standen die Urbede (30 Barrenmark Silber im Wert von 34 Schock an Böhmischen Groschen), Einnahmen aus dem Obergericht, das Kirchenpatronat (die Vergabe von Ludwig I. ans Kloster Zehdenick wurde nicht vollzogen und von Papst Urban V. widerrufen) und die Zollabgabe (einschließlich der angegliederten Zollstätte Niederfinow [Vino] 80 Schock Böhmische Groschen) zu. Der Nebenabschnitt Burgen-Anordnung von 1377 wies der Ebersburg (Nyerstad) Einkünfte über 100 Schock Böhmische Groschen zu. Im 15. Jahrhundert begann der Verfall der Anlage. Die Brandkatastrophe von 1499, durch Unvorsichtigkeit beim Malzdörren ausgelöst, zerstörte die Stadt bis auf ihre steinernen Gebäude – das Rathaus, zwei Kurfürstenhäuser und die Kirche – völlig und warf sie in ihrer Entwicklung weit zurück. Der Wiederaufbau, aber auch die neue Stadtverfassung des Kurfürsten Joachim I. von 1515 bewirkten einen erneuten Aufschwung. So wurde die Stadt durch Aufkommen des metallverarbeitenden Handwerks zum frühesten Industrieort der Mark Brandenburg. 1532 gab es zwei Kupferhämmer, die 1603 an die Finow verlegt wurden. Am Kienwerder entstanden Eisen-, Blech-, Drahthämmer und Messerschmieden, außerdem wurden eine Papierfabrik, Tuchmachereien und Ziegeleien errichtet, besonders am Finowkanal, der 1620 nach 15-jähriger Bauzeit mit elf Schleusen in Betrieb genommen worden ist. Dreißigjähriger Krieg Im Dreißigjährigen Krieg erlitt Eberswalde Zerstörungen und Verwüstungen. Neben den Lasten häufiger Einquartierungen und hohen Kontributionen mussten die Eberswalder Tribut an Herrscher und Heerführer entrichten. So kampierte am 20. Juni 1628 Feldmarschall Wallenstein in der Stadt, und vom 18. zum 19. Dezember 1632 ist der in der Schlacht von Lützen gefallene schwedische König Gustav Adolf in der Stadtkirche Maria Magdalena aufgebahrt worden. Unter großem Aufgebot an Geld und Naturalien musste der jeweils riesige Tross der Begleiter von den Bürgern versorgt werden. Eberswalde erholte sich von den Auswirkungen des Krieges nur langsam. 1643, gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, gab es in Eberswalde noch 33 Häuser (vorher 216) und 168 Einwohner, davon 28 Bürger (Personen mit Bürgerrecht) und 140 Inwohner (Personen ohne Bürgerrecht). 1722 waren es wieder 1205 Einwohner, so viel wie vor dem Krieg. Der Finowkanal war zerstört. Einwanderung und Wirtschaftsaufschwung Im Jahr 1693 wurde eine reformierte Gemeinde aus 22 Schweizer Familien angesiedelt. Auf Kosten des Kurfürsten wurde für sie eine eigene Straße erbaut und Schweizer Straße genannt. Zwischen 1743 und 1755 wanderten 120 Scheren- und Messerschmiede, Schlosser und Feilenhauer aus Thüringen und dem Rheinland mit ihren Familien ein. Der wieder einsetzende wirtschaftliche Aufschwung führte zwischen 1743 und 1746 zum erneuten Ausbau des Finowkanals, der sowohl als Verkehrsweg wie auch als Energiequelle große Bedeutung für die Stadt und die Industrie gewann. Mit dem Kanal entstand ein Wasser- und Schifffahrtsamt. Auf dem Kupferhammer der Stadt ist der Kessel für die erste 1785 in Deutschland in Betrieb genommene Dampfmaschine hergestellt worden. Eberswalde als Luftkurort Neben der Entwicklung Eberswaldes als Industriestandort bildete sich der Ruf der Stadt als Bade- und Luftkurort sowie als Waldstadt heraus. Ab 1750 wurde ein Gesundbrunnen betrieben. Es gab zahlreiche Versuche, die eisenhaltigen Quellen für einen Kur- und Bäderbetrieb zu nutzen. Dem Profil eines Kur- und Erholungsortes diente auch ab 1795 die Schaffung von Promenaden und Schmuckanlagen. 1898 wurde der Badebetrieb wegen Unrentabilität eingestellt, und Eberswalde verlor seinen Ruf als Badestadt. Luftkurort jedoch blieb die Stadt auch weiter. Am 1. Mai 1830 ist auf Grund der ausgedehnten Wälder der Umgebung die Forstakademie von Berlin nach Eberswalde verlegt worden. Der praxisbezogene Unterricht in den forstlichen Lehrrevieren und die wissenschaftlichen Leistungen der hier wirkenden Forstwissenschaftler begründeten Eberswaldes Ruf als Waldstadt. Industriezeitalter Die industrielle Entwicklung ab Mitte des 19. Jahrhunderts fand ihren Niederschlag in der Gründung zahlreicher Fabriken (1851 Landmaschinenfabrik, 1852 Dachpappen- und Asphaltwerke, 1858 Seidenwarenfabrik, 1869 Hufnagelfabrik, 1883 und 1893 Eisengießereien, 1902 Ardeltwerke, heute Kranbau Eberswalde). Am 23. November 1877 fand die Inbetriebnahme des ersten Fernsprechapparates in Deutschland zwischen Eberswalde und der Postagentur Schöpfurth, dem heutigen Finowfurt, statt. Mit steigenden Zahl der Einwohner stieg auch der Bedarf an Postdienstleistungen, wodurch es 1891 bis 1892 zum Bau des Postamtes kam. Mit der sich beschleunigenden Industrialisierung wurde die Stadt zu einem Eisenbahnknotenpunkt ausgebaut. Am 30. Juli 1842 ist die Bahnverbindung nach Berlin und am 15. August 1843 nach Stettin fertiggestellt worden, 1866 nach Bad Freienwalde (Oder) und Frankfurt (Oder), 1898 nach Templin sowie 1907 nach Schöpfurth (Eberswalde-Finowfurter Eisenbahn). Am 7. Januar 1878 wurde die Reparaturwerkstatt der Berlin-Stettiner Eisenbahn eröffnet. Später wandelte sie sich zum Reichsbahnausbesserungswerk. Die Deutsche Bahn betreibt es heute als Fahrzeuginstandhaltungswerk, das im Jahre 2003 sein 125-jähriges Bestehen feierte. Außerdem entstand die Eisenbahnbrücke in der Nähe des Bahnhofes, die am 27. Juni 1910 polizeilich abgenommen wurde. Parallel dazu wurde das Straßennetz ausgebaut (1843 nach Bad Freienwalde, 1848 nach Oderberg, 1860 nach Joachimsthal, 1873 nach Schöpfurth). Am 1. September 1910 eröffnete die städtische Straßenbahn Eberswalde. Sie verkehrte bis 2. November 1940. Einen Tag später nahm der elektrische Oberleitungsbus seinen Betrieb in Eberswalde auf. Als der Finowkanal trotz dauernder Ausbesserungen und Veränderungen dem Verkehrsaufkommen, der Schiffstechnik und dem Energiebedarf nicht mehr gewachsen war, wurde der neue Oder-Havel-Kanal geschaffen und 1914 eingeweiht. Ausgebaute Verkehrsstraßen und die seit Mitte des 19. Jahrhunderts angesiedelten Fabriken bewirkten eine explosionsartige städtische Entwicklung. Hatte Eberswalde 1831 noch 4.388 Einwohner, so ergab eine Volkszählung im Jahre 1910 eine Einwohnerzahl von 26.075. Damit schied Eberswalde am 1. April 1911 aus dem Verband des Kreises Oberbarnim aus und bildete einen eigenen Stadtkreis. Im Zuge der Novemberrevolution von 1918 kam es zu Streiks, Demonstrationen und schließlich zur Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates. Während des Kapp-Putsches im März 1920 beteiligte sich die Arbeiterschaft im Finowtal nahezu vollständig am Generalstreik zur Abwehr des Putsches. In Eberswalde übernahm ein Aktionsausschuss der vereinigten Arbeiterparteien die Kontrolle. Eine Arbeiterwehr mit rund 2000 Bewaffneten wurde gebildet, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Am Bahnhof Eberswalde kam es am 16. März 1920 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Besatzung eines Panzerzuges und Eberswalder Arbeitern. Auch in der Umgebung von Eberswalde kam es zu Kämpfen zwischen bewaffneten Arbeitern und Militär. Versuchsfunkstelle Eberswalde Die Berliner C. Lorenz AG betrieb von 1909 bis 1939 in der Stadt (hinter der Badeanstalt) ihre Versuchsfunkstelle Eberswalde. Als größter Antennenträger wurde ein eisenarmierter, abgespannter Holzgittermast von 70 Metern Höhe errichtet. Die Funkstelle war anfangs für Telegrafie eingerichtet und führte ab 1919 auch Experimentalsendungen mit Sprachprogrammen (Rundfunk) durch. 1923 fand das erste Original-Rundfunkorchesterkonzert statt und im Oktober desselben Jahres wurde das Festkonzert zur Jahresversammlung des Deutschen Museums in München gesendet. Diese drahtlosen Konzerte waren bahnbrechend und machten die deutsche Rundfunktechnik international bekannt. 1930 ist im Rahmen eines Großversuchs die Technik des Richtfunks erprobt worden. 1939 wurde die Versuchsfunkstelle aufgelöst, die Antennenanlagen demontiert und in den Gebäuden eine Forschungsstelle für die Verwertung von Torf eingerichtet. Zeit des Nationalsozialismus Während der Novemberpogrome 1938 kam es in Eberswalde zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung, dabei brannte die erst wenige Jahre alte Synagoge ab (die 1889 an dieser Stelle entstandene Synagoge war am 16. August 1931 durch Blitzschlag zerstört und durch einen Neubau ersetzt worden). Ein Mahnmal (Grundriss der Synagoge) in der Goethestraße erinnert seit 2013 an das Gebäude und die jüdische Gemeinde in Eberswalde. In den Rüstungsbetrieben der Stadt organisierten die Kommunisten Hans Ammon und Fritz Pehlmann den Widerstand, wurden aber verraten und im August 1941 verhaftet. Ammon wurde erschlagen und Pehlmann ging in den Freitod. Zu DDR-Zeiten hieß der Weidendamm Hans-Ammon-Park. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 waren in den Betrieben der Städte Eberswalde und Finow zahlreiche Zwangsarbeiter beschäftigt, die in mehreren Arbeitslagern meist in der Nähe der Firmen untergebracht waren. Am 27. August 1943 wurden 205 Juden aus einem Arbeitslager in der Nähe der Märkischen Stahlformwerk GmbH, einer Tochtergesellschaft der Ardelt-Werke (Standort am heutigen Binnenhafen), in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert und in den Gaskammern ermordet. Eine Hachscharastätte gab es ca. 1935 bis 1941 in Polenzwerder, Alte Ziegelei, zur Vorbereitung junger Menschen auf ihre Auswanderung nach Palästina. Am 5. September 1944 entstand ein Außenlager des KZ Ravensbrück (in der Nähe des ehemaligen Bahnhofs Eisenspalterei) für etwa 1000 weibliche Häftlinge verschiedener Nationalität, darunter nur wenige deutsche Frauen. Jüdische Bürger wurden nicht festgehalten. Die Inhaftierten waren ausschließlich politische Häftlinge und mussten in den Ardelt-Werken arbeiten. 1944 waren unter den 7000 Mitarbeitern des größten Unternehmens in Eberswalde 3000 Zwangsarbeiter beschäftigt. Die Produktion des Stammwerkes und der Märkischen Stahlformwerk GmbH umfasste zahlreiche Rüstungsgüter: Panzerabwehrkanonen, Selbstfahrlafetten, Raupenfahrzeuge, Panzerkuppeln für die Küstenartillerie, Getriebe und Kettenglieder für Panzerfahrzeuge, Leichtmetallteile für den Flugzeugbau, Torpedoausstoßrohre, Granatenkörper, Tellerminen, Seeminen, Gehäuse für Fliegerbomben und Pontons für den Bau von Pionierbrücken. Ingenieure der Ardelt-Werke waren auch beim Abschuss der Vergeltungswaffen in Peenemünde beteiligt. Das KZ-Außenlager in Eisenspalterei wurde wegen des Näherkommens der Roten Armee am 20./21. April 1945 aufgelöst und die Häftlinge nach Ravensbrück zurücktransportiert, wo sie später freikamen. Nach dem Krieg nutzte die Rote Armee das Lager für kurze Zeit als Internierungslager und danach als Versorgungsdepot. Zwei der noch existierenden Baracken stehen heute unter Denkmalschutz. Am 20. April 1945 gab es in Eberswalde um 19:00 Uhr den ersten Panzeralarm, etwa in dieser Stunde verließ Hermann Göring sein Anwesen Carinhall in der Schorfheide Richtung Obersalzberg. Die SS-Sondereinheit Gruppe Steiner verschanzte sich nördlich der Stadt jenseits des Oder-Havel-Kanals (damals Großschifffahrtsweg) und sprengte alle Brücken in der Nähe der Stadt. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1945 wurde die Innenstadt von deutschen Flugzeugen mit Brandbomben stark zerstört. Einen strategischen Zweck erfüllte dieser Angriff nicht, da die sowjetischen Eliteeinheiten Eberswalde im Süden entlang der Bernauer Heerstraße umgingen, um möglichst schnell Berlin zu erreichen. Etwa gleichzeitig sind mehrere Gebäude der Stadt von der Freischärlerorganisation Werwolf angezündet worden: der Aussichtsturm, der Wasserfall (Ausflugsgaststätte) und andere. Erst nachfolgende Einheiten der Roten Armee besetzten am 26. April 1945 Eberswalde. Entwicklung ab Ende des Zweiten Weltkriegs Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (ab 1948) erfolgten umfangreiche Planungen für einen Neuaufbau der zerstörten Stadtgebiete unter Federführung des Stadtplaners und Architekten Hans Freese. Die Stadt ist zu einem bedeutenden Industrie- und Agrarstandort, Verkehrsknotenpunkt und kulturellen Zentrum der Region ausgebaut worden. 1952 wurde Eberswalde auf Grund der Verwaltungsreform in der DDR Kreisstadt des neugebildeten gleichnamigen Kreises Eberswalde. Zwischen 1954 und 1963 hatte das Institut für Forstwirtschaftliche Arbeitslehre der Humboldt-Universität zu Berlin seinen Sitz in den Gebäuden der ehemaligen Versuchsfunkstelle Eberswalde. Im Jahre 1963 wurde die 1830 eröffnete Forstakademie geschlossen beziehungsweise nach Tharandt bei Dresden verlegt. Am 1. April 1992 ist die damals unterbrochene Lehre in der neu gegründeten Fachhochschule wieder aufgenommen worden. Die forstlichen Einrichtungen sind heute wieder ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt. In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1990 wurde Amadeu Antonio Kiowa, ein aus Angola stammender Vertragsarbeiter, in Eberswalde von etwa 50 Neonazis brutal zusammengeschlagen. Der 28-jährige Kiowa erwachte nicht mehr aus dem Koma und erlag zwei Wochen später den Folgen seiner schweren Verletzungen. Fünf der jugendlichen Täter wurden im September 1992 vom Bezirksgericht Frankfurt/Oder zu maximal vierjährigen Haftstrafen verurteilt, einige zu Bewährungsstrafen. Der Afrikanische Kulturverein PALANCA e. V. engagiert sich für Kulturaustausch und versucht durch schulische Projekttage den Kontinent Afrika durch Tanz, Essen und Exkursionen der Bevölkerung näher zu bringen, aber auch den Mord an Amadeu Antonio Kiowa in Erinnerung zu halten. 1993 ist der Landkreis Barnim mit Eberswalde als Kreisstadt gebildet worden. 1994 verließen die russischen Streitkräfte die Stadt. Am 10. April 2000 wurde der Binnenhafen eingeweiht und im Jahre 2002 fand die Landesgartenschau in Eberswalde statt. Bis zur Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 ist die Entwicklung des Industriestandortes Eberswalde durch Betriebsneugründungen forciert worden. Die heutige Kreisstadt des Kreises Barnim setzt nach dem Niedergang der großen Industriebetriebe und Forschungszentren als Verwaltungszentrum auf die Förderung des Mittelstandes, den Aufbau des Stadtzentrums – dort sind bereits viele Neubauten entstanden – mit seinen Infrastrukturen, die Instandsetzung der jahrzehntelang vernachlässigten Wohnsubstanz, die Sanierung der Industrieflächen, Kasernenbauten und des Verkehrsnetzes sowie die Wiederbelebung als Erholungs- und Freizeitzentrum. Geschichte von Finow bis 1970 Finow entstand 1928 durch Zusammenlegung des 1294 erstmals genannten Dorfes Heegermühle mit den bis dahin selbständigen Gemeinden Eisenspalterei-Wolfswinkel und Messingwerk und wurde 1935 zur Stadt erklärt. 1970 erfolgte der Zusammenschluss der Städte Eberswalde und Finow unter dem Namen Eberswalde-Finow. Bis 1920 war Messingwerk ein Gutsbezirk und erhielt 1920 den Status einer eigenständigen Gemeinde. Eisenspalterei und Wolfswinkel waren bis 1928 (Eingemeindung) ebenfalls Gutsbezirke und keine eigenständigen Gemeinden. Vorgeschichte und Ortsgründung Jungsteinzeitliches Material trat vereinzelt auf der südlichen Talsandterrasse und der anschließenden Moränenfläche südlich von Finow auf. Im Ziegeleigelände nordwestlich des Ortes barg man im 19. Jahrhundert ein Depot der mittleren Bronzezeit, das 30 Bronzegegenstände enthielt. Diese weisen auf verschiedene kulturelle Einflüsse aus dem nördlichen und dem südlichen beziehungsweise südöstlichen Europa hin, die hier im Gebiet zwischen Elbe und Oder zusammentreffen. Auch der bronzezeitliche Goldschatz von Eberswalde wurde in Finow (damals Messingwerk bei Eberswalde) gefunden. An der Finow gab es ursprünglich eine landesherrliche Zollstätte, wo die Güter der von der Oder kommenden Kähne auf Landfahrzeuge umgeladen wurden. Bereits 1294 nennt eine Urkunde außer dem Krug (Schenke) und dem Hof, einem markgräflichen Wirtschafts- und Unterkunftsanwesen, auch die Heghermolle. Das Bestimmungswort Heger gehört zu mittelniederdeutsch heger, das folgende Bedeutung hat: 1. Knecht = Verwalter, 2. zinspflichtige Lehnsleute, Meier, 3. Heger, Hecken-, Knickarbeiter. Diese He(e)germühle gab der Ansiedlung den ersten Namen; 1608 ließ sie der Kurfürst zugunsten eines Eisenhammers beseitigen. Mittelalter und Beginn der Neuzeit Der bäuerliche Ort Heegermühle umfasste 1375 insgesamt 38 Hufen Land, davon vier Schulzenhufen und ein Kirchhufe. Die Flur, wie das Dorf vom Finowkanal zweigeteilt, setzte sich entsprechend der Dreifelderwirtschaft aus dem Langenstücken- und dem Mittelstückenfeld sowie dem Steinfurthschen Feld zusammen. Die Bewohner mussten ihre Hand- und Spanndienste beim elf Kilometer entfernten Amt Biesenthal leisten, nach der Inbetriebnahme des Eisenhammers für das Werk. Zusätzliche Forderungen stellte das Forstamt Biesenthal an die Gemeinde, beispielsweise in Form von Hackarbeiten in den Schonungen. Die unmittelbare Umgebung des Dorfes Heegermühle nahm seit Anfang des 17. Jahrhunderts auf Betreiben und mit Unterstützung des Landesherrn eine gewerbliche Entwicklung, die von günstigen Standortfaktoren, wie dem Finowkanal als Transportmittelträger, den Vorkommen von Raseneisenstein und dem Wald als damals wichtigsten Energielieferanten, begünstigt wurde. Das erste Eisenhammerwerk in Heegermühle arbeitete bis zu seiner Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg. Ihm folgte 1660 ein Blechhammer, dessen Warenabsatz durch ein Schutzedikt von 1687 gesichert war. An seiner Stelle entstand 1697 bis 1700 das Messingwerk Heegermühle. Östlich des Ortes am Finowkanal sind zur gleichen Zeit eine Eisenspalterei und ein Drahthammer errichtet worden. Eine 1726 gebaute königliche Papiermühle fiel 1760 dem Siebenjährigen Krieg zum Opfer. Eine neue Fabrik erhielt fünf Jahre später ihren Standort in Wolfswinkel. 1832 arbeitete hier die erste englische Papiermaschine, so dass die manuelle Büttenpapierherstellung allmählich verschwand. Erwähnung verdienen die Ziegeleien, die Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem Ton aus der Finowaue verwerteten. Die Steine gelangten auf dem Wasserweg hauptsächlich nach Berlin. Der nach dem ehemaligen Besitzer benannte Mäckersee südlich vom Oder-Havel-Kanal, der Rest einer früheren Tongrube, dient heute zum Baden. Entwicklung im 20. Jahrhundert Nachdem am 16. Oktober 1907 eine Eisenbahnstrecke von Eberswalde über Heegermühle nach Schöpfurth eröffnet und 1920 die elektrische Straßenbahn von Eberswalde bis Eisenspalterei geführt worden war, verbesserte sich der Personen- und Güterverkehr bedeutend. In Wolfswinkel ging aus einer Linoleumfabrik ein chemischer Betrieb hervor, 1909 kam ein Elektrizitätswerk hinzu. 1921 wurde die Linoleumfabrik von der Firma Chemische Fabrik auf Actien (vorm. E. Schering) übernommen. Das Kraftwerk Heegermühle wurde unter dem Namen Märkisches Elektrizitätswerk (MEW) nach Plänen von Georg Klingenberg erbaut, es hat als einziger Industriebau im Finowtal eine Schaufassade zum Finowkanal. Das MEW galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts als vorbildliches Beispiel des neuzeitlichen Kraftwerkbaus und dient noch im 21. Jahrhundert als Musterbau für die Fachwelt. 1914 verlegte das Messingwerk seine Produktionsanlagen an den Oder-Havel-Kanal, ein Zeichen für die Standortbedeutung der neuen Wasserstraße. Den Bau von Wohnhäusern trugen Siedlungsgesellschaften, so die Heimstättengesellschaft Heegermühle-Messingwerk. Am 15. Oktober 1928 entstand durch Zusammenlegung des Dorfes Heegermühle mit den bis dahin selbstständigen Orten Eisenspalterei-Wolfswinkel und Messingwerk die Gemeinde Finow. 1935 wurde das neue Gemeinwesen zur Stadt erhoben. Ende der 1920er-Jahre kaufte das Kupfer- und Messingwerk in Finow Land vom Lichterfelder Rittergut, zwischen dem Oder-Havel-Kanal und dem Anstieg zur Golzower Platte, um eine Siedlung anlegen zu lassen. Auf einem schachbrettartigen Grundriss, mit einem 350 Meter langen Platz in der Mitte, entstanden im Jahre 1934 Doppelwohnhäuser mit entsprechendem Nutzland für die Selbstversorgung der Familien. 1936 kamen Einfamilienhäuser hinzu. Die Siedlung, die seit der Grundsteinlegung am 13. März 1934 den Namen des völkischen Dichters und Schriftstellers Dietrich Eckart (1886–1923) trug, wurde 1945 in Clara-Zetkin-Siedlung umbenannt. Vom 17. Mai bis zum 3. Juni 1945 waren in einem Waldstück im Südwesten von Finow die teils verkohlten menschlichen Überreste von Adolf und Eva Hitler, der Familie Goebbels und des letzten Generalstabschefs des Heeres im Zweiten Weltkrieg, Hans Krebs, vergraben. Anschließend wurden sie in den Stadtforst von Rathenow transportiert. Die Industrialisierung führte zu einem schnellen Wachstum der Bevölkerung. Lebten in Heegermühle 1840 erst 419 Menschen, so waren es 1910 bereits 5859. Bei der Volkszählung im Jahre 1939 wurden in Finow 10.488 Personen gezählt. Im Dezember 1969 lebten in der Stadt 11.767 Menschen. Drei Monate später, im März 1970, wurde Finow mit Eberswalde vereinigt. Eingemeindungen 1928 wurden Eisenspalterei-Wolfswinkel, Heegermühle und Messingwerk in Finow eingemeindet. Am 1. Mai 1936 wurde die Gemeinde Kupferhammer aus dem Kreis Oberbarnim in den Stadtkreis Eberswalde eingegliedert. Am 20. März 1970 fand die Vereinigung der bis dahin eigenständigen Städte Eberswalde und Finow unter dem neuen Namen Eberswalde-Finow statt. Am 1. Juli 1993, gleichzeitig mit der Umstellung der Postleitzahlen, wurde aus Eberswalde-Finow wieder Eberswalde. Am 5. Dezember 1993 wurden die Gemeinden Sommerfelde und Tornow eingemeindet. Am 1. Januar 2006 wurde die Gemeinde Spechthausen aus dem Amt Biesenthal-Barnim ein Ortsteil der Stadt. Bevölkerungsentwicklung Im Dreißigjährigen Krieg verlor Eberswalde fast seine gesamte Bevölkerung. Die Einwohnerzahl sank von 1200 im Jahre 1618 bis auf 168 im Jahre 1643. Erst 1722 erreichte die Bevölkerungszahl wieder den Vorkriegsstand. Im 18. Jahrhundert wuchs die Einwohnerzahl von Eberswalde nur langsam. Mit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert setzte ein erneutes stärkeres Bevölkerungswachstum ein. Lebten 1817 etwa 4000 Personen in Eberswalde, waren es 1898 schon 20.000. Bis 1939 verdoppelte sich diese Zahl auf knapp 41.000. Im Zweiten Weltkrieg verlor die Stadt etwa ein Drittel ihrer Bevölkerung. Die Einwohnerzahl sank bis 1945 um 13.238 Personen auf 27.377. Am 20. März 1970 schlossen sich die Städte Eberswalde (33.400 Einwohner 1969) und Finow (11.767 Einwohner 1969) zur Stadt Eberswalde-Finow mit rund 45.000 Einwohnern zusammen. Im Jahre 1989 hatte Eberswalde-Finow mit etwa 55.000 die höchste Einwohnerzahl seiner Geschichte erreicht. 1993 erfolgte die Umbenennung der Stadt in Eberswalde. 1968 kamen die ersten 190 ungarischen Vertragsarbeiter nach Eberswalde. Bis 1969 wuchs ihre Zahl auf 277. Viele Ungarn haben sich in der Stadt niedergelassen und bilden heute die größte Gruppe unter der ausländischen Wohnbevölkerung. 1974 trafen die ersten algerischen Vertragsarbeiter in Eberswalde ein. Später folgten Kubaner, Vietnamesen, Mosambikaner und Angolaner. Ihre Zahl lag in den 1980er Jahren zwischen 500 und 800. Im Jahre 1989 waren in Eberswalde 1310 Ausländer polizeilich registriert, darunter 564 Vertragsarbeiter. Die größte registrierte ausländische Gruppe stellten die Familienangehörigen der Offiziere der sowjetischen Streitkräfte. In der Zeit vor der Wende waren in Eberswalde folgende sowjetischen Einheiten stationiert: 20. Gardearmee (Hauptquartier) 899. Luftlandebataillon 255. Reparaturbataillon 307. Reparaturbataillon 423. Funkbataillon 247. Schützenbataillon 81. Garde-Mot. Schützenregiment 787. Jagdfliegerregiment 41. Hubschrauberstaffel 117. Rückwärtige Brigade 793. Militärkrankenhaus Allein zum Stab der 20. Gardearmee gehörten 10.000 Armeeangehörige und 5.000 Zivilbeschäftigte, die nicht in der Bevölkerungsstatistik erfasst wurden. Insgesamt waren im Raum Eberswalde rund 30.000 Soldaten der Sowjetarmee stationiert. Inklusive Zivilbeschäftigten und Kindern waren in Eberswalde etwa so viele Sowjetbürger wie Deutsche wohnhaft, die Bevölkerungszahl von etwa 100.000 wurde jedoch nie offiziell kommuniziert. 1990 waren bei der Stadtverwaltung noch 435 Ausländer (0,8 %) gemeldet. Diese Zahl sank bis Ende 1991, bedingt durch die vorzeitige Kündigung der Arbeitsverträge durch die Betriebe und Abwanderung, auf 299 (0,6 %). Bis 2000 wuchs die Ausländerzahl wieder auf 550 Personen (1,2 %). In den letzten Jahren stieg der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich und lag 2005 bei 2,2 % (920 Personen). Seit der Wende und friedlichen Revolution in der DDR verlor die Stadt durch Abwanderung und Geburtenrückgang ein Viertel ihrer Einwohner. Am 31. Dezember 2005 betrug die amtliche Einwohnerzahl für Eberswalde 41.831 (nur Hauptwohnsitze). Das ist ein Rückgang um rund 13.000 Personen seit 1989. Nach der Korrektur durch den Zensus 2011 betrug im Jahr 2015 die Einwohnerzahl 39.303. Am 23. September 2008 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel Ort der Vielfalt. Religion Kirchen Die Evangelische Stadtkirchengemeinde Eberswalde gehört zur Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) und besitzt drei Kirchengebäude: die 1241 gegründete Maria-Magdalenen-Kirche in Eberswalde, die 1892 bis 1894 gebaute Johanniskirche und die 1952 bis 1954 gebaute Pfingstkapelle Ostende. Weiterhin gibt es drei u. a. auch als Gottesdienststätten genutzte Gemeindehäuser: den Friedenskirchsaal im Stadtteil Westend, das Wartburgheim im Stadtteil Nordend und das Gemeindehaus Eisenbahnstraße 84. Zur Evangelischen Kirchengemeinde Finow gehören die Kirche im Stadtteil Finow, das im April 2001 fertiggestellte Gemeindezentrum im Brandenburgischen Viertel, das am 5. November 2006 den Namen Dietrich-Bonhoeffer-Haus erhielt, sowie das Gemeindehaus in der Clara-Zetkin-Siedlung. Die Römisch-katholische Kirche besitzt jeweils eine Kirche in den Stadtteilen Eberswalde (St. Peter und Paul, 1876/1877 nach einem Entwurf des Kölner Dombaumeisters Vincenz Statz) und Finow (Heilige Theresia vom Kinde Jesu, 1934, Architekt war Josef Bachem). Seit dem 1. Januar 1938 ist Eberswalde Sitz eines Dekanats. Freikirchen Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde/Baptisten Evangelisch-methodistische Kirche Christus-Gemeinde Eberswalde e. V. (Ev. Freikirche) Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten Religionsgemeinschaften Neuapostolische Kirche Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage Zeugen Jehovas Politik Stadtverordnetenversammlung Der Stadtverordnetenversammlung von Eberswalde gehören 36 Stadtverordnete und der hauptamtliche Bürgermeister an. Die letzte Kommunalwahl fand am 26. Mai 2019 bei einer Wahlbeteiligung von 45,3 Prozent statt. Die Wahlperiode der Stadtverordnetenversammlung beträgt fünf Jahre. In Brandenburg hat jeder Wähler bei der Kommunalwahl drei Stimmen, die er auf die Bewerber eines Wahlvorschlages oder unterschiedlicher Wahlvorschläge verteilen kann. Die Fünf-Prozent-Hürde wird bei Kommunalwahlen nicht mehr angewandt. In die Stadtverordnetenversammlung können somit alle Parteien und Gruppierungen einziehen, die – in Abhängigkeit vom Sitzzuteilungsverfahren – genug Stimmen erhalten, um die faktische Sperrklausel für ein Mandat zu überwinden. Bürgermeister 1990–1995: Hans Mai (SPD) 1995–2006: Reinhard Schulz (parteilos) 2006–2021: Friedhelm Boginski (FDP) seit 2022: Götz Herrmann (parteilos) Schulz war 2006 wegen Untreue und Bestechlichkeit verurteilt worden und durfte drei Jahre kein öffentliches Amt ausüben. Am 16. Juli 2006 wurde er bei einem Bürgerentscheid mit 91,2 Prozent der gültigen Stimmen als Bürgermeister abgewählt. In der Bürgermeisterstichwahl am 19. November 2006 wurde Friedhelm Boginski (FDP) zum neuen Bürgermeister gewählt. Er wurde am 14. September 2014 mit 64,6 % der gültigen Stimmen für weitere acht Jahre in seinem Amt bestätigt. Boginski wechselte 2021 als Abgeordneter in den Bundestag und gab deshalb sein Amt vorzeitig auf. Götz Herrmann wurde in der Bürgermeisterstichwahl am 3. April 2022 mit 61,9 % der gültigen Stimmen für eine Amtszeit von acht Jahren gewählt. Wappen Historisches Stadtwappen Flagge „Die Flagge ist Schwarz - Weiß - Grün (1:1:1) gestreift und mittig mit dem Stadtwappen belegt.“ Dienstsiegel Das Dienstsiegel zeigt das Wappen der Stadt mit der Umschrift . Städtepartnerschaften Eberswalde hat mit drei Städten eine Gemeindepartnerschaft abgeschlossen: Sehenswürdigkeiten und Kultur In der Liste der Baudenkmale in Eberswalde und in der Liste der Bodendenkmale in Eberswalde stehen die in der Denkmalliste des Landes Brandenburg eingetragenen Kulturdenkmale. Bauwerke Das Alte Rathaus, ein barockes Bürgerhaus aus dem Jahr 1775, das als Wohnhaus des Tuchfabrikanten Heller erbaut wurde, befindet sich am Marktplatz. Den Marktplatz schmückte zu DDR-Zeiten der Löwenbrunnen, ein großer runder Brunnen, der von den ursprünglich vier Brunnen an den vier Ecken in der südöstlichen Ecke übriggeblieben war. Mit der Umgestaltung des Platzes ab 2005 wurde der Springbrunnen abgerissen und ein kleines Wasserspiel errichtet, das im Volksmund Pissrinne genannt wird. Am Marktplatz entstand 2007 nach zweijähriger Bauzeit mit dem Paul-Wunderlich-Haus eines der modernsten ökologischen Verwaltungsgebäude Deutschlands. Der Komplex nutzt Erdwärme und benötigt nur etwa ein Drittel der sonst notwendigen Energie. Er ist Sitz der Kreisverwaltung und des Landrates sowie Arbeitsplatz für rund 500 Mitarbeiter. Im Hof des kleeblattartigen Gebäudeensembles stehen Nachbildungen des Künstlers Paul Wunderlich. Das Innere des Hauses beherbergt eine Dauerausstellung mit mehr als 300 Originalen des in Eberswalde geborenen Malers und Bildhauers. Ebenfalls in der Nähe des Marktplatzes befindet sich die Maria-Magdalenen-Kirche, eine hochgotische Stadtpfarrkirche aus dem 13. Jahrhundert mit der höchsten gemauerten Kirchturmspitze der Welt. Das Martin Gropius Krankenhaus (Klinik für Neurologie und Psychiatrie) war vom Zweiten Weltkrieg bis nach der Wiedervereinigung Deutschlands von der Sowjetarmee besetzt und wurde umfassend renoviert. Im Stadtzentrum befinden sich am südlichen Rand des Eberswalder Urstromtals zwei Treppen: die Goethetreppe und die Schillertreppe. Als Neubau wurde die Bibliothek der Fachhochschule Eberswalde mit Architekturpreisen bedacht. Einige Kilometer nördlich der Stadt befindet sich das Kloster Chorin, eine Ruine des von Zisterziensermönchen erbauten Komplexes. Östlich von Eberswalde findet man am Oder-Havel-Kanal den Ragöser Damm und das Schiffshebewerk Niederfinow, nördlich der Stadt unterquert die Fernbahnlinie Berlin-Stettin den Kanal (Kanalunterführung). Die Teufelsbrücke am Finowkanal befindet sich im Stadtteil Finow auf dem Gelände des ehemaligen Messingwerkes. Die Brücke ist schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs außer Betrieb, es existiert kein Brückenbelag mehr. Die vorhandenen Bauteile gehörten von 1824 bis 1826 zur Weidendammer Brücke in Berlin. 1880 wurde sie um Gehwegbahnen ergänzt. 1895 erfolgte die erste Umsetzung der Brücke, sie wurde um 13 Meter gekürzt in Liepe über den Finowkanal wieder aufgebaut. Im Jahr 1913 wurde sie nochmals gekürzt und über der Ausfahrt des Messingwerkhafens montiert. Der mittlere Brückenteil ist herausnehmbar, um größeren Schiffen eine Durchfahrt zu ermöglichen. Gelegentlich wird sie auch „Treidelpfadbrücke“ genannt. Die Brücke ist eine dreijochige, jetzt 23 Meter lange und etwa 2,30 Meter breite Ganzmetallkonstruktion aus genieteten und verschraubten L-Profilen und Blechen. Das Mittelteil ist auf gusseisernen Säulen gebettet. Die gesamte Brücke ist in sich schief, dies kann auf nachlässige Fertigung oder auf einen Transportschaden, auf Setzungen oder einen Unfall zurückzuführen sein. Hafen- und Kanalseite des Bauwerks sind um etwa acht Zentimeter versetzt, was eine Schieflage von etwa drei Grad bedeutet. Die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in typisch genieteter Bauweise errichtete Bahnhofsbrücke Eberswalde wurde zwischen 2004 und 2006 abgerissen und durch einen Neubau ersetzt. Das höchste Gebäude der Stadt ist neben dem Fernmeldeturm Eberswalde ein Behälter des Mischfutterwerks Eberswalde. Im Stadtteil Finow befinden sich in der Messingwerksiedlung mehrere Kupferhäuser, entworfen unter anderem von Walter Gropius, und neben den ehemaligen Hirsch-Werken der Wasserturm des Berliner Architekten Paul Mebes. Er ist ein herausragendes Beispiel des deutschen Expressionismus. Die Ruine einer Knüppelhalle und das Generatorenhaus der Eisenspalterei stehen am Finowkanal westlich der Lichterfelder Straße. Die Knüppelhalle wurde 1847 bis 1849 von August Borsig für die Borsigwerke in Berlin-Moabit erbaut; 1900 wurde sie demontiert und umgesetzt. Parks Wegen der umliegenden großen Waldflächen hat sich der inoffizielle Beiname Waldstadt eingebürgert. Selbst in der Stadt findet man viele Grünflächen, die größtenteils nach der Zerstörung der Wohnbebauung durch einen Luftangriff der deutschen Luftwaffe im April 1945 angelegt wurden. Am südlichen Stadtrand befindet sich inmitten des Eberswalder Stadtforsts der Zoologische Garten und der Forstbotanische Garten Eberswalde. Anlässlich der Landesgartenschau 2002 entstand im Ortsteil Eisenspalterei auf dem Gelände des ehemaligen Walzwerkes Altwerk der Familiengarten. Im Zentrum der Stadt befindet sich nahe dem Campus der Fachhochschule der Park Weidendamm, der 2003 ähnlich seiner Gestalt vor dem Ersten Weltkrieg umgebaut wurde. Der Waldfriedhof (Haupteingang Breite Straße/Ecke Heinrich-Heine-Straße) wurde bereits um 1600 eröffnet und gehörte damals zum St.-Gertrud-Hospital. 1846 erfolgte die Einweihung der Trauerhalle. 1903 erhielt der Friedhof seine heutige Ausdehnung. Die Terrassen und parkähnlichen Gehwege entstanden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Plänen des Stadtgarteninspektors Fritz Schumann. Auf dem Friedhof sind zahlreiche Persönlichkeiten der Stadt begraben, darunter Ehrenbürger, Bürgermeister, Forstprofessoren, Baumeister und Künstler. Der erste jüdische Friedhof in Eberswalde entstand 1751 an der Oderberger Straße und gehört zu den ältesten in Brandenburg. Er wurde 1851 erweitert und 1862 mit einer Mauer aus Ziegelsteinen umgeben. 1987 entfernte man etwa 60 Meter der noch stehenden Umfassungsmauer. Der älteste noch erhaltene Grabstein stammt von 1784. Im Jahre 1924 wurde der zweite jüdische Friedhof an der Freienwalder Straße neben dem Waldfriedhof eröffnet und 1929 die heute nicht mehr bestehende Friedhofshalle eingeweiht. Auf dem Friedhofsgelände sind noch 53 Grabsteine erhalten geblieben. Stiftung WaldWelten Die Stadt Eberswalde hat im Jahr 2010 gemeinsam mit der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde HNEE (FH) die Stiftung WaldWelten ins Leben gerufen. Zweck der Stiftung WaldWelten ist die Förderung der waldbezogenen Wissenschaft und Klimafolgenforschung, die öffentliche Umweltbildung, die Förderung von waldbezogener Kunst und Kultur sowie des Naturschutzes. Der gut 140 Hektar große Stiftungswald befindet sich im Süden der Stadt, zwischen Forstbotanischem Garten / Schwappachweg und dem Ortsteil Spechthausen. Auf der Fläche entsteht schrittweise das Landesarboretum des Landes Brandenburg. Der Stiftungswald ist mit einem Fuß- und Radweg an das Stadtzentrum angeschlossen und dient der Bevölkerung als Naherholungsgebiet. Naturdenkmale Direkt im Ort, in der Schicklerstraße, am früheren Marktplatz der Eberswalder Vorstadt, ist eine Winterlinde erhalten. Ihr Alter wird auf 250 Jahre geschätzt. Laut angehängter Erklärungstafel ist sie rund 25 Meter hoch und verfügt über einen Stammumfang von 3,25 Meter (siehe Bild). Die Stadt Eberswalde ist umgeben von ausgedehnten Waldflächen. Direkt an die Stadt grenzt im Süden der Eberswalder Stadtforst, der sich bis nach Trampe, Klobbicke, Tuchen und Grüntal erstreckt und eine Fläche von ca. 60 km² hat. Nordöstlich der Stadt gibt es weitere ausgedehnte Waldflächen mit dem Totalreservat Plagefenn nördlich der Ortschaft Liepe. Rings um die Stadt liegen viele Seen, Bäche, Moore und Heiden. Geschichtsdenkmale Alter Jüdischer Friedhof von 1751, Oderberger Straße Denkmal für die Opfer des Faschismus auf dem Karl-Marx-Platz Ehrengrab für drei sowjetische Kriegsgefangene auf dem Lichterfelder Friedhof Gedenkstätte für die ausländischen Zwangsarbeiter auf dem Waldfriedhof Freienwalder/Breite Straße Judenhaus, Kirchstraße 18 als Deportationssammelstelle Neuer Jüdischer Friedhof von 1929, Freienwalder Straße „Heldenhain Eberswalde“, Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges am Rand der Oberheide, südlich der Georg-Herwegh-Straße Museum Ein Museum für Regionalgeschichte befindet sich im ältesten erhaltenen Fachwerkhaus der Stadt, der ehemaligen Adler-Apotheke. In dem dreigeschossigen Gebäude in der Steinstraße befand sich von 1623 bis 1986 eine Apotheke. Seit 1906 ist dort eine Touristeninformation untergebracht. Das Museum wurde am 4. Februar 1906 gegründet. Bei seiner Gründung wurde der Historiker und Redakteur der Eberswalder Zeitung Rudolf Schmidt mit der Verwaltung betraut. Das Museum war zuerst im Dachgeschoss des Rathauses, später in der Hindenburg-Oberrealschule (heute Gesamtschule Mitte), der St.-Georgs-Kapelle und in einer Schule in der Kirchstraße 8 untergebracht. Aus den anfänglich 150 Exponaten sind mittlerweile 12.500 geworden. Zu den interessantesten Ausstellungsstücken zählt die Nachbildung des bronzezeitlichen Eberswalder Goldschatzes – er gilt als der größte Goldfund in Deutschland. Die acht Goldschalen sowie die 73 anderen Teile wie Halsschmuck und Armbänder mit einem Gesamtgewicht von 2,54 Kilogramm purem Gold stammen aus dem 9. Jahrhundert v. Chr. und wurden am 16. Mai 1913 bei Ausschachtungsarbeiten eines Hauses in einem Tongefäß entdeckt und nach Berlin gebracht. 1945 fielen diese offenbar der Roten Armee in die Hände. Im Januar 1994 wurde bekannt, dass sich der sogenannte Eberswalder Goldschatz im Moskauer Puschkin-Museum befindet. Das Museum zeigt an einem Modell die Funktionsweise des ehemals im Eberswalder Ortsteil Spechthausen betriebenen Kupferhammers. Ein besonderes Ausstellungsstück ist eine aufwendig gestaltete Kupferschmiedeinnungslade des märkischen Kupferschmiedegewerks aus dem Jahre 1663. Diese gehörte dem aus Berlin stammenden Hammermeister Christoph Puchert, der auf dem Kupferhammer arbeitete. Musik Die Freilichtbühne im Familiengarten Eberswalde auf dem ehemaligen Gelände der Landesgartenschau 2002 ist der größte Veranstaltungsort. Sie bietet bis zu 4000 Besuchern einen Sitzplatz. In der St.-Georgs-Kapelle finden Konzerte der klassischen und modernen Kammermusik sowie musikalisch-literarische Veranstaltungen statt. Die kleine Konzerthalle bietet bis zu 80 Personen Platz. Seit der Eröffnung des Paul-Wunderlich-Hauses wird der Plenarsaal auch als öffentlicher Veranstaltungsraum genutzt. In Eberswalde findet seit 1994 jährlich das Jazz-Festival jazz in e. an wechselnden Veranstaltungsorten statt. Im Forstbotanischen Garten gibt es seit 2001 sommerliche Weltmusikkonzerte mit internationalen Künstlern in der Veranstaltungsreihe Purpur. Der Choriner Musiksommer wird von der Forstakademie Eberswalde veranstaltet und bietet Freunden der klassischen Musik einen ungewöhnlichen Rahmen in den Ruinen des Klosters Chorin. Das Haus Schwärzetal ist das älteste erhalten gebliebene Haus für Großveranstaltungen. Hier finden jährlich die Eberswalder Faschingstage statt. Regelmäßige Veranstaltungen Fasching/Karneval: Erste Faschingsveranstaltungen in Eberswalde reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Seit Mitte der 1980er Jahre gibt es Fasching und Karneval in Eberswalde. Traditionell ist der Austragungsort der Schuppen (das Haus Schwärzetal), der die Ausgestaltung der Räumlichkeiten für die Faschingsfeiern bietet. Fasching und Karneval sowie die Veranstaltungen anderer Vereine bilden die Eberswalder Faschingstage. Für einige Jahre war das 1983 eröffnete Haus der Kultur (im Volksmund Las Vegas) ein kulturelles Zentrum der Stadt. Fast 800 Personen fanden zur gleichen Zeit Platz im Gebäude. Hier befanden sich eine Bierkneipe, Speiserestaurant, Nachtbar und eine Disko. 1985 nahmen 137.000 Menschen das kulturelle Angebot wahr. Nach der Wende in der DDR erfolgte die Schließung und das Haus Schwärzetal trat die Nachfolge des Hauses der Kultur an. Bis 2008 nutzte Neckermann das Gebäude. 2011 wurde das ehemalige Haus der Kultur abgerissen. Auch das Kulturhaus Beimlerstraße (Bauunion) sowie das Kulturhaus Rotes Finowtal (Westend-Kino) wurden nach der Wende geschlossen, um die Mittel für das Haus Schwärzetal und die darin stattfindenden Faschingstage zu konzentrieren. Das Finowkanalfest findet jährlich im Frühsommer am Finowkanal statt. Im Zentrum nahe der Altstadt wurde dieses Volksfest bis 2003 an der Stadtschleuse veranstaltet. Neben einem Bootskorso städtischer Sport- und Faschingsvereine gibt es Konzerte, mittelalterliche Vorführungen und Tanzveranstaltungen. Seit dieses Fest von der Stadt im Familiengarten durchgeführt wird, sind die Besucherzahlen stark rückläufig. Weitere Veranstaltungen sind die Choriner Filmnächte (sie finden alljährlich im Spätsommer im Klostergarten Chorin statt), das Internationale Filmfest Eberswalde (es wird alljährlich im Spätsommer unter wechselnden Mottos veranstaltet). Rock aus E. wird seit 1998 jährlich am letzten Sonnabend im Mai veranstaltet. Punk Is Not Dead mit Auftritten diverser Punkrockbands findet seit 2003 immer am 2. Oktober im Jugend- und Kulturverein Exil Eberswalde oder im Rockbahnhof Eberswalde statt. Kulinarische Spezialitäten Der Eberswalder Spritzkuchen ist ein Gebäck aus Brandteig, der in Fett frittiert wird. Das Backwerk aus dieser Stadt erreichte bereits im 19. Jahrhundert überregionale Bedeutung. Der Berliner Konditor und Lebküchler Gustav Louis Zietemann hatte am 23. Februar 1832 die Genehmigung erwirkt, sich als Konditor in Eberswalde niederzulassen. Am 1. April 1832 eröffnete er seine Konditorei und bot dort erstmals Eberswalder Spritzkuchen an und lieferte diese ab 1842 an den Bahnhof. So wurden die Spritzkuchen ein Werbeträger für die Stadt und viele Reisende verbanden den Namen von Eberswalde mit den Spritzkuchen. In der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise wurden von der Stadt Eberswalde zwei Notgeld-Scheine ausgegeben (25 und 50 Pfennig). Es kursiert das Gerücht, dass diese Scheine zum Bezahlen von Spritzkuchen auf dem Bahnhof gedacht waren, sie waren aber normales Notgeld. – Zum Gedenken an Zietemann wurde im Eberswalder Bahnhof eine Bronzestatue aufgestellt. Eberswalder Würstchen sind eine besondere Eberswalder Spezialität, die allerdings in Britz hergestellt wird. Es sind spezielle Bockwürstchen, die eine große Verbreitung auch außerhalb von Eberswalde erlangten. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Überblick Die Stadt ist von der brandenburgischen Landesregierung als Regionales Entwicklungszentrum (REZ) und als Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums eingestuft. Eberswalde ist im Landkreis Barnim der einzige Regionale Wachstumskern mit verschiedenen Branchenkompetenzfeldern. Die Wirtschaftsstruktur ist geprägt durch die Nahrungs- und Genussmittelindustrie, den Waggonbau, die Holzbe- und -verarbeitung, den Maschinenbau, die Eisen-, Stahl- und Buntmetallerzeugung, die Elektrotechnik und den Binnenhafen. Weiterhin gibt es einige Betriebe aus der Metallverarbeitung, der Massengüterproduktion und dem Recyclinggewerbe. Charakteristisch für die soziale Infrastruktur ist die Gesellschaft für Leben und Gesundheit mbH (GLG), zu der unter anderem die Klinikum Barnim GmbH, Werner Forßmann Krankenhaus und die Martin Gropius Krankenhaus GmbH gehören. Im Universalbankgeschäft ist die Sparkasse Barnim mit Sitz in Eberswalde Marktführer im Landkreis Barnim. Die städtische Infrastruktur wird durch den Auf- und Ausbau eines hochleistungsfähigen Glasfasernetzes für die Daten-, Sprach- und Bildübertragung modernisiert. Wichtige Standorte wie die Gewerbegebiete, die Banken und Sparkassen, die Stadt- und Kreisverwaltungen, sowie das Behördenzentrum wurden an das Citynetz angeschlossen. Die Entwicklung des Flugplatzes Eberswalde-Finow zu einem Verkehrslandeplatz mit überregionaler Bedeutung und der Bau einer Ost-West-Schnellstraße mit Anschluss der Gewerbestandorte ist geplant. Auf dem Flugplatzgelände wurde 2010/11 mit dem Solarpark Finow Tower der zum damaligen Zeitpunkt größte Solarpark Europas mit einer Leistung von 84,7 MWp errichtet. Ansässige Unternehmen (Auswahl) Die in Eberswalde bis 1990 ansässige Schwerindustrie (vor allem metallverarbeitende Betriebe) verlor stark an Bedeutung. Die großen Betriebe existieren nicht mehr beziehungsweise nur noch in sehr viel kleinerer Form. Im Kranbau Eberswalde arbeiteten 1989 rund 3500 Menschen; heute sind es noch 200. Das Walzwerk Finow hatte zur Wende 2500 Mitarbeiter, bei der Stilllegung am 31. März 2012 waren es noch 145. Trotzdem blieb die Stadt ein industrielles Zentrum und mit der Neuausrichtung der Metallbranche ab 1990 wurde auch die Produktpalette erweitert. Größter Arbeitgeber der Region ist die in Eberswalde ansässige GLG Gesellschaft für Leben und Gesundheit mbH. Zur Holding gehören in Eberswalde das Werner Forßmann Klinikum, das Martin Gropius Krankenhaus, eine ambulantes Rehabilitationszentrum, ein ambulanter Pflegedienst, eine Service- und Immobilienverwaltung, die MVZ Eberswalde GmbH, in Angermünde die Medizinisch-Soziales Zentrum Uckermark gGmbH, mit ihrer Tochtergesellschaft MVZ Prenzlau GmbH, dem Kreiskrankenhaus Prenzlau und dem Krankenhaus Angermünde sowie die Fachklinik Wolletzsee. Der Gesundheitskonzern ist mit rund 3.600 Mitarbeitern eines der größten Unternehmen im Bundesland Brandenburg und größter Arbeitgeber in den Landkreisen Barnim und Uckermark. Zweitgrößtes Unternehmen und nach der Kreisverwaltung mit mehr als 500 Mitarbeitern drittgrößter Arbeitgeber ist die Deutsche Eisenbahn Service AG, ehemals DB Fahrzeuginstandhaltung GmbH (bis 1993 Reichsbahnausbesserungswerk) mit etwa 130 Beschäftigten (1989 noch 1500). Zur gleichen Branche zählt die Eberswalder Betriebsstätte der ODIG, einer Tochtergesellschaft der Ostdeutschen Eisenbahn GmbH (ODEG). An größeren Unternehmen existieren noch die Finow Rohrleitungssystem- und Apparatebau Serviceleistungs GmbH (100 Mitarbeiter) und die Finow Automotive GmbH (70 Mitarbeiter). Überregionale Bedeutung haben die Eberswalder Brot- und Feinbackwaren GmbH Märkisch Edel und der Brennstoff- und Mineralölhandel K.-Otto Hucke. Am Eberswalder Hafen betreibt die 1Heiz Gruppe eines der größten Biomassekraftwerke Europas (64 MW Leistung). Der erzeugte CO2 neutrale Strom wird in das öffentliche Netz eingespeist und deckt den Strombedarf von Eberswalde. Die anfallende Wärme wird zur Produktion von Holzpellets eingesetzt. Am Standort werden 45 Mitarbeiter beschäftigt. Die DRE/CON Großwälzlager GmbH (100 Mitarbeiter) wurde am 1. Januar 2007 von der Rothe Erde GmbH mit Sitz in Dortmund übernommen. DRE/CON entstand 1994 durch Abspaltung vom Kranbau Eberswalde und wurde 1995 von der Treuhandanstalt privatisiert. Das Werk stellt Drehverbindungen für Windkraftanlagen sowie für Förder- und Antriebstechnik her. Es wird Ende 2021 geschlossen. Mit MP-TEC hat der größte Solarsystemanbieter für erneuerbare Energien in Ostdeutschland seinen Sitz in Eberswalde. 2006 erhielt das Unternehmen den Zukunftspreis Ostbrandenburg, ein Jahr später den Innovationspreis Berlin-Brandenburg 2007. Damit wurde MP-TEC für seine in Eigenentwicklung entstandene erste hemisphärische Nachführanlage für Solarmodule und Sonnenkollektoren ausgezeichnet. Die Materialprüfanstalt Eberswalde (MPA) ist aus einem Landesamt des Landes Brandenburg hervorgegangen, bis zum Jahr 2005 hieß die MPA Materialprüfamt Brandenburg. Die Materialprüfanstalt hat die Aufgabe, im öffentlichen Interesse Prüfungen von Stoffen, Produkten, Anlagen und Verfahren mit dem Ziel durchzuführen, die Allgemeinheit gegen Gefahren zu sichern und die Wirtschaft in der Qualitätssicherung zu unterstützen. Mit dem Namen der Stadt verbunden ist auch die EWG Eberswalder Wurst GmbH/EFG Eberswalder Fleisch GmbH. Sitz und Produktionsstätte liegen jedoch in der Gemeinde Britz nördlich der Stadt. Bekanntestes Produkt sind wahrscheinlich die Eberswalder Würstchen. Das frühere Schlacht- und Verarbeitungskombinat (SVKE) zählte 1989 mit rund 3000 Erwerbstätigen zu den größten Fleischwerken in Europa. Heute arbeiten in dem Betrieb noch 290 Personen. Wirtschaftliche Kennzahlen Das regionale Bruttoinlandsprodukt (BIP) lag 2004 bei 15.205 Euro je Einwohner produzierter Güter und Dienstleistungen (Bundesdurchschnitt 24.805 Euro). Im Juni 2004 waren von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten der Region Eberswalde 4,7 % im Bereich Land-, Forstwirtschaft und Fischerei tätig, 22,4 % im produzierenden Gewerbe, 22,8 % im Handel, Gastgewerbe und Verkehr sowie 50,2 % im sonstigen Dienstleistungsbereich. Die Beschäftigtendichte lag bei 269 je 1000 Einwohner. Etwa die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeitete außerhalb des äußeren Entwicklungsraumes des Landkreises Barnim (Region Eberswalde), 70 Prozent davon in Berlin. Im Mai 2014 lag die offizielle Arbeitslosenquote im Bereich Eberswalde der Agentur für Arbeit bei 11,4 %. Die Arbeitslosenquote erreichte im Oktober 2018 einen Wert von 7,1 %. Verkehr Straßenverkehr Die Bundesstraßen B 167 (Neuruppin–Frankfurt (Oder)) und B 168 (Eberswalde–Cottbus) sowie die Landesstraße 200 (Bernau–Angermünde) führen mitten durch die Stadt und begründen ein entsprechend hohes Verkehrsaufkommen. Der Ort liegt nahe der A 11 (Berlin–Stettin). Die nächstgelegenen Anschlussstellen sind Finowfurt und Chorin. Die Anbindung der Stadt mit einer Umgehungsstraße entlang des Oder-Havel-Kanals ist geplant. Eisenbahnverkehr Der Eberswalder Hauptbahnhof ist Kreuzungspunkt der Bahnstrecken Berlin–Pasewalk–Stralsund und Eberswalde–Frankfurt/Oder. Eberswalde Hbf wird von folgenden Regionalexpress- und Regionalbahnlinien bedient: RE 3 Stralsund / Schwedt – Berlin – Jüterbog – Lutherstadt Wittenberg RE 66 Berlin-Gesundbrunnen – Szczecin Główny RB 24 Eberswalde – Flughafen BER – Terminal 5 (Schönefeld) RE B 60 Eberswalde – Frankfurt (Oder) RB 63 Eberswalde – Joachimsthal Am Bahnhof halten ICE- und IC-Züge auf der Strecke Stralsund–Berlin. Während der überregionale Personenverkehr und die Verbindungen nach Berlin von der DB Regio Nordost betrieben werden, obliegt der Verkehr auf den Nebenstrecken der Niederbarnimer Eisenbahn. Auf dem Gelände der ehemaligen Hufnagelfabrik im Ortsteil Kupferhammer ist noch eine bahntechnische Besonderheit zu sehen: die Reste des Waggonaufzugs Eberswalde. Öffentlicher Personennahverkehr Im Jahr 1901 verkehrte in Eberswalde mit der Gleislosen Bahn Eberswalde der erste regelmäßig betriebene Oberleitungsbus (Obus) Deutschlands. Dieser Betrieb hatte wegen technischer Schwierigkeiten jedoch nur drei Monate lang Bestand. Vom 1. September 1910 bis zum 3. November 1940 verkehrte in der Stadt die Straßenbahn Eberswalde. Heute besitzt Eberswalde neben Esslingen am Neckar und Solingen einen von nur noch drei deutschen Obus-Betrieben. Dieser Oberleitungsbus Eberswalde existiert seit dem 3. November 1940 und wird seit der Wende von der Barnimer Busgesellschaft mbH (BBG) elektrisch auf folgenden Linien betrieben: Die beiden Verbindungen vom Nordend (Linie 861) beziehungsweise vom Ostende (Linie 862) zum Brandenburgischen Viertel sowie nach Finow. Sie bewältigen den überwiegenden Teil des öffentlichen Verkehrs der Stadt. Im Jahr 2009 führte die BBG eine europaweite Ausschreibung zur Erneuerung der seit circa 1993 vorhandenen Obusse durch. Nachdem zunächst an Wasserstoff-Brennzellen-Busse gedacht worden war, wurden dann jedoch – wegen zu großer Risiken der neuen Antriebstechnik – herkömmliche Obusse mit der Möglichkeit einer autonomen Fahrt über etwa fünf Kilometer bevorzugt. Im Stadtverkehr gibt es außerdem mehrere Omnibus-Linien. Im Einzugsgebiet werden weitere Buslinien unterhalten, darunter ein Touristenbus, der in den Sommermonaten rund um den Werbellinsee fährt und einen Fahrradanhänger mitführt. Schifffahrt Der Finowkanal als älteste noch durchgängig befahrbare künstliche Wasserstraße Deutschlands war eine der Grundlagen der industriellen Entwicklung der Stadt Eberswalde. Er besitzt heute keine Bedeutung als Schifffahrtsweg mehr. Seine Führung mitten durch die Stadt macht ihn jedoch zu einem touristischen Anziehungspunkt. Die Aufgaben des Finowkanals übernahm der 1914 eröffnete Oder-Havel-Kanal, der nördlich an der Stadt vorbeiführt. Der Oder-Havel-Kanal wird seit Anfang der 2000er Jahre für den Betrieb mit modernen Binnenschiffen kontinuierlich ausgebaut, wobei auch die gesamte Dichtung des Kanalbettes erneuert wird. Ein weiterer Teil dieser Erneuerungsarbeiten war der Ersatz der alten Kanalüberführung über die Berlin-Stettiner Eisenbahn. Dazu wurde nördlich des vorhandenen ein neues Kreuzungsbauwerk in Form eines Tunnels sowie ein neues Kanalbett gebaut. Die Bauarbeiten am Kreuzungsbauwerk begannen am 5. Juli 2004; die Freigabe für den Verkehr erfolgte am 11. Dezember 2006. Das neue Kreuzungsbauwerk schafft auch für die darunter liegende Bahnlinie bessere Bedingungen, die Stromleitungen können jetzt unter dem Kanal unter Spannung bleiben, und die Geschwindigkeit für die Strecke wurde von bisher 80 auf 160 km/h erhöht. In Eberswalde wurde nach 1990 ein neuer Binnenhafen auf einer alten Liegenschaft der sowjetischen Streitkräfte gebaut und kontinuierlich erweitert. Dieser Hafen befindet sich zwischen der Lichterfelder Wassertorbrücke und der Dusterwinkelbrücke. Er ersetzt den alten Hafen in Nordend, der keine Erweiterungsmöglichkeiten mehr bot. Daneben werden in der neuen Hafenanlage der Steil Holding westlich der Lichterfelder Wassertorbrücke weitere Güter umgeschlagen. Die Kaianlage des ehemaligen Betonwerkes (zwischen Binnenhafen und Dusterwinkelbrücke) ist dagegen stillgelegt. Luftverkehr Der Flugplatz Eberswalde-Finow ist ein Zivilflugplatz, der bis zum Abzug der sowjetischen Truppen als Militärflugplatz betrieben wurde. Die Einflugschneise liegt über dem Süden der Stadt Eberswalde. Bis zur Wende wurden überwiegend Abfangjäger stationiert, es fanden aber auch Starts und Landungen mit schweren Transportflugzeugen statt. Der am schnellsten zu erreichende internationale Flughafen ist Berlin Brandenburg. Medien Am 16. Oktober 2009 wurde der bisherige Stadtsender Eberswalde TV (Sendestart 2003) in den Lokalsender ODF – Fernsehen für Ostbrandenburg umgewandelt, der im Barnim, Märkisch-Oderland und dem Landkreis Oder-Spree unterschiedliches Lokalprogramm ausstrahlt. Im Frühjahr 2009 übernahm Eberswalde TV die Sendelizenz des Senders Oskar TV aus Fürstenwalde, der seit 1995 den Landkreis Oder-Spree, Märkisch-Oderland und einen Teil des Barnims mit aktuellem Programm versorgte. ODF kann in den Kabelnetzen der Landkreise Barnim und Oder-Spree von rund 118.000 Zuschauern empfangen werden. In Eberswalde sind über Kabel etwa 17.000 Haushalte angeschlossen. Redaktionen befinden sich in der Sendezentrale Eberswalde, in Bernau und Fürstenwalde. Veranstalter ist die Eberswalder Blitz Werbe & Verlags GmbH. Weitere lokale Medien in der Stadt Eberswalde: Märkische Oderzeitung, Tageszeitung, Auflage: ca. 31.000 regional, 100.000 gesamt BB Radio Nordost über BB Radio Eberswalder Blitz, kostenloses Anzeigenblatt, Auflage: ca. 91.000 Barnimer Bürgerpost (bbp), erscheint monatlich Eberswalder Monatsblatt, Amtsblatt der Stadt Eberswalde, erscheint monatlich Behörden, Institutionen, Körperschaften Einer der größten öffentlichen Arbeitgeber ist die Agentur für Arbeit mit 570 Mitarbeitern im gesamten Agenturbezirk, davon 300 im Stadtgebiet von Eberswalde. Zum Agenturbezirk Eberswalde zählen neben der Hauptagentur mit Sitz in der Bergerstraße in Eberswalde die Geschäftsstellen Angermünde, Bernau, Prenzlau, Schwedt und Templin. In Eberswalde beheimatet sind neben einem Amts- sowie Arbeitsgericht und einer Zweigstelle der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) außerdem das Landeskriminalamt für das Bundesland Brandenburg. Das zog im Jahr 2006 vom damaligen Basdorf hierher. Als traditionelle Forststadt ist die Bundesforschungsanstalt für Forst- und Holzwirtschaft in Eberswalde beheimatet, außerdem die Landesforstanstalt, die Vorlauf- und Dienstleistungsaufgaben für den Fachkomplex Forstwirtschaft übernimmt und eng mit dem Landesumweltministerium zusammenarbeitet. Weitere Behörden für das Land Brandenburg haben sich in Eberswalde niedergelassen, darunter die Abteilungen Großschutzgebiete und Raumentwicklung des Landesumweltamtes und das Materialprüfungsamt des Landes Brandenburg (Abt. Holz und Holzwerkstoffe), das Holzschutzmittelprüfungen für das gesamte Bundesgebiet vornimmt. Die Kreisverwaltung für den Landkreis Barnim ist am Marktplatz im Paul-Wunderlich-Haus ansässig. Sie ist mit rund 500 Mitarbeitern größter öffentlicher Arbeitgeber der Stadt. Außerdem existiert in Eberswalde das Kreisarchiv. Das Staatliche Schulamt, das Wasser- und Schifffahrtsamt, das rund 660 km an Wasserstraßen verwaltet sowie das Amt für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik, eine der unteren Arbeitsschutzbehörden des Landes, haben ihren Sitz ebenfalls in der Stadt. Der Landesbetrieb Straßenwesen Brandenburg betreibt eine Niederlassung in der Stadt und die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) ist mit einem Ortsverband vertreten. Darüber hinaus unterhält Eberswalde seit 2000 eine Berufsfeuerwehr. Medizinische Einrichtungen In Eberswalde ist die Martin Gropius Krankenhaus GmbH (ehemals Landesirrenanstalt) beheimatet. Diese befindet sich im Stadtteil Nordend. August Zinn gründete schon 1873 einen Hilfsverein für Geisteskranke für die Provinz Brandenburg. An ihn erinnert eine Straße nördlich des Krankenhauses, der Dr.-Zinn-Weg. Der Architekt Martin Gropius entwarf die Pläne für die Provinzial-Irrenanstalt, die von 1862 bis 1865 gebaut wurde und damals den modernsten Standards für Krankenhausbauten entsprach. In den beiden Weltkriegen diente die Klinik als Lazarett, nach 1945 wurde sie von der Sowjetarmee als Zentrallazarett genutzt, während einige umliegende Objekte als Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie der alten Bestimmung nachgingen. Nach der Wende und dem Abzug der Sowjetarmee wurde der Gropius-Bau rekonstruiert und 2002 nach fünfjähriger Bauzeit wiedereröffnet. Die Umbau- und Sanierungsarbeiten sowie der Neubau der Klinik für Forensische Psychiatrie gehörten zu den größten Baumaßnahmen im Land Brandenburg. Lediglich die Gerontopsychiatrie wird weiter genutzt, die weiteren zu DDR-Zeiten benutzten Gebäude werden nicht weiter betrieben. Das Werner-Forßmann-Krankenhaus ist ein akademisches Lehrkrankenhaus der Charité – Universitätsmedizin Berlin und befindet sich in der Rudolf-Breitscheid-Straße am südlichen Stadtrand von Eberswalde in der Nähe des Tierparks. Das Krankenhaus wurde als Auguste-Victoria-Heim gegründet, benannt nach der letzten deutschen Kaiserin, die bei der Eröffnung persönlich anwesend war. Bildung Schulen In Eberswalde existieren neben fünf Grund- und zwei weiterführenden Schulen zwei Gymnasien und ein Oberstufenzentrum. Außerdem gibt es mehrere Schulen in freier Trägerschaft. Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde Die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde (Abkürzung: HNE Eberswalde bzw. HNEE) hat eine lange Tradition in der Stadt. Sie wurde 1830 als Höhere Forstlehranstalt von Friedrich Wilhelm Leopold Pfeil gegründet. Heute können Studenten aus vier Fachbereichen (Wald und Umwelt, Landschaftsnutzung und Naturschutz, Holzingenieurwesen, Nachhaltige Wirtschaft) insgesamt 17 Studiengänge wählen. 56 Professoren stehen rund 2100 Studenten gegenüber. Forschung und Lehre orientieren sich am Leitbild „Mit der Natur für den Menschen“ und stellen Tradition, Innovation und Kooperation in den Mittelpunkt ihres Handelns. Sport Der SV Motor Eberswalde ist mit seinen 13 Sportabteilungen und über 1000 Mitgliedern der größte Sportverein der Stadt. Seit seiner Gründung als Preußen 09 Eberswalde im Jahr 1909 konnten sich seine Mitglieder in 16 Sportarten erfolgreich beweisen und wurden selbst über die Landesgrenzen bekannt. Größter Fußballverein der Stadt ist der FV Preussen Eberswalde. Seit 1994/1995 war die Mannschaft als FV Motor Eberswalde ununterbrochen Mitglied in der Oberliga Nordost (Staffel Nord). Am Ende der Saison 2006/2007 stieg der Verein als Letzter der Staffel in die Brandenburg-Liga ab und spielt seitdem (Stand Saison 2018/19) in dieser Spielklasse. 2011 fusionierte der FV Motor Eberswalde mit dem FC Freya Marienwerder zum FV Preussen Eberswalde. Im Handball ist der 1. SV Eberswalde von überregionaler Bedeutung. Der Verein spielte 1987/1988 in der DDR-Oberliga und 1996/1997 in der 2. Bundesliga, Staffel Nord. 1995/1996 wurde die Mannschaft Nordostdeutscher Meister. Der Verein schaffte nach Ende der Saison 2006/2007 den Aufstieg in die Oberliga Berlin-Brandenburg, der damals vierthöchsten Spielklasse im Handball. Am Ende der Saison 2009/2010 gelang der Mannschaft der Aufstieg in die Handball-Oberliga Ostsee-Spree. Die neue vierthöchste Liga im Handballsport wurde zum Beginn der Spielzeit 2010/2011 gebildet. Am Ende der Saison 2011/2012 stieg der Verein in die Brandenburgliga ab. Der SV Stahl Finow war sehr erfolgreich in den Sportarten Segeln, Kanu und Tischtennis, stellte in den 1970er- und 1980er-Jahren mehrere DDR-Meister. Die Sektion Segeln des Vereins hat ihren Standort am westlichen Ende des Werbellinsees in Wildau bei Eichhorst. Die 1994 herausgelöste Fußballabteilung des FV Stahl Finow agierte insgesamt vier Spielzeiten (1974/1975 bis 1976/1977 und 1981/1982) in der DDR-Liga, der zweithöchsten Spielklasse im Deutschen Fußballverband der DDR (DFV). Die Herren-Mannschaft des Finower TTC Eberswalde spielte 1996/97 in der 2. Tischtennis-Bundesliga. 2007 kam es zur Fusion des TTC mit dem ESV Eberswalde, der nach Abschluss der Saison 2006/2007 den Aufstieg in die Oberliga Ost, der vierthöchsten Spielklasse im Tischtennis schaffte. Nach Abschluss der Spielzeit 2010/2011 stieg der Verein in die Verbandsliga ab. 2012 wurden die Herren des TTC Finow GEWO-Eberswalde Brandenburger Landesmeister und schafften damit sportlich den Aufstieg in die Oberliga. Aus finanziellen Gründen verzichtete der Verein aber auf diese Option. Die Damen-Mannschaft des TTC Finow GEWO-Eberswalde stieg nach Ende der Saison 2007/2008 aus der Regionalliga Nord, der dritthöchsten Spielklasse im Tischtennis, in die Oberliga Ost ab. In der Sporthalle der Technischen Werke in Westend ist der Judoclub Eberswalde beheimatet, dessen Mannschaft in der Saison 2007 in der 1. Bundesliga, Gruppe Nord, kämpfte. Nach einem Jahr Zugehörigkeit stieg der Verein am Ende der Saison wieder in die 2. Bundesliga ab. In der Aufstiegsrunde (Relegation) am 27. Oktober 2007 in Bottrop belegte er den vierten und letzten Platz. Von 2003 bis 2006 und von 2008 bis 2010 gehörte die Mannschaft zur 2. Bundesliga, Gruppe Nord. Nach einem Jahr Zugehörigkeit zur Regionalliga Nordost kämpft der Judoclub ab der Saison 2012 erneut in der 2. Bundesliga. Der Tauchclub Werbellow ist in Eberswalde zu Hause und hat seine Tauchbasis am Werbellinsee. Am 15. Juli 1952 gründete sich aus der Chemischen Fabrik Finowtal die Betriebssportgemeinschaft Chemie Finow. Daraus entstand der heutige FSV Eintracht Finowtal (seit 2005 SV Medizin Eberswalde e. V.). Auf das Jahr 1891 sind die ersten Anfänge des Schwimmsports in Eberswalde zurückzuführen. Seitdem hat der Eberswalder Schwimmverein viele große Erfolge gefeiert. Treffpunkt ist die Schwimmhalle (baff) im Stadtteil Westend. Seit 1999 gibt es noch das Team der „Eberswalde Warriors“, die die Sportart des American Footballs in Eberswalde verbreiten. Gegründet wurde das Team als Projekt für schwererziehbare Kinder und entwickelte sich über die Jahre mit steigendem Erfolg zu einem richtigen Verein. Mittlerweile spielen die „Eberswalde Warriors“ in der Oberliga Ost, der vierthöchsten Spielklasse in Deutschland. 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics St. Vincent und die Grenadinen ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Persönlichkeiten Ehrenbürger Den Titel Ehrenbürger erhalten nur lebende Personen. Die nachfolgende Übersicht zeigt deshalb ehemalige und heutige Ehrenbürger der Stadt Eberswalde, geordnet nach dem Datum der Verleihung. Söhne und Töchter der Stadt Mit Eberswalde verbundene Persönlichkeiten Bemerkenswertes Dialekt Eberswalder Kanaldeutsch ist strenggenommen kein eigenständiger Dialekt, sondern eine durch den märkischen Einfluss etwas veränderte Variante des Berliner Dialekts. So wird beispielsweise „widda“* statt „wieder“ gesagt. Weiterhin wird mit „janich“ (gar nicht) oder einfach „janee“ verneint. Sprachlich wird das „-er“ am Ende im Kanalplatt als „-a“ gesprochen, das kurze „i“ oft als sehr kurzes „ü“, so wird z. B. „immer“ zu „ümma“ und „Kirsche“ zu „Kürsche“ in der Eberswalder Aussprache. Es kommt noch zu weiteren Lautverschiebungen: „Pferd“ z. B. wird in Eberswalde als „féad“ im langem „e“ ausgesprochen. Namensvergabe für einen außerirdischen Krater Der Marskrater Eberswalde mit einem Durchmesser von 65,3 Kilometern und einer Tiefe von etwa 800 Metern wurde nach der Stadt Eberswalde benannt. Dieser Krater wurde als einer von vier möglichen Landeplätzen des neuen Mars-Rovers Curiosity ausgewählt. Superlative Am 15. März 1901 erfolgte hier der erste Linienbetrieb eines Obusses in Deutschland. Mit dem 1908 geschaffenen Ragöser Damm besitzt das Stadtgebiet den höchsten Kanaldamm Europas (28 m Höhe). Die größte Taschenuhr der Welt von Wilfried Schwuchow liegt seit September 1999 im Familiengarten, nachdem sie in das Guinness-Buch der Rekorde eingetragen wurde. Die Stadt im Roman Eberswalde ist Hauptschauplatz des Romans Die Not der Hella Grawehn (1918, Concordia Deutsche Verlags-Anstalt Berlin, 325 Seiten) des Berliner Schriftstellers Richard May (1886–1970), dessen Mutter Jenny Liepmann in Eberswalde aufwuchs. Seine Großeltern wohnten in der Schicklerstraße 6, das Haus zwischen HNE (damals Forstakademie) und Park am Weidendamm (damals Weidendamm-Promenade) existiert noch. Durch seine Familienbesuche kannte der Autor die Stadt gut. Die Stadt heißt im Roman fiktiv Schwirtow, die Schwärze heißt Schwirte. Trotz dieser Verfremdung ist Eberswalde leicht erkennbar. Siehe auch Medienhaus Eberswalde Ragöse Schwärzefüße Treidelweg Literatur Lucas Lebrenz: Zwischen Besetzung und Selbstverwaltung. Eberswalde in der Franzosenzeit (1806-1815) (Barnimer Historische Forschungen 3). Berlin 2022, ISBN 978-3-95410-298-3. Eberswalde. Einst und Jetzt. Culturcon / Märkische Oderzeitung. 2010. ISBN 978-3-941092-47-1 Wilhelm Bartsch: Das bisschen Zeug zur Ewigkeit. Osburg-Verlag, Hamburg 2013, ISBN 978-3-95510-003-2. Eberswalder Jahrbuch für Heimat-, Kultur- und Naturgeschichte. Verein für Heimatkunde zu Eberswalde e. V., Eberswalde 2004/2005, . Günter Rinnhofer, Klaus Rohlfien: Eberswalde. Gestern und heute – eine Gegenüberstellung. Wartberg, Gudensberg-Gleichen 2003. Marina Schlaak: Zeitzeichen, Eberswalde – Geschichte und Geschichten. Stadtverwaltung Eberswalde, Eberswalde 2003, ISBN 3-9805947-3-4. Eberswalde nach der Wende. Ausstellung gestern und heute vom 1. August–18. September 2002. Stadt Eberswalde (Hrsg.). Eberswalde 2002. Ronald Krüger, Michael Hasse (Hrsg.): Stadtverkehr Eberswalde. Gleislose Bahn – Straßenbahn – O-Bus. Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin e. V., Ges. für Verkehrspolitik und Eisenbahnwesen (GVE), Berlin 2000, ISBN 3-89218-058-X. Günter Rinnhofer, Klaus Rohlfien: Eberswalde. Wartberg, Gudensberg-Gleichen 1999. Sighard Neckel: Waldleben. Eine ostdeutsche Stadt im Wandel seit 1989. Frankfurt am Main, Campus 1999, ISBN 3-593-36247-3. Ilona Rohowski: Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Denkmale in Brandenburg 5.1 = Landkreis Barnim. Stadt Eberswalde. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1997. ISBN 978-3-88462-136-3 Klaus Arlt: Zeugnisse jüdischer Kultur: Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. Tourist-Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-350-00780-5. Rudolf Schmidt: Geschichte der Stadt Eberswalde. Band 1 bis 1740. Eberswalde 1939, Band 2 von 1740 bis 1940. Eberswalde 1940, 1994 (Nachdr.). Märkische Forschungen. 20 Bände. Verein für die Geschichte der Mark Brandenburg, Berlin 1841–1887. J. W. Kunger: Chronik von Neustadt-Eberswalde. Mit näherer Beschreibung der Umgegend und einer Sammlung Original-Urkunden dieser Stadt. Neustadt/Eberswalde 1841 (books.google.de). Johann Joachim Bellermann: Beschreibung der Stadt Neustadt-Eberswalde. Berlin, 1829. Weblinks Die Obus-Stadt Eberswalde Foto-Impressionen der Barnimer Waldstadt Einzelnachweise Ort im Landkreis Barnim Ort mit Binnenhafen Große kreisangehörige Stadt in Brandenburg Ehemalige kreisfreie Stadt in Brandenburg Kreisstadt in Brandenburg Kurort in Brandenburg Namensgeber (Marskrater) Ersterwähnung 1276
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schriftrollen%20vom%20Toten%20Meer
Schriftrollen vom Toten Meer
Die Schriftrollen vom Toten Meer () oder Qumran-Handschriften sind eine Gruppe von antiken jüdischen Texten, die elf Höhlen nahe der archäologischen Stätte Khirbet Qumran im Westjordanland zugeordnet werden. Von 1947 bis 1956 wurden die Höhlen entdeckt, meist von Beduinen. Die Handschriften wurden teils aus dem Antikenhandel erworben, teils bei der archäologischen Untersuchung der Höhlen gefunden. Etwa 15 Buchrollen sind noch als solche erkennbar. Der Rest, geschätzt 900 bis 1000 Rollen, ist in mehr als 15.000 Fragmente zerfallen. Die Handschriften werden aufgrund der Buchstabenformen (paläografisch) in die Zeit vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. datiert. Mit der Radiokarbonmethode wurde diese Datierung in einigen Fällen überprüft und bestätigt. Die meisten Texte sind in hebräischer Sprache verfasst; fast alle sind literarisch und haben einen religiösen Inhalt. Alltagstexte wie zum Beispiel Briefe gibt es kaum. Der literarische Charakter unterscheidet die Qumranhandschriften von anderen antiken Textfunden in der Region (mit Ausnahme von Masada) und lässt sie, trotz der Vielfalt des Inhalts, für viele Fachleute als zusammengehörig erscheinen. Für die Textgeschichte der Hebräischen Bibel (des jüdischen Tanach bzw. des christlichen Alten Testaments) sind die Schriftrollen vom Toten Meer von herausragender Bedeutung. Der später im Judentum kanonisch gewordene Masoretische Text steht einem Typ von Qumranhandschriften sehr nahe, was das Alter und die Qualität der jüdischen Schreibertradition unterstreicht. Dieser proto-masoretische Text hat aber kein Monopol. Es gibt unter den biblischen Qumranhandschriften ein gleichwertiges Nebeneinander verschiedener Texttypen. Das hellenistische und frührömische Judäa war bis zu den Qumranfunden fast nur durch Schriften bekannt, die in einem jahrhundertelangen, meist christlich gesteuerten Auswahlprozess überliefert worden waren. Die Qumranhandschriften dagegen enthalten ein von mittelalterlichen Kopisten unzensiertes Spektrum antiker jüdischer Literatur. Im Mittelpunkt steht die Tora: Manche Qumranschriften rücken eine Haupt- oder Nebenfigur der Tora ins Zentrum. Es gibt freie Nacherzählungen von Tora-Stoffen. Andere Autoren brachten die Rechtstexte der Tora in eine neue Reihenfolge und entwickelten sie weiter. Im Qumranschrifttum hebt sich eine Gruppe von Texten heraus, die in einer jüdischen Gemeinschaft mit besonderer Prägung verfasst worden waren. Diese Gemeinschaft nannte sich selbst Jachad und wird in der Forschung oft mit den Essenern identifiziert. Mitglieder des Jachad befolgten die Gebote der Tora mit großer Radikalität und darüber hinaus eigene Gebote, von denen man außerhalb des Jachad nichts wusste. Der Jachad lehnte den Jerusalemer Tempel ab und glaubte, dass die Liturgie in der eigenen Gruppe den Jerusalemer Opferkult ersetzen könne. Viele Verfasser waren überzeugt, in der Endzeit zu leben. Das war kompatibel mit einem Interesse an Weisheitsliteratur, die im Spektrum der Qumranschriften gut vertreten ist. Was unter den erhaltenen außerbiblischen Schriftrollen vom Toten Meer dagegen fehlt, sind historische Werke. Personen des Urchristentums werden in den durchschnittlich 100 Jahre älteren Qumrantexten nicht genannt. Für die Judaistik eröffnen die Handschriften vom Toten Meer neue Einsichten in die Entwicklung der Halacha. Fundorte antiker Texte am Westufer des Toten Meeres Neben den Höhlen bei Khirbet Qumran wurden auch an anderen archäologischen Stätten am Westufer des Toten Meeres und im unteren Jordantal antike und frühmittelalterliche Texte gefunden, die in einem weiteren Sinne als „Schriftrollen vom Toten Meer“ bezeichnet werden können: Wadi Daliyeh: Aramäische Dokumente der samaritanischen Oberschicht, schwerpunktmäßig zum Sklavenhandel (4. Jahrhundert v. Chr.); Masada: Biblische und andere literarische Texte, die während des Jüdischen Krieges wahrscheinlich von Flüchtlingen nach Masada mitgebracht wurden; Nachal Chever, Wadi Murabbaʿat, Wadi el-Mafjar (Ketef Jericho): Literarische Texte, Briefe und Dokumente aus Fluchthöhlen, die zu verschiedenen Zeiten genutzt wurden, vor allem während des Bar-Kochba-Aufstandes; Khirbet Mird: Byzantinische und arabische Texte aus dem 492 n. Chr. gegründeten Kloster Kastellion; Kleinere Fundorte: Wadi en-Nar, Wadi Ghuweir, Wadi Sdeir, Nachal Mischmar, Nachal Ze’elim, Nachal Arugot. Es ist im Einzelfall möglich, dass bei den im Antikenhandel erworbenen Fragmenten eine Herkunft aus Qumran behauptet wurde, diese Texte aber von einem anderen regionalen Fundort stammen. Seit 2017 führt die Israelische Altertümerverwaltung zusammen mit der Abteilung Archäologie der Zivilverwaltung von Judäa und Samaria Rettungsgrabungen im Bereich der oben genannten Fundorte durch, um Plünderern zuvorzukommen. Im März 2021 wurden dabei erstmals nach etwa 60 Jahren wieder Textfunde gemeldet, und zwar neue Fragmente der griechischen Zwölfprophetenrolle vom Nachal Chever mit dem Text von und . Diese Buchrolle war bereits durch Fragmente bekannt, die in den 1950er Jahren im Antikenhandel auftauchten, und dann durch die archäologische Untersuchung der sogenannten Cave of Horror unter Leitung von Yohanan Aharoni 1961. Essener – Qumran – Jachad Zu der Frage, wer die Schriftrollen in den Höhlen gesammelt hat, gibt es eine klassische Theorie, der von einer Minderheit widersprochen wird und die seitdem in verschiedener Weise modifiziert wurde: Die Qumran-Essener-Theorie besagt, dass die Essener in Khirbet Qumran ihr Zentrum hatten und hier eine Bibliothek besaßen, deren Reste die Schriftrollen vom Toten Meer darstellen. Die Essener werden von den antiken Autoren Flavius Josephus, Philon von Alexandria und Plinius der Ältere als jüdische Philosophenschule oder als zölibatär lebender „Stamm“ beschrieben. Buchbesitz ist in der Antike ein klares Oberschichtmerkmal. Die Architektur von Khirbet Qumran weist aber nicht den Luxus auf, den man bei Eigentümern einer großen Bibliothek erwartet. Genau das zeigt im Sinne der Qumran-Essener-Hypothese einen freiwillig gewählten asketischen Lebensstil. Der Ausgräber Roland de Vaux war überzeugt, in Khirbet Qumran eine Schreiberwerkstatt identifiziert zu haben (sogenanntes Skriptorium in L30). Daraus folgt auch für Vertreter seiner Hypothese nicht, dass alle Schriftrollen aus den Höhlen hier angefertigt wurden. Einige Rollen sind dafür zu alt. Aber Khirbet Qumran ist nach dieser Theorie der Ort, wo die Rollen studiert wurden und wo das praktiziert wurde, was insbesondere die Gemeinderegel (1QS) vorschreibt. Innerhalb der Anlage von Khirbet Qumran ist kein Raum oder Trakt klar als Bibliothek zu erkennen. Diskutiert wird diese Nutzung bei dem mit einer Art umlaufender flacher Bank ausgestatteten Raum L4 und dem dahinter befindlichen, nur durch L4 zu betretenden Raum L1 (Foto). Eine Durchreiche verbindet beide Räume. Die Bank könnte eine Basis für die hölzernen Regale gewesen sein, auf denen die Buchrollen lagen. Katharine Greenleaf Pedley identifizierte L4 und L1 als Bibliothek mit Leseraum und einem Arbeitsraum im nicht erhaltenen Obergeschoss. Hartmut Stegemann hält L1 für die eigentliche Bibliothek und L4 für den Leseraum. In L4 war es freilich dunkel. Stegemann sieht dies als Vorteil, denn es schützte die Buchrollen vor dem Ausbleichen. Man habe sie beim Licht von Öllampen studiert. Ihre kostbaren Buchrollen verbargen die Essener nach dieser Theorie im Jüdischen Krieg (vor 68 n. Chr.) in der nahegelegenen Höhle 4Q, um sie vor der römischen Armee in Sicherheit zu bringen. Einige wichtige Buchrollen nahm man möglicherweise aus diesem Versteck heraus und lagerte sie in Höhle 1Q. Die Aufbewahrung beschädigter heiliger Texte in einem Depot (Geniza) ist eine seit dem Mittelalter für das Judentum bezeugte Praxis. Eleasar Sukenik vermutete, dass sie schon in der Antike von Essenern befolgt worden sei. Wenn man die Qumranhöhlen als Genizot versteht, spricht das für eine allmähliche Ansammlung von Schriftrollen über einen langen Zeitraum. Eine Geniza kann auch religiöse Texte enthalten, die inhaltlich missbilligt und deshalb aus dem Verkehr gezogen wurden. Nachdem Sukenik 1953 verstorben war, wurde die Geniza-Theorie von Autoren vertreten, die diesen Aspekt stark betonten (Henri del Medico, Godfrey R. Driver). Die Mehrheitsmeinung folgte aber de Vaux, zumal mit Józef T. Milik (Ten Years of Discovery in the Wilderness of Judaea, 1959) und Frank M. Cross (The Ancient Library of Qumran and Modern Biblical Studies, 1961) zwei Mitglieder seines Editionsteams die Vorstellung einer einheitlichen, aus Khirbet Qumran ausgelagerten antiken Bibliothek unterstützten. Die Qumran-Essener-Theorie war fast konsensual akzeptiert, bis Norman Golb 1980 widersprach. Dass Khirbet Qumran ein Zentrum essenischer Schreibertätigkeit gewesen sei, sei ebenso unbewiesen wie ein Zusammenhang zwischen der Siedlung und den Höhlen. Die Texte zeigten die Vielfalt religiöser Praktiken und Überzeugungen innerhalb des damaligen Judentums; die Buchrollen seien vor oder während der römischen Belagerung aus Jerusalem herausgebracht und mit Hilfe der ortskundigen Bevölkerung in Höhlen westlich des Toten Meeres versteckt worden. Zu der Minderheit, die eine Jerusalemer Herkunft der Texte favorisiert, gehören außer Golb vor allem Yizhar Hirschfeld, Jürgen Zangenberg und die Leiter der Nachgrabungen in Khirbet Qumran (1993 bis 2004), Yizhak Magen und Yuval Peleg. Rachel Elior hält die Essener für eine literarische Fiktion antiker Autoren und weist die Qumran-Handschriften zadokidischen Priesterkreisen zu, die durch die Hasmonäer in Jerusalem entmachtet wurden und aus der Opposition heraus Literatur zu Fragen des Tempelkults, des Kalenders und der kultischen Reinheit verfassten. Autoren, die an der Qumran-Essener-Theorie grundsätzlich festhalten, vertreten sie oft in modifizierter Form. Beispiele: Alison Schofield vermutet, dass unterschiedliche essenische Ortsgruppen ihre jeweiligen Bibliotheken um 68 n. Chr. nach Qumran gebracht und in den Höhlen deponiert hätten. Steven Pfann meint, das Depot in der am weitesten nördlich gelegenen Höhle 3Q (darunter die Kupferrolle) hätten Jerusalemer Priester angelegt. Joan E. Taylor entwickelt Sukeniks Geniza-Theorie weiter. Daniel Stökl Ben Ezra weist darauf hin, dass das Durchschnittsalter der Manuskripte in 1Q und 4Q signifikant höher ist als das der Manuskripte in den übrigen Höhlen. Statistisch sei höchst unwahrscheinlich, dass sich eine solche Konzentration der alten Buchrollen in zwei Höhlen bei der angenommenen Evakuierungsaktion der gesamten Bibliothek zufällig ergeben habe. Deshalb schlägt er vor, dass die Qumran-Essener bereits früher, in einer Krisensituation um die Zeitenwende, die Buchrollen in 4Q und 1Q deponiert und diese Höhlen danach als eine Art Archiv genutzt hätten. Die Gemeinschaft habe dann in der Siedlung eine neue Bibliothek aufgebaut, deren vergleichsweise junge Manuskripte um 68 n. Chr. in die anderen Qumranhöhlen gebracht worden seien. Es ist methodisch sinnvoll, die Rollen zunächst für sich zu betrachten, unabhängig von den archäologischen Befunden aus Khirbet Qumran und den antiken Texten über die Essener. Die jüdische Gruppe, deren besondere Anschauungen in einigen Qumranrollen niedergelegt sind, bezeichnete sich selbst als Jachad („Einung“), ein Sprachgebrauch, der in der Fachliteratur übernommen wird; Texte, die ihre besonderen Anschauungen enthalten, sind daher jachadische Texte. (Der Ausdruck jachadisch wird im Folgenden auch dort verwendet, wo in der englischsprachigen Literatur sectarian steht, da „Sekte“ im Deutschen stark abwertend ist.) Entdeckung und Publikation Die großen Rollen aus Höhle 1Q Am 9. August 1949 erschien in der Londoner Times eine von Gerald Lankester Harding, dem Direktor der jordanischen Altertümerbehörde, verfasste Auffindungsgeschichte: Auf der Suche nach einer Ziege fand ein junger Taʿâmireh-Beduine im Frühsommer 1947 den Eingang einer Höhle, warf einen Stein in die Tiefe und hörte Keramik zerbrechen. Er stieg mit seinem Freund in die Höhle ein. In Krügen fanden die beiden Beduinen acht Schriftrollen, teilten sie und verkauften sie Händlern in Bethlehem. 1955 nannte Harding die Namen der beiden Hirten: Mohammed edh Dhib und Ahmed Mohammed. Er erzählte die Geschichte jetzt anders, so waren es acht Krüge, die alle leer waren bis auf einen, in dem drei Rollen steckten. 1957 gab Mohammed edh Dhib seine eigene Version zu Protokoll, die sich mit Hardings Fassung von 1955 berührte (drei Rollen in einem versiegelten Krug mit Deckel), aber den Fund auf 1945 datierte: die Rollen hingen demnach über zwei Jahre in einem Lederbeutel in seinem Haus, bevor er sie einem Händler zeigte. In der Zwischenzeit fanden wohl weitere Besuche in der Höhle durch verschiedene Personen statt, so dass jene Rollen entnommen wurden, die 1947 in den Handel kamen. John Trever recherchierte den Zeitpunkt der Auffindung und vermutete November/Dezember 1946 oder Januar/Februar 1947. Drei Rollen erwarb der Bethlehemer Antikenhändler Faidi Salahi von den Taʿâmireh, vier weitere der Händler Khalil Iskandar Schahin (Kando). Schahin verkaufte seine vier Rollen im Jerusalemer St. Markuskloster dem syrisch-orthodoxen Metropoliten Athanasius Yeshue Samuel. Der Metropolit zeigte sie im Sommer 1947 Fachleuten der École Biblique und der Jüdischen Nationalbibliothek, die sie allerdings nicht für echt hielten. Bei dieser Skepsis wirkte der Skandal um die Shapira-Fragmente in den 1880er Jahren noch nach. Am 24. November 1947 zeigte ein Mittelsmann des Händlers Salahi dem Kurator der Altertümersammlung der Hebräischen Universität, Eliezer Sukenik, ein Fragment. Dieser hielt die Echtheit für möglich. Er erkannte die Ähnlichkeit mit den Inschriften auf antiken jüdischen Ossuaren im Jerusalemer Raum. Kurz vor dem Beginn des Ersten Arabisch-Israelischen Krieges kaufte Sukenik von Salahi zunächst die Kriegsrolle (1QM) und die Hymnenrolle (1QH) und im Dezember die Kleine Jesajarolle (1Isab) sowie zwei Schriftrollenkrüge. Im Januar/Februar 1948 kontaktierte Sukenik den Metropoliten Samuel, um dessen Rollen ebenfalls zu erwerben. Dieser ließ seine vier Rollen in der American School of Oriental Research in Jerusalem prüfen. Ein Postdoktorand, John Trever, erkannte die Ähnlichkeit mit dem Papyrus Nash, der ältesten damals bekannten hebräischen Handschrift. Er erhielt die Erlaubnis, die Rollen zu fotografieren. Anschließend deponierte der Metropolit sie in einem Bankschließfach in Beirut. Trevers Fotos haben wegen der seither eingetretenen Beschädigungen der Rollen besonderen Wert. Anhand der Fotos erklärte William Foxwell Albright die Rollen für echt. Am 25. April 1948 gab Millar Burrows im Namen der American School of Oriental Research gegenüber der New York Times bekannt, im Jerusalemer Markuskloster seien folgende antike hebräische Texte entdeckt worden: die Große Jesajarolle (1QJesa), der Habakuk-Pescher (1QpHab), die Gemeinderegel (1QS) und das später so benannte Genesis-Apokryphon (1QGenAp). Nachdem Israel und Jordanien am 3. April 1949 ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen hatten, befanden sich Khirbet Qumran und die Höhlen in der Umgebung, Bethlehem und die Jerusalemer Altstadt mit dem Markuskloster auf jordanischem Gebiet. Akkash al-Zebn, ein Offizier der Arabischen Legion, lokalisierte die später so benannte Höhle 1Q, aus der die im Handel aufgetauchten Schriftrollen stammten. Daraufhin führte die jordanische Altertümerbehörde gemeinsam mit der École biblique et archéologique française de Jérusalem und dem Palestine Archaeological Museum dort eine archäologische Untersuchung durch. Unter der Keramik waren Fragmente von charakteristischen zylindrischen Vorratskrügen mit weiter Öffnung, im Schnitt etwa 60 cm hoch mit einem Durchmesser von 25–28 cm. Die zugehörigen keramischen Deckel ähnelten umgedrehten Schüsseln. Antike Textilien wurden gleichfalls gefunden. Der Ausgräber Roland de Vaux vermutete: Man hatte die Schriftrollen zunächst in Tücher eingeschlagen und dann in den Krügen deponiert. Aus dem ptolemäischen Ägypten (2. Jahrhundert v. Chr.) sind Textarchive in Krügen bekannt, die von Archäologen noch original verschlossen gefunden wurden. Dies stellt eine räumlich und zeitlich relativ nahe Parallele zur Deponierung in den Qumranhöhlen dar. Funde von Textfragmenten, die zu den bereits bekannten Rollen passten, bestätigten, dass die Schriftrollen aus Höhle 1Q stammten. War die Echtheit der Rollen damit grundsätzlich bestätigt, so wurde deren Alter weiterhin kontrovers diskutiert: Solomon Zeitlin: Mittelalterliches Textdepot von Karäern, vergleichbar der Kairoer Geniza; Godfrey Driver: Textdepot von Zeloten während des Jüdischen Krieges; Jacob Teicher und Paul Kahle: Textdepot einer frühchristlichen Gruppe. Im Herbst 1950 datierte Willard Libby mit der von ihm selbst kurz zuvor entwickelten Radiokarbonmethode ein vermutlich zum Einhüllen einer Schriftrolle verwendetes Leinentuch aus Höhle 1Q auf 1917 Radiocarbon-Jahre vor 1950, ±200 Jahre. Die Datierung ins Mittelalter war widerlegt. Metropolit Samuel war 1949 über Beirut in die Vereinigten Staaten emigriert und hatte die von ihm erworbenen Rollen mitgenommen. Er zeigte sie dort mehrfach auf Ausstellungen, fand aber zunächst keinen Käufer. Denn einerseits publizierte Millar Burrows ab 1950 den Text dieser Rollen aufgrund der in der American School of Oriental Research entstandenen Fotos unter dem Titel Dead Sea Scrolls of St. Mark’s Monastery. Damit waren sie der Fachwelt bekannt. Andererseits war die Rechtslage unklar, was potentielle Käufer abschreckte. Nachdem Metropolit Samuel sie am 1. Juni 1954 im Wall Street Journal inseriert hatte, erwarb eine Bank im Auftrag von Yigael Yadin die Rollen in New York zum Preis von 250.000 Dollar für den Staat Israel (Juli 1954). Sie werden seitdem in Jerusalem aufbewahrt. Postum erschien 1954 in Israel auf Hebräisch Sukeniks Edition der von ihm gekauften Rollen. 1955 erschien ihre englische Ausgabe: The Dead Sea Scrolls of the Hebrew University. Roland de Vaux, Direktor der École Biblique und gemeinsam mit Gerald Lankester Harding Leiter der jordanischen Ausgrabungen am Toten Meer, vereinbarte 1952 mit den Beduinen eine gemeinsame Untersuchung von Höhlen in der Umgebung von Khirbet Qumran. Die Beduinen führten das Team zunächst in das Wadi Murabbaʿat. Während de Vaux’ Team hier seine Arbeit aufnahm, entdeckten Beduinen die nächste Schriftrollenhöhle bei Qumran (2Q). Die Archäologen unternahmen daraufhin eine zweiwöchige Suchaktion in der Nachbarschaft von 1Q. Dabei entdeckten sie Höhle 3Q. Außer Keramikscherben und einigen kleinen Textfragmenten bargen sie die Kupferrolle von Qumran. Die Scrollery (1952–1960) Im September 1952 entdeckten Beduinen Höhle 4Q, eine künstlich angelegte Doppelhöhle. Die Masse der dort gefundenen Fragmente, über 15.000, machte ein verändertes Vorgehen erforderlich. Internationale Geldgeber wurden gesucht, um die Fragmente anzukaufen, auch brauchte man mehr Mitarbeiter für die Edition des Materials. Die Institutionen, die sich finanziell beteiligten, konnten Wissenschaftler in das Editorenteam nach Jerusalem entsenden: die McGill University in Montreal, die University of Oxford, die University of Manchester, die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, das presbyterianische McCormick Theological Seminary aus Chicago, die Vatikanische Apostolische Bibliothek und die unitarische All Souls Church in New York City. Das internationale Editorenteam, die sogenannte Scrollery, bestand aus Mitgliedern der École biblique, ergänzt um weitere Fachleute: Roland de Vaux als Haupteditor, Józef T. Milik, Pierre Benoit, Maurice Baillet, Frank M. Cross, Patrick W. Skehan, John Strugnell, John Marco Allegro, Jean Starcky und (kurzzeitig) Claus-Hunno Hunzinger. John D. Rockefeller, Jr. förderte die Arbeit mit einem Mäzenat. Kurz nach 4Q wurden die Höhlen 5Q und 6Q entdeckt. Im Frühjahr 1955 kamen die Höhlen 7Q bis 10Q hinzu. Bemerkenswert ist 7Q, weil diese Höhle nur griechische Texte enthielt. Im Februar 1956 entdeckten Beduinen die letzte Schriftrollenhöhle 11Q. Sie war in der Antike mit einem Stein verschlossen worden und enthielt deshalb relativ wohlerhaltene Rollen, darunter zwei Exemplare der Tempelrolle. Die 1952 gefundene Kupferrolle war oxidiert und ließ sich nicht öffnen. Allegro setzte sich dafür ein, dass die beiden Teile der Rolle im College of Technology in Manchester 1955/56 mit einem Spezialgerät in Streifen zersägt wurden. Er transkribierte und übersetzte den Text, ein Verzeichnis von Schatzverstecken. Allegro gab damals einem Regionalsender der BBC ein Interview, in dem er vermutete, der Lehrer der Gerechtigkeit, eine charismatische Gründergestalt der Qumran-Essener, sei ebenso wie später Jesus von Nazareth gekreuzigt worden. De Vaux, Milik, Skehan, Starcky und Strugnell distanzierten sich in einem Leserbrief an die Times von Allegros Hypothese. Als Allegro nach Jerusalem zurückkehrte, war er isoliert. Bei der offiziellen Presseerklärung wurden die Schätze der Kupferrolle als irreal dargestellt und Allegros Beitrag übergangen. De Vaux übertrug Milik die Edition der Kupferrolle. 1959 erschien Miliks Vorübersetzung in der Revue Biblique, wieder mit dem Kommentar, die Schätze seien Legenden. Allegro veröffentlichte 1960 ein populäres Buch, The Treasure of the Copper Scroll. Er gründete einen Fonds und unternahm 1959, 1962 und 1963 Expeditionen zu den im Text bezeichneten Orten, ohne aber dort Schätze zu finden. Während der Sueskrise 1956/57 lagerten die Schriftrollen-Fragmente in einem Banksafe in Amman und erlitten dabei erhebliche Beschädigungen. Die Mitarbeiter der Scrollery begannen mit der Erstellung einer Konkordanz für den internen Gebrauch, um die Arbeit an den nichtbiblischen Texten zu vereinfachen. Diese Kartei war 1960 fertiggestellt. In jenem Jahr beendete Rockefeller seine finanzielle Unterstützung, und Jordanien förderte die Edition der Qumrantexte nicht in gleicher Höhe. Stagnation der DJD-Veröffentlichungen (1960–1990) Bis 1970 erschienen vier Editionsbände in der Reihe DJD, von 1970 bis einschließlich 1990 nur noch drei. Das hatte nach Einschätzung von Daniel Stökl Ben Ezra persönliche Gründe. Einige Scrollery-Mitglieder hatten ein zu großes Pensum übernommen (Milik zum Beispiel über 200 Manuskripte); Milik und Strugnell waren alkoholkrank. Im Sechstagekrieg konfiszierte ein israelisches Kommando im Auftrag Yigael Yadins 1967 in Bethlehem die Tempelrolle, die der Antikenhändler Khalil Iskandar Schahin in seinem Haus versteckt hatte. Schahin wurde später mit 108.000 Dollar abgefunden. Yadin veröffentlichte die Tempelrolle 1977 in einer neuhebräischen Edition und leitete damit eine neue Forschungsperiode ein; die Schriftrollen vom Toten Meer wurden zunehmend ein Thema der Judaistik. Die Bedeutung der Schriftrollen für die Entwicklung der Halacha und der synagogalen Liturgie kamen nun stärker in den Blick. Die Mitglieder der Scrollery gaben in den 1970er Jahren „ihre“ Texte an Doktoranden weiter. Die Fachdiskussion litt unter dem ungleichen Zugang der Wissenschaftler zu den Quellen. Am 9. November 1990 veröffentlichte Haaretz ein Interview mit antisemitischen Äußerungen Strugnells. Das war unerwartet, weil unter den Scrollery-Mitarbeitern gerade Strugnell mit israelischen Fachleuten kooperierte. Der Skandal hatte zur Folge, dass Strugnell als Herausgeber von DJD durch Emanuel Tov abgelöst wurde. Dieser erweiterte das Herausgeberteam und beschleunigte so die Publikation der noch fehlenden Texte. Freigabe aller Texte (ab 1991) Im September 1991 erschien der erste Band einer Textrekonstruktion der unveröffentlichten Qumranfragmente im Druck: A preliminary edition of the unpublished Dead Sea scrolls, herausgegeben von Ben Zion Wacholder und Martin Abegg (Hebrew Union College). Die Grundlage war die für den internen Gebrauch der Scrollery geschaffene Konkordanz, deren Kopie Wacholder von Strugnell erhalten hatte. Abegg hatte ein Computerprogramm geschrieben, das aus den Textschnipseln der Konkordanz die Texte zusammensetzte. Am 22. September 1991 gab William A. Moffett, Direktor der Huntington Library im kalifornischen San Marino, bekannt, dass seine Bibliothek Fotografien aller unveröffentlichten Textfragmente besitze und sie der Öffentlichkeit uneingeschränkt zugänglich machen werde. Diese Fotografien waren angefertigt worden, damit der Text im Fall ihrer Zerstörung durch Krieg oder Naturkatastrophe als Kulturgut erhalten bliebe. Elizabeth Hay Bechtel hatte die Aktion finanziert und besaß selbst das Master-Set der Negative, welches nach ihrem Tod 1987 Eigentum der Huntington Library wurde. Andere Sets der Fotos waren an Institutionen gegangen, die sich allerdings verpflichtet hatten, sie nicht zu veröffentlichen. Die Israel Antiquities Authority ist seit 1991 mit der Konservierung der Buchrollen und Fragmente befasst und kündigte 2007 anlässlich des 60-jährigen Jubiläums der Entdeckung von Höhle 1Q an, Digitalisate der Fragmente in hoher Auflösung zu erstellen und im Internet zu veröffentlichen. Die Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library Website wurde im Dezember 2012 erstmals von Google hochgeladen; ein Update im Februar 2014 bot 10.000 neue Multispektralfotografien sowie Bildbeschreibungen und eine verbesserte Suchfunktion. Die Datenbank wird fortlaufend ergänzt. Im Februar 2017 wurde bekannt, dass Oren Gutfeld (Hebräische Universität Jerusalem) und Randall Price (Liberty University, Virginia) in einer Höhle bei Qumran typische Keramik, Textilien, Lederriemen und Reste einer Rolle unbeschriebenen Pergaments gefunden hatten. Werkzeug aus den 1950er Jahren deutete darauf hin, dass Beduinen die Höhle untersucht und möglicherweise Textfragmente entnommen hatten. Lawrence Schiffman zufolge ist der unbeschriebene Pergamentrest der wichtigste Fund. Er zeige, dass es möglich sei, antikes Pergament zu beschaffen, das modern beschrieben und dann als vermeintlicher Qumran-Text in den Handel gebracht werden kann. Fragmente aus Privatbesitz Seit 2002 wurden in den Fachzeitschriften Revue de Qumran, Dead Sea Discoveries und Meghillot mehrere Qumran-Fragmente aus Privatbesitz publiziert. Die Herkunftsangaben waren vage, führten aber mehrfach zur Familie des Bethlehemer Antikenhändlers Khalil Iskandar Schahin. Emanuel Tov machte 2016 darauf aufmerksam, dass sowohl in der Schøyen Collection als auch dem Museum of the Bible, der Sammlung der Azusa Pacific University und des Southwestern Baptist Theological Seminary der Anteil an Bibeltexten unter den Fragmenten deutlich höher als im Qumran-Textkorpus ist. Ebenso ungewöhnlich sei, dass praktisch jedes aus Privatbesitz veröffentlichte Fragment sich einem bereits bekannten Werk zuordnen lasse. Neun Fragmente der Schøyen Collection wurden mit verschiedenen Methoden untersucht, bei zweien die Fälschung nachgewiesen; alle neun seien höchstwahrscheinlich von modernen Schreibern auf antikem Pergament bzw. Papyrus geschrieben. Das im November 2017 eröffnete Museum of the Bible in Washington, D.C. stellte 16 Fragmente von angeblichen Qumranrollen aus. Im Oktober 2018 entfernte es fünf seiner ab 2002 erworbenen Fragmente, nachdem die deutsche Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung sie als moderne Fälschungen identifiziert hatte. Im März 2020 wurde bekannt, dass sämtliche 16 angeblichen Qumran-Fragmente dieses Museums Fälschungen sind. Das Handschriftenkorpus Die Zahl der ehemals vorhandenen Schriftrollen wird auf etwa 900, von anderen auf 1000 oder mehr geschätzt. Datierung, Schriften und Sprachen Für die Schriftrollen vom Toten Meer wurde mit der Radiokarbonmethode ein Entstehungszeitraum zwischen dem 4. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. ermittelt. Die Methode ist allerdings destruktiv (das entnommene Probenmaterial wird vernichtet) und fehleranfällig. Zum Beispiel verwendeten die Editoren in den Anfangsjahren Rizinusöl, um eingedunkelte Fragmente besser lesbar zu machen. Ein so behandeltes Fragment würde bei einer Radiokarbondatierung jünger erscheinen als es ist. Die Beschleuniger-Massenspektrometrie (AMS) wurde 1990 (ETH Zürich) und 1994/95 (University of Arizona, Tucson) zur Altersbestimmung von Qumran-Schriftrollen eingesetzt. Dafür sind nur kleine Proben notwendig, die von den unbeschriebenen Rändern des Dokuments genommen werden. Hier eine Auswahl der Messergebnisse: Da die hebräische Schrift in der Antike eine Entwicklung durchlaufen hat, kann man das Alter einer Handschrift auch aufgrund der Buchstabenformen paläografisch abschätzen. Dadurch ergibt sich ein Zeitfenster vom 3. Jahrhundert v. Chr. bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. Das bis heute benutzte Modell entwickelte Frank M. Cross in den 1950er Jahren: chronologische Hauptphasen: archaisch (um 250–150 v. Chr.); hasmonäisch (150–30 v. Chr.), herodianisch (30 v. Chr.–70 n. Chr.) und postherodianisch (ab 70 n. Chr); Schriftgattungen: kursiv, semikursiv, semiformell und formell. Als Faustregel lässt sich formulieren, dass die Buchstaben in den älteren Handschriften ungleich groß sind und sich, je jünger die Manuskripte sind, immer mehr angleichen. Die Entwicklung geht in Richtung auf die Quadratschrift, die so heißt, weil viele Buchstaben sich in ein Quadrat einzeichnen lassen. Der Schreiber „hängte“ die Buchstaben an die horizontale Linie, die er zuvor eingeritzt hatte. Bei den jüngeren Manuskripten scheinen die meisten Buchstaben zusätzlich auf einer zweiten Linie zu „sitzen“. Kursivschrift ist typisch für nicht-literarische Alltagstexte, die aber unter den Qumranschriften sehr selten sind. Infolgedessen überwiegt die formelle und semiformelle Buchschrift. Dass literarische Texte gelegentlich in (semi)kursiver Schrift erhalten sind, kennzeichnet diese Manuskripte wahrscheinlich als Privatkopien. Die paläohebräische Schrift ist eine ältere Form der hebräischen Schrift, die zur Zeit, als die Qumranrollen geschrieben wurde, schon weitgehend außer Gebrauch geraten war. Einige Qumranhandschriften verwenden sie. Der erste Eindruck, dass man es bei Texten in dieser Schrift mit besonders alten Manuskripten zu tun hat, trügt. 11QpaleoLeva (Foto) beispielsweise ist nach Frank M. Cross ins frühe 1. Jahrhundert n. Chr. zu datieren und also vergleichsweise jung. Man verwendete die altertümliche Schrift als Zeichen der Ehrfurcht gegenüber dem Text. Es ist eine sogenannte Reverentialschrift. Meist wurde sie für Bücher der Tora verwendet, außerdem für ein Exemplar des Buchs Ijob (4Q101). Es gibt auch Manuskripte in hebräischer Buchschrift, in denen der Gottesname JHWH in paläohebräischer Schrift eingetragen wurde. Außerdem kommen weitere Schriften im Textkorpus vor, allerdings selten: drei hebräische Geheimschriften (Cryptic A, B und C), Griechisch und Nabatäisch. Die weitaus meisten gefundenen Texte sind auf Hebräisch verfasst. Dabei spiegeln Orthographie, Morphologie und Syntax verschiedene Sprachstufen wider, von denen man eine besonders typische als Qumran-Hebräisch einordnet. Nach Emanuel Tov sind von den insgesamt über 900 Texten etwa 150 Texte in Aramäisch verfasst, 17 von diesen in nabatäischer Schrift. 27 Texte sind in Griechisch notiert. Wie schwach die griechische Sprache in Qumran vertreten ist, fällt im Vergleich mit anderen Fundorten der Region auf: 3 Prozent in Qumran, aber zum Beispiel 45 Prozent im Wadi Murabbaʿat, 23 Prozent in Masada. Zitierweise Die Handschriften vom Toten Meer werden nach zwei verschiedenen Systemen zitiert. Eine Möglichkeit ist die Benennung nach inhaltlichen Kriterien. Sie setzt sich aus maximal fünf Komponenten zusammen: Herkunftsort: Die elf Höhlen in der Umgebung von Qumran wurden nach der Reihenfolge ihrer Entdeckung als 1Q bis 11Q bezeichnet, im Gegensatz zum Beispiel zu Mas „Masada“ oder Mur „Wadi Murabbaʿat“, weiteren Fundorten antiker Texte in der Region. Material: meist Pergament/Leder, was nicht angegeben wird; pap „Papyrus“, ostr „Ostrakon“. Titel der Schrift (abgekürzt). paleo bezeichnet die Verwendung der althebräischen Schrift, 11QpaleoLev ist demnach eine Rolle des biblischen Buchs Levitikus in althebräischer Schrift aus Höhle 11. Falls von einem Werk mehrere Exemplare in der gleichen Höhle gefunden wurden, werden sie durch hochgestellte kleine Buchstaben unterschieden. 4QSama ist die erste, 4QSamb die zweite Handschrift des Buches Samuel aus Höhle 4. Sprache: meist hebräisch (nicht angegeben), ar „aramäisch“, gr „griechisch“. Alternativ dazu kann man eine Handschrift auch mit Angabe der Höhle und der Zahl bezeichnen, die der Text bei seiner Publikation in der Serie Discoveries in the Judaean Desert (DJD) zugewiesen bekam. Die zuerst publizierten Texte aus Höhle 1Q erhielten seinerzeit noch keine solche Inventarnummer. Außerhalb der auf Qumran spezialisierten Fachliteratur werden beide Zitationsweisen auch kombiniert, etwa so: 4Q70(Jera) ist die erste Rolle des Buchs Jeremia aus Höhle 4Q mit der Inventarnummer 4Q70. Herstellung einer Schriftrolle Das Beschreibmaterial der Schriftrollen vom Toten Meer sind größtenteils Tierhäute, meist von Schafen oder Ziegen. Sie werden in der Literatur mal als Pergament-, mal als Lederrollen bezeichnet: Antikes Pergament entstand, indem die Tierhaut extrem gespannt wurde. Das Beschreibmaterial der Qumranrollen wurde außerdem oberflächlich mit Gerbstoff behandelt. Beschrieben wurde meist die hellere Haarseite. Etwa 12 Prozent der Texte wurden auf Papyrus geschrieben. Die auch hinsichtlich des Inhalts singuläre Kupferrolle besteht aus Kupferblech. Neben der Rolle, der Standardform des antiken Buches, gibt es im Korpus der Qumranschriften einige Einzelblätter. Der Kodex kommt nicht vor. Anhand der hervorragend erhaltenen Großen Jesajarolle lässt sich zeigen, wie antike Schreiber vorgingen. Die 66 Kapitel des biblischen Jesajabuchs waren eine erhebliche Textmenge, weshalb ein großes Format gewählt wurde. Auf diese Weise wurde die Buchrolle nicht so dick, dass ihre Handhabung schwierig war. Die 22–25 cm hohe Große Jesajarolle ist in voller Länge (734 cm) erhalten. Höhe und Länge der Buchrolle stehen also in einem harmonischen Verhältnis. Dies zu wissen, erlaubt bei den fragmentarischen Schriftrollen, deren Höhe bekannt ist, Rückschlüsse auf den ursprünglichen Umfang. Die Materialität der Buchrollen von Qumran ist auch interessant für Hypothesen über die Entstehung biblischer Schriften. Ausgehend von der Großen Jesajarolle, kann man beispielsweise abschätzen, dass eine Buchrolle gleicher Höhe und Schreibweise mit dem gesamten Text der Tora (Pentateuch) 33,2 m lang gewesen wäre, ein Hexateuch hätte sogar 37,5 m erfordert. Buchrollen mit solchen Abmessungen wären sehr unhandlich. Der Schreiber markierte die Textspalten (Kolumnen) und die Zwischenräume. Diese vertikalen Linien wurden, ebenso wie die Zeilen, mit einem scharfen Instrument ins Pergament geritzt. Am oberen und unteren Rand der Rolle ließ der Schreiber einen Rand (Marge) frei, damit Beschädigungen nicht gleich zu Textverlusten führten. Am Anfang und am Ende der Rolle ließ man einen unbeschriebenen Streifen (Protokoll und Eschatoll). Nach dem Ende der Schreibarbeit nähte man die Bögen zusammen. Eine solche Naht gibt es beispielsweise zwischen Kolumne III und IV der großen Jesajarolle (Foto). Schriftrollen konnten mit einem Lederriemen zusammengebunden werden. Aus Höhle 4Q stammt ein Fragment eines Rollenanfangs, an dem ein Verschluss angenäht war (4Q448, Foto). Das Handwerkszeug des Schreibers war das Schreibrohr und die Rußtinte (keine Eisengallustinte), die ähnlich wie heutige chinesische Tusche als fester Block aufbewahrt wurde. Die jeweils benötigte Menge wurde abgebrochen, pulverisiert und im Tintenfass mit Wasser vermischt. Nach dem Schreiben verdunstete das Wasser, und der Ruß haftete dank dem Bindemittel auf der Pergamentoberfläche. Für die Tinte der Hymnenrolle wurde durch Röntgenfluoreszenzanalyse nachgewiesen, dass Wasser des Toten Meeres mit seinem charakteristischen Verhältnis von Chlor zu Brom verwendet wurde. Die Tinte des Genesis-Apokryphons wurde dagegen nicht mit Wasser des Toten Meeres angemischt. Die Schreiber der Qumranrollen bleiben generell anonym, da ein Kolophon nicht erhalten ist bzw. nicht üblich war. Einige Texte aus dem Korpus der Qumranrollen gelten als Schreibübungen und deuten auf einen Schulbetrieb hin. Mehr ist über die Schreiberausbildung allerdings nicht bekannt, auch nicht, wo sich Schulen befanden. Ob einige oder viele Qumranrollen in der benachbarten Siedlung Khirbet Qumran geschrieben wurden, ist Gegenstand der Diskussion. Jachadische Schriften zeigen kein besonderes Interesse an der Herstellung von Büchern. Zwei Schreiber waren an der Großen Jesajarolle beteiligt. Beider Arbeit ist vergleichsweise flüchtig. Man sieht das auch im Schriftbild: den rechten Kolumnenrand hielt der Schreiber strikt ein, aber am Ende seiner Zeile geriet er oft über den linken Kolumnenrand hinaus. Sorgfältigere Schreiber vermieden dies. Der Text enthält zahlreiche Fehler, die im Nachhinein fast alle korrigiert wurden. Von allen Qumranrollen enthält 1QIsaa die meisten Korrekturen – im Schnitt alle vier Zeilen eine. Millar Burrows vermutete wegen der zahlreichen phonetischen Varianten, dass die Schreiber von 1QIsaa keine Vorlage kopierten, sondern nach Diktat schrieben. Emanuel Tov hält auch eine Massenproduktion für denkbar, bei der mehreren Schreibern gleichzeitig diktiert wurde. Der Korrektor der Großen Jesajarolle wurde auch als Schreiber einiger anderer Texte identifiziert: 1QS, 1QSa, 1QSb und 4QSamc. Das ist ein ungewöhnlicher Befund, denn bei formeller hebräischer Buchschrift ist es schwierig, individuelle Handschriften zu identifizieren. Daher sieht es zumindest so aus, dass sehr viele Schreiber nur mit je einem Manuskript im Korpus der Qumranrollen vertreten sind. Da professionelle Schreiber zahlreiche Texte produzierten, würde das bedeuten, dass nur ein kleiner Teil ihrer jeweiligen Arbeiten in das Qumran-Textkorpus gelangte und so erhalten blieb. Viele Schriftrollen sind eindeutig Kopien, weil sie typische Abschreibfehler, wie Dittographie, enthalten. Wiederherstellung eines fragmentarischen Textes Etwa 15 Schriftrollen vom Toten Meer haben noch erkennbar die Form der antiken Buchrolle: die Große Jesajarolle (1QIsaa), die Kleine Jesajarolle (1QIsab), das Genesis-Apokryphon (1QGenAp), der Habakuk-Pescher (1QpHab), die Gemeinderegel (1QS), die Kriegsregel (1QM), die Hymnenrolle (1QHa), die Kupferrolle (3Q15), die Levitikusrolle (11Q1 = 11QpaleoLeva), die Ezechielrolle (11Q4), die Große Psalmenrolle (11Q5 = 11QPsa), die Apokryphen Psalmen (11Q11), die Sabbatopferlieder (11Q17), ein Werk namens Neues Jerusalem (11Q18) und die Tempelrolle (11Q19). Die Masse des Textkorpus liegt dagegen in unterschiedlich großen Fragmenten vor; allein in Höhle 4Q sind das etwa 15.000 Bruchstücke. Nach ihrem Fund oder Erwerb im Antikenhandel wurden die Fragmente zunächst gesäubert, geglättet, fotografiert und nach Material, Farbe oder Buchstabenformen vorsortiert. Dann wurden sie gruppenweise zwischen zwei Glasplatten gelegt, nochmals fotografiert und im Arbeitsraum der Scrollery im Palestine Archeological Museum auf langen Tischen ausgelegt. Die Mitarbeiter versuchten nun, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Wenn zwei Fragmente eine gemeinsame Bruchkante haben (material join), ist ihre Zusammengehörigkeit relativ sicher. Wenn Fragmente nicht direkt aneinander stoßen, können sie trotzdem als zusammengehörig erkannt werden (distant join), etwa weil sie zu einem bereits bekannten Text gehören. Hartmut Stegemann entwickelte nach 1960 folgende, mittlerweile allgemein akzeptierte Methode zur Rekonstruktion von Schriftrollen: Er ging davon aus, dass die Rolle bei Deponierung zusammengewickelt war. Tierfraß (Nager, Insekten) oder Feuchtigkeit haben übereinanderliegende Wicklungen in ähnlicher Weise beschädigt. Deshalb wiederholt sich beispielsweise ein Fleckmuster an den Stellen, die bei der aufgewickelten Rolle übereinander lagen. Solche Verfallsspuren, zusammen mit anderen Beobachtungen am Beschreibmaterial, bieten die Möglichkeit, Fragmente eines unbekannten Textes in eine Reihenfolge zu bringen, die unabhängig ist von Mutmaßungen des Herausgebers über den Inhalt des Werks. Die Identifikation und Zuordnung von Fragmenten erbringt weiterhin neue Ergebnisse, gelegentlich auch bei den „großen“ Schriftrollen. Ein Beispiel: Das von de Vaux’ Team in den 1950er Jahren gesammelte Material umfasst zahlreiche Pergamentstückchen, auf denen seinerzeit mit dem bloßen Auge kein Text zu erkennen war und die deshalb unpubliziert in Boxen lagern. Mit neuentwickelten bildgebenden Verfahren untersuchte Oren Ableman im Jahre 2018 eine solche Box mit Material aus der zuletzt entdeckten Höhle 11Q. Auf einem 1,2 × 1,7 cm großen Fragment war daraufhin „Lob zu singen“ lesbar, und in der Zeile darunter erkannte er zwei weitere Buchstaben ש und ל. Das Fragment gehörte an den Anfang von Psalm 147. Es ließ sich der Großen Psalmenrolle (11Q5) zuordnen. Einteilung des Textkorpus in Schriftengruppen 1980 bestritt Norman Golb, dass das Textkorpus von Qumran die „Bibliothek“ der Bewohner von Khirbet Qumran darstellte und kündigte damit den bisherigen Konsens auf. (Karl Heinrich Rengstorf hatte zwar bereits 1960 vermutet, dass das Schriftenkorpus von Qumran die ausgelagerte Tempelbibliothek von Jerusalem sei, aber damit keine vergleichbar heftige Diskussion ausgelöst.) Yigael Yadin hatte 1977 die Tempelrolle publiziert und sie als Werk der Qumran-Essener bezeichnet. Das wurde aber bald in Frage gestellt und wird heute kaum noch vertreten. Wenn man die Tempelrolle den Qumran-Essenern absprechen musste, erhielt Golbs Kritik zusätzlich Gewicht. Die polemisch geführte Auseinandersetzung mit Golb führte dazu, dass in den 1980er Jahren Kriterien zur Unterscheidung jachadischer und nicht-jachadischer Texte gesucht wurden. Zwei Modelle erlangten besondere Bedeutung: Groningen-Hypothese (Florentino García Martínez) Florentino García Martínez’ sogenannte Groningen-Hypothese geht davon aus, dass das Textkorpus von Qumran nicht erst im Zuge der Deponierung in den Höhlen zusammenkam, sondern zusammengehört: es sei eine „religiöse Bibliothek“ der Bewohner von Khirbet Qumran. Diese Gruppe hätte religiöse Literatur anderer Gruppen nicht in ihrer Bibliothek akzeptiert. Martínez konstatiert, dass es Probleme gibt, die Qumraner mit den in antiken Texten beschriebenen Essenern zu identifizieren. Die Groningen-Hypothese erlaubt es, zwischen Essenern und Qumranern zu differenzieren: die Ursprünge der Essener werden in der breiten apokalyptischen Bewegung im Palästina der hellenistischen Zeit verortet. Die Anhänger einer charismatischen Gestalt (Lehrer der Gerechtigkeit) spalteten sich von der essenischen Bewegung ab. Mit dem Schmähtitel „Frevelpriester“ bezeichnete die Gruppe des Lehrers die Jerusalemer Hohepriester aus der Dynastie der Hasmonäer (d. h. „Frevelpriester“ ist nicht Deckname für eine historische Persönlichkeit). Der Lehrer vertrat in Fragen des Kalenders, des Tempelkults und der rituellen Reinheit Positionen, denen ein essenischer Gegner mit dem Decknamen „Lügenträufler“ widersprach. Da der Lehrer seine Halacha absolut setzte, als göttliche Offenbarung, war ein Kompromiss unmöglich. Die Gruppe um den Lehrer zog nach Khirbet Qumran, wo der Lehrer starb. Die Gründung der Niederlassung datiert Martínez in die Amtszeit des Johannes Hyrkanos I. (135 bis 104 v. Chr.). Die Gruppe erwartete das Ende der Welt 40 Jahre nach dem Tod des Lehrers. Danach wurde der Habakuk-Pescher verfasst, der das Ausbleiben des Weltendes zu erklären versuchte. Diese Schrift kann aufgrund zeitgeschichtlicher Anspielungen in die letzten Regierungsjahre des Alexander Jannäus, der 76 v. Chr. starb, datiert werden. Mit der Groningen-Hypothese lassen sich vier Schriftgruppen chronologisch unterscheiden: 1. Werke der apokalyptischen Tradition als ein älteres Erbe, das in Qumran weitertradiert wurde; 2. Klassisch-essenische Werke, die inhaltlich dem entsprechen, was antike Autoren über Essener mitteilen; 3. Werke einer Übergangszeit; 4. Werke mit voll ausgebildeter Gruppenideologie (sectarian works). Community Terminology (Devorah Dimant) Devorah Dimant verzichtet auf historische oder soziologische Kriterien zur Unterscheidung von Schriftgruppen. Da es sich bei den Manuskripten größtenteils um Kopien und nicht Autografen handelt, betrachtet sie das ganze Textkorpus als in etwa zeitgleich und unterscheidet jachadische und nicht-jachadische Texte nur aufgrund literarischer und linguistischer Merkmale. Sie nimmt eine Dreiteilung vor: a) biblische Texte im Umfang des Tanach, b) Werke mit jachadischer Terminologie (CT= Community Terminology), c) Werke ohne diese Terminologie (NCT = No Community Terminology). Dieser dritten Gruppe ordnet Dimant auch Apokryphen und Pseudepigraphen zu. Beispielsweise seien folgende Werke nicht jachadisch: die Schrift Neues Jerusalem, das Aramäische Levi-Dokument, die Tempelrolle. Sowohl Martínez’ als auch Dimants Modell wurden viel rezipiert. Die Groningen-Hypothese fand jedenfalls mit ihrem Grundgedanken einer kleinen, radikalisierten Gruppe, die sich aus einer größeren Bewegung abgespalten hat, breite Zustimmung. Dimants Unterscheidungskriterien für jachadische und nicht-jachadische Werke gelten als zuverlässig. Dimant entwickelte ihr Modell weiter durch Einführung einer weiteren Kategorie, die eine Mittelposition zwischen jachadischen und nicht-jachadischen Werken darstellt. Martínez hat dagegen in neueren Arbeiten die Rekonstruktion der Jachad-Geschichte zurückgestellt und betrachtet den Jachad mehr als Lesergemeinde, die das gesamte Textkorpus, woher immer die einzelnen Texte kommen, in ihrem Sinn liest und aneignet. Handschriften biblischer Bücher Die übliche Bezeichnung „biblische“ Handschriften ist für die Zeit, in der die Rollen geschrieben wurden und in Gebrauch waren, anachronistisch. Der Kanon der Hebräischen Bibel (Tanach) war damals noch nicht fixiert. Man nimmt an, dass es für die Schriftrollenbesitzer „autoritative Texte“ gab, die sie als hoch verbindlich betrachteten. Diese sind aber nicht identisch mit den Schriften, die später in den Tanach bzw. das christliche Alte Testament (dessen Umfang je nach Konfession unterschiedlich ist) Aufnahme fanden. Kriterien für „autoritative Texte“ sind, dass mit Zitaten aus ihnen argumentiert wurde, dass sie beanspruchten, aufgrund göttlicher Eingebung oder von einer bedeutenden Person niedergeschrieben zu sein, dass sie häufig kopiert, kommentiert und übersetzt wurden und andere Schriften inhaltlich von ihnen abhängig sind. Die ältesten biblischen Handschriften wurden um 250 v. Chr. erstellt (4QSamb, 4QJera). Alle Bücher des späteren Tanach außer dem Buch Ester sind vertreten. Bei Zahlenangaben zu biblischen Büchern besteht ein Unsicherheitsfaktor, da es bei kleineren Fragmenten nicht sicher ist, ob es sich um ein Exemplar des ganzen Buchs handelt oder zum Beispiel um eine Neukomposition mit Bibelzitaten. Heinz-Josef Fabry zählt 76 Bücher der Tora, 36 Psalmbücher, 21-mal Jesaja, achtmal Daniel, je sechsmal Jeremia und Ezechiel. Das umfangreiche Buch der Chronik ist nur durch ein kleines Fragment (4Q118) repräsentiert. Hebräisch Als die ersten hebräischen Bibeltexte aus Qumran publiziert wurden, erregte es großes Interesse, dass es dort einen proto-masoretischen Texttyp gab, der dem späteren, im Judentum kanonisch gewordenen Masoretischen Text sehr ähnlich ist. Dessen Zuverlässigkeit und gute Qualität war damit bestätigt. Die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Bibelübersetzungen in moderne Sprachen sind deshalb viel stärker dem Masoretischen Text verpflichtet, als es vorher üblich war. Die Textgeschichte der hebräischen Bibel kann man sich wie ein breites Flussbett vorstellen. Mehrere Ströme (Texttypen) fließen parallel darin, mischen sich manchmal und trennen sich wieder. Anhand sprachlicher Merkmale unterscheidet Emanuel Tov fünf Texttypen: Jene mit besonderer Qumran-Orthografie. Sie zeigen einen freien Umgang mit der Vorlage und sind möglicherweise einer in Khirbet Qumran arbeitenden Schreiberschule zuzuordnen. Als Vorlage können Texte mit proto-masoretischem Charakter, aber auch solche einer unabhängigen Texttradition gedient haben (20 Prozent). Zu dieser Gruppe rechnet Tov beispielsweise die Große Jesajarolle. Proto-masoretische Texte, deren Kennzeichen die Übereinstimmung mit dem Konsonantenbestand des später kanonisch gewordenen Masoretischen Textes ist, Beispiele: 1QIsab und 4QJerc (35 Prozent). Prä-samaritanische Texte, die charakteristische Kennzeichen des Samaritanischen Pentateuchs zeigen, ohne die (nach Tovs Einschätzung) aus ideologischen Gründen vorgenommenen Textänderungen des Samaritanus aufzuweisen, Beispiele: 4QpaleoExodm, 4QNumb (5 Prozent). Texte, die einer hebräischen Vorlage der Septuaginta nahestehen, Beispiele: 4QJerb, 4QJerd (5 Prozent). Unabhängige Texte, die punktuell mit dem Masoretischen Text, dem Samaritanus oder der Septuaginta übereinstimmen. Viele haben darüber hinaus Lesarten, die sich in keiner der drei später kanonisch gewordenen Texttraditionen finden. Beispiele: 4QJosa, 4QSama (35 Prozent). Tovs Klassifizierung wird allerdings durch neuere Analysen von Armin Lange relativiert. Er lehnt die Existenz einer eigenständigen Textgruppe mit Qumran-Orthografie ab und kommt zu einem deutlich größeren Anteil der Gruppe der Unabhängigen Texte: 52,5 Prozent bei Tora-Handschriften und 51 Prozent bei Neviim und Ketuvim. Zunächst schien die von Frank M. Cross entwickelte Theorie der lokalen Textfamilien (Theory of Local Texts, 1976) die Textvielfalt gut zu erklären. Sie nahm an, dass es drei Texttraditionen in verschiedenen geografischen Räumen gegeben habe: Israel/Palästina, Babylonien und Ägypten. Die babylonische Tradition sei von den Heimkehrern aus dem Babylonischen Exil mit nach Jerusalem gebracht worden. Der Masoretische Text gehe auf die in Jerusalem gepflegte babylonische Texttradition zurück. Seit den Studien von Tov und Lange ist aber mit einer größeren Zahl von Texten und Textfamilien zu rechnen, die alle im Textkorpus von Qumran koexistieren – und damit ist das Lokalprinzip aufgehoben. Die Situation Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. lässt sich nach Eugene C. Ulrich so charakterisieren: Biblische Schriften sind in verschiedenen Textfassungen im Umlauf. Es gibt einen Kanon im Werden (canon-in-process), aber keinen fertigen Kanon. Es ist keine Gruppe erkennbar, die einen normativen Text festsetzt oder fordert, dass ein Texttyp gegenüber anderen bevorzugt werden sollte. Den letzten Punkt beurteilt Siegfried Kreuzer anders: Der proto-masoretische Text sei im 1. Jahrhundert v. Chr. in Jerusalem so überarbeitet worden, dass sein chronologisches System nicht mehr auf die Weihe des salomonischen Tempels, sondern auf die Tempelweihe nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand (164 v. Chr.) zulief. Im Hasmonäerreich habe dieser Text als normativ gegolten. Mit ihm verband sich die Autorität des Jerusalemer Tempels. Die Samuel-Fragmente vom Toten Meer sind ein interessantes Beispiel dafür, dass die Zentralstellung des kanonisch gewordenen Masoretischen Textes überdacht werden muss: Bei mehreren Fragmenten von Rollen des Buchs Samuel, die aus Höhle 4Q stammen (4QSama-c), stimmt der Text häufig mit der Septuaginta gegen den Masoretischen Text überein. Textkritische Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Vorlage der Septuaginta und der Texttyp aus Qumran ein gegenüber dem Masoretischen Text älteres Stadium der Textentwicklung repräsentieren. Statt eines Übergabepunktes, an dem ein biblisches Buch „fertig“ war und von den Endredaktoren sozusagen an die Kopisten weitergereicht wurde, ist es aus heutiger Sicht sachgerechter, einen Übergabezeitraum anzunehmen. „Methodisch folgt also aus der jüngeren Diskussion, dass die einfache Unterscheidung zwischen «beabsichtigten» (Phase der Textproduktion: Redaktionskritik) und «unbeabsichtigten» (Phase der Texttransmission: Textkritik) Änderungen unschärfer wird und die Aufgabe der Textkritik nicht die Rekonstruktion eines «Urtextes», sondern die des ältesten erreichbaren Textes ist.“ (Heinz-Josef Fabry) Aramäisch Von den biblischen Büchern, die später zum jüdischen Kanon (Tanach) gehörten, sind folgende mit aramäischen Textfragmenten vertreten: Jeremia (4Q71), Daniel (4Q112–115) und Esra (4Q117). Unter den Qumrantexten gibt es außerdem drei Übersetzungen biblischer Schriften ins Aramäische, die etwas irreführend als Targumim bezeichnet werden. Im Vergleich zu den späteren Targumim der rabbinischen Literatur, die teils freie Nacherzählungen darstellen, bleiben die Qumran-Targumim eng an ihrer Vorlage. Ein Targum übersetzt das Buch Levitikus, zwei das Buch Ijob. Eventuell gehören beide Ijob-Fragmente zum gleichen Werk, wobei 11Q10 zu den besser erhaltenen Qumrantexten gehört. Die Handschrift ist jung (um 50 n. Chr.), die Übersetzung lässt sich aufgrund sprachlicher Merkmale ins 2. Jahrhundert v. Chr. datieren. Griechisch Im Textkorpus von Qumran sind Fragmente mehrerer griechischer Pentateuch-Handschriften enthalten. Septuaginta-Levitikusa (4Q119), ein Teil einer Kolumne mit Text aus Lev 26, 2–16 wird als recht wörtliche Übersetzung einer hebräischen Vorlage beurteilt. Insgesamt steht der Text in der Septuaginta-Tradition, bietet aber 15 abweichende und teils ungewöhnliche Lesarten. Septuaginta-Levitikusb (4Q120) ist ein in über 100 Fragmente zerfallener Papyrus, von denen sich 31 dem Text der ersten sechs Kapitel Levitikus zuordnen ließen. Erhalten sind auch Reste einer Lederrolle des griechischen Buchs Numeri; das Verhältnis zur Septuaginta (Old Greek oder eine andere alte Texttradition) wird diskutiert. Kleine Fragmente einer relativ alten Deuteronomium-Handschrift (4Q122, um 150 v. Chr. oder früher) und einer Exodus-Handschrift (7Q1) vervollständigen das Bild: Die griechische Übersetzung der Tora ist im Qumran-Textkorpus präsent, allerdings marginal. Außerdem gibt es ein Papyrus-Fragment vom Brief des Jeremia (7Q2), also ein Text, der nicht zum späteren jüdischen Kanon (Tanach) gehört, wohl aber zum Septuaginta-Kanon und infolgedessen in einigen christlichen Konfessionen zum Alten Testament. Bibeltexte in anderer Form Tefillin und Mesusot Die Tora-Gebote, Tefillin anzulegen und an Türen Mesusot anzubringen, wurden auch in Qumran befolgt. Insgesamt werden etwa 45 fragmentarische Pergamentstreifen mit Tora-Texten in Mikroschrift und etwa 25 Reste von Tefillinkapseln dieser Fundgruppe zugeordnet; in fünf Exemplaren befanden sich die Pergamentstreifen noch in den Kapseln. Die Objekte stammen häufig aus dem Antikenhandel; die Herkunftsangabe „Qumran“ ist in diesen Fällen ungesichert. Die heute eher würfelförmigen Tefillinkapseln sind lederne Behältnisse, die mit Riemen an Kopf und Oberarm getragen werden. Eine Qumran-Tefillinkapsel sah in geschlossenem Zustand wie eine flache, kleine Ledertasche aus. Sie hatte eine oder mehrere Auswölbungen, in die die Texte eingelegt wurden; dann wurde sie zusammengeklappt und zugenäht. Yigael Yadin erwarb 1968 ein intaktes Exemplar (XQPhyl A–D = XQ1‒4). Die 13 × 20 mm große Tasche enthielt vier Fächer, in denen sich zusammengefaltete, eng beschriebene Pergamentstreifen (27 × 40–44 mm) befanden. Drei davon waren noch an ihrem Platz. Die Auswahl und Anordnung der Tora-Texte weicht von den späteren rabbinischen Vorschriften ab. Wahrscheinlich waren die diesbezüglichen Regeln noch nicht festgelegt. Es ist denkbar, dass die Qumran-Tefillin nicht ausschließlich beim Gebet getragen wurden, sondern den ganzen Tag über oder (ähnlich wie ein Amulett) in besonderen Situationen, etwa bei Krankheit. Aus Höhle 4Q stammen Fragmente von Mesusot-Texten (4Q149–155), ein weiteres Exemplar aus Höhle 8Q. Behältnisse von Mesusot sind aus Qumran nicht bekannt. Möglicherweise wurden die zusammengewickelten Textstreifen damals direkt in Ritzen am Türrahmen deponiert. Reworked Pentateuch Als Reworked Pentateuch, „Tora-Überarbeitungen“ werden fünf Fragmente bezeichnet, die sich einer Kategorisierung in biblische oder nichtbiblische Texte entziehen: 4Q158; 4Q364–367. Sie enthalten größtenteils den bekannten Bibeltext in einer Fassung, die dem Samaritanischen Pentateuch nahesteht, aber ändern öfter die Reihenfolge oder fügen neues Material ein. Bei der DJD-Erstpublikation klassifizierten Emanuel Tov und Sidnie White Crawford diese Texte als nicht-biblisch und nicht-autoritativ. Für Eugene Ulrich, James VanderKam und Michael Segal waren Reworked-Pentateuch-Texte dagegen biblisch, nämlich Zeugen des in der Entwicklung begriffenen biblischen Textes. Dieser Position schloss sich später auch Tov an. Wenn 4Q365 den gesamten Pentateuch umfasste, hätte diese Buchrolle mit einer geschätzten Länge von 22,5–27,5 m eine beeindruckende Größe gehabt. Nichtbiblische Texte Die hier vorgenommene Einteilung der nichtbiblischen Texte in Gruppen folgt Armin Lange und Ulrike Mittmann-Richert. Parabiblische Schriften Als parabiblische Texte (parabiblical texts) werden bibelnahe Schriften bezeichnet. Diese Nähe kann sich auf Texte, Themen oder Personen des späteren Tanach beziehen. Henochliteratur Die Tora hat im Judentum die höchste Autorität, und der größte Teil der parabiblischen Schriften von Qumran ist in irgendeiner Weise auf die Tora bezogen. Dazu gehört die gesamte Henochliteratur mit ihrer Hauptperson Henoch, der nach „mit Gott wandelte“ und deshalb nicht starb, sondern entrückt wurde. Das Erste Henochbuch, das in der äthiopisch-orthodoxen Kirche zum Alten Testament gerechnet wird, ist in seiner Endgestalt eine umfangreiche Komposition (108 Kapitel) aus mindestens fünf Teilen. Es ist in Qumran mit elf aramäischen Handschriften vertreten (4Q201–202; 4Q204–212), deren älteste 4QEna ar (=4Q201) paläografisch auf 200–150 v. Chr. datiert wird. Das sogenannte Astronomische Henochbuch (Kapitel 72–82) kommt in Qumran als separate Schrift vor. Die Bildreden (Kapitel 37–71) fehlen in Qumran. Vermutlich wurde dieser Text erst spät in die Komposition des Ersten Henochbuchs eingefügt, und die aramäischen Handschriften aus dem Qumran-Textkorpus entstanden zu einer früheren Zeit. Die Bedeutung des Ersten Henochbuchs für den Jachad ist sehr groß: Man las in dieser alten Schrift, dass es in der Engelwelt eine Spaltung in gefallene, verführerische Engel einerseits und hilfreiche Engel andererseits gebe. Diese beiden Gruppen heißen aramäisch ערין ʿîrîn „Wächter“ und קדשין qaddîšîn „Heilige“. Der Jachad entwickelte in seinen eigenen Schriften eine komplexe Engel- und Dämonenlehre; man war zum Beispiel der Meinung, an der Liturgie der Engel teilnehmen und Dämonen austreiben zu können. Aber während das Erste Henochbuch den Ursprung des Bösen mit einem Aufstand der Engel begründet, lehrt eine Hauptschrift des Jachad (Gemeinderegel), dass die Geister von Licht und Finsternis beide von Gott geschaffen worden seien. Ebenfalls zur Henochliteratur gehört das Gigantenbuch, dessen aramäischer Text nur aus Qumran bekannt ist. Es zählt zu den heiligen Schriften des Manichäismus; Übersetzungen in mehrere Sprachen sind daher erhalten. Die Giganten (Nephilim) sind gefährliche Mischwesen (halb Engel, halb Mensch). Henoch deutet den Gigantenfürsten einen Traum. Einige tun darauf Buße, aber die meisten bleiben bösartig und werden daraufhin von Gottes kämpfenden Engeln besiegt. Jubiläenbuch Das Buch der Jubiläen gehört ebenfalls zum Alten Testament der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Es stellt einen anderen Typ torabezogener Literatur dar. Hier ist nicht eine in der Tora nur knapp erwähnte, geheimnisvolle Figur (Henoch) zum Helden eigener Werke aufgewertet, sondern umfangreiche Teile der Tora – von der Schöpfungsgeschichte bis zum Auszug aus Ägypten – werden neu erzählt (Rewritten Bible). Dabei spielen gute und böse Engelwesen eine wichtige Rolle; sie sind hierarchisch organisiert und wirken ständig auf die Menschen ein. Jachadische Texte zitieren das Jubiläenbuch als autoritative Schrift; mindestens 14 Manuskripte zeigen seine Beliebtheit. Genesis-Apokryphon Das Genesis-Apokryphon aus Höhle 1Q ist eine aus herodianischer Zeit stammende Kompilation älterer Noach- und Abraham-Traditionen, keine Nacherzählung der Genesis, sondern ein selbständiges Werk. Es tritt dem Leser mit einem großen Autoritätsanspruch gegenüber, streckenweise als wörtliche Rede biblischer Personen. Vermutlich sollte das Genesis-Apokryphon als Leseanweisung dienen, wie der Genesis-Text zu verstehen sei. Außerdem gibt es im Qumran-Korpus mehrere fragmentarische Texte mit weiteren Noach-Traditionen. Mose- und Josua-Apokrypha Die Mose-Apokrypha sind eine Rewritten Bible in Bezug auf das Deuteronomium. Die Autorität des Hohepriesters wird darin gestärkt. Wer sich ihm widersetzt, ist ein falscher Prophet. Ein Ritual wird erwähnt, bei dem der Hohepriester die Urim und Thummim befragt. Die beiden fragmentarischen Josua-Apokrypha beziehen sich auf das Buch Josua und enthalten darüber hinaus Reden, Segen und Gebete. Im Jachad war das Josua-Apokryphon 4Q379 ein autoritativer Text. Tempelrolle Die Tempelrolle ist als Eigenrede Gottes gestaltet und erhebt damit kanonischen Anspruch. Sie bezieht alle Anweisungen für das Wüstenheiligtum (Mischkan) in der Tora auf den zweiten Jerusalemer Tempel. Man schließt aus Inhalt, Alter und starken Unterschieden etwa zum Deuteronomium, dass die den Tempel betreffenden Toratexte damals noch nicht endgültig formuliert waren. Pseudo-Ezechiel, Pseudo-Jeremia, Pseudo-Daniel Als nach der Tora auch die Prophetenbücher als inspirierte, heilige Schriften anerkannt wurden, rankte sich ebenfalls eine parabiblische Literatur um diese Texte. Entweder wurden den biblischen Propheten neue Reden in den Mund gelegt, oder die Biografie der Propheten legendarisch ausgestaltet. Insgesamt sechs Fragmente enthalten Pseudo-Ezechiel-Material, wahrscheinlich gehören sie zum gleichen Werk. Interessant ist die Akzentverschiebung bei der Vision von den Totengebeinen : Aus der Hoffnung auf Auferstehung für das „ganze Haus Israel“ ist bei Pseudo-Ezechiel die Auferstehung der Frommen in Israel geworden. Das sehr fragmentarische Pseudo-Jeremia-Material lässt sich wahrscheinlich zu drei Werken gruppieren. Pseudo-Jeremia, der sich in der Diaspora (Ägypten) aufhält, verkündet ethische Gebote, trauert um den Jerusalemer Tempel und klagt über seine eigene Situation. Drei vielleicht zusammengehörige Pseudo-Daniel-Schriften bieten eine Deutung der gesamten Weltgeschichte; der aramäische Text 4Q246, zunächst auch als Daniel-Apokryphon (4QapocrDan ar) bezeichnet, enthält eine Traumdeutung Pseudo-Daniels für einen König, bei der nach mehreren negativen Ereignissen das Auftreten einer Gestalt angekündigt wird, die „Sohn Gottes“ und „Sohn des Höchsten“ genannt wird. Es wird aber nicht deutlich, ob der Verfasser diese Titel positiv oder negativ bewertet. Testamentenliteratur Als Testamentenliteratur bezeichnet man Abschiedsreden biblischer Gestalten. Die Rahmenhandlung besteht darin, dass der Patriarch auf dem Sterbebett seine Familie zusammenruft, eine Rede hält und abschließend stirbt. Im Qumran-Textkorpus stehen bedeutende Priestergestalten im Mittelpunkt: das Testament Kehats, die Visionen Amrams. Das Aramäische Levi-Dokument ist ein Vorläufer der jüngeren Testamentenliteratur. Levi wird in dieser Schrift zum himmlischen Hohepriester; er begegnet im Himmel seinem Vater Jakob, der ihn mit Priestergewändern bekleidet, sowie seinem Großvater Isaak, der ihn in den Priestergesetzen unterrichtet. Anschließend tritt Levi als Weisheitslehrer und Prophet auf. Der Text geht auf die Waschungen des Priesters, die Holzarten für den Altar und die Reihenfolge, in der die Teile des Opfertiers aufgelegt werden, ein. Das meiste davon hat keinen Anhalt in der schriftlichen Tora. Solche Details waren priesterliches Berufswissen. Womöglich bereiteten sich angehende Priester durch das Studium dieses Textes auf ihren Tempeldienst vor. Exegetische Schriften Die exegetischen Schriften sind, im Gegensatz zu den parabiblischen Werken, charakteristische Erzeugnisse des Jachad. Autoritative Texte werden in einem Pescher versweise zitiert und dann kommentiert. Es gibt zwei Typen: Pescharim, die ein Buch fortlaufend kommentieren, und thematische Pescharim, die Zitate aus verschiedenen Schriften zusammenstellen und kommentieren. Die Deuteformel enthält stets das Wort : „Deutung“. Die Auslegungstechnik erinnert an antike Traum- und Omendeutung. Am bekanntesten und am besten erhalten ist der Habakuk-Pescher (1QpHab), ein Unikat, aber wegen typischer Abschreibfehler kein Autograf. Er formuliert das hinter der Pescher-Literatur stehende hermeneutische Konzept so: Den eigentlichen Sinn des ihm offenbarten Textes konnte Habakuk zu seiner Zeit also gar nicht erfassen. Denn er ist von Gott für die Menschen in der Endzeit (das „letzte Geschlecht“) bestimmt. Dann tritt ein inspirierter Ausleger auf, der die Geheimnisse im alten Text Habakuks interpretiert. Daraus ergibt sich die verrätselte Art, wie sich die Pescharim auf ihre Zeitgeschichte beziehen. Sie schaffen ein Netz symbolischer Namen (Personen, Orte, Ereignisse), die sich nur ausnahmsweise eindeutig auflösen lassen. In der frühen Qumranforschung herrschte großer Optimismus, die Pescharim als historische Quellen für die Geschichte des Jachad, die Biografie des Lehrers der Gerechtigkeit und überhaupt die Geschichte Judäas in hellenistischer und frührömischer Zeit nutzen zu können; mittlerweile ist man skeptisch. Der wichtigste thematische Pescher ist jener zur Eschatologie, 4MidrEschata,b. Der Text besteht aus zwei Teilen, die früher als 4QFlorilegium und 4QCatenaA bezeichnet wurden. Annette Steudel wies die Zusammengehörigkeit durch Anwendung der von Stegemann entwickelten Rekonstruktionsmethode nach. Die eigene Gegenwart wird darin als „das Ende der Tage“ interpretiert, eine Zeit der Läuterung, in der man sich mit Gegnern aus dem Machtbereich des Bösen (Belial) auseinandersetzen muss. Gemeint sind die Pharisäer. Mit der zukünftigen Ankunft des Messias endet die Läuterungszeit, und die Heilszeit bricht an. 4MidrEschata enthält das Konzept, dass der Jachad, also eine Gruppe von Menschen, ein spiritueller Tempel sei und seine Liturgie die Opfer im Jerusalemer Tempel ersetzten. Es gibt auch Kommentare ohne die Pescher-Deuteformel, zum Beispiel zum Buch Genesis. 4QMidrash Sefer Moshe (= 4Q249), um 150 v. Chr. geschrieben, ist das früheste bekannte Beispiel eines halachischen Midrasch. Ein Sonderfall ist 4Q175, bei der Veröffentlichung von John Marco Allegro als Testimonia, „Schriftbeweise“, betitelt (Foto): das seltene Beispiel eines fast komplett erhaltenen Qumran-Textes. Der Schreiber ist der gleiche, der auch die Gemeinderegel (1QS) kopierte (also ein Mitglied des Jachad), aber hier gab er sich erkennbar wenig Mühe. Wahrscheinlich war 4Q175 eine Art Notizzettel. Ebenso wie in 1QS wird der Gottesname JHWH nicht geschrieben, sondern durch Punkte ersetzt. Das sieht man zum Beispiel in der ersten Zeile. Mehrere Zitate autoritativer Schriften werden aneinandergereiht: in der Textfassung des Samaritanus, , und ein Text aus dem Josua-Apokryphonb (darin enthalten: ). Üblicherweise sieht man darin die messianische Hoffnung auf eine prophetische, königliche und priesterliche Gestalt ausgedrückt. Zeitgeschichtlich interessant ist, dass der Ethnarch Johannes Hyrkanos I. von Flavius Josephus als prophetisch begabter Priesterkönig gerühmt wird. Im Jachad wurden solche Ansprüche wahrscheinlich abgelehnt; vielleicht gehört 4Q175 in diesen Kontext. Ordnungen und Rechtstexte Drei Schriften vermitteln ein Bild davon, wie das Gemeinschaftsleben des Jachad organisiert war: Gemeinderegel (1QS); Gemeinschaftsregel (1QSa), nur einmal überliefert als Anhang zu 1QS (siehe unten: Eschatologische und apokalyptische Schriften); Damaskusschrift (CD). Gemeinderegel Die Gemeinderegel (1QS, ) ist im Korpus der Qumranschriften mit mindestens elf Exemplaren vertreten, was für ihre große Bedeutung im Jachad spricht. Sie ist eine Sammelschrift mit komplizierter Vorgeschichte. In der Textfassung der gut erhaltenen Rolle aus Höhle 1Q hat sie folgenden Inhalt: nach einer Einführung, die die ethischen Ideale der Gruppe aufzählt, folgt die Beschreibung der jährlichen Bundeserneuerungszeremonie. Daran schließt sich die dualistische Zwei-Geister-Lehre mit dem Gedanken der doppelten Prädestination an. Nun folgen Verhaltensregeln, ein Strafkatalog und ein Schlusspsalm. Der Text weicht in den einzelnen Handschriften stark ab, obwohl diese zeitlich nicht weit auseinanderliegen. Dadurch stellt sich die Frage der Praktikabilität, besonders bei den Strafbestimmungen. Eine Möglichkeit wäre, dass die Handschriften aus unterschiedlichen lokalen Gruppen des Jachad stammen, eine andere, dass die Rechtsprechung mündlich verlief und die Vielfalt der Handschriften Stadien dieser mündlichen Tradition spiegelt. Damaskusschrift Auch die Damaskusschrift (CD) hat eine komplexe Vorgeschichte, ist aber als Text (verglichen mit der Gemeinderegel) stabiler. Nach einer Mahnschrift mit geschichtstheologischen Erläuterungen folgt eine vierteilige Gesetzessammlung: „Gesetze für den Unterweiser“: Männer mit bestimmten Behinderungen sind vom Priesterdienst und von der Toralesung ausgeschlossen; „Ordnung für die Siedlung der Städte Israels“: neben nicht-jachadischen Regeln (Landwirtschaft, Sabbat usw.) wird die Aufnahmezeremonie in die Gruppe beschrieben; „Ordnung der Siedlung der Lager“: die Gruppenmitglieder leben in Familien und sind in Lagern organisiert, denen ein Aufseher () vorsteht; „Auflistung der Rechtssätze“: der Strafenkatalog berührt sich mit entsprechenden Passagen der Gemeinderegel (1QS). Die chronologische und soziologische Beziehung von Gemeinderegel und Damaskusschrift ist Gegenstand der Diskussion. Neben engen Berührungen gibt es nämlich erhebliche Unterschiede: In der Gemeinderegel scheint das Gebet („Hebopfer der Lippen“) an die Stelle des Tempelgottesdienstes getreten zu sein. Die Damaskusschrift dagegen scheint von einer Teilnahme am Jerusalemer Kult auszugehen. Die Gemeinderegel fordert kein Zölibat. Aber Frauen werden fast nicht erwähnt. Es ist daher naheliegend, sich den Jachad als gemeinschaftlich lebende Männergruppe vorzustellen. Die Damaskusschrift setzt dagegen voraus, dass die Mitglieder in Familien mit ihren Kindern zusammenwohnen. Cecilia Wassen zufolge ist die Damaskusschrift das Produkt einer patriarchalen, totalitären Gruppe, die Frauen als Mitglieder minderen Ranges zulasse. 4QMMT 4QMMT ist ein Lehrbrief über „ein bißchen vom Tun der Tora“ (, daher die Abkürzung MMT). Zu etwa 20 Fragen der Halacha, insbesondere Opfer und kultische Reinheit (also Priesterthemen) betreffend, wird die eigene Meinung als „Tora-Praxis“ für verbindlich erklärt. Manchmal wird die Gegenmeinung zitiert und verworfen. Sechs erhaltene Manuskripte zeigen, dass der Text im Jachad wichtig war. Aus inhaltlichen Gründen gilt 4QMMT als frühe jachadische Schrift; die Heiligkeit Jerusalems und des Tempels ist stark betont. Eine Diskussion mit Jerusalemer Priesterkreisen erscheint möglich, ist allerdings durch die Maximalpositionen, die 4QMMT bezieht, erschwert. Weitere religionsgesetzliche Texte sind fragmentarisch erhalten. In 4Q477 werden Sanktionen gegen verschiedene Jachad-Mitglieder aufgezählt. Dieses Dokument erhielt den Namen 4QRebukes Reported by the Overseer, „Vom Aufseher gemeldete Zurechtweisungen“. Demnach wurden die Vorschriften des Jachad mindestens teilweise im wirklichen Leben praktiziert. Kalendarische Schriften Das Erste Henochbuch und das Buch der Jubiläen, zwei alte und im Jachad als autoritativ geltende Schriften, setzen ein Kalenderjahr aus 364 Tagen bzw. 52 Wochen (6 Werktage plus Sabbat) voraus. „Die große Anziehungskraft des 364-Tage-Kalenders ist seine mathematische Ästhetik.“ Jedes Vierteljahr besteht aus zwei Monaten zu 30 Tagen und abschließend einem Monat zu 31 Tagen. Der Jahresbeginn ist immer der 4. Tag der Woche; Feste fallen auf den 1., 4. oder 6. Tag. Dieser Sonnenkalender ist möglicherweise viel älter, aber um 200 v. Chr. gewann er Bedeutung für die eigene Identität. Als um 150 v. Chr. der im Seleukidenreich übliche lunare Kalender in Jerusalem eingeführt wurde, stieß diese Modernisierung des Tempelkults auf starken Widerstand: Der Jachad hielt am traditionellen 364-Tage-Kalender fest. Seine kalendarischen Werke befassen sich hauptsächlich mit dem turnusmäßigen Wechsel der diensthabenden Priesterfamilien am Tempel (sogenannte Mishmarot-Texte, vgl. , Plural: „Erfüllung von Amtspflichten, Dienstabteilungen“). Das wirkt, als plante man für den Fall, dass der Jachad für den Jerusalemer Kult verantwortlich wäre. Das wichtigste Jahresfest ist Schawuot. Das Fest ist im Jubiläenbuch und in der Tempelrolle mit dem Bundesschluss am Sinai verbunden. Der Jachad beging an diesem Tag wohl seine Bundeserneuerungszeremonie. Auf Schawuot folgten im jachadischen Kalender weitere kleine Erntefeste für Wein, Öl und Holz, die es im späteren jüdischen Kalender nicht gibt. Umgekehrt ignoriert der jachadische Kalender die vergleichsweise neuen jüdischen Feste Purim und Chanukka. Poetische und liturgische Schriften Daily Prayers, Divrei Hameorot, Sabbatopferlieder Der Alltag der Jachad-Mitglieder war durch Morgen- und Abendgebete im wöchentlichen und monatlichen Rhythmus strukturiert. Fragmente dieser Liturgien bieten die Texte 4Q503 (Daily Prayers) und Divrei Hameorot. Es gab auch Feiertagsgebete, von denen nur Bruchstücke zu Jom Kippur und eventuell Schawuot erhalten sind. Die Sabbatopferlieder imaginieren Engelwesen, die einen himmlischen Kult vollziehen. Ob diese Texte im Jachad in irgendeiner Weise aufgeführt wurden, oder nur gelesen und meditiert werden sollten, ist unbekannt. Weitere liturgische Texte sind Segens- und Fluchworte. Unter den jachadischen Texten nehmen psalmartige Dichtungen breiten Raum ein. Anscheinend stand das biblische Psalmenbuch als autoritativer Text auf der gleichen Stufe mit einer eigenen Komposition von Psalmen und nicht-biblischen Texten (Große Psalmenrolle). Barkhi-Nafshi-TexteDie Barkhi-Nafshi-Texte sind Dankgebete, die mit der aus Psalm 103 und Psalm 104 bekannten Formulierung beginnen: „Lobe den HERRN meine Seele!“ (). David R. Seely und Moshe Weinfeld meinen, dass es ausgehend von den beiden biblischen Psalmen eine Tradition von Barkhi-Nafshi-Texten gegeben habe, die bis ins Mittelalter reiche. Eine liturgische Funktion lässt sich nicht mehr bestimmen, aber das Fragment 4Q434 f2 weist Parallelen mit dem späteren Tischsegen (Birkat Hamason) auf und ist also für die Entwicklung jüdischer Gebetstexte wichtig.Hodayot Die Hymnenrolle (Hodayot) aus Höhle 1Q ist eine Komposition von poetischen Texten, Lobliedern, die bereits 1955 von Eleasar Sukenik publiziert wurden. Nach Jürgen Becker, Gert Jeremias und Karl Georg Kuhn ist eine Unterscheidung der Hodayot in Gemeindelieder und Lehrerlieder sinnvoll. Mindestens ein Lehrerlied zeigt ein außerordentliches Selbstbewusstsein des Sprechers (Self-Glorification Hymn, auch als selbständiger Text überliefert: 4Q471b). Eine autobiografische Deutung auf den Lehrer der Gerechtigkeit, von Gert Jeremias 1963 vorgeschlagen, wird weiterhin vertreten. Alternativ dazu schlägt Carol Ann Newsom vor, dass sich der jeweilige Leiter des Jachad (, „Aufseher“) mit den Lehrerliedern die Rolle, die er in der Gruppe zu spielen hat, aneigne, ebenso wie das einfache Mitglied sich mit dem „Ich“ der Gemeindelieder identifiziere. 4QApocryphal Psalm and Prayer 4QApocryphal Psalm and Prayer ist ein Text, der in der Forschung kontrovers diskutiert wird. Erhalten ist der Anfang einer Schriftrolle. Nach Psalm 154 folgt ein Gebetstext mit politischem Bezug: „Jonatan der König“ könnte entweder der Hohepriester und Militärführer Jonatan Makkabäus sein, oder der König und Hohepriester Alexander Jannäus. Letzteres ist wahrscheinlicher, weil er auch den Königstitel führte. Aus jachadischen Schriften geht aber klar hervor, dass dieser Herrscher negativ bewertet wurde („Löwe des Zorns“). 4QApocryphal Psalm and Prayer könnte ein nicht-jachadischer Text sein. Falls man jachadische Verfasserschaft annimmt, könnte man im ersten Satz eventuell auch übersetzen: „gegen (על) Jonatan, den König“. Weisheitsliteratur Das Sirachbuch ist unter den Schriftrollen vom Toten Meer mit einem hebräischen Manuskript aus Höhle 2Q und einem längeren Zitat als Teil der Großen Psalmenrolle vertreten (außerdem fand sich eine hebräische Schriftrolle des Sirachbuchs auf Masada). 4QInstruction ist eine fragmentarisch erhaltene Weisheitsschrift. Sie ist auch bekannt unter dem Titel „Ethik für den Verständigen“. Es gibt acht Manuskripte, diese Schrift war also beliebt. Nach der Rekonstruktion von Eibert Tigchelaar war 4QInstruction mit über 20 Kolumnen Text ein recht umfangreiches Werk. Angeredet ist ein Weisheitsschüler, der mit Frau und Kindern ein normales gesellschaftliches Leben führt; der Schüler ist verarmt, das aber unfreiwillig. Die erste Hälfte des Buchs hat einen kosmologischen Inhalt; die zweite Hälfte handelt von der Bestrafung der Bösen im Endgericht. Ein Schlüsselbegriff ist „Mysterium vom Gewordenen“ (so die Übersetzung von Johann Maier). Gemeint ist ein Plan Gottes, der alles umfasst, was war, ist oder sein wird. Dieses Mysterium soll der Leser in seinem eigenen Interesse meditieren. Er versteht dann beispielsweise seine Verpflichtungen gegenüber den Eltern besser oder hat mehr Erfolg in der Landwirtschaft. Vergleicht man das Sirachbuch und 4QInstruction, so fallen markante Unterschiede zwischen diesen beiden Weisheitslehren auf. Sirach und seine Schüler sind relativ wohlhabend (sie besitzen Sklaven, können reisen). Außerdem warnt Sirach explizit davor, die Geheimnisse der Schöpfung ergründen zu wollen . Ob 4QInstruction ein jachadisches Werk war oder von außerhalb stammte, aber im Jachad überarbeitet wurde, wird in der Forschung kontrovers beurteilt. 4QMysteries ist eine sehr fragmentarisch erhaltene Weisheitsschrift, die durch den wiederholt vorkommenden Begriff „Mysterium“ Ähnlichkeit mit 4QInstruction besitzt, aber mehr spekulativ und weniger alltagspraktisch ausgerichtet ist. Ein Fragment (4Q300 = 4QMysteriesb) kontrastiert Weisheit mit Wahrsagekunst, was an das biblische Buch Daniel erinnert (zum Beispiel ). Historische Erzählungen Im Qumran-Textkorpus sind historische Erzählungen außerhalb der parabiblischen Literatur sehr selten. Mit dem Buch Tobit (4Q196–200) ist eine Lehrzählung in aramäischer und hebräischer Fassung vertreten. Es gibt außerdem zwei fragmentarisch erhaltene aramäische Erzählungen, die am persischen Königshof spielen: das Gebet des Nabonid (4Q242) und Proto-Esther (4Q550). Diese Hoferzählungen können als Unterhaltungsliteratur gelten, wofür auch ihr kleines Format spricht: gewissermaßen die antike Form eines Taschenbuchs. Äußerst fragmentarisch erhalten sind Manuskripte aus Höhle 4Q, die von den Herausgebern als „historische Texte“ (Historical Text A–G) bezeichnet wurden, weil sie Personennamen der Hasmonäerzeit enthalten, vor allem die Königin Salome Alexandra (mit ihrem hebräischen Namen Šəlamṣijôn) und ein Aemilius, womit Marcus Aemilius Scaurus der Jüngere gemeint sein kann, der im Hasmonäischen Bruderkrieg intervenierte. Eschatologische und apokalyptische Schriften Der Begriff eschatologisch wird in der alttestamentlichen Fachliteratur für zahlreiche Texte des Tanach verwendet, die Klaus Koenen so charakterisiert: „Man erwartet nicht das Ende der Zeit, sondern eine Wende der Zeit, die zur Vollendung der Schöpfung führt; keine andere Welt, sondern diese Welt anders…“ Als apokalyptisch bezeichnet man dagegen Texte, in denen das Weltende als unausweichlich betrachtet wird und eine von Gott neugeschaffene Welt jenseits dieser Katastrophe erhofft wird. Der apokalyptische Seher zieht sich aus der Welt zurück, schreibt unter dem Pseudonym einer großen Gestalt der Vergangenheit und verrätselt seine zeitgeschichtliche Diagnose durch Decknamen. Von der Gegenwart bis zum Weltende wird eine Abfolge von Ereignissen vorhergesagt. Apokalyptik ist innerhalb des Tanach ein Randphänomen, das wenige und späte Texte prägt. Eschatologische und apokalyptische Anschauungen entsprechen sozusagen dem Zeitgeist im Judäa der hellenistischen und frührömischen Zeit; sie sind im Textkorpus der Qumranschriften sehr breit vertreten. Das heißt aber nicht, dass sie inhaltlich stets den Schwerpunkt bilden. „Der Hauptton dieser Werke liegt meistens auf anderen Themen: vorwiegend der Halacha, dem Kalender oder auf liturgischen Themen,“ betonen Géza G. Xeravits und Peter Porzig mit Bezug auf die jachadischen Schriften. New Jerusalem Das mit sieben Exemplaren vertretene aramäische Werk „Neues Jerusalem“ (New Jerusalem) enthält einen Visionsbericht vom Typ der Himmelsreise, eine Art Stadtführung durch ein utopisches, gigantisches Jerusalem. Der Weg führt von der Peripherie zum Zentrum. Von den Stadttoren durch die leeren Straßen und Wohnblöcke begleitet der Deuteengel den Visionär zum Tempel, in dem der Kult in Betrieb ist. Diesem visionären Stadtentwurf liegt wohl das Hippodamische Schema zugrunde. Milchama-Texte Die Milchama-Texte beschreiben den endzeitlichen Kampf () der „Söhne des Lichts“ gegen die „Söhne der Finsternis“, bzw. Israels gegen die Kittim. Mit der wohlerhaltenen Kriegsrolle aus Höhle 1Q war eine Fassung dieses Textes unter den ersten publizierten Qumranschriften. Sowohl irdische als auch himmlische Welt sind dualistisch in zwei miteinander ringende Parteien, Gut und Böse, aufgeteilt. Die Grundidee, Israel als wohlgeordnetes Kriegslager, fanden die Verfasser in der Tora . Die detaillierte Darstellung von Kampfabteilungen zeigt Nähe zu hellenistisch-römischen Kriegshandbüchern. Ausführliche priesterliche Gebete vor, während und nach der Schlacht deuten das Geschehen. Die „Söhne des Lichts“ handeln als Kollektiv, Einzelpersonen sind nicht besonders hervorgehoben. Ob die Milchama-Texte in der frühen Hasmonäerzeit (Kittim = Seleukiden) oder in der frührömischen Zeit (Kittim = Römer) entstanden, ist unsicher. 1QSa und 1QSb Zwei eschatologisch-apokalyptische Texte sind als Anhang zur Gemeinderegel von Höhle 1Q überliefert: Die Gemeinschaftsregel (1QSa) enthält Regeln für das Leben im Jachad, die in einen eschatologischen Rahmen gestellt wurden. Im Mittelpunkt steht das gemeinschaftliche Mahl. In der Endzeit werden ein Priester und ein nicht-priesterlicher „Gesalbter“ (Messias) das Mahl leiten; der Messias ist dem Priester untergeordnet. Die Segensregel (1QSb), ein jachadischer Text, enthält fünf Segenssprüche über Gruppen und Personen. Er wertet die Rolle des endzeitlichen Priesters auf, der unter die Engel versetzt wird und mit ihnen im endzeitlichen Tempel amtieren soll. Der „Fürst der Gemeinde“ ist demgegenüber ein idealer König, der Gerechtigkeit schaffen und Kriege siegreich führen soll (hier bezieht sich der Text auf ). Qumranhandschriften und Neues Testament Forschungsgeschichte Die Qumranforschung der 1950er und 1960er Jahre wurde von Neutestamentlern dominiert. Sie waren vorrangig an Informationen über die Ursprünge des Christentums interessiert. Eine direkte Beziehung zwischen den Schriftrollen und dem Neuen Testament konnte nicht aufgezeigt werden. Weder Jesus noch eine andere Person des Urchristentums wird in den Qumrantexten erwähnt, die ja meist älter sind. Überraschender ist der zweite negative Befund: Im Neuen Testament ist keine Erwähnung des Jachad, von Khirbet Qumran oder von Essenern erkennbar. (Ein Vorschlag identifiziert die Essener mit den u. a. in genannten Herodianern; dies findet aber keine größere Zustimmung.) Bis zur Publikation der Schriftfunde von Qumran war die Umwelt der Jesusbewegung weitgehend durch Rückschlüsse aus späterem rabbinischem Material rekonstruiert worden. Eine Folge der Beschäftigung mit den Qumrantexten war ein positiveres Pharisäerbild, da der Jachad offenbar weit strenger lebte als die Pharisäer. André Dupont-Sommer sah 1952 sehr weitreichende Parallelen zwischen dem Lehrer der Gerechtigkeit und Jesus von Nazareth: „Alles im jüdischen Neuen Bund kündigt den christlichen Neuen Bund an und bereitet ihn vor. Der Meister aus Galiläa, wie ihn uns das Neue Testament präsentiert, erscheint in vielerlei Hinsicht als erstaunliche Reinkarnation des Lehrers der Gerechtigkeit.“ Edward Wilson griff Dupont-Sommers These 1955 in einer vereinfachten Form auf: The Scrolls from the Dead Sea. Das Buch wurde in den Vereinigten Staaten zum Bestseller. Wilson schlug vor, nicht Jerusalem oder Bethlehem, sondern Khirbet Qumran als Wiege der Christenheit zu betrachten. Das Qumran-Essenertum und das Urchristentum seien aufeinanderfolgende Phasen der gleichen Bewegung. Er äußerte den Verdacht, dass christliche Qumranforscher dies herunterspielen und verschleiern wollten. Frank M. Cross sah die Qumran-Essener als Tradenten der älteren apokalyptischen Literatur. Das Urchristentum habe sozusagen das Erbe Qumrans angetreten in seinen Gemeindestrukturen und in dem Bewusstsein, in der Endzeit zu leben. Cross gehörte zu den akademischen Schülern William Foxwell Albrights. Die Nähe zwischen Qumran und Neuem Testament wurde in der Albright-Schule als Argument gegen Rudolf Bultmanns Lektüre des Neuen Testaments in einem hellenistischen Kontext genutzt. Besonders das Johannesevangelium und die Johannesbriefe bewahrten demnach historische Erinnerungen aus einem aramäisch-hebräischen Milieu mit starkem essenischem Einschlag. Dies sprach eine konservative christliche Öffentlichkeit an. Cross war eigentlich Alttestamentler, und nachdem er seine Lehrtätigkeit an der Harvard University wieder aufgenommen hatte, befasste er sich mit der neutestamentlichen Thematik nicht weiter. Ein anderes Mitglied der Albright-Schule veröffentlichte kontinuierlich zum Thema Qumran und Urchristentum, auch als die Publikation der Qumran-Texte von 1960 bis 1990 weitgehend stagnierte: Joseph Fitzmyer. Im deutschen Sprachraum und darüber hinaus war die Bultmann-Schule sehr einflussreich. Ihr ist auch Herbert Braun zuzurechnen, der 1966 eine zweibändige Synthese unter dem Titel Qumran und das Neue Testament vorlegte. Es ging um Parallelen und damit um die religionsgeschichtliche Einordnung des Urchristentums. Wichtige Themenfelder waren: Dualismus im Jachad, in der Gnosis und im Evangelium nach Johannes; Methoden der Exegese im Habakuk-Pescher und bei frühchristlichen Autoren; Messiaserwartung und Eschatologie; Lehre und Schicksal des Lehrers der Gerechtigkeit verglichen mit Jesus von Nazareth; Organisationsform des Jachad und der urchristlichen Gemeinden; Gemeinschaftsmahl des Jachad verglichen mit dem urchristlichen Herrenmahl; Rituelle Tauchbäder im Jachad verglichen mit der Praxis Johannes des Täufers und der urchristlichen Taufe. Rudolf Bultmann begründete dualistisches Denken bei Paulus von Tarsus und im Johannesevangelium mit gnostischem Einfluss. Die Qumran-Texte zeigten nun, dass Dualismus auch in der palästinischen Lebenswelt der Jesusbewegung vorkam. Das war für Bultmann-kritische, konservative Neutestamentler ein wichtiger Punkt. Karl Georg Kuhn erläuterte, warum die stärksten Wirkungen der Qumranforschung im Neuen Testament für das Johannesevangelium zu erwarten seien: In Qumran wie im Johannesevangelium beziehe sich die dualistische Kategorie Licht/Finsternis auf das, was der Mensch tut. In der Gnosis sei der Dualismus anders begründet; Licht und Finsternis seien „nicht menschliche Existenzweisen, sondern substanzmäßige Bestandteile der Physis von Welt und Mensch.“ Qumran-Texte und Johannesevangelium rücken zusammen, die gnostische Literatur erscheint als andersartig. José O’Callaghan Martínez schlug 1972 vor, dass in Höhle 7Q Schriften des Neuen Testaments aufbewahrt worden seien: 7Q5 enthalte den Text von und 7Q4 . Wenn dem so wäre, müsste die Datierung des Markusevangeliums und des 1. Timotheusbriefs von der historisch-kritischen Bibelwissenschaft revidiert werden. O’ Callaghans Vorschlag wurde von Fachleuten für die Qumrantexte (Maurice Baillet), für Papyrologie (C. H. Roberts) und Textkritik des Neuen Testaments (Kurt Aland) abgelehnt. 1984 vertrat Carsten Peter Thiede erneut, dass 7Q5 den Text enthalte. Thiedes These wurde durch mehrere Studien falsifiziert. Robert Eisenman vertrat seit den 1980er Jahren die These, Johannes der Täufer, Jesus von Nazareth und dessen Bruder Jakobus seien ebenso wie die Qumran-Essener Teil einer antirömischen politischen Bewegung in Judäa gewesen. 1992 veröffentlichte er gemeinsam mit Michael O. Wise eine Übersetzung der soeben erst von der Huntington Library freigegebenen Qumran-Texte unter dem Titel The Dead Sea Scrolls Uncovered. Im Vorwort wiederholte Eisenman seine These, der jachadische „Lehrer der Gerechtigkeit“ sei niemand anderes als die Führungspersönlichkeit der Jerusalemer Urgemeinde, Jakobus mit dem Beinamen „der Gerechte.“ Der im Jachad mit dem Decknamen „Lügenträufler“ bezeichnete Gegner des Lehrers sei dagegen Paulus von Tarsus. Damit diese Gleichsetzungen überhaupt möglich waren, musste Eisenman gegen den Konsens der Forschung eine Spätdatierung der jachadischen Schriften in die letzten Jahrzehnte vor dem Jüdischen Krieg vertreten. Die übliche paläographische Datierung wurde mit der Radiokarbonmethode bestätigt. Eisenman argumentierte also gegen zwei wissenschaftliche Datierungsmethoden. Das gleiche Problem besteht auch bei der These von Barbara Thiering: Sie nimmt an, dass Jesus von Essenern aufgezogen und von Johannes dem Täufer in die Gemeinschaft initiiert worden sei. Dann habe er allerdings Maria Magdalena geheiratet und sei schließlich nach Rom gereist: Alles hängt an der Spätdatierung, und diese hat den paläografischen und C14-Befund gegen sich. Neue Fragestellungen Seit die halachischen Texte aus Höhle 4Q veröffentlicht sind, wirken der Jachad und die Jesusbewegung weniger ähnlich als in der Anfangszeit der Qumranforschung. Heute dient ein Vergleich von neutestamentlichen und jachadischen Texten eher zur Kontextualisierung beider Gruppen als zur Vermutung eines direkten Einflusses. Gerade die nicht-jachadischen Texte zeigen die Vielfalt des zeitgenössischen Judentums. Für einige Formulierungen des griechischen Neuen Testaments kennt man nur durch die Qumran-Texte die hebräische oder aramäische Parallele. So hat der Ausdruck „Arme im Geist“ in der Seligpreisung eine Parallele in 1QM 14,7 und 1QHa 6,14. Die dortige Bedeutung ist „demütig, niedrig im Gemüt“ oder aber „verzweifelt“. 4Q525 bietet eine Reihe von Seligpreisungen, die auch die Menschen „reinen Herzens“ erwähnt. Beide Beispiele zeigen, dass die Seligpreisungen in der Bergpredigt in ihrer Form und in ihrer Ausgestaltung durch den Evangelisten Matthäus von einer „palästinisch-jüdischen Matrix“ geprägt sind. 4QInstruction verbindet ein eschatologisches Weltbild mit alltagspraktischen Ratschlägen. Das lässt sich mit den weisheitlichen Texten der Jesusüberlieferung vergleichen. „Werke des Gesetzes“ (), eine für Paulus von Tarsus wichtige Formulierung, erhält durch 4QMMT klarere Konturen: Dieser jachadische Lehrbrief erläutert „ein bißchen vom Tun der Tora“, und dieses Tora-Tun scheint im Sinn von Tora-Vorschrift, Halacha, gemeint zu sein. Qumranhandschriften und rabbinische Literatur Der Beitrag der Schriftrollen vom Toten Meer zum Verständnis der Entwicklung der Halacha ist erheblich. Denn diese Texte bieten Einblick in die Periode vor Abfassung der Mischna (um 200 n. Chr.). Joseph Baumgarten schlug erstmals vor, dass es eine priesterliche halachische Tradition gegeben habe, die vom Jachad (vgl. 4QMMT) und von Sadduzäern getragen wurde, im Gegensatz zur pharisäischen und späteren rabbinischen Tradition. Die Gemeinderegel (1QS 7–12) nimmt eine grundsätzliche Unterteilung in „offenbarte“ () und „verborgene“ () Gebote der Tora vor. Jachad-Mitglieder befolgten die ganz Israel aufgetragenen Gebote und darüber hinaus neue Gebote, die durch inspirierte Exegese ermittelt wurden und von denen das Israel außerhalb des Jachad nichts wusste. Das Eherecht ist ein interessantes Beispiel für die Begründung von Normen in jachadischen Schriften: Die Damaskusschrift (CD 4,18f.) leitet das Verbot der Vielehe und der Wiederheirat nach Scheidung aus der Schöpfungsordnung ab . In vielen Fällen enthalten halachische Qumran-Texte die „alte“ Halacha, also das, was zur Zeit des Zweiten Tempels üblich und oft auch nicht zwischen den Religionsparteien umstritten war. Ein methodisches Problem ist, dass die rabbinische Literatur nicht zeitgenössisch mit den Qumrantexten ist, sondern jünger, und die darin überlieferten Konflikte zwischen Pharisäern und Sadduzäern wahrscheinlich kein historisch zuverlässiges Bild beider Positionen geben. Museen und Sammlungen Ein Großteil der Qumran-Fragmente wird im Rockefeller Museum (ehemals Palestine Archaeological Museum) in Ost-Jerusalem aufbewahrt. 1991 richtete die Israelische Altertümerbehörde hier ein Labor zur Konservierung der Fragmente ein. Der Schrein des Buches in West-Jerusalem, eine Abteilung des Israel-Museums, wurde eigens erbaut, um die großen Schriftrollen vom Toten Meer der Öffentlichkeit zu präsentieren. Er wurde am 20. April 1965 eröffnet. Die besondere Architektur soll den Besuch zu einem religiösen Erlebnis machen; die weiße Kuppel symbolisiere sowohl die aus jachadischen Schriften bekannten „Söhne des Lichts“ als auch die Wiedergeburt der israelischen Nation, so der Kurator Adolfo Roitman. Das Jordanische Nationalmuseum in Amman besitzt unter anderem die Kupferrolle (3Q15) und das Einzelblatt 4QTestimonia. Die Exponate geben einen Überblick über die verschiedenen Materialien und Gattungen der Schriftrollen. Sie befinden sich in der jordanischen Hauptstadt, weil sie vor dem Sechstagekrieg für eine Ausstellung vom Palestine Archaeological Museum nach Amman ausgeliehen wurden. Die Bibliothèque nationale de France in Paris erwarb 1953 Fragmente aus Höhle 1Q, darunter die Komposition Neues Jerusalem, mehrere Bibeltexte und Pescharim. Die Universitäten Heidelberg, Leuven und das University of Chicago Oriental Institute besitzen ebenfalls Qumran-Fragmente. Unter den Privatsammlungen mit Qumran-Fragmenten ist die Schøyen Collection in Oslo. Literatur Der Erforschung der Schriftrollen sind die Zeitschriften Revue de Qumrân (Paris, ab 1958), The Qumran Chronicle (Krakau, ab 1990), Dead Sea Discoveries (Leiden, ab 1994) und מגילות/Meghillot (Jerusalem, ab 2003) sowie die Monographienreihe Studies on the Texts of the Desert of Judah gewidmet. Editionen und Übersetzungen Das Team um Roland de Vaux edierte die Hauptausgabe der Schriftrollen vom Toten Meer: die Reihe Discoveries in the Judaean Desert. Der erste Band erschien 1955, noch bevor die Höhlen 7–11 entdeckt wurden. 1959 erschien Band 2 mit Material aus dem Wadi Murabba’at, 1962 Band 3 mit Material aus den Höhlen 2, 3, 5–10, darunter der Kupferrolle. 1965 erschien Band 4 mit der Psalmenrolle aus Höhle 11, 1968 Band 5 mit Texten aus Höhle 4. 1977 erschien Band 6 mit kleineren Texten und Targumim aus Höhle 4, 1982 Band 7 u. a. mit der Kriegsrolle. Parallel zu dieser sukzessiven Herausgabe veröffentlichten andere zum Teil unautorisiert einzelne Qumrantexte und Übersetzungen davon: 1955 gab John Allegro vorzeitig die Kupferrolle heraus, 1956 Yigal Yadin das aramäische Genesis-Apokryphon. Damit waren alle Schriften aus Höhle 1 veröffentlicht. 1960 gab Eduard Lohse eine erste deutsche Übersetzung einiger Qumrantexte heraus, 1964 folgte Johann Maier. 1962 erschien eine englische Übersetzung aller bisher bekannten Qumrantexte von Géza Vermes. 1976 publizierte Milik die ältesten aramäischen Fragmente zum Buch Henoch aus Höhle 4. 1982 erschien eine englische Übersetzung der Tempelrolle. 1984 gab Klaus Beyer alle aramäischen Texte aus den Qumranhöhlen heraus. Discoveries in the Judaean Desert. 40 Bände. Oxford University Press, New York 1955–2009, ISBN 0-19-924955-5. Johann Maier: Die Qumran-Essener – Die Texte vom Toten Meer. UTB, Reinhardt, München 1995, ISBN 978-3-497-01353-1. Band 1: Die Texte der Höhlen 1–3 und 5–11. ISBN 3-8252-1862-7. Band 2: Die Texte der Höhle 4. ISBN 3-8252-1863-5. Band 3: Einführung, Zeitrechnung, Register und Bibliographie. ISBN 3-8252-1916-X. Die Texte aus Qumran. Hebräisch/Aramäisch und Deutsch; mit masoretischer Punktation, Übersetzung, Einführung, und Anmerkungen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt Band 1: Eduard Lohse (Hrsg.): Die Schriften aus Höhle 1 und 4. 4. Auflage 1986 Band 2: Annette Steudel und andere (Hrsg.): Die Tempelrolle und andere Schriften, 2001, ISBN 3-534-11613-5. Géza Vermes: The Complete Dead Sea Scrolls in English. Penguin 1997, 2004, ISBN 0-14-044952-3. Hilfsmittel Reinhard G. Kratz, Annette Steudel, Ingo Kottsieper (Hrsg.): Hebräisches und aramäisches Wörterbuch zu den Texten vom Toten Meer einschließlich der Manuskripte aus der Kairoer Geniza. De Gruyter, Berlin / Boston Band 1: Aleph-Beth, 2017, ISBN 978-3-11-044128-4. Band 2: Gimmel-Zajin, 2018, ISBN 978-3-11-060292-0. Heinz-Josef Fabry, Ulrich Dahmen (Hrsg.): Theologisches Wörterbuch zu den Qumrantexten. Kohlhammer, Stuttgart Band 1: 2011, ISBN 978-3-17-020429-4. Band 2: 2013, ISBN 978-3-17-020430-0. Band 3: 2016, ISBN 978-3-17-020431-7. Überblicksdarstellungen, Fachlexika, Einführungen John J. Collins, Timothy H. Lim (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Dead Sea Scrolls. Oxford University Press, Oxford / New York 2010. ISBN 978-0-19-920723-7. Philip R. Davies, George J. Brooke, Phillip R. Callaway: Qumran. Die Schriftrollen vom Toten Meer. Theiss, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1713-0. Reinhard G. Kratz: Qumran. Die Schriftrollen vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums. C.H. Beck, München 2022, ISBN 978-3-406-78174-2. Lawrence H. Schiffman, James C. VanderKam: Encyclopedia of the Dead Sea Scrolls. Oxford University Press, Oxford u. a. Band 1: A – M, 2000, ISBN 0-19-513796-5. Band 2: N – Z, 2000, ISBN 0-19-513797-3. Daniel Stökl Ben Ezra: Qumran. Die Texte vom Toten Meer und das antike Judentum. Mohr Siebeck, Tübingen 2016. ISBN 978-3-8252-4681-5. James C. VanderKam: Einführung in die Qumranforschung. Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer. 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Brill Academic Publications, Leiden 1999, ISBN 90-04-11155-7. Weblinks Israelische Altertümerbehörde (IAA): The Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library Israel Museum in Jerusalem: The Digital Dead Sea Scrolls Hebräische Universität Jerusalem: The Orion Center for the Study of the Dead Sea Scrolls and Associated Literature Einzelnachweise Handschrift des Alten Testaments Handschrift des Israel-Museums (Jerusalem) ! Geschichte Israels
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https://de.wikipedia.org/wiki/El%20Greco
El Greco
El Greco ( ‚der‘, ‚Grieche‘; * um 1541 in Candia auf Kreta; † 7. April 1614 in Toledo); eigentlich Domínikos Theotokópoulos, () war ein Maler griechischer Herkunft und Hauptmeister des spanischen Manierismus und der ausklingenden Renaissance. Er war auch als Bildhauer und Architekt tätig. Seine künstlerische Arbeit begann auf Kreta mit der Ausbildung zum Ikonenmaler in der byzantinischen Tradition. Er siedelte nach Venedig über und kam mit der Kunst Tizians in Berührung, bevor er sich in Rom niederließ. Anschließend gelangte El Greco auf ungeklärte Weise nach Spanien und zog nach Toledo. Trotz einiger Konflikte konnte er sich dort durchsetzen und blieb bis zu seinem Lebensende. El Greco malte hauptsächlich Bilder mit religiösen Themen und Porträts. Hinzu kommen einige wenige Landschaften und Genrebilder. In Venedig und Rom adaptierte er westliche Bildthemen und künstlerische Techniken. So wandte er sich der Ölmalerei und Leinwänden als Malgrund zu. Gegen Ende seines Italienaufenthalts fand El Greco zu einer starken Körperlichkeit seiner Figuren, was sich in Spanien fortsetzte. Dort arbeitete er an großen Altarprojekten und fertigte Porträts einflussreicher Personen an. Für seine Altarbilder entwarf El Greco oft auch das architektonische Rahmenwerk. Seine Malerei entwickelte sich weg vom Naturalismus hin zu einem Individualstil, indem er versuchte, einen neuen Ausdruck für spirituelle Phänomene zu suchen, und sich in seinem Spätwerk zunehmend auch wieder auf seine Herkunft als Ikonenmaler bezog. El Greco bereicherte die katholische Bilderwelt um neue Themen und um eine Neuinterpretation bekannter Ikonographien. Seine Kunst wurde weniger vom Adel gefördert, sondern von Intellektuellen, Geistlichen und Humanisten unterstützt. Die Rezeption El Grecos fiel über die Zeit sehr unterschiedlich aus. Mit seinem Individualstil ging er einen sehr eigenen Weg, der von der Entwicklung der Malerei in Spanien weitestgehend unabhängig war. Nach seinem Tod wurde seiner Kunst wenig Wertschätzung zuteil und sie wurde zum Teil gar nicht beachtet. Eine langsame Wiederentdeckung El Grecos setzte im 19. Jahrhundert ein, um 1900 hatte er dann seinen Durchbruch. Dieser war weniger von der Kunstwissenschaft getragen, sondern von Schriftstellern, der Kunstkritik und der künstlerischen Avantgarde. Er wurde von Künstlern der Moderne, besonders des Expressionismus, als ein wichtiger Bezugspunkt gesehen und in Werken rezipiert. Zudem wurde er von spanischen Künstlern und Intellektuellen zur Stärkung der nationalen Identität herangezogen. Leben Kindheit und Berufsbeginn Domenikos Theotokopoulos, genannt ‚El Greco‘, wurde Ende 1540 oder im Jahr 1541 in Candia geboren, der damaligen Hauptstadt der Insel Kreta, heute Heraklion. Auch das 20 km entfernte Fodele beansprucht, der Geburtsort des Künstlers zu sein. Diese These ist aber heute widerlegt. Sein Geburtsjahr ergibt sich aus einem Dokument aus dem Jahr 1606, in dem sich El Greco als 65 Jahre alt bezeichnete. Kreta gehörte zur Zeit seiner Geburt zur Republik Venedig, für die sein Vater Georgios Theotokopoulos als staatlicher Steuereintreiber tätig war. Der Vater war zudem Händler, wie auch der ältere Bruder des Künstlers, Manoussos, der außerdem Seefahrer war. Die Familie stammte ursprünglich nicht aus Candia, wahrscheinlich wanderte der Vater in den späten 1520er-Jahren aus der Region um Chania ein. Weder über die Mutter El Grecos noch über seine erste griechische Ehefrau sind irgendwelche Informationen überliefert. Auch über die Kindheit El Grecos ist nichts bekannt. Die Familie gehörte zur Mittelklasse der Insel. Da in Candia die orthodoxe und die lateinische Kirche nebeneinander bestanden, ist es bis heute nicht klar, welcher der beiden Konfessionen die Familie El Grecos angehörte. Auf Kreta gab es eine Schule für Ikonenmalerei, die orthodoxe Tradition mit westlichen, über Druckgraphik aus Venedig auf die Insel gelangten Einflüssen verband. Die kretischen Werkstätten waren sowohl im östlichen Mittelmeerraum als auch in Venedig beliebt. In einer dieser Werkstätten erhielt El Greco seine künstlerische Ausbildung in der Tradition der kretischen Schule. Im Jahre 1563 wurde er in einem Dokument als Meister der Ikonenmalerei bezeichnet. Er muss ein anerkannter Künstler gewesen sein, denn 1565 schätzte der kretische Ikonenmaler Georgios Klontzas eine Passion Christi von ihm auf den hohen Preis von 70 Dukaten. Der zweite Gutachter, ein Priester, schlug sogar 80 Dukaten als Preis vor. Der Preis von 70 Dukaten lag in dem Bereich, der zu dieser Zeit für Bilder venezianischer Meister wie Tintoretto bezahlt wurde. Mit dieser preislichen Bewertung geht die Annahme einher, dass El Greco bereits vor seiner Abreise nach Venedig der am stärksten geschätzte Maler Kretas war, denn durchschnittlich erzielten die Künstler in Candia deutlich geringere Preise als Venezianer. Das früheste heute noch bekannte und von El Greco mit seinem bürgerlichen Namen signierte Werk ist ein Motiv der Entschlafung Mariens. Das 1567 gemalte Bild hängt seit etwa 1850 in der gleichnamigen Kirche von Ermoupoli auf der Insel Syros. Aufenthalt in Italien 1568 war El Greco in Venedig anwesend, was durch einen Brief vom 18. August 1568 belegt ist. Darin teilt er mit, dass er Zeichnungen an den griechischen Kartographen Giorgio Sideris, genannt Calapodas, geschickt habe. Sideris gehörte zu jenen Intellektuellen, die den langsamen Aufstieg El Grecos unterstützt hatten. Es ist möglich, dass der Kartograph sogar den Anstoß für die Übersiedlung nach Venedig gegeben hat. In der Forschung wird angenommen, dass El Greco bereits im Frühjahr oder Sommer des Jahres 1567 nach Venedig aufgebrochen war. Er hielt sich in Venedig drei Jahre lang auf und malte dort zahlreiche Bilder. Sie verbindet vor allem, dass El Greco sich den einheimischen Künstlern wie Jacopo Bassano, Jacopo Tintoretto und Tizian annäherte. An die Stelle des Goldgrundes setzte El Greco nun einen perspektivischen Raum, wobei er etwa auf Architekturtraktate wie das von Sebastiano Serlio zurückgriff. Zudem gab er die Temperamalerei auf, wandte sich der im Westen seit Jan van Eyck verbreiteten Ölmalerei zu und begann, Leinwände als Bildträger zu verwenden. Dennoch legte er bis zu seinem Lebensende viele seiner Gemälde noch mit Temperafarben an, vollendete sie dann jedoch mit Ölfarben. Für die Lichtgestaltung und Farbwahl El Grecos war der Aufenthalt in Venedig prägend. Im Jahre 1570 wies der Miniaturmaler Giulio Clovio seinen Mäzen Alessandro Farnese in Rom auf ein heute verlorenes Selbstporträt El Grecos hin, das die römischen Künstler erstaunt hätte, und empfahl, den Künstler im Palazzo Farnese in Caprarola aufzunehmen. Er legte El Greco seinem Mäzen als Schüler Tizians ans Herz. Dieser malte daraufhin ein Porträt Clovios, das vielleicht als Gegenleistung für die Empfehlung gedacht war. Im Palazzo Farnese lernte er etwa den bedeutenden Humanisten und Bibliothekar Fulvio Orsini kennen, in dessen Sammlung sich später sieben Werke El Grecos befanden. Möglicherweise lernte er über Orsinis Freund Pedro Chacón zudem den kirchlichen Würdenträger Luis de Castilla aus Spanien kennen, mit dem El Greco in der Folge eine enge Freundschaft verband. Im Haus der Farnese war El Greco wenig beansprucht, da dort vor allem Freskomaler gebraucht wurden. Zwar wurde die Mitarbeit eines griechischen Malers an den Fresken überliefert, es lässt sich ihm aber kein Werk zuordnen. El Greco suchte sich mit seinem verlorenen Selbstporträt, dem Porträt Clovios und weiteren Werken seine eigene Marktnische als Bildnismaler. Mit innovativen Bildnissen und anderen Bildexperimenten wie dem Genrebild eines eine Kerze entzündenden Jungen machte er sich einen Namen in den Kreisen römischer Gelehrter und Intellektueller. Auch suchte er in anderen Gattungen nach Anerkennung, musste sich in Rom jedoch der Konkurrenz vieler hochrangiger Maler stellen, die in der Tradition Michelangelos wirkten. Um sich abzusetzen und seine Fremdheit als Stärke zur Geltung zu bringen, berief sich El Greco auf Tizian. In diesem Kontext steht auch die von Mancini überlieferte Anekdote, nach der El Greco dem Papst angeboten habe, das kritisierte Jüngste Gericht von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle zu übermalen. Daraufhin habe er aufgrund der Kritik der römischen Maler die Stadt verlassen müssen. El Greco wurde aus dem Haus Farnese entlassen und beschloss, eigene Wege in Rom zu gehen. Am 18. September 1572 entrichtete er die zwei Scudi Aufnahmegebühr und trat somit der römischen Lukasgilde unter dem Namen Dominico Greco bei. Er eröffnete in der Folge eine eigene Werkstatt in Rom, wobei er zuerst von dem Sieneser Maler Lattanzio Bonastri da Lucignano unterstützt wurde. Etwas später trat Francesco Prevoste, der El Greco später nach Spanien begleitete, der Werkstatt bei. Über die Zeit von September 1572 bis zum Oktober 1576 liegen keine Dokumente vor, die Hinweise geben könnten, was El Greco in dieser Zeitspanne tat. Auch weshalb er Italien verließ, ist nicht bekannt. Erste Jahre in Spanien Für den Oktober 1576 ist die Anwesenheit El Grecos in Spanien nachgewiesen – wie er dorthin gelangte, ist nicht bekannt. Zwischen Rom und Spanien bestanden damals enge Kontakte. In Rom hielten sich viele Spanier auf, und zahlreiche italienische Künstler zog es auf die Iberische Halbinsel. Während seines Aufenthaltes bei den Farneses konnte El Greco Kontakte zu Spaniern wie zum Beispiel Luis de Castilla knüpfen. Über de Castilla erhielt El Greco mehrere Aufträge in Toledo, vor allem in der Anfangszeit seines Spanienaufenthaltes. Bevor er nach Toledo kam, hielt er sich wahrscheinlich kurzzeitig in Madrid auf, wo er sich eine Anstellung am Hof erhoffte. Genauere Informationen zu dieser Station existieren aber nicht. Auf Vermittlung von Diego de Castilla, dem Vater seines Freundes und Dekan der Kathedrale, schuf er einen Altar für die Zisterzienserinnenabtei Santo Domingo de Silos in Toledo. Er gestaltete nicht nur das Bildprogramm, das mit der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel als zentralem Bild zur Begräbniskapelle passte, sondern entwarf auch die Architektur des Retabels, seines plastischen Schmucks und des Tabernakels. Ebenfalls auf Vermittlung Diego de Castillas hin, der aber in diesem Fall nicht allein verantwortlich war, malte El Greco Christus wird seiner Kleider beraubt für die Kathedrale von Toledo. Dabei kam es zum Konflikt um den Preis und die Gestaltung des Gemäldes, wie es ihn in der Folge auch bei weiteren Gemälden gab. Der Gemäldepreis wurde in Spanien zu dieser Zeit nach Vollendung des Gemäldes durch vom Künstler und vom Auftraggeber beauftragte Gutachter festgesetzt. El Grecos Vertreter schlug den hohen Preis von 900 Dukaten vor, während die Vertreter der Kathedrale nur 227 Dukaten zahlen wollten. Die große Abweichung wurde damit erklärt, dass es Kritik am Bild gegeben habe. Üblicherweise hätte El Greco die Kritik nacharbeiten müssen, er weigerte sich jedoch, weil er sich als Schöpfer seiner Werke und nicht als bloßes ausführendes Organ seiner Auftraggeber sah. Der Konflikt ergab sich somit aus der unterschiedlichen sozialen Stellung des Malers in Italien und Spanien. Im September 1579 gab es in diesem Streitfall eine erste Einigung auf 317 Dukaten, die jedoch nicht lange hielt. 1585 gab es einen weiteren Kompromiss, nach dem El Greco auch den Rahmen gestalten sollte. Zwei Jahre später wurde nun der neue Preis von 535 Dukaten für Bild und Rahmen ausgehandelt. Dass der Rahmen in diesem Zusammenhang höher bewertet wurde als das Gemälde, lag in dem gegenüber der Malerei höheren Status der Skulptur im Spanien dieser Zeit. An der Ikonographie des Bildes veränderte El Greco im Laufe dieser Zeit nichts, obwohl das Bild weiterhin in der Hauptkirche des Bistums hing. Erfolgloses Streben an den Hof und Kontakte zur Inquisition Zwischen 1577 und 1579 malte El Greco die Anbetung des Namen Jesu, mit der er sich bei König Philipp II. empfehlen wollte. In diesem Bild brachte er den König direkt als Figur ein. Im Jahr 1578 bekam er mit seiner Lebensgefährtin Jerónima de las Cuevas, über die kaum Informationen überliefert sind, einen Sohn, der nach seinem Vater und Bruder Jorge Manuel genannt wurde. Die neuere Forschung zu El Greco geht davon aus, dass Jerónima de las Cuevas wahrscheinlich eher aus einer Handwerker-Familie und nicht, wie oft angenommen, aus dem Adel stammte. Die Beziehung dauerte nicht lange, da Jerónima de la Cuevas jung starb. In den Jahren 1580 bis 1582 malte El Greco Das Martyrium des heiligen Mauritius als Probebild für die Kirche des Escorial, um nach seinen Erfolgen in Toledo auch in Madrid bei Hofe Fuß zu fassen. In dieser Situation vollzog El Greco einen Stilwechsel vom Naturalismus hin zu einer Malerei, in der er nach gestalterischen Ausdrucksmöglichkeiten für Spiritualismus suchte. Der König verfolgte mit dem Bau des Escorial die Absicht, die Ideen des von ihm mitgeprägten Konzils von Trient umzusetzen. Zu diesem Zweck wollte er eigentlich Juan Fernández de Navarrete mit der Gestaltung sämtlicher Altäre betrauen. Navarrete starb jedoch, so dass neue Maler gesucht werden mussten. Vielleicht aufgrund des ersten Bildes, mit dem sich El Greco am Hof empfehlen wollte, der Anbetung des Namen Jesu, fasste der König den Griechen als möglichen Ersatz ins Auge. El Greco lieferte zwar ein kunstvolles Bild, doch es widersprach in seiner Wendung gegen den Naturalismus den Idealen des Konzils. Dieses Werk wurde zwar gut bezahlt und es kam nicht zu Korrekturen, dennoch erhielt El Greco keine weiteren königlichen Aufträge, da Philipp II. das Bild als für den Bestimmungsort ungeeignet empfand. Statt an dem geplanten Ausstellungsort auf dem Altar der Escorialkirche wurde das Bild an einem weniger prominenten Ort in der Kirche aufgehängt. Philipp II. erteilte Romulo Cincinato den Auftrag, ein Bild zum gleichen Thema anzufertigen. Dieser orientierte sich an der Komposition El Grecos, veränderte jedoch deren Schwerpunktsetzung. Für sein Werk erhielt Cincinato 500 Dukaten, während El Greco 800 erhalten hatte. Das Verhalten des Königs zeigte die aufkommende Unterscheidung zwischen Altar- und Sammlerbild. Insgesamt steht dieses Vorgehen den Anekdoten und Berichten über den starken Einfluss der Inquisition auf die Kunstproduktion in Spanien entgegen. Gerade mit Unterstützung aufgeschlossener Kirchenkreise konnte der Grieche El Greco in Spanien barocke Bildideen entwickeln, die sich andernorts erst im 17. Jahrhundert durchsetzen konnten. El Greco hatte zweimal Kontakt mit der Inquisition. Im ersten Fall arbeitete er an neun Terminen zwischen Mai und Dezember 1582 als Übersetzer bei einem Verfahren gegen einen griechischen Diener, der wegen Häresie angeklagt, jedoch freigesprochen wurde. Der zweite Kontakt hatte direkt mit El Greco und seiner Kunst zu tun. Nach dem Fehlschlag am Hof suchte der Maler unter der Geistlichkeit von Toledo neue Mäzene. Sein Probebild war das Porträt eines Kardinals, das Fernando Niño de Guevara zeigte, der um 1600 Großinquisitor in Toledo war. Letzte Lebensjahre in Toledo Die Zurückweisung in Madrid verstärkte El Grecos Bindung an Toledo. Am 10. September 1585 mietete er sich im Palast des Marques de Villena im ehemaligen jüdischen Viertel ein, wo er drei Wohneinheiten belegte und nach dem frühen Tod seiner Lebensgefährtin allein mit seinem Sohn wohnte. Dort lebte er bis 1590 und dann wieder ab 1604. Im Jahre 1589 wurde El Greco in einem Dokument als Bürger der Stadt bezeichnet. Am 18. März 1586 erteilte der Priester seiner eigenen Pfarrei den Auftrag für das Gemälde Das Begräbnis des Grafen von Orgaz. Zwischen 1596 und 1600 malte El Greco das Retabel für das Augustinerkolleg der Doña María de Aragón in Madrid. Für dieses Werk erhielt er mit 6000 Dukaten den höchsten Preis, den er je für ein Gemälde erzielen konnte. Am 9. November 1597 erhielt El Greco den Großauftrag, die Capilla de San José in Toledo auszugestalten, seinen bedeutendsten Auftrag in Toledo nach Santo Domingo el Antiguo. Der Vertrag umfasste die beiden Altargemälde sowie die Gestaltung und Vergoldung des Rahmens. Sein Sohn, der für ihn in diesem Jahr zu arbeiten begann, tauchte als Name in einem Dokument auf, in dem er sich verpflichtete, im Falle des Todes seines Vaters ein Werk zu vollenden. Ab 1603 findet sich der Sohn häufiger in Dokumenten zum Werkstattbetrieb. Trotz zahlreicher gut dotierter Aufträge befand sich El Greco oft in ökonomischen Schwierigkeiten, da er einen sehr gehobenen Lebensstil pflegte. So beschäftigte er zeitweise Musikanten, die ihn während der Mahlzeiten unterhielten. Zwischen 1603 und 1607 gab es Konflikte um das Bildprogramm für das Hospital de la Caridad in Illescas. Der Vertrag enthielt für El Greco ungünstige Konditionen, so dass ihm kaum seine Kosten erstattet wurden und ein Prozess notwendig wurde. Kritik rief unter anderem hervor, dass unter dem Schutzmantel der Madonna reiche Bürger anstatt arme gezeigt wurden. Nach dem Tod El Grecos wurden aus diesem Grund die Halskrausen übermalt. In dieser Zeit bildete er Luis Tristán aus, der nach El Grecos Tod zum bedeutendsten Maler von Toledo wurde und zwischen 1603 und 1606 als Schüler in El Grecos Atelier nachweisbar ist. 1607 übernahm El Grecos Sohn an Stelle des verstorbenen Prevoste eine leitende Position im Atelier. Vater und Sohn erhielten von der Erzdiözese Toledo Aufträge, die Ausstattung von Kirchen auf die Orthodoxie ihrer Bildprogramme zu untersuchen. Im Anschluss konnten sie sich mehrmals lukrative Aufträge sichern. Im folgenden Jahr übernahm El Greco von Pedro Salazar de Mendoza den Auftrag für drei Altarbilder für das Hospital de Tavera. Dieses Werk blieb jedoch unvollendet. 1611 besuchte Francisco Pacheco El Greco in Toledo. Er fertigte sowohl ein Porträt des Malers als auch eine Biographie an, die in seinem Buch über berühmte Maler erschien. Beide Zeugnisse sind heute verschollen. In seinem 1649 erschienenen Buch El arte de la pintura veröffentlichte Pacheco Informationen über die Arbeitsweise und künstlerischen Ideen El Grecos. Von ihm wurde überliefert, dass El Greco auch als Theoretiker arbeitete. Am 7. April 1614 starb El Greco. Zwei Griechen waren als Zeugen am Totenbett anwesend. Luis de Castilla regelte in der Folge seinen Nachlass. Zum Zeitpunkt seines Todes war El Greco hoch verschuldet. Er hinterließ kein Testament, was zur damaligen Zeit ungewöhnlich war. Beisetzung und Nachlass El Greco wurde zunächst im Kloster des hl. Dominikus von Silos bestattet, wo er 1612 die Einrichtung einer Begräbniskapelle mit Altar und dem Altarbild der Anbetung der Hirten vereinbart hatte. 1618 starb Luis de Castilla, der Patron des Klosters, und in der Folge kam es mit den Nonnen zum Streit über den Preis. Deshalb ließ der Sohn El Grecos dessen Leichnam 1619 nach San Torcuato umbetten. Diese Kirche wurde später abgerissen, wobei die sterblichen Überreste El Grecos verlorengingen. Jorge Manuel Greco erstellte ein Inventar des Besitzes seines Vaters, worunter sich 143 meist fertige Gemälde, unter anderem drei Laokoon-Versionen, 15 Gipsmodelle, 30 Tonmodelle, 150 Zeichnungen, 30 Pläne, 200 Druckgrafiken und über 100 Bücher befanden. Die Familie des Sohnes blieb in seinem Haus wohnen. 1621 wurde anlässlich der zweiten Hochzeit des Sohnes noch einmal ein Inventar des Besitzes von El Greco angefertigt. Werk El Greco malte viele religiöse Bilder und Porträts. Hinzu kamen einige wenige Genrebilder und Landschaften. Von seinen Zeichnungen haben sich nur wenige Exemplare erhalten. Sein Werk lässt sich in drei geographisch definierte Phasen unterteilen. Seine Anfänge auf Kreta waren in der Forschung lange umstritten. Heute ist es kunsthistorischer Konsens, dass El Greco dort seine künstlerische Laufbahn als Ikonenmaler begann. Die zweite Phase ist seine Zeit in Italien, wo er westliche Techniken und Kompositionen adaptierte. Er arbeitete in Venedig und Rom, bevor er nach Spanien übersiedelte. Dort fand er zu seinem eigenständigen Stil und schuf seine Hauptwerke. El Greco war ein technisch versierter Künstler, der hochwertige Materialien verwendete. Deshalb befinden sich seine Werke in der Regel in einem guten Erhaltungszustand. Er behielt von jedem Bild eine kleinformatige Ölreproduktion in seiner Werkstatt und griff Motive zu verschiedenen Zeiten erneut auf. Sein Beitrag zur künstlerischen Reform der katholischen Bilderwelt lag vor allem in der Formulierung neuer Bildthemen und Ikonographie und in der Abwandlung bereits bekannter Motive. Zudem experimentierte er mit einer neuen Bildsprache. Für sie besann er sich im hohen Alter erneut auf seine Wurzeln in der östlichen Ikonenmalerei und verknüpfte diese mit seinen westlichen Erfahrungen zu einem erfolgreichen Individualstil. El Greco maß der Zeichnung im Arbeitsprozess wohl eine wichtige Bedeutung zu. So ist es nicht verwunderlich, dass sich 1614 im Inventar seines Nachlasses 150 Zeichnungen befanden. Jedoch haben sich nur sehr wenige Zeichnungen El Grecos erhalten, da diesem Medium auf der Iberischen Halbinsel keine Bedeutung zugemessen und somit keine große Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Religiöse Bilder Kretische Phase Das früheste bekannte Gemälde El Grecos ist ein Marientod, den er um 1567 gemalt hat und der heute in der Kirche der Entschlafung Mariens in Ermoupoli auf der Insel Syros zu sehen ist. Er signierte das Gemälde mit Domenikos Theotokopoulos. Der Marientod lässt in seiner Konzeption erkennen, dass El Greco als Ikonenmaler ausgebildet worden war, jedoch löste er sich bereits von den typisierten Vorbildern, den zweidimensionalen und gleichen Formen folgenden Figuren samt Kleidung und dem aus dem Inneren der Form kommenden Licht. Die vom Heiligen Geist ausstrahlende Lichtaureole, in deren Zentrum sich eine Taube befindet, verbindet die schlafende mit der thronenden Madonna. Zudem neigt sich Christus in einer zärtlichen Geste. Ein weiteres auffälliges Detail sind die drei Kandelaber, die sich im Vordergrund befinden. Der mittlere weist an seiner Basis Karyatiden auf, die auf eine druckgraphische Vorlage verweist. Diese Bildelemente waren eigene künstlerische Beiträge des Malers, die über den bestehenden Bildtypus hinausgingen. Dass er das Bild signierte, war zudem ungewöhnlich, da Ikonen in der Regel nicht signiert wurden. Damit unterstrich er seinen humanistischen Anspruch und seine weiter gehenden künstlerischen Ambitionen. Ein weiteres Bild aus seiner kretischen Phase ist Der Heilige Lukas malt eine Ikone der Jungfrau mit dem Kind, das zwar stark beschädigt ist, aber immer noch Teile seiner Signatur trägt. Das zentrale Motiv des Evangelisten Lukas und der Maria in der Form einer Hodegetria malte El Greco in traditioneller byzantinischer Weise, während er in den Randmotiven neue Motive einführte wie etwa Malerwerkzeug, Renaissancestuhl und malerisch umgesetzte Engel. Die bekannten Werke, die El Greco auf Kreta schuf, weisen alle eine hohe künstlerische Qualität auf mit ihrer Lichtführung und dem starken Ausdruck. Zudem haben sie alle freihändige Vorzeichnungen. Die erste Werkphase war lange Zeit umstritten, da El Greco als Ikonenmaler nicht in den westlichen Kunstkanon passte. Harold E. Wethey ging etwa davon aus, dass sich El Greco erst in Venedig zum Künstler entwickelt hat. Zudem gab es auf Kreta zwei weitere Maler namens Domenikos. Erst als der Marientod gefunden wurde, der auch den Nachnamen Theotokopoulos trug, gab es ein eindeutiges Referenzwerk, das stilistische Vergleiche zweifelsfrei zuließ. In der aktuellen Forschung ist der Beginn der künstlerischen Laufbahn auf Kreta allgemein anerkannt. Italien In Venedig wandte El Greco sich der Ölmalerei zu und verwendete Leinwände als Bildträger. Wie dort üblich nutzte er grobe Leinwände, die mit ihrer plastischen Textur expressive Wirkungen unterstützten. Zuerst trug er eine dünne weiße Grundierung auf, über die er nochmals eine zweite Grundierung auftrug, die rosa bis dunkelrot gefärbt war. Dann trug er mit einem Pinsel und schwarzer Farbe die Konturen der Figuren als Vorzeichnung auf und setzte zudem mit Weiß Lichtpunkte und mit Schwarz und Karmin die dunkelsten Stellen über die ganze Bildfläche. Erst in einem weiteren Schritt wurde in einem komplexen Verfahren der eigentliche Farbauftrag vorgenommen. Die Formate blieben aber weiterhin eher klein, was auch der Auftragslage El Grecos geschuldet gewesen sein kann. Technisch blieb El Greco venezianisch geprägt. Am Übergang zwischen seiner byzantinischen und venezianischen Malweise steht der als Modena-Triptychon bekannte Tragealtar, dessen Auftraggeber wahrscheinlich aus einer kreto-venezianischen Familie stammte. Der Objekttypus mit den vergoldeten Rahmenteilen war im 16. Jahrhundert auf Kreta üblich, die Ikonographie ist jedoch deutlich westlich geprägt. Der Altar trägt die Signatur El Grecos und ist somit ein wichtiges Referenzwerk für die Beurteilung von Werken aus dieser Zeit. El Greco malte im Laufe seines Lebens mehrmals dasselbe Thema zu verschiedenen Zeiten. An diesen Bildern ist seine künstlerische Entwicklung nachvollziehbar. So malte er die erste Version der Blindenheilung in Venedig noch auf Holz. In ihr bezog er sich auf Bilder Tintorettos, aus denen er die Aufteilung in zwei Figurengruppen, den Fernblick und den in venezianischen Bildern beliebten Hund im Vordergrund entlehnte. Die Posen der Figuren beziehen sich auf verschiedene Druckgraphiken, die El Greco als Vorlagen nutzte. Die zweite Version entstand wahrscheinlich bereits in Rom und wurde auf Leinwand gemalt. Im Hintergrund ergänzte El Greco Ruinen, die Figuren ähnelten mehr antiken Skulpturen und Michelangelos Akten. Der nur leicht mit einem Tuch bekleidete Mann ähnelt dem Herkules Farnese. Zwar blieb El Greco in seinem Schaffen zeit seines Lebens venezianischen Einflüssen treu; er nahm jedoch zum Ende seines Romaufenthaltes und zu Beginn seines Aufenthaltes in Spanien Bezüge zu Michelangelo auf. So malte er in den frühen 1570er-Jahren eine Pietà auf Holz, die sich auf Michelangelos um 1550 entstandene Skulpturengruppe Pietà di Palestrina in Florenz bezog. Im Gegensatz zum Vorbild stellte El Greco an die Spitze der Komposition Maria. Er verlieh dem Bild eine Dramatik, die sich bis dahin nicht in seinen Werken fand und schon stärker in Richtung Barock wies. Die Christusfigur hatte für El Grecos Werke eine ungewöhnliche Körperlichkeit. Eine weitere Version der Pietà malte er auf Leinwand. Sie wirkt noch monumentaler und die Gewänder stärker ausgearbeitet, auch wenn sie am rechten Arm noch Probleme mit den Proportionen erkennen lässt. Formal hat das Gemälde bereits Parallelen zu den frühen in Spanien entstandenen Werken. Dass es aber dort entstanden sein soll, wird jedoch in der Forschung abgelehnt. Spanien Diese Entwicklung zur Körperlichkeit setzte El Greco in seinen ersten Aufträgen in Toledo fort. Dies ist am Altar für das Monasterio Santo Domingo el Antiguo in Toledo nachvollziehbar. Passend zur Aufstellung in der Begräbniskapelle ist das zentrale Bild eine Himmelfahrt Marias, das von den ganzfigurigen Bildern Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist eingefasst wird, sowie den Brustbildern Heiliger Bernhardt und Heiliger Benedikt. Im Giebelfeld befindet sich ein Bild des Schweißtuchs der Veronika und im folgenden Stockwerk mit der Heiligen Dreifaltigkeit ein weiteres großformatiges Bild. Der Hauptaltar wird von einer Anbetung der Hirten und der Auferstehung Christi als kleineren seitlichen Retabeln gerahmt. Dieser Altar war ein deutlich größerer Auftrag als seine von Kreta oder aus Italien bekannten Gemälde. El Greco bereitete die Arbeiten gründlich mit Vorzeichnungen vor. Eine Vorzeichnung von Johannes dem Täufer und zwei von Johannes dem Evangelisten haben sich erhalten. In den ersten Entwürfen positionierte er die beiden in Nischen und der Evangelist war im Profil dargestellt und blickte auf die Himmelfahrt. In der zweiten Zeichnung positionierte der Künstler ihn bereits so, wie er auch gemalt wurde. Bei der endgültigen Ausführung verzichtete El Greco jedoch auf den in der Zeichnung als Symboltier beigefügten Adler. Unter dem Einfluss Michelangelos fand El Greco zu einem sehr naturalistischen Stil mit monumentalen Figuren. Zudem folgte seine Farbwahl der römischen Schule und verlieh etwa der Himmelfahrt Marias eine große Leuchtkraft, während er bei der Heiligen Dreifaltigkeit die kontraststarken kalten Farbtöne Grün, Gelb und Blau verwendete und zudem Weiß in einer dominierenden Rolle im Bildzentrum einsetzte. Das architektonische Rahmenwerk, das El Greco entwarf, weist klare klassizistische Formen auf. Mit dem Martyrium des Heiligen Mauritius aus den Jahren 1580 bis 1582 vollzog El Greco den Wechsel vom Naturalismus hin zu einer Malerei, in der er nach einem gestalterischen Ausdruck für spirituelle Phänomene suchte. In den 1580er-Jahren wandte er sich immer mehr von den Regeln der Renaissance für Proportion und Perspektive ab. Statt lebende Modelle zu studieren, begann El Greco wie Tintoretto mit Tonmodellen zu arbeiten. Er ließ dem Licht eine deutlich stärkere symbolische Funktion zukommen, statt es bloß in natürlicher Weise zu verwenden. So entstanden starke Hell-Dunkel-Kontraste. Die verwendeten Farben wurden deutlich expressiver. Statt wie üblich den Fokus der Darstellung auf das Martyrium zu legen, zeigte El Greco vor allem das von rhetorischen Gesten begleitete Gespräch in Anlehnung an eine Sacra Conversazione. Der Stilwechsel wurde von El Greco auch in anderen Werken dieser Zeit vollzogen. Eines seiner bekanntesten Gemälde schuf El Greco mit dem Begräbnis des Grafen von Orgaz, das er 1586 bis 1588 malte und das später zu einem Hauptwerk zum Studium des Malers wurde. Das Bild ist in zwei Zonen aufgeteilt. Im unteren Teil stellte El Greco die Begräbnisfeier dar, die einem Begräbnis wie zu dieser Zeit in Toledo üblich nachempfunden worden war. Der Adelige wird von den Heiligen Stephanus und Augustinus in das Grab gelegt, womit sich der Künstler auf die Legende zum Begräbnis bezog. Rechts liest wahrscheinlich der Auftraggeber das Requiem. Die obere Zone zeigt den Himmel, in den die Seele des Verstorbenen als Kind von einem Engel eingeführt wird, die dem Weltenrichter sowie Johannes und Maria als seine Fürsprecher und weiteren Heiligen gegenübertritt. In diesem Bild verwendete El Greco Licht nur noch als symbolisches Element. Im Himmel malte er ein unruhig erscheinendes Streiflicht. Die untere Hälfte ist dagegen gut ausgeleuchtet wie eine Bühne, die dortigen Fackeln haben keine reale Lichtwirkung. Das Gemälde nimmt zum einen auf eine historische Begebenheit, die religiös verklärt wurde, Bezug, ist zum anderen aber auch ein Gruppenporträt. Ein Beispiel für ein von El Greco entwickeltes neues ikonographisches Thema ist die reuige Heilige in Halbfigur, das bereits in den folgenden Barock verweist. Eine einzelne Heiligenfigur wurde isoliert und monumental dargestellt und bot dem Betrachter die Möglichkeit, die Figur als gefühlsmäßigen Ansprechpartner zu sehen. Diese Bilderfindung kann als revolutionär eingeschätzt werden. Beispiele sind etwa Die büßende Magdalena, die im Gegensatz zu dem gleichnamigen Bild Tizians jedoch ohne erotische Bezüge auskommt, oder Der reuige Heilige Petrus. Ebenso populär waren Bilder des Heiligen Franziskus. El Greco malte Franziskus nicht wie bis dahin üblich beim Empfang der Wundmale Christi, sondern bei der Reflexion mit einem Totenkopf. Von dieser Bildidee gibt es noch etwa 40 erhaltene Versionen. Pacheco lobte, dass El Greco die in den Chroniken überlieferte Gestalt des Ordensgründers besonders gut dargestellt habe. Die Vielzahl der Bilder dieses Themas lag in der Popularität des Franziskus in Spanien begründet. Zudem setzte El Greco, wie er es aus Italien kannte, auf die druckgraphische Verbreitung, um seine Komposition zu popularisieren. Er ließ das Franziskus-Gemälde von seinem Schüler Diego de Astor nachstechen. Neben neuen Bildideen erneuerte El Greco die katholische Bilderwelt mit stilistischen Innovationen. Zum einen bezog er sich auf seine Wurzeln als kretischer Ikonenmaler wie beim Das Begräbnis des Grafen von Orgaz, das sich etwa in der Komposition auf den frühen Marientod bezog. Auf der anderen Seite zeigt sich bei einer späten Version der Tempelreinigung von 1610 bis 1614 eine hohe Abstrahierung von der Naturbeobachtung. Die Bewegung und das Licht sind in solchem Maße gesteigert, dass sie teils als „expressionistisch“ charakterisiert wurden. Das Visionäre von El Grecos Kunst lässt sich auch in dem Gemälde Die Öffnung des fünften Siegels, das die Vision des Evangelisten Johannes zum Thema hat und ein Fragment eines späten Altarprojekts war, entdecken. Im Gegensatz zu anderen Bildern, die diese Vision thematisieren, integrierte El Greco den Heiligen in das Bild und verschob somit die Bedeutung von der Darstellung des erschienenen Ereignisses hin zum Moment der Erscheinung selbst. In diesem Bild erreichte die Entmaterialisierung der Form bei El Greco ihren Höhepunkt. Erst 1908 wurde die Thematik des Bildes erkannt und hat sich in seiner Bestimmung durchgesetzt. Zuvor existierten zahlreiche Interpretationen. Der obere Teil des Gemäldes ist verloren und die Stellung im geplanten Gesamtensemble ist nicht zu rekonstruieren. Visionen, wie hier eine von El Greco gemalt wurde, sind ein häufiges Thema in der spanischen Barockmalerei. Deshalb ist dieses Gemälde kein isoliertes Werk, sondern steht im Kontext der spanischen Malereientwicklung und verwies auf sie voraus. Zwischen 1610 und 1614 malte El Greco drei Versionen des Laokoon, die sein Atelier nicht verließen und nach seinem Tod im Inventar verzeichnet wurden. Nur eine Version ist erhalten geblieben. Es handelt sich um das einzige mythologische Werk El Grecos und steht in einer reichen Bildtradition, die auf Vergils Aeneis und auf der 1506 in Rom entdeckten Plastik des Laokoon basierte. Das Bild konnte der Künstler vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen, weshalb die Figuren am rechten Bildrand nicht vollständig ausgeführt wurden. Bei einer Restaurierung wurden 1955 die Pentimenti freigelegt, so dass nun ein dritter Kopf und ein fünftes Bein in der rechten Figurengruppe zu sehen sind. Diese Figuren wurden unterschiedlich interpretiert, unter anderem als Adam und Eva, womit El Greco eine Synthese von Mythos und Religion geschaffen hätte. An Stelle Trojas setzte der Maler seine Heimatstadt Toledo ins Bild. Porträts El Greco war ein anerkannter Porträtmaler. Seit seinem Aufenthalt in Italien bis in seine letzten Lebensjahre fertigte er Bildnisse an, die ihm ein regelmäßiges Einkommen sicherten. Kurz nach seiner Übersiedlung nach Rom um 1570 malte er das Porträt von Giulio Clovio, das den anerkannten Miniaturmaler als Halbfigur mit dem Stundenbuch der Farnese in seiner Hand zeigt. Das Fenster am rechten Bildrand zeigt einen Ausblick auf eine Landschaft mit stürmischem Himmel. Das Querformat dieses Porträts ist ungewöhnlich für ein Porträt. Eines der herausragendsten Beispiele für El Grecos Bildnismalerei ist das Ganzfigurenporträt des Malteserritters Vincenzo Anastagi, das 1571–1576 entstanden ist. Der Ritter ist mit samtener Pluderhose und Brustpanzer vor einem dunklen Vorhang dargestellt. Der Raum, in dem ein Helm auf dem Boden liegt, ist sehr kahl und durch das Licht modelliert. Ein weiteres Porträt aus dieser Zeit, das El Greco zugeschrieben wird, ist das Bildnis von Charles de Guise, Kardinal von Lothringen aus dem Jahr 1572. Der sitzende Kardinal hält mit seiner rechten Hand ein Buch offen, in dem das Entstehungsjahr und das Alter des Dargestellten angegeben sind. Der Papagei im Fenster soll die Ambition des Kardinals auf das Amt des Papstes aufzeigen. In Toledo malte El Greco um 1600 mit Ein Kardinal (der Großinquisitor Fernando Niño de Guevara) ein sehr ähnliches Gemälde. Der Porträtierte trägt eine Bügelbrille, die zu der Zeit sehr modern und noch umstritten war. Dieses Attribut weist den Kardinal als dem Neuen aufgeschlossen aus, ebenso wie seine Wahl, El Greco als Künstler zu engagieren. In Toledo war El Greco ein bedeutender Porträtmaler, der künstlerisch herausragend arbeitete. Das Bildnis eines Edelmannes mit der Hand auf der Brust aus den Jahren 1583 bis 1585 hat eine in der venezianischen Tradition stehende sehr reiche Farbigkeit des Hintergrundes und der Kleidung. El Greco nutzte für das Bild im Gegensatz zu den Madrider Hofmalern eine offene Malweise in der Tradition von Tizian, bei der im vollendeten Bild der Pinselstrich noch immer erkennbar ist. Die Haltung des Dargestellten mit seiner Schwurgeste ist streng. El Greco verzichtete abgesehen vom goldenen Knauf des Degens gänzlich auf Symbolik. Er porträtierte wichtige Persönlichkeiten Toledos wie den Mönch Hortensio Félix Paravicino y Arteaga, Antonio de Covarrubias und Jerónimo de Cevallos. In seinem Spätwerk findet sich zudem das Porträt des Kardinal Tavera, der unter Karl V. Großinquisitor und Regierungschef von Kastilien und zum Zeitpunkt des Malens bereits über ein halbes Jahrhundert tot war. Genre Ein kleiner Teil des Werks El Grecos lässt sich der Genremalerei zuordnen. Mit dem Bild Knabe, der eine Kerze entzündet, verwirklichte er eine originelle Bildidee, die er in verschiedenen Versionen und Kopien ausführte. Das in den frühen 1570er Jahren entstandene Gemälde, von dem sich eine Version in der Sammlung Farnese erhalten hat, war wahrscheinliche eine Ekphrasis nach einem Vorbild aus der Antike. Es gab zudem einige Vorläufer in der venezianischen Malerei, wo ein solches Motiv aber in einen größeren erzählerischen Kontext eingebunden worden war. El Greco isolierte eine einzelne Figur, die durch die Lichtregie und die Perspektive von unten in eine besondere Nähe zum Betrachter gesetzt wurde. Dieses Bild sicherte ihm in Rom eine eigene kleine Nische. Landschaft In seinem Spätwerk fertigte El Greco einige wenige Landschaftsgemälde an und ließ Elemente aus ihnen in andere Werke einfließen. So malte er in den Jahren 1597 bis 1599 die Ansicht von Toledo, in der er zum einen auf die bedeutende Geschichte der Stadt und die zu dieser Zeit erfolgten städtebaulichen Neuerungen Bezug nahm. Er schuf eine eigenwillige Sicht auf die Stadt, die sich stark von anderen Darstellungen unterschied und sich nicht um historische Treue bemühte. El Greco malte eine Sicht auf den östlichen Teil der Stadt mit dem Palast, der Alcántara-Brücke, der Burg von San Servando und dem nach rechts versetzten Glockenturm der Kathedrale. Damit steigerte er den Anstieg des Stadtberges in dramatischer Weise. Er ließ zudem die Stadtmauer weg und veränderte im Bild den Flusslauf im Vordergrund. Das höchstgelegene Gebäude auf der rechten Seite ist der Alcázar, das Gebäude unter ihm mit dem Arkadengeschoss als Abschluss entspricht keinem realen Gebäude in Toledo. Es wurde als symbolischer Verweis auf die vielen Stadtpaläste reicher Bürger gedeutet. In einem weiteren Gemälde Ansicht und Plan von Toledo, das zwischen 1610 und 1614 entstand, verlieh der Maler der Stadt eine innere Leuchtkraft, die sie von ihrer realen Existenz in die Richtung des Himmlischen Jerusalem entrückte. Auch in dem Altargemälde Der Heilige Joseph mit dem Christuskind, das zwischen 1597 und 1599 gemalt wurde, und in weiteren Heiligenbildern nahm El Greco in der Landschaft Bezug auf Toledo. Auch im Hintergrund seines Laokoon ist eine Ansicht von Toledo zu sehen. Skulptur El Greco entwarf für viele seiner Altargemälde zudem das architektonische Rahmenwerk und den Skulpturenschmuck. Damit verschaffte er sich zusätzliche Einnahmen, vor allem den Umstand nutzend, dass damals die Skulptur in Spanien höher geschätzt und besser entlohnt wurde als die Malerei. Jedoch führte er diese Skulpturen meist nicht persönlich aus, sondern beauftragte andere Bildhauer. Dennoch stellte er wohl vor allem kleinere Skulpturen in verschiedenen Techniken her, die er meist als Modelle nutzte, wie er es bei Jacopo Tintoretto kennengelernt hatte. Diese Figuren aus Gips, Wachs oder Ton waren jedoch nicht sehr haltbar und gingen im Laufe der Zeit verloren. Daneben gab es eine Holzfigur, die sich im Besitz des Sohnes befand und zu Andachtszwecken genutzt wurde. Es sind nur wenige Skulpturen El Grecos erhalten geblieben, zu denen zudem nur wenige Erkenntnisse vorliegen. Sie bezeugen vielfältige Einflüsse und sind damit für das Werk des Künstlers charakteristisch. Zu den heute noch erhaltenen Skulpturen zählen Epimetheus und Pandora, die zwischen 1600 und 1610 geschaffen wurden. Als Aktfiguren sind sie für die spanische Kunst der Renaissance ungewöhnlich. Zudem war das mythologische Thema nicht üblich, entsprach jedoch der humanistischen Bildung des Künstlers und seines Umfeldes in Toledo. Zudem wurde der Mythos von Epimetheus und Pandora zu dieser Zeit als heidnische Version von Adam und Eva interpretiert. Technisch führte El Greco sie in spanischer Tradition in polychromatischem Holz aus. Von der Gestaltung her ähneln die Figuren dem Manierismus von Alonso Berruguete, jedoch ist die Darstellung der Körper zugleich eine individuelle Gestaltungsweise El Grecos, die sich auch in seiner Malerei findet. Eine weitere erhalten gebliebene Skulptur ist ein Auferstandener Christus, den El Greco um 1595/1598 schuf. Sie war Teil des Tabernakels des Hauptaltars im Hospital de San Juan Bautista in Toledo. Die Haltung ähnelt gemalten Christusfiguren El Grecos dieser Zeit. Der männliche Akt war für das Spanien des 16. Jahrhunderts ein ungewöhnliches Sujet, wie etwa Harold E. Wethey betonte. Somit ging El Greco auch in der Skulptur seinen eigenen künstlerischen Weg. Kunst- und Architekturtheorie Neben seiner künstlerischen Tätigkeit setzte sich El Greco auch mit der Kunst- und Architekturtheorie auseinander. Seine Überlegungen sind aber nur in Fragmenten als Annotationen in Büchern aus seiner Bibliothek überliefert. Sie zählen zu den wertvollsten handschriftlichen Dokumenten El Grecos. Im 17. Jahrhundert kursierte in Spanien ein Traktat El Grecos mit seinen theoretischen Überlegungen, welches der Künstler dem König präsentiert hatte. Diese Schrift ist jedoch verlorengegangen. Die heute bekannten Überlegungen finden sich als Anmerkungen in einer Ausgabe von Giorgio Vasaris Viten und Vitruvs De architettura aus der Bibliothek des Künstlers. Insgesamt umfassen die Äußerungen El Grecos 18.000 Wörter, 7.000 zu Vasari, 11.000 zu Vitruv. Im Hinblick auf seine Position in Spanien ist bemerkenswert, dass er die religiöse Funktion der Kunst in den bekannten Äußerungen nicht behandelte. Hingegen stellte El Greco die Autonomie des Künstlers in Bezug auf die Gestaltung des Bildes heraus. Er betonte die Erkenntnisabsicht der Malerei in Hinblick auf Philosophie und Naturalismus. In seinen Anmerkungen setzte er sich von der mathematisch-theoretischen Richtung ab, die stark auf ein Studium der Proportionen abzielte. Außerdem wandte sich El Greco gegen den Klassizismus, der in der Tradition Michelangelos in Spanien populär geworden war. Die Viten forderten den Maler zur Stellungnahme heraus. Er lobte Tizian, während er Michelangelos Farbbehandlung und Raffaels starke Antikenrezeption kritisierte. Zudem lehnte El Greco Vasaris Modell des Verlaufs der Kunstgeschichte ab, das die byzantinische Kunst, aus deren Tradition El Greco selbst stammte, als plump und der italienischen Kunst unterlegen betrachtete. Rezeption Die Rezeption El Grecos fiel im Laufe der Zeit sehr unterschiedlich aus. Er wurde nicht vom Adel gefördert, sondern stützte sich vor allem auf Intellektuelle, Geistliche, Humanisten und andere Künstler. Nach seinem Tod wurde seiner Kunst wenig Wertschätzung zuteil und sie wurde zum Teil gar nicht beachtet. Seine langsame Wiederentdeckung setzte im 19. Jahrhundert ein, um 1900 hatte El Greco dann seinen Durchbruch. Dieser war weniger von der Kunstwissenschaft getragen, sondern von Schriftstellern, der Kunstkritik und der künstlerischen Avantgarde. Zeitgenössische Rezeption El Greco war die herausragende Künstlerpersönlichkeit im Spanien von Philipp II. und Philipp III. Sowohl künstlerisch als auch mit seinem Auftreten, mit dem er sich als Künstler ins Zentrum seines Schaffens rückte, wirkte er revolutionär, was bei seinen Zeitgenossen zum einen Bewunderung, zum anderen aber auch Ablehnung hervorrief. Er suchte nach neuen Ausdrucksformen und reformierte die Ikonographie und die Bildthemen der religiösen Malerei. Zu seinem Lebensende hin wandte er sich in seiner Kunst wieder seinen Anfängen als kretischer Ikonenmaler zu und ließ sich damit insgesamt nur schwer in die spanische Kunst des beginnenden 17. Jahrhunderts einordnen. Selbst sein Sohn setzte seinen Individualstil nicht fort. Dennoch wirkte sein Werk als Vorbereitung des Barock. Aufgrund seines Werkes und Auftretens war El Greco zu Lebzeiten bereits eine Berühmtheit, ihm wurde jedoch abseits seiner Porträts und seiner koloristischen und naturalistischen Werke wenig Wertschätzung zuteil. Zeitgenössische Zeugnisse stammten etwa von Alonso de Villegas, Francisco de Pisa und dem Italiener Giulio Mancini, dessen um 1615 entstandene Aufzeichnungen jedoch erst 1956 publiziert wurden. Auch Pacheco hatte El Greco in Toledo besucht. Er malte ein Porträt von ihm und schrieb eine Biographie, die jedoch beide verloren gingen. Der Mönch Hortensio Félix Paravicino y Arteaga lobte El Greco in seinem 1641 erschienenen Werk Obras postumas, divinas y humanas. In ihm befand sich ein Sonett, in dem er das von ihm geschaffene Porträt seiner selbst pries. In vier weiteren Sonetten lobte er zudem allgemein die Kunst El Grecos. Forschungsgeschichte Auf Basis der Zeugnisse direkter Zeitgenossen schrieb der Maler und Kunstschriftsteller Palomino El Greco zu, dass dieser mit der Weigerung, die Handwerkssteuer zu zahlen, dazu beigetragen habe, dass die Malerei in Spanien zu den „freien Künsten“ aufstieg. Zwar ging es dem Künstler dabei vor allem um seinen eigenen finanziellen Vorteil, dennoch trug sein Auftreten dazu bei, dass die Bildende Kunst in Spanien sich aus dem Handwerk zu lösen begann. Zugleich kritisierte Palomino das Spätwerk von El Greco, der sich im Versuch, sich von Tizian abzusetzen, weniger kräftigen Farben und verrenkten Zeichnungen zugewandt habe. Trotz der zeitlichen Nähe zu El Greco, der noch keine hundert Jahre tot war, überlieferte Palomino jedoch auch größere Fehlinformationen. 1776 schrieb Antonio Ponz in seinem Werk Reise durch Spanien, in dem er die Kunstschätze Spaniens verzeichnete, über El Grecos Altar für die Kathedrale von Toledo, dass „schon allein diese Gemälde ausreichen, um El Greco unter den Malern den höchsten Ruhm zu sichern.“ Auf Palominos Beschreibung baute im Jahre 1800 Juan Agustin Ceán Bermúdez auf, der einige weitere Informationen aus dem Monasterio de Santo Domingo de Silos (el Antiguo) hinzufügte. Das Schaffen El Grecos ordnete er zwischen Verrücktheit und Vernunft ein. In den 1840er Jahren veröffentlichte William Stirling-Maxwell die erste Publikation mit einer Abbildung eines Gemäldes von El Greco. Infolge der Wiederentdeckung El Grecos durch Maler und Künstler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gab es zahlreiche Veröffentlichungen, die sich oftmals weiter von der historischen Realität entfernten. Autoren und Philosophen wie Maurice Barrès, Benito Pérez Galdós, Gregorio Marañón, Max Raphael, Carl Einstein, Julius Meier-Graefe und Rainer Maria Rilke näherten sich El Greco auf einer eher subjektiven Ebene und versuchten, neue Interpretationen abseits der bis dahin allgemein anerkannten Positionen zu finden. Hinzu kam, dass die Kunstgeschichte als Fach in Spanien noch nicht so gut entwickelt war. Nach historischem Erkenntnisgewinn strebten andere Autoren wie etwa Elías Tormo, Fracisco Navarro Ledesma, Max Dvořák und Carl Justi. Justi, der ein Pionier der Spanienforschung in der Kunstgeschichte war, stand El Grecos Werk eher kritisch gegenüber, schätzte jedoch dessen Porträts. Einige Kunstkritiker erklärten den Stil des Spätwerks mit einer Augenkrankheit. Jedoch zeigen die detailliert ausgeführten Gemälde eindeutig El Grecos Kunstwollen. 1910 veröffentlichte der Kunstkritiker Julius Meier-Graefe sein Buch Spanische Reise, in dem er El Greco besonders lobte. Damit begleitete er einen wichtigen kunstkritischen Orientierungswechsel weg vom Impressionismus und hin zum Expressionismus. Für Meier-Graefe hat El Greco besondere Kraft aus seinem Mangel an Heimat gezogen. Seine scheinbaren Defizite im westlichen Kunstzusammenhang als byzantinisch ausgebildeter Ikonenmaler habe er zu seiner Stärke entwickelt und somit einen starken Individualstil gefunden. Zwischen 1911 und 1931 arbeitete August Liebmann Mayer an seinem Werk zu El Greco, in dem er historische Fakten mit seiner Kennerschaft verband. Er stand in engem Kontakt mit dem Kunsthändler Tomás Harris. Die Zahl der Werke El Grecos war umstritten und die Zuschreibungen veränderten sich im Laufe der Zeit. Immer mehr Werke wurden ihm zugeschrieben. Manuel Bartolomé Cossío erweiterte das Gesamtwerk des Malers von 1908 bis 1928 von 174 Gemälden erst auf 235 und dann auf 383. Mayer erweiterte die Zahl von 191 im Jahr 1911 auf 357 im Jahr 1931, zugleich stieg für ihn die Anzahl der Varianten von 145 auf 408. In den beiden Katalogen von 1950 und 1970 von José Camón Aznar wurden 803 Werke El Greco zugeordnet, während Harold E. Wethey in den 1960er Jahren deutlich strengere Händescheidung vornahm und so auf nur 285 gesicherte Werke kam. Die Zuschreibung zu El Greco mit der Händescheidung zwischen eigenhändigen Werken, Werken des Sohnes und Atelierarbeiten erwies sich als schwierig und kompliziert. In den 1930er Jahren kam zudem das künstlerische Werk auf Kreta hinzu, das anfangs kaum zur Kenntnis genommen wurde und umstritten war. Erst infolge der Entdeckung des Marientods 1983 auf Syros, der mit El Grecos vollständigem griechischen Namen signiert ist, setzte sich langsam die Anerkennung des kretischen Werkteils in der Kunstgeschichte durch. Sie wird von der Mehrheitsmeinung getragen, es blieben aber einzelne ablehnende Positionen etwa von Wethey und Jonathan Brown bezüglich des Modena-Triptychons. Problematisch bezüglich der Zuschreibung ist auch, dass El Grecos Werke ein beliebtes Handelsgut sind. Infolge der Desamortisation des Kirchenbesitzes 1935 und der Ausstellungen und Publikationen um 1900 wurden Werke des Malers beliebte Sammelobjekte. Damit liegt ein Interesse an der Zuschreibung zu El Greco auch bei unklaren und umstrittenen Werken vor. Hinzu kamen Restaurierungen, die mit der Maßgabe ausgeführt wurden, den Bildern eine expressionistische Ausdrucksweise zu verleihen, um damit den Geschmack des Publikums zu treffen. Die Quellenlage zu El Greco hat sich mit der Zeit stark verbessert. Zu seiner Zeit in Spanien gibt es über 500 Dokumente. Mittlerweile sind auch vier Dokumente zu seiner Zeit auf Kreta, eines zu seinem Venedig-Aufenthalt und fünf zu seinem Aufenthalt in Rom bekannt. Zudem wurden einige theoretische Überlegungen El Grecos bekannt, die er als Anmerkungen in Büchern aus seinem Besitz hinterließ. Künstlerische Rezeption Bildende Kunst El Greco wurde bereits im 17. Jahrhundert in geringem Umfang künstlerisch in Spanien rezipiert, auch wenn sich keine Nachfolge in seinem Individualstil ausbildete. Diego Velázquez besaß drei Porträts von El Greco und lehnte sich in seiner Modellierung durch Licht an dessen Malweise an. Die römische Barockkunst nahm die Existenz der Kunst El Grecos jedoch kaum zur Kenntnis. In Spanien wurden besonders während des Klassizismus und der Aufklärung um 1800 die Werke El Grecos abgelehnt und der Künstler etwa aus dem Umfeld Goyas heraus kritisiert. Der erste Schritt zur Aufwertung des Schaffens El Grecos war 1838 die Eröffnung der Spanischen Galerie im Louvre durch König Louis-Philippe I. In ihr wurden neun Gemälde des Künstlers präsentiert. Aber erst um 1900 wurde El Greco durch spanische Intellektuelle und Künstler, die auf der Suche nach einer nationalen Identität waren, als für Spanien typischer Maler rezipiert. Dabei nahm Ignacio Zuloaga eine führende Rolle ein. Er kopierte 1887 erste Werke El Grecos im Museo del Prado und adaptierte dann einige seiner Motive in eigenen Werken. 1905 erwarb er Die Öffnung des fünften Siegels, das er als „Vorbote der Moderne“ bezeichnete, und verwendete es als Hintergrund in seinem Bild Mis amigos, in dem er einige der wichtigsten Schriftsteller seiner Zeit porträtierte. Beeinflusst von Zuloaga kaufte Santiago Rusiñol 1893 in Paris zwei Werke El Grecos und inszenierte den Transport in sein Haus in Spanien als symbolische Überführung der Werke nach Spanien. Pablo Picasso hatte diese Wiederentdeckung El Grecos in Barcelona und Madrid selber erfahren. In seiner ersten wichtigen Arbeitsphase, der Blauen Periode, verwies sein Bild Das Begräbnis von Casagemas auf Das Begräbnis des Grafen Orgaz. Eine Zeichnung Picassos trug sogar den Titel Yo El Greco („Ich El Greco“). In der Rosa Periode griff er in seinem als Skandal aufgenommenen Gemälde Les Demoiselles d’Avignon Motive aus Die Öffnung des fünften Siegels auf. Auch in den 1950er Jahren setzte sich Picasso in seiner Kunst noch mit El Greco auseinander. In Frankreich kopierte zudem etwa Paul Cézanne Die Dame mit dem Hermelin nach einer Reproduktion, als diese noch eindeutig El Greco zugeschrieben wurde. Julius Meier-Graefe schrieb außerdem von einer inneren Verwandtschaft zwischen Cézanne und El Greco, was in der Folge etwa von Rilke oder von Franz Marc in Der Blaue Reiter aufgegriffen wurde. Das Interesse der französischen Künstler an El Greco war insgesamt groß. Édouard Manet reiste zusammen mit Théodore Duret 1865 nach Toledo. Jean-François Millet und dann Edgar Degas besaß das Porträt Kniender Domingo. Bei Eugène Delacroix findet sich unter anderem eine Pietà, die an El Grecos Komposition angelehnt ist und die wiederum von Vincent van Gogh aufgegriffen wurde. Auch Marcel Duchamp setzte sich zum Ende seines malerischen Werkes etwa mit den Bildern Portrait (Dulcinée) und Le Printemps (Jeune homme et jeune fille dans le printemps) aus dem Jahr 1911 mit El Greco auseinander. In Deutschland hatte Julius Meier-Graefes Buch Spanische Reise bedeutenden Einfluss auf die El-Greco-Begeisterung und beeinflusste die Künstler der Moderne. Karl Hofer ging auf sein Anraten nach Paris, wo er sich gegen Ende seines Frühwerks auch intensiv mit der Malerei des Spaniers auseinandersetzte. Ein weiterer wichtiger Impuls war die Ausstellung der Sammlung des Ungarn Marcell Nemes 1911 in der Alten Pinakothek in München, in der acht Werke El Grecos gezeigt wurden, ergänzt um das eine im Besitz des Museums und die Leihgabe des Laokoon aus Privatbesitz. Die Präsentation wurde etwa von Paul Klee sehr positiv rezipiert. Sie löste auch direkte künstlerische Beschäftigung mit El Greco aus wie etwa bei Antonín Procházka, Emil Filla und Franz Marc. Im unter anderem von Marc verantworteten Almanach Der Blaue Reiter wurde dann auch El Grecos Heiliger Johannes auf einer Doppelseite mit dem Tour Eiffel von Robert Delaunay, die sich beide in der Sammlung von Bernhard Koehler befanden, gezeigt. Marc betont zudem den Zusammenhang zwischen der Wertschätzung für El Greco und dem Aufstieg der zeitgenössischen Kunst. Dieser ideelle Einfluss ist bei Marc deutlich stärker als ein künstlerischer Niederschlag, was auch für August Macke gilt. Die Gegenüberstellung von Delaunay und El Greco ist einschlägig, da dieser den Spanier als einen Einfluss benennt. Sein Gemälde La Ville de Paris greift die rechte Figurengruppe des Bildes Die Öffnung des fünften Siegels auf. Im Jahre 1912 setzte sich die Befruchtung der Moderne durch El Greco im Rheinland fort. In Köln fand die Sonderbundausstellung statt, die eine besondere Bedeutung für die Avantgarde hatte, und war mit einer Hommage an El Greco verbunden. Wie viele und welche Bilder dort gezeigt wurden, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wahrscheinlich waren es zwei im Kontext einer retrospektiven Schau mit Werken von für die Moderne wichtigen Künstlern. Zugleich wurde in der Kunsthalle in Düsseldorf die Sammlung Nemes gezeigt, in der auch die zehn Grecos ausgestellt wurden. Bei Walter Ophey, Wilhelm Lehmbruck und Heinrich Nauen, die an der Sonderbundausstellung teilnahmen, ist die Auseinandersetzung mit El Greco nachgewiesen. Bei anderen ist eine solche erkennbar. Die Rezeption El Grecos setzte sich auch abseits der klassischen Moderne fort. Das Frühwerk von Jackson Pollock war von seiner Beschäftigung mit der Kunst der Renaissance beeinflusst. In den beiden umfangreichsten Zeichenbüchern aus dieser Zeit finden sich einige Skizzen nach Kompositionen von El Greco. Hinzu kommen mehr als 60 lose Blätter mit Zeichnungen nach Werken des spanischen Künstlers. Dabei verwendete er zwei verschiedene Techniken. Zum einen überführte er Kompositionen El Grecos in reduzierte Darstellungen, die die Körper in wenigen dominanten Strichen übertrugen, zum anderen fertigte er detaillierte Studien nach einzelnen Figuren an, wobei Pollock in beiden Fällen individuelle Details wie Hände und Füße wegließ. Neben den Zeichnungen fertigte Jackson Pollock zudem auch Gemälde an, die sich etwa in der Gestaltung von Licht und Schatten an El Greco anlehnten. Zugleich lehnte er aber die Bedeutung der symbolischen Komponenten der Werke El Grecos ab. Bis in die Gegenwart hinein wurde El Greco künstlerisch bearbeitet. So malte Michael Mathias Prechtl in den 1980ern Bilder, die sich mit dem Spanier auseinandersetzen. Dabei schuf er etwa das ironische Werk Das Leben des Lazarillo von Tormes, das sich auf das Porträt Ein Kardinal (der Großinquisitor Fernando Niño de Guevara) bezog, dem er eine vollbusige Frau auf den Schoß setzte. Mit Der Traum Toledo – El Grecos Begräbnis schuf Prechtl ein Bild, das er der Ansicht Toledos des Spaniers nachempfunden hatte. Literatur Beeinflusst von Zuloaga reiste Rainer Maria Rilke 1912 nach Toledo, um dort Werke El Grecos zu sehen. Er schrieb in seinen Briefen dieser Zeit viel über El Greco, etwa an Auguste Rodin oder an die Fürstin von Taxis. Dabei beschrieb er die Begegnung mit dessen Werk als eines der größten Ereignisse dieser Jahre; seine Beweggründe für die Reise sei die Absicht gewesen, den Künstler in El Greco ohne großen Publikumsrummel in dessen Heimatstadt erfahren zu können. Der Schriftsteller Stefan Andres schildert in seiner 1936 erschienenen Novelle El Greco malt den Großinquisitor die Bedingungen von Kunst in einer Diktatur anhand des Porträts des Großinquisitors Fernando Niño de Guevara, das El Greco um 1600 malte. Dabei positionierte er den Maler als Gegner der Inquisition, was aber historisch nicht haltbar ist. Film El Grecos Leben wurde mehrmals verfilmt. Aus dem Jahr 1935 stammt die zehnminütige Dokumentation Toledo y El Greco. In den 1940er und 1950er Jahren entstanden weitere Dokumentationen mit dem Namen El Greco en Toledo. Die Dokumentation El Greco en su obra maestra: El entierro del Conde Orgaz aus dem Jahr 1953 beschäftigte sich insbesondere mit dem Bild Das Begräbnis des Grafen von Orgaz, das zu den Hauptwerken des Malers zählt. Im Jahr 1944 entstand der Kurzfilm Evocación de El Greco. Der erste Langfilm fürs Kino wurde 1966 mit El Greco veröffentlicht. Die Regie führte Luciano Salce, die Hauptfigur spielte Mel Ferrer. In diesem Film wurde das Leben des Malers vor dem geschichtlichen Hintergrund der Vorgänge am spanischen Hof und der Inquisition erzählt. 1976 wurde der spanische Fernsehfilm El caballero de la mano en el pecho von Juan Guerrero Zamora gedreht, in dem José María Rodero den Künstler verkörperte. In dem Film El Greco aus dem Jahr 2007 stellte Nick Ashdon den Maler dar. Der Film zeigte El Greco als einen Vorkämpfer für die Freiheit und erhielt einen Goya für das beste Kostümdesign. Literatur José Álvarez Lopera (Hrsg.): El Greco. Identity and transformation. Crete, Italy, Spain, Skira, Mailand 1999, ISBN 88-8118-474-5. Wilfried Seipel (Hrsg.): El Greco. Skira, Wien 2001, ISBN 3-85497-022-6. David Davies, John Huxtable Elliott (Hrsg.): El Greco. National Gallery, London 2003, ISBN 1-85709-933-8. Michael Scholz-Hänsel: El Greco 1541–1614. Taschen, Köln 2004, ISBN 3-8228-3170-0. José Álvarez Lopera: El Greco. Estudio y Catálogo. Fundación Arte Hispánico, Madrid Bd. 1: Fuentes y bibliografía. 2005, ISBN 84-933914-6-8. Bd. 2: El Greco. Catálogo de obras originales. Bd. 2, 1: Creta, Italia, retablos y grandes encargos en España. 2007, ISBN 978-84-935054-3-1. Ronnie Baer, Sarah Schroth: El Greco to Velázquez. Art during the Reign of Philip III. Museum of Fine Arts, Boston 2008, ISBN 978-0-87846-726-6. Nikolaos M. Panagiotakes: El Greco. The Cretan Years. Ashgate, Farnham 2009, ISBN 978-0-7546-6897-8. Beat Wismer, Michael Scholz-Hänsel (Hrsg.): El Greco und die Moderne. Hatje Cantz, Ostfildern 2012, ISBN 978-3-7757-3326-7. Weblinks Literatur von und über El Greco im Katalog der Bibliothek des Instituto Cervantes in Deutschland Übersicht von Quellen bei artcyclopedia.com (englisch) El Greco in der Web Gallery of Art L.I.S.A.Interview zu El Greco mit Beat Wismer, Kunstpalast Düsseldorf Website zum El-Greco-Gedenkjahr 2014 (400. Todestag) abgerufen am 7. April 2014, spanisch Einzelnachweise Bildhauer (Spanien) Maler (Griechenland) Bildhauer (Griechenland) Maler (Spanien) Person (Zeit der spanischen Habsburger) Maler des Manierismus Bildhauer der Renaissance Person der Gegenreformation Person (Toledo) Person (Kreta) Spanier Grieche Geboren im 16. Jahrhundert Gestorben 1614 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Apologie%20%28Platon%29
Apologie (Platon)
Die Apologie des Sokrates () ist ein Werk des antiken Philosophen Platon. Es handelt sich um eine literarische Gestaltung der Verteidigungsrede (Apologie), die Platons Lehrer Sokrates vor dem athenischen Volksgericht hielt, als er im Jahr 399 v. Chr. wegen Asebie (Gottlosigkeit) und Verführung der Jugend angeklagt war. Angefügt sind seine Stellungnahmen zum Strafmaß und zum Ausgang des Verfahrens. Die Apologie besteht somit aus drei aneinandergereihten Reden, die der Angeklagte nach dieser Darstellung am selben Tag in verschiedenen Phasen des Gerichtsverfahrens hielt. Seine Argumentation verhinderte den Schuldspruch nicht. Sokrates wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Stark umstritten ist in der modernen Forschung die Frage, inwieweit Platons Apologie trotz ihres literarischen, fiktionalen Charakters auch eine zumindest teilweise verlässliche Quelle darstellt, deren historischer Kern brauchbare Informationen über den Prozess liefert. Strittig ist auch, inwieweit sie einen zutreffenden Eindruck von den Motiven und Überzeugungen des historischen Sokrates vermittelt. Die Diskussion dieser Thematik ist Teil der allgemeinen Debatte darüber, mit welcher Zuverlässigkeit das Leben und die Philosophie des historischen Sokrates aus den überlieferten Berichten rekonstruiert werden können. Unabhängig von den weiterhin offenen Fragen zur Geschichtlichkeit gilt die Apologie als das bedeutendste Werk aus der Frühzeit der klassischen griechischen Philosophie. Sie beschreibt und begründet die Haltung eines gesetzestreuen Bürgers, der schuldlos in einen tragischen Konflikt mit der Justiz geraten ist und dabei unerschütterlich an seinen Grundsätzen festhält. Die Konsequenz und Furchtlosigkeit von Platons Sokrates-Gestalt hat die Nachwelt tief beeindruckt. Das Auftreten des Sokrates vor Gericht wurde zum klassischen Muster für die praktische Umsetzung philosophischer Einsicht in einer Krisensituation. Auch als literarische Schöpfung wird die Apologie sehr geschätzt, sie zählt zur Weltliteratur. Vorgeschichte und Umstände des Prozesses Der Prozess fand im Frühjahr 399 v. Chr. statt. Platons Sokrates nennt in der Apologie die Namen seiner drei Ankläger Anytos, Meletos und Lykon. Anytos gehörte zu den Anführern der demokratischen Bewegung, die 404/403 v. Chr. die oligarchische Herrschaft der Dreißig gewaltsam beseitigt und die traditionelle athenische Demokratie wiederhergestellt hatte. Daher war er nach dem Sieg der Demokraten einer der einflussreichsten Politiker. Der Apologie zufolge agierte er als Repräsentant der Handwerker und der Politiker, die an Sokrates’ Tätigkeit Anstoß nahmen. Er war ein radikaler Gegner der Sophisten, die als Lehrer auftraten und zu denen Sokrates von seinen Kritikern gezählt wurde, obwohl er sich scharf von ihnen abgrenzte. Meletos trat der Apologie zufolge im Namen der Dichter auf, deren Gegnerschaft sich Sokrates zugezogen hatte. Er war ein ziemlich unbekannter junger Mann und hatte die Klageschrift verfasst. Unklar ist die Identität des Lykon, der die politischen Redner repräsentierte, denen der angeklagte Philosoph verhasst war. In der Apologie ist Sokrates der alleinige Sprecher, abgesehen von einer kurzen Befragung des Anklägers Meletos, der Sokrates knapp antwortet. Dadurch unterscheidet sich die Apologie von den anderen Werken Platons, die – außer den höchstens teilweise authentischen Briefen – alle in Dialogform abgefasst sind. Der Prozess ist öffentlich, eine Menge von Freunden und Gegnern des Angeklagten hat sich versammelt. Das Gericht ist – wie bei solchen Verfahren üblich – ein Gremium von 500 oder 501 durch ein Losverfahren bestimmten Geschworenen (Heliasten), die als Richter einen Entscheid mit einfacher Mehrheit zu fällen haben. Die gesamte Verhandlung, die zum Todesurteil führt, spielt sich an einem einzigen Tag ab, da die Zusammensetzung des Spruchkörpers und der zu verhandelnde Fall täglich neu ausgelost werden. Nach Platons Darstellung rügt Sokrates nach dem Schuldspruch das Schnellverfahren. Er macht geltend, andernorts sei es nicht üblich, an einem Tag über Leben und Tod zu entscheiden. Die Zeitknappheit habe ihm keine angemessene Darlegung seiner Argumente gestattet und dieser Umstand habe entscheidend zur Verurteilung beigetragen. Inhalt der Apologie Die Apologie setzt sich aus drei separaten, aber in Platons Darstellung unmittelbar aneinandergefügten Reden des Sokrates am Tag des Gerichtsverfahrens zusammen. In der ersten Rede erörtert er die zu diesem Zeitpunkt noch offene Frage seiner Schuld. In der zweiten, nach dem Schuldspruch gehaltenen Rede befasst er sich mit dem Strafmaß, dessen Festsetzung nun ansteht. Die dritte Rede ist sein Schlusswort nach der Verhängung der Todesstrafe. Die erste Rede Verteidigung gegen alte Gerüchte und Vorurteile Sokrates beginnt seine erste Rede mit einem ironischen Lob für seine Ankläger, die mit großer Überzeugungskraft aufgetreten seien. Allerdings hätten sie dabei überhaupt nichts Wahres vorgebracht. Sie hätten vor seiner rhetorischen Überredungs- und Täuschungskunst gewarnt, doch setze er in Wirklichkeit keine rednerischen Kunstmittel ein, sondern werde nur auf seine gewohnte Weise in schlichten Worten die ganze Wahrheit vortragen. Schwerwiegender als die gegenwärtige Anklage seien die anonymen Beschuldigungen, die schon seit langem gerüchteweise von vielen Verleumdern verbreitet würden. Die dadurch entstandenen Vorurteile hätten zu einer generellen Voreingenommenheit geführt, gegen die er nun ankämpfen müsse. Zu seinem schlechten Ruf habe auch seine Verspottung durch den Komödiendichter Aristophanes beigetragen. Es werde behauptet, dass er „Unterirdisches und Himmlisches“ erforsche (also Naturphilosophie betreibe) und „die schwächere Sache zur stärkeren mache“ (das heißt, mit geschickten Täuschungsmanövern Meinungen manipuliere und so Unrecht zu Recht mache). Außerdem unterrichte er andere in dieser Täuschungskunst und lasse sich dafür bezahlen. Nichts davon sei wahr, und dies könnten die vielen Bürger bezeugen, die bei seinen Diskussionen zugehört hätten. Die Verführungskünste überlasse er den für Honorar lehrenden Sophisten, mit deren Umtrieben er nichts zu tun habe. Allerdings habe die Gerüchtebildung einen realen Ausgangspunkt. Dies sei eine gewisse Weisheit, die ihm zugeschrieben werde. Sein Freund Chairephon habe die Kühnheit besessen, das Orakel von Delphi zu fragen, ob jemand weiser sei als Sokrates. Darauf habe die Pythia, die weissagende Priesterin, geantwortet, dies sei nicht der Fall. Dieser Ausspruch sei ihm, Sokrates, mitgeteilt worden. Dadurch sei er in Verwirrung geraten, da er sich über seine Unwissenheit im Klaren gewesen sei: „Denn ich bin mir doch bewußt, daß ich weder im Großen noch im Kleinen weise bin.“ Um die Behauptung der Pythia zu überprüfen, habe er als weise oder kundig geltende Männer – Politiker und Dichter, aber auch Handwerker – befragt, denn er habe herausfinden wollen, was es mit deren Wissen auf sich habe. Dabei habe sich herausgestellt, dass er trotz seines sehr bescheidenen Erkenntnisstands die vermeintlich Weisen übertreffe, denn er habe ihre Irrtümer aufdecken können. So habe sich gezeigt, wie wenig menschliche Weisheit tauge, und dies sei wohl der Sinn des Orakelspruchs. Mit seinen Nachforschungen habe er sich verhasst gemacht, da er die Inkompetenz seiner Gesprächspartner ans Licht gebracht habe. So habe er sich viele Feindschaften zugezogen. Seither betrachte er es als seine Berufung im Dienste des Gottes, Unwissenden, die sich für kompetent hielten, ihre Unwissenheit aufzuzeigen. Mit dieser Vorgehensweise hänge der Vorwurf zusammen, er verderbe die Jugend. Manche Jünglinge hätten nämlich nach seinem Vorbild begonnen, die Inkompetenz Unwissender zu entlarven. Damit hätten sie deren Zorn erregt, der sich dann gegen ihn, Sokrates, gerichtet habe. Verteidigung gegen die Anklageschrift Nach diesen Ausführungen über die alten Beschuldigungen wendet sich Sokrates der aktuellen Anklage zu. Er nimmt den Ankläger Meletos, der ihn als Verderber der Jugend hingestellt hat, ins Verhör. Meletos beantwortet seine Fragen nur knapp oder gar nicht. Aus seiner Reaktionsweise wird aber deutlich, dass er über das, was für die Jugend nützlich oder schädlich ist, keine durchdachten Vorstellungen hat. Er meint, die moralische Erziehung der Jugend obliege der gesamten Gesellschaft und diese Aufgabe werde von ihr auch richtig ausgeführt, nur Sokrates störe dabei. Dann kommt der wichtigste Anklagepunkt zur Sprache: die Behauptung, Sokrates halte nicht am Kult der in Athen traditionell verehrten Götter fest. Ihm wird vorgeworfen, er wolle die herkömmliche Religion durch einen neuartigen Kult von „Daimonischem“ ersetzen. Dies zielt auf das Daimonion, eine innere Stimme des Sokrates, von der er sich tatsächlich beraten lässt. Hier verwickelt sich Meletos aber, wie Sokrates zeigen kann, in einen Widerspruch. Einerseits bezichtigt er den Angeklagten, konsequent gottlos zu sein, also keinerlei übermenschliche Wesen zu verehren und Sonne und Mond für Steine statt für Gottheiten zu halten, andererseits stellt er ihn als Anhänger einer daimonischen, also übermenschlichen und somit göttlichen Macht dar. Anschließend legt Sokrates seine Überzeugungen über den Sinn seines Lebens und über den Tod dar. Zunächst geht er auf die mögliche Vorhaltung ein, er habe sich unbesonnenerweise auf eine Betätigung eingelassen, die ihn nun in Lebensgefahr bringe. Dagegen wendet er ein, dass die Gefährlichkeit eines Vorhabens kein Entscheidungskriterium sein dürfe. Vielmehr komme es nur darauf an, ob man recht oder unrecht handle. An diesen Grundsatz habe er sich auch gehalten, als er für seine Heimatstadt Kriegsdienst leistete. Jeder habe auf seinem Posten seine Aufgabe zu erfüllen. Den Tod zu fürchten sei auf jeden Fall unweise, auch wenn man nicht wisse, was danach folge. Wenn er nur unter der Bedingung, seine philosophische Betätigung aufzugeben, freigesprochen würde, würde er diese Auflage missachten und weiterhin öffentlich diskutieren. Dies gebiete ihm der Gott. Damit erweise er der Stadt die größte Wohltat, denn er fördere die Tugend, welche die Grundlage aller anderen Güter bilde. Sokrates betont, dass er sich nicht um seiner selbst willen verteidige. Der angestrebte Freispruch sei ihm nicht wegen seines Überlebens wichtig, denn den Tod zu erleiden sei kein Übel. Ein großes Übel sei es hingegen, ein widerrechtliches Todesurteil gegen einen anderen anzustreben. Daher gehe es ihm nicht um seine eigene Person, sondern um die Richter, die sich durch eine Verurteilung versündigen würden, was er verhindern wolle. Wenn er sterbe, werde es schwer sein, einen Ersatz für ihn zu finden. Seine Bestimmung sei es, die Athener einzeln aufzurütteln, zu kritisieren und zu ermahnen, so wie eine Bremse ein edles, aber träges Pferd aufreize. Dann geht Sokrates auf die Frage ein, warum er zwar Privatleuten Ratschläge erteilt, nicht aber vor der Volksversammlung als Redner und Ratgeber der Menge auftritt und gestaltend in die Politik eingreift. Vor einer solchen politischen Betätigung warne ihn das Daimonion, seine innere Stimme. Wer unter keinen Umständen bereit sei, etwas Unrechtes zu tun, der müsse sich sowohl in einer Demokratie als auch in einer Oligarchie den jeweils maßgeblichen Kräften widersetzen und könne damit nur scheitern. Der Vorwurf, er habe die Jugend verdorben, sei leicht zu widerlegen: Wenn unter den Anwesenden jemand sei, der glaube, er oder einer seiner Angehörigen sei einem solchen verderblichen Einfluss ausgesetzt gewesen, solle er sich jetzt melden. Abschließend stellt Sokrates fest, er bitte nicht um Gnade und wolle nicht – wie bei solchen Prozessen üblich – Mitleid erregen, etwa durch einen Auftritt seiner Angehörigen. Richter sollten nicht nachsichtig sein, sondern gerechte Urteile fällen. Die zweite Rede Nach dem Schuldspruch, der mit relativ knapper Mehrheit gefällt worden ist, ergreift Sokrates erneut das Wort, um sich zum Strafmaß zu äußern. Nach athenischem Recht wird nach der Feststellung der Schuld eines Angeklagten das Strafmaß festgesetzt. Der Strafantrag des Klägers ist schon in der Anklageschrift enthalten. Der Angeklagte kann diesem Antrag einen Gegenantrag entgegenstellen. Dann hat sich das Gericht in einer zweiten Abstimmung für einen der beiden Strafanträge zu entscheiden; es darf nicht von sich aus eine andere Strafe festlegen. Der Ankläger Meletos hat die Todesstrafe beantragt. Nun macht Sokrates von seinem Recht auf einen Gegenantrag Gebrauch, indem er ironisch Speisung auf Staatskosten im Prytaneion – eine hohe Ehrung – vorschlägt. Dazu bringt er vor, ihm solle das zuerkannt werden, was er tatsächlich verdiene, und das müsse etwas Gutes sein, denn er sei ein Wohltäter der Allgemeinheit. Er sei entschlossen, niemand absichtlich Unrecht zu tun, also auch nicht sich selbst; somit könne er keine Strafe vorschlagen, wenn er keine verdient habe. In die Verbannung zu gehen sei für ihn sinnlos, denn anderswo würde er seine bisherige Lebensweise fortsetzen und daher dasselbe Schicksal erleiden wie in Athen. Im Exil anders leben und sich ruhig verhalten könne er nicht. Er werde nie darauf verzichten, sich selbst und andere zu prüfen; ein Leben ohne Selbsterforschung sei nicht lebenswert. Eine Geldbuße zieht Sokrates jedoch in Betracht, denn den Verlust von Geld hält er nicht für einen Schaden; aus seiner Sicht ist das keine wirkliche Strafe. Allerdings teilt er mit, dass er arm sei und daher nur etwa eine Mine aufbringen könne. Seine Freunde hätten ihm zugeredet, dreißig Minen zu beantragen, und sie seien bereit, dafür zu bürgen. Damit sei er einverstanden. Die dritte Rede Da Sokrates keinen für das Gericht akzeptablen Alternativvorschlag gemacht hat und die Verbannung, die eine realistische Alternative zum Todesurteil wäre, abgelehnt hat, sind die Richter mehrheitlich dem Antrag der Anklage gefolgt und haben das Todesurteil gefällt. In dieser Situation lässt Platon unvermittelt den letzten Teil der Apologie beginnen. Nach der Urteilsverkündung wendet sich Sokrates zum dritten und letzten Mal an die Versammlung. Wiederum erinnert er daran, dass es nicht richtig sei, dem Tod um jeden Preis entkommen zu wollen. Wer Gefahren unbedingt entgehen wolle, der finde dafür vor Gericht ebenso wie im Krieg Mittel und Wege. Ein solches Verhalten sei aber unwürdig. Dem Tod könne man leicht entrinnen, wenn man dabei vor nichts zurückscheue; weit schwerer sei es, der Schlechtigkeit zu entkommen. Er werde nun vom Tod eingeholt, seine Ankläger aber von ihrer Schlechtigkeit, denn sie seien der Niedertracht überführt worden. Damit erhielten sie ihr Urteil so wie er seines. Seine innere Stimme habe sich während des Gerichtsverfahrens nicht gemeldet, und dies sei ein Zeichen dafür, dass der Gott sein Verhalten billige und das ganze Geschehen für gut halte. Abschließend geht Sokrates auf das Fortleben nach dem Tode und das Schicksal der Seelen der Verstorbenen ein. Er weiß nicht, was ihm nach seinem Tode geschehen wird, ob ihm ein Zustand der Empfindungslosigkeit wie in traumlosem Schlaf bevorsteht oder eine jenseitige Fortsetzung seiner philosophischen Tätigkeit und Begegnungen mit vielen bedeutenden Persönlichkeiten, die vor ihm gestorben sind. Beides bewertet er als Verbesserung gegenüber der Gegenwart: Die zweite Möglichkeit ist für ihn das größte Glück, die erste zieht er immerhin dem Elend des irdischen Lebens vor. Allerdings nimmt er die erstgenannte Alternative nicht wirklich ernst; er gibt zu verstehen, dass er nur die zweite für realistisch hält. Jedenfalls glaubt er, dass die Verstorbenen im Totenreich glücklicher seien, als sie während ihres irdischen Lebens waren, denn dort gehe es gerecht zu. Allerdings könne man dies nur hoffen und nicht wissen, denn die Wahrheit darüber sei jedem außer dem Gott verborgen. Eines aber sei sicher wahr, nämlich „dass es für einen guten Menschen kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode“. Daher zürnt Sokrates weder den Anklägern noch den Richtern, die ihn verurteilt haben. Gestalt und Zielsetzung der Apologie Auffällig ist beim Auftreten von Platons Sokrates die Diskrepanz zwischen seiner betonten Geringschätzung seiner rednerischen Fähigkeiten und der tatsächlichen Ausgestaltung seiner Rede. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen distanziert er sich von rhetorischen Kunstgriffen, weist auf seine mangelnde Erfahrung mit der juristischen Redekunst hin, da er jetzt erstmals vor ein Gericht trete, und kündigt eine schlichte, nur der Wahrheitsfindung dienende Darlegung „wie auf dem Markt bei den Wechseltischen“ an. In Wirklichkeit ist die Apologie aber sorgfältig und kunstvoll nach den Regeln der Gerichtsrhetorik aufgebaut. Den Gepflogenheiten der Gerichtsrhetorik folgt Platons Sokrates allerdings nur formal. Inhaltlich versucht er nicht die Sympathie und Gunst der Richter zu gewinnen, sondern verärgert sie mit provozierenden Aussagen. Wiederholt muss er die Zuhörer bitten, Ruhe zu bewahren und sich von seinen Worten nicht zu einem Tumult hinreißen zu lassen. Ob er die Richter vorsätzlich provoziert oder diese Wirkung nur in Kauf nimmt, ist in der Forschung umstritten. Jedenfalls erwecken manche seiner Äußerungen den Eindruck, dass er nicht wirklich an einem Freispruch oder milden Urteil interessiert ist oder darin nur ein untergeordnetes und außerdem unerreichbares Ziel sieht. Dazu passt, dass er zu Beginn seiner zweiten Rede mitteilt, dass er von Anfang an mit einem Schuldspruch gerechnet hat. Sein ironischer Vorschlag, man solle ihm statt einer Strafe die hohe Ehre der Speisung im Prytaneion zuerkennen, wirkt unter den gegebenen Umständen sehr herausfordernd. Dieser Antrag muss die Richter auch wegen seiner offensichtlichen Unernsthaftigkeit empören, denn zu einem solchen Beschluss wäre das Gericht gar nicht befugt. Indem Sokrates darlegt, dass weder die drohende Hinrichtung noch eine Geldstrafe für ihn ein wirkliches Übel sei, gibt er zu verstehen, dass er keine Strafe ernst nimmt; dies kann als Missachtung des Justizsystems und des Gerichts gedeutet werden. Auch seine Behauptung, er sei als Mahner und Kritiker kaum zu ersetzen und daher für die Athener unentbehrlich, kann als Zeichen von Hochmut ausgelegt werden. Besonders provokativ ist seine Behauptung, ein anständiger, rechtlich denkender und der Wahrheit verpflichteter Mensch wie er könne sich im Rahmen des demokratischen Systems nicht politisch betätigen, denn wenn er dies versuche und dabei an seinen Grundsätzen festhalte, werde er zwangsläufig bald umgebracht. Hierbei ist der aktuelle politische Hintergrund zu beachten: Zum Zeitpunkt des Prozesses liegt der Sieg der Demokraten im Bürgerkrieg gegen die Oligarchen erst wenige Jahre zurück. Sokrates ist den Demokraten suspekt, denn zwei führende Oligarchen, die im Bürgerkrieg gefallenen Politiker Kritias und Charmides, sowie der sehr umstrittene Alkibiades haben zeitweilig zu seinem Umkreis gehört. Eine scharfe, fundamentale Kritik des politisch missliebigen Angeklagten an der athenischen Demokratie muss die demokratisch gesinnten Richter erzürnen. Zudem wird ihnen dabei, insoweit sie sich am politischen Leben beteiligen, implizit ein unehrenhafter Charakter unterstellt. All dies erscheint unter dem Gesichtspunkt einer wirksamen Verteidigung als kontraproduktiv. Offenbar war die „Antirhetorik“, die Platon seinem Sokrates in den Mund legte, ein Angriff auf die sophistische Rhetorik mit deren eigenen Kampfmitteln. Zugleich wollte Platon das athenische Prozesswesen anprangern, in dem das rhetorische Geschick der Verfahrensbeteiligten eine wichtige oder sogar ausschlaggebende Rolle spielte. Seine Absicht war, sowohl Sokrates zu verherrlichen als auch die Prinzipienlosigkeit der politischen und juristischen Redner in Athen bloßzustellen. Zu diesem Zweck stellte er seinen Lesern den Gegensatz zwischen der Manipulationskunst der Politiker und Gerichtsredenschreiber und der philosophischen Wahrheitssuche und Tugendliebe vor Augen. In der Apologie zeichnete er das Bild eines vorbildlichen Philosophen, der die Rhetorik beherrscht, durchschaut und verachtet und schließlich der Demagogie gewissenloser Redner und der von ihnen manipulierten unfähigen Richter zum Opfer fällt. So ist die Apologie zugleich eine Abrechnung mit den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und eine Aufforderung zum philosophischen Leben (Protreptikos) nach dem Vorbild des Sokrates. Scharfe Kritik richtete Platon auch gegen einen für ihn als Philosophen unannehmbaren irrationalen Aspekt der athenischen Strafrechtspraxis: den Umstand, dass in Strafprozessen das Urteil oft weniger vom Tatbestand abhing als von der Fähigkeit der Angeklagten, effektvoll Mitleid zu erregen und um Gnade zu betteln. Eines der Hauptanliegen Platons war die Auseinandersetzung mit der Kritik an Sokrates, die sich nach der Hinrichtung erhoben hatte. Die Apologie war eine Stellungnahme im Kampf zwischen Sokratikern und Antisokratikern um das Bild des Hingerichteten in der öffentlichen Meinung. Dabei ging es insbesondere um den Vorwurf der Arroganz, den offenbar das selbstbewusste Auftreten des historischen Sokrates vor Gericht ausgelöst hatte. Platon wandte sich mit seiner Version gegen die Einschätzung, der Angeklagte habe seinen Untergang durch törichtes, selbstzerstörerisches Agieren während der Gerichtsverhandlung selbst verschuldet und sei mit seinem Lebenskonzept letztlich gescheitert. Datierung und Quellenwert Die Frage der historischen Zuverlässigkeit der Apologie wird seit langem intensiv diskutiert. Die Einschätzung des Quellenwerts hängt mit der Datierung des Werks zusammen. Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Einer der Forschungsrichtungen zufolge handelt es sich um Platons erstes Werk oder zumindest eines der ersten. Mit der Frühdatierung verbinden manche Altertumswissenschaftler die Hypothese einer wirklichkeitsnahen Darstellung. Demnach hat Platon, der beim Prozess anwesend war, die Darlegungen des Sokrates frisch aus dem Gedächtnis aufgezeichnet, um sie möglichst getreu wiederzugeben, und hat die Rede schon bald nach dem Tod seines Lehrers veröffentlicht. Aus diesem Szenario ergibt sich ein oft vorgebrachtes Argument zugunsten der Authentizität der Sokrates zugeschriebenen Ausführungen: Das zeitgenössische Publikum habe die wirkliche Rede noch so gut gekannt, dass Platons Version nicht wesentlich von ihr habe abweichen können, ohne ihre Glaubwürdigkeit einzubüßen. So argumentieren beispielsweise Gregory Vlastos, Holger Thesleff und Luc Brisson. Gegen diese Überlegung wird aber eingewendet, sie unterschätze den Gestaltungsspielraum, den das antike Publikum Schriftstellern zubilligte. Befürworter einer Spätdatierung stützen sich auf ein Indiz für ungefähr gleichzeitige Entstehung der Apologie und des Dialogs Menon, woraus sich eine Abfassung der Rede um die Mitte der 380er Jahre ergäbe. Ein relativ großer zeitlicher Abstand zu den Ereignissen von 399 würde gut zur Hypothese einer sehr freien literarischen Ausgestaltung passen, während eine Datierung bald nach dem Prozess für größere Nähe zur historischen Realität spräche. Zwingend sind solche Folgerungen aber nicht. Weder stilistische Merkmale noch äußere Kriterien liefern zuverlässige Anhaltspunkte für die zeitliche Einordnung. Ein Zusammenhang mit Ereignissen von 392 bis 387 ist möglich, aber nicht erweisbar. In der neueren Forschung sind die Urteile über die Zuverlässigkeit der Apologie großenteils skeptisch ausgefallen. Der literarische Charakter des Werks und die Absicht Platons, seinen verehrten Lehrer zu rechtfertigen und einen Sokrates-Mythos zu schaffen, werden betont. Skeptiker weisen auf die kunstvolle Ausformung des Werks hin, die für sorgfältige Ausarbeitung während eines längeren Zeitraums spricht. Radikal drückt Olof Gigon die skeptische Sichtweise aus: „Die sokratische Literatur ist nicht geschichtliche Biographie, sondern Dichtung […] Auf der andern Seite steht die historische Person des Sokrates, die wir niemals wirklich kennen werden, […]“. Demnach ist damit zu rechnen, dass sich der überlieferte Redetext stark von dem, was der historische Sokrates vor Gericht vortrug, unterscheidet. Dennoch ist die Apologie als Quelle für den Prozess nicht generell diskreditiert; viele Detailinformationen, gegen die keine konkreten Verdachtsmomente vorliegen, dürften stimmen. Korrekt ist die zusammenfassende Wiedergabe der Anklage, die mit Angaben in anderen Quellen übereinstimmt. Die Meinung, Platon habe sich im Wesentlichen an den Inhalt der historischen Rede gehalten, hat weiterhin Anhänger. Wenngleich die eigentlichen – wohl zum Teil politischen – Motive der Ankläger nur hypothetisch zu erschließen sind, sind die in der Apologie genannten Vorwürfe der Feinde des Philosophen aller Wahrscheinlichkeit nach historisch. Unhistorisch ist die dritte Rede des Sokrates, denn ein solches Schlusswort eines zum Tode Verurteilten war im Strafprozess nicht vorgesehen und wäre von den Richtern, die für das Todesurteil gestimmt hatten, nicht akzeptiert worden. Sehr umstritten ist die Frage, ob der historische Sokrates die philosophischen Überzeugungen, die Platon ihm in der Apologie in den Mund legt, tatsächlich in dieser Form vertreten hat. Forscher, die den Sokrates der Apologie als rein fiktive Gestalt betrachten, halten ein fundiertes Urteil darüber für unmöglich. Andere sind hinsichtlich der Verwertbarkeit von Platons Angaben optimistischer. Als Indiz für ein zumindest in den Grundzügen authentisches Sokratesbild wird der Umstand angeführt, dass Platons Sokrates in der Apologie von einer sehr pessimistischen Erkenntnistheorie ausgeht. Er glaubt, ein gesichertes Wissen über die wichtigsten Themenbereiche wie das Gute und die Gerechtigkeit sei dem Menschen grundsätzlich unerreichbar. Da Platon selbst nicht dieser Auffassung war, hatte er keinen Grund, sie als Ansicht seines Lehrers darzustellen, falls dies nicht den historischen Tatsachen entsprach. Die „Tendenzwidrigkeit“ der Information macht sie glaubwürdig. Demnach ist die Hypothese, dass Sokrates tatsächlich zum erkenntnistheoretischen Pessimismus neigte, plausibel. Hinzu kommt, dass diese Denkweise auch im Kreis der Schüler des Sokrates bezeugt ist. Daraus wird gefolgert, dass das Sokratesporträt der Apologie auch in anderen Einzelheiten der historischen Realität relativ nahe sein dürfte. Andreas Patzer meint sogar, die Apologie sei „jenes Werk, in dem Platon das Philosophieren des Sokrates in reinster Form dargestellt hat“; die Rede sei zwar fiktional, aber der philosophische Gehalt authentisch: „Wenn irgendwo, so erfahren wir hier, wie Sokrates in Wirklichkeit dachte“. Rezeption Die Apologie hat das Sokratesbild der Nachwelt bis in die Gegenwart maßgeblich mitgeprägt. Sie gilt als klassische Darstellung der Bewährung philosophischer Lebenspraxis in einer Krisensituation. Die starke Nachwirkung verdankt das Werk sowohl seinem philosophischen Gehalt als auch seiner literarischen Form. Antike Schon der Schriftsteller Xenophon, der ein Anhänger des Sokrates, aber beim Prozess nicht anwesend war, hat bei der Abfassung seiner Schrift Die Verteidigung des Sokrates Platons Apologie verwendet. Der berühmte Redner Isokrates, der im 4. Jahrhundert v. Chr. in Athen eine Rhetorikschule gründete und leitete, schrieb die Gerichtsrede Antidosis. Darin verteidigte er sich gegen eine fiktive Anklage ähnlich der gegen Sokrates gerichteten und legte über seine Tätigkeit Rechenschaft ab. Dabei orientierte er sich am Vorbild von Platons Apologie, womit er deren rhetorischer Qualität indirekt Anerkennung zollte. Aristoteles zitierte Platons Werk in seiner Rhetorik; er führte eine Beweisführung des platonischen Sokrates im Verhör des Meletos als Musterbeispiel einer reductio ad absurdum auf. Nicht nur für die Platoniker, sondern auch für andere philosophische Richtungen, die sich im Zeitalter des Hellenismus entfalteten, war Sokrates durch seine Standhaftigkeit vor Gericht ein Leitbild. Sein in der Apologie dargelegtes Verhalten angesichts der drohenden Todesstrafe demonstrierte die Einheit philosophischer Theorie und Praxis. Das Auftreten des Angeklagten verlieh dem Ideal einer von Selbstbeherrschung und vernünftiger Überlegung bestimmten philosophischen Lebensform Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, bildet die Apologie zusammen mit den Dialogen Euthyphron, Kriton und Phaidon die erste Tetralogie (Vierergruppe). Da alle vier Werke die Verhältnisse zur Zeit von Sokrates’ Anklage, Prozess und Hinrichtung thematisieren, war ihre Zusammenstellung in einer Tetralogie offenbar inhaltlich begründet. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte die Apologie zu den „ethischen“ Schriften Platons. Er erwähnte, dass sie oft an den Anfang des Lektüreplans der Philosophieschüler gestellt wurde, also unter didaktischem Gesichtspunkt als geeignete Einführung in die platonische Philosophie galt. Der Stoiker Epiktet war der Ansicht, Sokrates habe die Richter bewusst provoziert. Er billigte dieses Verhalten in Anbetracht der damals gegebenen Umstände. Ungeachtet der starken Wirkung der Apologie auf das antike Publikum wurde vereinzelt Kritik geäußert. Der im 1. Jahrhundert v. Chr. tätige Geschichtsschreiber und Rhetoriklehrer Dionysios von Halikarnassos bemängelte Praxisferne: Das Werk habe mit der Realität des Auftretens vor Gericht nichts zu tun, sondern diene einem anderen Zweck, es sei weder ein Dialog noch eine Rede. Seneca der Ältere überliefert das Urteil des Redners Cassius Severus, der meinte, die Rede sei weder eines Anwalts noch eines Angeklagten würdig. Der unbekannte Verfasser eines Dionysios von Halikarnassos zu Unrecht zugeschriebenen Rhetorikhandbuchs sah in der Apologie eine raffinierte Form der „figurierten Rede“ (lógos eschēmatisménos). Bei dieser handelt es sich um Texte, in denen der Autor oder Sprecher etwas anderes sagt als er meint – es kann auch das Gegenteil des Gemeinten sein –, es aber zugleich seinem Publikum ermöglicht, die eigentliche Bedeutung zu dekodieren. Pseudo-Dionysios von Halikarnassos war der Ansicht, die Apologie sei völlig fiktiv und habe Platons Zwecken dienen sollen: mit den Athenern abzurechnen, Sokrates zu verherrlichen und für seine Philosophie zu werben. Das Werk weise Merkmale unterschiedlicher Gattungen auf, denn es sei zugleich Verteidigungsrede, Anklage (gegen die Athener), Lobrede (auf Sokrates) und Werbeschrift. Durch die Notwendigkeit der Verteidigung solle das Sokrates in den Mund gelegte Selbstlob für den Leser erträglich gemacht werden. Im 2. Jahrhundert verglich der christliche Apologet Justin der Märtyrer das Vorgehen der Athener gegen Sokrates mit den Christenverfolgungen, wobei er sich auf die Darstellung in Platons Apologie stützte. Sokrates sei damals den gleichen Beschuldigungen ausgesetzt gewesen wie zu Justins Zeit die Christen, denn man habe ihm vorgeworfen, unfromm zu sein, nicht an die herkömmlichen Götter zu glauben und neue Gottheiten einzuführen. Abgesehen von zwei Papyrus-Fragmenten, die aus dem 1. oder 2. Jahrhundert stammen und um 1909 in Soknopaiu Nesos gefunden wurden, sind keine antiken Handschriften der Apologie erhalten. Mittelalter und Frühe Neuzeit Im Mittelalter war die Apologie der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt des Westens nicht zugänglich. Allerdings scheint im 12. Jahrhundert der in Spanien tätige jüdische Philosoph und Dichter Jehuda ha-Levi eine Übersetzung oder zumindest Zusammenfassung gekannt zu haben. Die älteste erhaltene mittelalterliche Abschrift des griechischen Textes der Apologie entstand im 9. Jahrhundert im Byzantinischen Reich. Spätestens im 11. Jahrhundert wurde eine Übersetzung ins Armenische angefertigt. Nach ihrer Wiederentdeckung im Zeitalter des Renaissance-Humanismus gehörte die Apologie zu den geschätzten Schriften Platons. Die erste lateinische Übersetzung fertigte der italienische Humanist und Staatsmann Leonardo Bruni im ersten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts an. Da er sie später unbefriedigend fand, erstellte er eine überarbeitete Fassung, die er 1424/1427 – wahrscheinlich schon 1424 – abschloss und in Umlauf brachte. Sokrates’ Kritik an der athenischen Demokratie entsprach Brunis Abneigung gegen eine rein demokratische Verfassung und seiner Befürwortung einer gemischten Staatsform mit aristokratischen Elementen. Brunis lateinische Apologie wurde um 1475 in Bologna gedruckt. Eine weitere Übersetzung des griechischen Originals ins Lateinische stammt von dem berühmten Humanisten Marsilio Ficino († 1499), der streckenweise nur Brunis Text überarbeitete. Sie wurde 1484 in Florenz herausgebracht. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio im Rahmen der von Markos Musuros herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Platons. 1749 übersetzte Denis Diderot die Apologie ins Französische, als er im Staatsgefängnis von Vincennes inhaftiert war. Voltaire verglich Diderot, der wie einst Sokrates des Atheismus beschuldigt wurde, mit dem antiken Philosophen und nannte ihn „Sokrates“. 1790 veröffentlichte Matthias Claudius seine deutsche Übersetzung der Apologie. Moderne Die Debatte um Sinn und Wahrheitsgehalt Der einflussreiche Platon-Übersetzer Friedrich Schleiermacher (1768–1834) glaubte, die Apologie sei die inhaltlich getreue Wiedergabe der Rede, die Sokrates wirklich vor Gericht gehalten hatte. Seine Ansicht teilte eine Reihe von Altertumswissenschaftlern des 19. Jahrhunderts, darunter Eduard Zeller (1814–1908) und George Grote (1794–1871). Im 20. Jahrhundert schlossen sich John Burnet und Alfred Edward Taylor dieser Sichtweise an; sie nahmen an, dass die veröffentlichte Rede hinsichtlich der wesentlichen Fakten mit der historischen übereinstimmt. Die Gegenposition, wonach es sich um einen fiktionalen Text handelt, der nicht einmal annäherungsweise die wirkliche Verteidigungsrede des Philosophen wiedergibt, vertrat Martin Schanz 1893 in seiner kommentierten Ausgabe der Apologie. Diesen Ansatz setzte Erwin Wolff 1929 in seiner Dissertation fort. Seither gilt der fiktionale Charakter von Platons Werk als gesicherte Tatsache. Dies schließt Historizität vieler Elemente keineswegs aus, doch wird die Historizitätshypothese („Historizismus“) heute nur noch in gemäßigter Form vertreten, unter Berücksichtigung der literarischen Ausgestaltung und ihrer Tendenz. Es wird nach dem Verhältnis zwischen Platons Fiktion und ihrer historischen Grundlage gefragt. Dabei stehen gemäßigt historizistische Positionen antihistorizistischen gegenüber. Søren Kierkegaard ließ 1841 in seiner Dissertation die Frage, wie authentisch der Wortlaut von Platons Apologie ist, beiseite und stellte fest, die Hauptsache sei, dass das Werk ein verlässliches Bild des wirklichen Sokrates biete. Im Lauf der Zeit ist die Forschung von einer einseitigen Ausrichtung auf die Frage nach dem Quellenwert der Apologie hinsichtlich des historischen Gerichtsverfahrens abgekommen. Als noch wichtiger erscheint die von Platons Kunst geprägte musterhafte Sokrates-Gestalt, die weitaus wirkmächtiger war und ist, als es der historische Sokrates ohne die Stilisierung durch seinen bedeutendsten Schüler hätte sein können. Diese Perspektive nahm schon Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in seiner viel beachteten Platon-Monographie ein. Er meinte, Platon habe die Apologie „in freiestem Anschluß an das, was Sokrates wirklich gesagt hatte“ geschrieben, doch sei dabei etwas weit Größeres herausgekommen, als die wirkliche Rede erreichen konnte: „eine Schrift, die nicht nur durch ihr Ethos, sondern auch durch ihre Kunst“ immer beeindrucken werde. Hier habe Platon „seine Begabung zur Tragödie“ gezeigt. Ähnlich dachte diesbezüglich Kurt Hildebrandt, der schrieb, alles „Zeitlich-Zufällige“ sei ausgeschieden und „der geschichtliche Vorgang ins Ewig-Mythische erhoben“. Hildebrandt sah den Sinn der Apologie darin, Sokrates „ganz menschlich, doch übermenschlich zugleich durch sein heroisches Amt“ zu zeigen. Romano Guardini stellte fest, Platon gebe zwar sicher nicht den Wortlaut der historischen Verteidigung wieder, wohl aber „das Wesentliche des Vorganges“; seine Darstellung packe den Leser „mit unmittelbarer Gewalt“ und es sei ihm vollkommen gelungen, „die Mächte deutlich werden zu lassen, die da miteinander gerungen haben, und die Entscheidungen, um die es gegangen ist“. Die Apologie habe „die Wahrheit des großen Kunstwerkes“. In diesem Sinne äußerte sich auch Rafael Ferber. Er schrieb, die Apologie bringe „eine typologische und beispielhafte oder höhere Wahrheit“ zum Ausdruck. Dies geschehe im Sinne des Wirklichkeitsverständnisses von Aristoteles, wonach das Beispielhafte die Wirklichkeit übertreffen müsse. Franz von Kutschera ließ die Frage der Historizität offen; aus seiner Sicht ist die Hauptsache, dass Platon „ein außerordentlich eindrucksvolles Portrait von Sokrates gezeichnet“ hat, wobei „alle pathetischen Töne“ fehlen. Literarische und philosophische Bewertungen Aus literarhistorischer Sicht pflegt die Apologie als Meisterwerk der Weltliteratur eingestuft zu werden. Schon Friedrich Schleiermacher konstatierte 1805, sie sei eine „wegen des einwohnenden Geistes und des dargestellten Bildes ruhiger sittlicher Größe und Schönheit zu allen Zeiten geliebte und bewunderte Schrift“. Die außergewöhnliche Wertschätzung des Werks in Bildungskreisen spiegelt sich in seiner Rolle in der Schule: Im gymnasialen Altgriechischunterricht gehört es seit dem 19. Jahrhundert zum Lektürestoff. Theodor Gomperz (1832–1912) bezeichnete die Verteidigungsrede als „eines der männlichsten Bücher der Weltliteratur“; sie sei ein „Laienbrevier starker und freier Geister“ und wie kaum ein anderes Buch „geeignet, die Mannestugend der Fassung in die Gemüter zu pflanzen“. Rafael Ferber hat 2011 darauf hingewiesen, dass sie „in alle Kultursprachen“ übersetzt worden ist und insofern „die Sonne über der Lektüre der Apologie nie untergeht“. Auch hinsichtlich des philosophischen Gehalts findet das Werk hohe Anerkennung. Karl Popper, der ein scharfer Kritiker Platons, aber Bewunderer des Sokrates war, bezeichnete die Apologie als die schönste von allen ihm bekannten philosophischen Schriften. Rafael Ferber nennt sie „ geradezu das Gründungsdokument der westlichen Philosophie“, da hier Philosophie erstmals von den dogmatischen Naturlehren der Vorsokratiker sowie von der Sophistik abgegrenzt und als Suche nach Weisheit aufgefasst worden sei, somit als reflexive Tätigkeit des Philosophierens und nicht als Lehre. Andreas Patzer betrachtet die Apologie als „Schlüsseltext und Haupturkunde nicht nur des Sokratischen, sondern auch des Platonischen Denkens“ und konstatiert dazu: „Wer immer sich die Sache der Philosophie angelegen sein lässt, kann und darf an diesem Meisterwerk […] nicht vorbeigehen.“ Einzelfragen der Forschung Kontrovers erörtert wird in der modernen Forschung allgemein und insbesondere hinsichtlich der Apologie die Frage, inwieweit einzelne Äußerungen von Platons Sokrates ironisch gemeint sind. Das Spektrum der Deutungen reicht von der Annahme, dass in den drei Reden der Apologie nirgends Ironie in nennenswertem Ausmaß vorliegt, bis zur Hypothese, dass Ironie im Sinne von Mehrdeutigkeit ein zentrales, für Platons Zwecke erforderliches Element der Darstellung bildet. Schon Søren Kierkegaard setzte sich 1841 in seiner Dissertation mit diesem Problem auseinander; seine Ansicht war, dass „die Apologie in ihrer Ganzheit Ironie ist“. Sokrates habe das Gerichtsverfahren für lächerlich gehalten und mit durchgängig ironischen Ausführungen darauf reagiert. Bei den Befürwortern eines ironischen Sinnes mancher Darlegungen sind die Meinungen hinsichtlich der Bedeutung der mutmaßlichen Ironie geteilt. Teils wird die Ironie als bloße Spielerei, teils als von der Situation und den Anliegen des Autors geforderte Doppelbödigkeit interpretiert. Gegner eines ironischen Verständnisses betonen den Wahrhaftigkeits- und Schlichtheitsanspruch des platonischen Sokrates. Viel Beachtung findet in der Forschung auch das Verhältnis des platonischen Sokrates zu seinem Daimonion und zum Orakelspruch. Erklärungsbedürftig ist der Gegensatz zwischen der Berufung auf eine göttliche Offenbarung, für deren Wahrheitsanspruch keine Begründung vorliegt, und der Autonomie des denkenden Subjekts, das sich aus eigener Kraft um rational fundierte Einsicht bemüht. Ebenso besteht ein Gegensatz zwischen der sokratischen Erkenntnis der eigenen Unwissenheit („Ich weiß, dass ich nichts weiß“) und der Vorstellung eines aus göttlicher Quelle stammenden und daher gesicherten Wissens. Die Ausführungen des Sokrates in der Apologie erwecken den Eindruck, dass er göttliche Instruktionen erhielt, für deren Urheber er offenbar Apollon hielt, und dass diese Wissensquelle ihm eine religiöse Gewissheit verschaffte, die mit seiner philosophischen Unwissenheit kontrastierte. Eine blinde Befolgung von Anweisungen einer übermenschlichen Instanz widerspräche aber dem Anspruch des Philosophen, nur aufgrund einsichtiger Begründungen Entscheidungen zu fällen und zu handeln. Zur Erklärung wird in der Forschungsliteratur hervorgehoben, dass weder das Orakel noch das Daimonion positive Anweisungen gab. Das Orakel beantwortete nur eine Frage nach der Weisheit unter den Menschen und das Daimonion sprach nur Warnungen vor einzelnen Schritten aus. Die Überzeugung des Sokrates, er führe mit seiner philosophischen Aktivität eine göttliche Anweisung aus, konnte somit nicht mit einem direkten Befehl der Gottheit begründet werden. Vielmehr war sie das Resultat einer Folgerung, die der Philosoph aus dem Orakelspruch und verschiedenen mutmaßlichen Anzeichen des göttlichen Willens zog. Die Folgerung stimmte völlig mit dem überein, was er von sich aus für richtig hielt. Sein Handeln war also das Ergebnis seiner eigenen Überlegungen. In der neueren Forschung wird daher betont, dass sich der platonische Sokrates von seiner eigenen Urteilskraft leiten ließ. Er unterwarf die Hinweise, denen er göttlichen Ursprung zuschrieb, im Zweifelsfall philosophischer Untersuchung und interpretierte sie im Licht seiner diskursiv gewonnenen Einsichten. Ein innerer Konflikt entstand dabei nie, da der erschlossene Wille der Gottheit stets mit den Ergebnissen der philosophischen Reflexion übereinstimmte oder ihnen zumindest nicht widersprach. Albrecht Dihle stellte die Apologie an den Anfang des antiken biographischen Schrifttums. Er meinte, sie sei zwar ihrer literarischen Form nach keine Biographie, doch habe sich in ihr das biographische Element verkörpert; erstmals habe hier das Interesse am Lebenslauf einer unverwechselbaren Persönlichkeit literarischen Ausdruck gefunden. Diese Auffassung ist teils auf Zustimmung, teils auf Ablehnung gestoßen. Ihr stellte Thomas Schirren die gegenteilige Deutung entgegen: Nicht das Biographische – also ein bestimmtes Leben und die Eigenart des Individuums Sokrates – sei in der Apologie das Wesentliche, sondern das ethische Programm und die Darstellung einer philosophischen Lebensform, deren Realisierbarkeit anhand des Beispiels Sokrates bewiesen werden solle. Somit sei die Apologie „die gelungene Funktionalisierung eines individuellen Lebens durch einen fiktionalen Text“. Ausgaben und Übersetzungen Kritische Ausgaben, teilweise mit Übersetzung William S. M. Nicoll (Hrsg.): Apologia Sokratous. In: Elizabeth A. Duke u. a. (Hrsg.): Platonis opera. Band 1, Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-814569-1, S. 27–63 (maßgebliche kritische Edition). Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Band 2, 5. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 1–69 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Maurice Croiset, 9. Auflage. Paris 1966, mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage. Berlin 1818). Franz Josef Weber (Hrsg.): ΠΛΑΤΩΝΟΣ ΑΠΟΛΟΓΙΑ ΣΩΚΡΑΤΟΥΣ. 7., durchgesehene Auflage. Schöningh, Paderborn u. a. 2002, ISBN 3-506-99155-8 (Ausgabe mit knappem kritischem Apparat und Kommentar). Ausgabe für Schüler Robert Biedermann (Hrsg.): Platon: Apologie des Sokrates. Buchners Verlag, Bamberg 1994, ISBN 3-7661-5835-X (unkritische Ausgabe ohne Übersetzung speziell für Schulzwecke). Übersetzungen, teilweise mit unkritischen Ausgaben Otto Apelt (Übersetzer): Platons Apologie des Sokrates und Kriton. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge. Band 1, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (Übersetzung mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922). Winfried Czapiewski (Übersetzer): Platon über den Tod des Sokrates. Vier Schriften Platons zu Person und Tod des Sokrates: Euthyphron, Apologie, Kriton, Phaidon. Laufen, Oberhausen 2018, ISBN 978-3-87468-378-4. Rafael Ferber (Übersetzer): Platon: Apologie des Sokrates. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62221-2 (mit Nachwort); 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, München 2019, ISBN 978-3-406-73633-9. Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Platon: Apologie des Sokrates. Reclam, Stuttgart 1989, ISBN 3-15-008315-X (unkritische Ausgabe mit Übersetzung und Nachwort). Ernst Heitsch (Übersetzer): Platon: Apologie des Sokrates (= Platon: Werke. Übersetzung und Kommentar, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Band I 2). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-30401-3. Rudolf Rufener (Übersetzer): Platon: Die Werke des Aufstiegs (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke. Band 2). Artemis, Zürich und München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 211–248 (mit Einleitung von Olof Gigon). Friedrich Schleiermacher (Übersetzer): Des Sokrates Verteidigung. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Band 1, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 5–36. Lucius Annaeus Senecio (Hrsg.): Platon: Apologie des Sokrates. Ad Fontes, Berlin 2016, ISBN 978-3-945924-23-5. Literatur Übersichtsdarstellung Michael Erler: Platon (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 99–104, 582–584. Untersuchungen und Kommentare Thomas C. Brickhouse, Nicholas D. Smith: Socrates on Trial. Clarendon Press, Oxford 1989, ISBN 0-19-824466-5. Thomas C. Brickhouse, Nicholas D. Smith: Routledge philosophy guidebook to Plato and the trial of Socrates. Routledge, New York und London 2004, ISBN 0-415-15682-3, S. 69–192. Ernst Heitsch: Platon: Apologie des Sokrates. Übersetzung und Kommentar (= Platon: Werke, hrsg. von Ernst Heitsch und Carl Werner Müller, Band I 2). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-30401-3. David Leibowitz: The Ironic Defense of Socrates. Plato’s Apology. Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-19479-2. Thomas Meyer: Platons Apologie. Kohlhammer, Stuttgart 1962. C. David C. Reeve: Socrates in the Apology. An Essay on Plato’s Apology of Socrates. Hackett, Indianapolis 1989, ISBN 0-87220-088-4. Émile de Strycker, Simon R. Slings: Plato’s Apology of Socrates. A Literary and Philosophical Study with a Running Commentary. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Varusschlacht
Varusschlacht
In der Varusschlacht (auch Schlacht im Teutoburger Wald oder Hermannsschlacht, von römischen Schriftstellern als , als „Varusniederlage“ bezeichnet) erlitten in der zweiten Hälfte des Jahres 9 n. Chr. drei römische Legionen samt Hilfstruppen und Tross unter Publius Quinctilius Varus in Germanien eine vernichtende Niederlage gegen ein germanisches Heer unter Führung des Arminius („Hermann“), eines Fürsten der Cherusker. Die Schlacht, in der ein Achtel des Gesamtheeres des Römischen Reiches vernichtet wurde, leitete das Ende der römischen Bemühungen ein, die rechtsrheinischen Gebiete Germaniens bis zur Elbe (Fluvius Albis) zu einer Provinz des Römischen Reiches zu machen (Augusteische Germanenkriege). Sie gehört daher zu den wichtigsten Ereignissen in der Geschichte der Römer in Germanien und der Entwicklung Germaniens. Als Ort der Schlacht werden verschiedene Stätten in Ostwestfalen, Norddeutschland und in den Niederlanden vermutet. Seit Ende der 1980er Jahre werden intensive archäologische Ausgrabungen in der Fundregion Kalkriese am Wiehengebirge im Osnabrücker Land durchgeführt, die den Ort zu einem Favoriten in der Diskussion als Stätte der Varusschlacht machten, wobei die Lokalisierung zunächst als so wahrscheinlich galt, dass es vor Ort zur Errichtung eines Museums kam. Das Hermannsdenkmal bei Detmold im Teutoburger Wald erinnert an die Varusschlacht. Historischer Hintergrund Nach der Eroberung Galliens durch Caesar (58 v. Chr. – 51 v. Chr.) begannen vier Jahrzehnte später unter Augustus die römischen Feldzüge in das Gebiet rechts des Rheins. Augustus’ Stiefsöhne Drusus und Tiberius führten 15 v. Chr. einen Feldzug gegen die Räter und Vindeliker. Drusus, der danach den Befehl über die Legionen am Rhein übernahm, führte in den Jahren 12 v. Chr. bis zu seinem Tod 9 v. Chr. ausgedehnte Erkundungszüge östlich des Rheins durch, bei denen er Elbe und Saale erreichte. Vom Rhein aus über den Drusus-Kanal, den lacus Flevo, das Wattenmeer und die Nordsee konnte die römische Flotte die Operationen unterstützen. Mit den Drusus-Feldzügen ist die Frage aufgeworfen, welche Ziele das Römische Reich in Germanien verfolgte. Die Antworten über den Umfang der römischen Feldzüge reichen von einer Verteidigung Galliens bis zu einer über die Elbe hinausreichenden Expansion. In den letzten Jahren geht die Forschung davon aus, dass es weniger um Landgewinn als vielmehr um den Erwerb von Prestige und um Abschreckung ging. In Germanien sollte der Ruhm erworben werden, der den Kriegsherrn in der Sicht der Öffentlichkeit dazu befähigt, das Römische Reich zu beherrschen. Nach dieser Sichtweise spielte Germanien lediglich die Rolle als materies gloriae, eines Gegenstandes, der zur militärischen Qualifizierung des Nachfolgers geeignet war. Demnach konnten die Germanen für die Römer nicht als eine wirkliche Bedrohung angesehen werden. Die Römer errichteten an Rhein (Rhenus), Lahn (Laugona), Lippe (Lippia), Ems (Amisia) und an der Nordsee eine Reihe von befestigten Lagerplätzen und versuchten, unter den Stämmen Verbündete zu gewinnen. Am 1. Januar 7 v. Chr. feierte Tiberius einen Triumph über die Germanen. Tiberius ging ein Jahr später aus dynastischen Gründen in ein selbstgewähltes Exil nach Rhodos. Weitere Erfolge bei der Befriedung des Landes wurden von Lucius Domitius Ahenobarbus und nach Tiberius’ Rückkehr 4 n. Chr. erzielt. Als Bedrohung stellten sich die unter Drusus in das Gebiet des heutigen Böhmen vertriebenen Markomannen unter ihrem Herrscher Marbod dar. Im Jahr 4 drang Tiberius im Zuge des immensum bellum in Germanien ein, unterwarf die Cananefaten, Chattuarier sowie Brukterer und führte sein Heer bis über die Weser. Der im Jahr 6 gegen Marbod geplante Großangriff von zwölf Legionen unter Tiberius und Gaius Sentius Saturninus musste aber wegen des zur gleichen Zeit in Pannonien und Dalmatien ausgebrochenen Illyrischen Aufstands (6–9 n. Chr.) abgebrochen werden. Zum neuen Befehlshaber am Rhein wurde 7 n. Chr. Publius Quinctilius Varus ernannt. Quellenlage Die heute erhaltenen unmittelbar zeitgenössischen Nachrichten berichten über das Ereignis der Niederlage der Legionen des Varus nur kurz. Hierzu zählen Ovid (Tristia III, 12, 45–48), Manilius (Astronomica I, 896–903) und Strabon (Geographica VII, 1, 4). Velleius Paterculus beschreibt 30 n. Chr. die Geschehnisse sehr knapp (Historiae Romanae II, 117–119). Erwähnt wird die Schlacht daneben von weiteren Autoren, wie zum Beispiel Seneca (Epistulae morales, Brief 47), Frontinus (Kriegslisten) und Sueton. Die ausführlicheren Berichte zur Varusschlacht stammen von Tacitus Anfang des zweiten Jahrhunderts (Annalen) und von Cassius Dio Anfang des dritten Jahrhunderts (Römische Geschichte). Die literarische Überlieferung bietet nur die ausschließlich römische Sichtweise auf das Ereignis. Alle Darstellungen akzentuieren, dass der Angriff auf die römischen Truppen völlig überraschend kam und es sich um einen Hinterhalt der Germanen handelte. Alle Autoren sehen in erster Linie im persönlichen Versagen des Varus die Ursache für die Niederlage. Velleius Paterculus war Zeuge und Kriegsteilnehmer in Germanien. Velleius begründet die Knappheit seiner Schilderungen mit einem geplanten größeren Geschichtswerk über die Germanenkriege, das jedoch nicht mehr geschrieben wurde. Der Historiker gibt Auskunft über das Verhalten der römischen Offiziere und liefert genaue Angaben zu militärischen Angelegenheiten sowie zur Heeresstärke. Velleius kritisiert Varus scharf und beschreibt ihn als den Hauptverantwortlichen für die Niederlage, „der mehr Mut zum Sterben als zum Kämpfen hatte“. Der glücklose Feldherr Varus wird zum Sündenbock und in seiner Darstellung bewusst in Kontrast zum siegreichen Tiberius gesetzt. Tacitus sieht in der Freiheit der Germanen einen wichtigen Grund für die Niederlage des Varus und lobt Arminius dafür, dass er Rom „in der höchsten Blüte des Reiches“ angegriffen habe. Die Varusschlacht selbst beschreibt er nicht, wohl aber die Feldzüge des Germanicus, der das Schlachtfeld sechs Jahre nach der Niederlage wieder aufgesucht hat. Tacitus schreibt dazu, das Schlachtfeld sei im saltus Teutoburgiensis zu finden, der nicht weit von den „äußersten Brukterern“ gewesen sein soll. Cassius Dio liefert die detailreichste Beschreibung der Schlacht und stellt für zahlreiche Einzelheiten die einzige Quelle dar. Dios Bericht stammt zwar vom Beginn des 3. Jahrhunderts, jedoch verfügte Dio über sehr zuverlässige und zeitnahe Quellen. Seine Darstellung des Geschehens wird daher mehrheitlich als zuverlässig eingestuft. Tacitus und Cassius Dio benutzten ihrerseits vermutlich unterschiedliche (heute allesamt verlorene) Geschichtswerke als Quellen; in Frage kommen neben Plinius dem Älteren (dessen bella Germaniae in 20 Büchern Tacitus offenbar benutzt hat und der von Tacitus explizit als Germanicorum bellorum scriptor ‚Geschichtsschreiber der Germanenkriege‘ bezeichnet wird) etwa die libri belli Germanici bzw. die Historiae des Aufidius Bassus. Das Werk des zu Beginn des 2. Jahrhunderts schreibenden Florus (Geschichte aller Kriege, die in 700 Jahren geführt worden sind) liefert eine Darstellung, die als einzige im Ablauf der Ereignisse von anderen Quellen abweicht. Nach seiner Version wurden die Römer nicht auf dem Marsch angegriffen, sondern die Germanen seien über das Lager hergefallen, als Varus nichts ahnend im Lager Gericht abhielt. Die Darstellung gilt aber bei heutigen Historikern als wenig zuverlässig, da allein die Vorstellung, die Germanen hätten ein von drei Legionen verteidigtes Lager eingenommen, als eher unwahrscheinlich gilt. Geografische Beschreibungen des Schlachtfeldes, das etwa durch feuchtkaltes Klima, dichte Wälder und moorigen Untergrund geprägt gewesen sei, werden in der Forschung allgemein als topische Vorstellungen der Römer für nördliche Länder angesehen, welche die Autoren mittels einer Ekphrase nutzten. Andere Schlachtdarstellungen, die auf die Varus-Niederlage folgten, wie etwa die Caecinaschlacht, wurden von den antiken Geschichtsschreibern möglicherweise nachmodelliert. Folgt man dieser Annahme, so ließe sich über die Schlacht außer der bloßen Tatsache der römischen Niederlage und des Untergangs der drei Legionen in Germanien nichts weiter sagen. Das lange Zeit einzige archäologisch-epigraphische Zeugnis der Schlacht, das jedoch weder zur Frage des Orts noch zur Kenntnis des Schlachtverlaufs etwas beitrug, ist der sogenannte „Caeliusstein“, der sich heute im Rheinischen Landesmuseum Bonn befindet. Dieser Grabstein wurde im Xantener Ortsteil Birten gefunden und war für den „im Krieg des Varus“ () ums Leben gekommenen römischen Centurio Marcus Caelius errichtet worden. Das lebensgroße Bildnis darauf zeigt den römischen Offizier in voller Uniform zwischen zweien seiner Freigelassenen. Aus der unterhalb dieser Darstellung eingemeißelten Inschrift geht hervor, dass die Leiche des Caelius nicht geborgen werden konnte. Der römische Statthalter Varus Varus befand sich weit im Inneren Germaniens. Die übrigen zwei Legionen Legio I und Legio V waren unter der Führung von Varus’ Neffen, Lucius Nonius Asprenas, in Mogontiacum (Mainz) stationiert. Der römische Historiker Cassius Dio schreibt im 3. Jahrhundert über die Situation der Römer vor Ort und die von Varus angeblich begangenen Fehleinschätzungen: Der Bericht des Cassius Dio wird durch den archäologischen Befund der Siedlung Waldgirmes bei Wetzlar gestützt. Bei der Anlage scheint es sich um einen der Plätze zu handeln, über die Dio von der Einrichtung von Märkten und Städten im rechtsrheinischen Germanien schreibt. Spätestens 4 v. Chr. entstand dort eine mehrphasige Befestigungslage. Hinter ihr verbarg sich kein Befestigungslager, sondern eine Stadt in ihrer Gründungsphase. Waldgirmes gilt als das erste entdeckte Beispiel einer römischen Stadtgründung im Innern Germaniens. Der hohe Anteil an einheimischer Keramik im Fundgebiet von Waldgirmes dokumentiert die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung. Im Lager von Haltern zeugt die Produktion von Keramik von einem Marktort. In Haltern befand sich eine ungewöhnlich große Zahl an Gebäuden, in der Personen untergebracht werden könnten, die auch zivile Verwaltungsaufgaben durchführten. Angesichts der zahlreichen archäologischen Befunde im rechtsrheinischen Germanien geht die Forschung mittlerweile überwiegend von einer römischen Herrschaft ab 8/7 v. Chr. aus. Germanien war vor 9 n. Chr. nicht nur „fast“, sondern auch de jure bereits in den Status einer Provinz überführt worden und habe als befriedet gegolten. Die römische Herrschaft war aber nicht in allen Teilen Germaniens verwaltungstechnisch durchgesetzt. Varus habe vermutlich den ausdrücklichen Auftrag gehabt, die Verwaltung aufzubauen und Steuern zu erheben. Die Kritiken an Varus, die Provinzialisierung zu energisch vorangetrieben zu haben und durch Rechtsprechung und Abgaben den Widerstand der Germanen hervorgerufen zu haben, greifen die übliche Erklärung Roms zum Verständnis von Aufstandsbewegungen auf und entstammen der späteren varuskritischen Überlieferung. Arminius warf den Römern Habgier (avaritia), Grausamkeit (crudelitas) und Hochmut (superbia) vor. Arminius als Gegenspieler von Varus Varus’ Gegenspieler war Arminius, ein Fürst der Cherusker, der möglicherweise bereits als Kind oder in seiner Jugend als Geisel nach Rom gekommen und dort zum römischen Offizier ausgebildet worden war. Er galt als verlässlicher Bundesgenosse, wurde in den römischen Ritterstand erhoben, diente als Kommandeur der Hilfstruppen und verfügte über gute Kenntnisse des römischen Militärwesens. Anders als sein Bruder Flavus, der Rom immer treu blieb, wandte sich Arminius gegen die römische Oberherrschaft. Unabhängig davon, ob Varus durch sein ungeschicktes Taktieren das Ehrgefühl der germanischen Stämme verletzt hat oder bereits das übliche römische Verhalten gegenüber anderen Völkern geeignet war, diesen Widerstand hervorzurufen, war Germanien auf jeden Fall nach einem Eroberungskrieg und einem „großen Aufstand“, von dem Velleius Paterculus berichtete, nicht voll erobert und immer noch potenziell gefährdet. Der Aufstand wurde von den Cheruskern unter der Führung von Arminius und Segimer durchgeführt. Arminius gelang es wohl außerdem, die Stämme der Marser, Chatten, Angrivarier und Brukterer zu einem Bündnis zu bewegen. Er war auch in der Lage, den germanischen Stämmen die Schwachstellen der römischen Militärtechnik – und auch der eigenen Taktik – deutlich zu machen. Arminius galt als Tischgenosse des Varus und wiegte diesen in dem Glauben, er sei ein treuer Verbündeter Roms. Er wirkte dabei so überzeugend, dass Varus nicht einmal die Warnung des Fürsten Segestes ernst nahm, Arminius plane einen Verrat. Der Althistoriker Dieter Timpe betont Arminius’ Rolle als Anführer regulärer, römisch ausgebildeter cheruskischer Hilfstruppen, die wahrscheinlich gemeinsam mit den Stammeskriegern im Aufstand kämpften. Auch der Archäologe Heiko Steuer sieht einen möglichen Wandel in der Interpretation: „aus den ‚Freiheitskämpfern‘ wird aufständisches römisches Militär“. Verlauf der Schlacht Der Ausgangspunkt des verhängnisvollen Zuges war nach Cassius Dio die Weser im Gebiet der Cherusker. Doch die Nachricht über einen vermeintlich kleinen, regionalen Aufstand habe Varus veranlasst, einen Umweg durch ein den Römern weitgehend unbekanntes Gebiet zu nehmen. In unwegsamem Gelände seien Arminius und seine Verschwörer vorausgegangen, angeblich um Verbündete heranzuführen. Der weitermarschierende Varus sei dabei in einen von Arminius sorgfältig geplanten Hinterhalt geraten. Man geht davon aus, dass der Zug der Streitmacht, die drei Legionen XVII, XVIII, XIX, drei Alen (Reitereinheiten) und sechs Kohorten mit insgesamt 15.000 bis 20.000 Soldaten, dazu 4.000 bis 5.000 Reit-, Zug- und Tragtiere umfasste, 15 bis 20 km lang gewesen sein muss. Für die Schlacht wird von Cassius Dio das Jahr 9 angegeben, von Sueton das Jahr 10. Historiker wie zum Beispiel Theodor Mommsen vermuten, dass „der letzte Marsch des Varus offenbar der Rückmarsch aus dem Sommer- in das Winterlager“ war. Als Jahreszeit wird allgemein der Sommer oder Herbst angenommen. Der ausführlichste Bericht über die Schlacht stammt vom römischen Historiker Cassius Dio, abgefasst rund 200 Jahre nach dem Ereignis. Die Schlachtschilderung selbst enthält zwar rhetorische Elemente, doch wird die differenzierte Beschreibung der Geländeformation als Beleg dafür gesehen, dass es sich nicht nur um eine bloße Ansammlung von Topoi handelt, sondern dass wirkliche Nachrichten zugrunde liegen. Die althistorische Forschung geht von der Zuverlässigkeit der Angaben Dios aus. Dio berichtet ohne die in den sonstigen Quellen üblichen einseitigen Schuldzuweisungen an Varus. In seinem Bericht heißt es: Als entscheidend für Verlauf und Ausgang der Kämpfe werden von allen Quellen die topografischen Bedingungen genannt. Diese werden durch unübersichtliche Waldgebiete, Sümpfe und Moorböden charakterisiert. Danach hatten die Römer keine Möglichkeit, sich zu wehren. Als Arminius und seine Verbündeten angriffen, gelang es den überraschten Legionen, die sich mit ihrem Tross über eine lange Strecke zogen, nicht, eine Kampfformation zu bilden. Zusätzlich wird für den ersten und dritten Tag von heftigem Sturm und Regenfällen berichtet. Die Römer kämpften dabei nicht nur gegen germanische Krieger, sondern auch gegen die abtrünnigen germanischen Hilfstruppen. Die Germanen verschafften sich im Verlauf der Kämpfe durch ihre besseren Geländekenntnisse Vorteile. Hingegen waren die Römer weniger für einen Einzelkampf ausgebildet und kamen wohl nicht zuletzt durch ihre schwere Rüstung mit den Verhältnissen nicht zurecht. Dennoch gelang es den Römern während der Kämpfe, zeitweise offenes Gelände zu erreichen und auf einem bewaldeten Hügel ein Lager aufzuschlagen. Der Tross wurde durch Verbrennung nicht dringend benötigter Gegenstände verkleinert. Doch war es anscheinend unumgänglich, den Weg erneut auf unübersichtlichen Waldwegen fortzusetzen. Erst jetzt scheinen die Angriffe der Germanen wieder eingesetzt und die Römer nach Dio ihre schwersten Verluste erlitten zu haben. Die Kämpfe dauerten insgesamt wohl über drei Tage. Nach einer strittigen Textstelle von Cassius Dio kann sich das Kampfgeschehen auch bis zum „vierten Tag“ hingezogen haben. Varus selbst tötete sich gemeinsam mit hohen Offizieren, um der Gefangenschaft zu entgehen. Die Soldaten haben anscheinend noch vergeblich versucht, den Feldherrn zu bestatten. Die römischen Verluste gibt Velleius mit insgesamt drei Legionen, drei Alen und sechs Kohorten an. Zum Zeitpunkt des Überfalls waren mindestens fünf Legionen im rechtsrheinischen Germanien. Den beiden Legionen, die Asprenas kommandierte, war die sichere Rückführung an den Niederrhein und die Stabilisierung der dortigen Stellung gelungen. Inwieweit diese Truppen in Kampfhandlungen verwickelt waren, ist unklar. Das Haupt des Varus wurde im Rahmen eines Bündnisangebotes an den Markomannenkönig Marbod in dessen böhmische Residenz gesandt. Marbod lehnte die Avance jedoch ab und schickte die Trophäe an die Familie des Varus nach Rom. Kaiser Augustus soll angesichts der Niederlage ausgerufen haben: Die tiefe Verzweiflung und Depression des Augustus entsprach durchaus den auch von der Öffentlichkeit erwarteten Regeln der Trauer. Augustus ließ das abgeschlagene Haupt in dem für ihn selbst vorgesehenen Mausoleum bestatten, eine Ehre, die nur äußerst verdienten Angehörigen der römischen Oberschicht vorbehalten war. Die besiegten Legionen wurden nach der Katastrophe, einzigartig in der römischen Militärgeschichte, nicht wieder aufgestellt. Eine symbolische Ächtung, um etwa der Öffentlichkeit einen Hauptschuldigen zu präsentieren, gab es nicht. Erst in der Zeit der Hochverratsprozesse unter Kaiser Tiberius und nach dem Ausscheiden der Familie aus der Führungsschicht des Reiches entstand das negative Varus-Bild. Auswirkung der römischen Niederlage Germanen Nach der Varusniederlage kam es zu einer „westwärtsgerichteten Offensive“ der Germanen, in deren Verlauf sie fast alle Kastelle eroberten. Der Versuch, gegen Rom eine breite Allianz mit den in Böhmen siedelnden Markomannen zu schmieden, schlug fehl, da Marbod das Vertragsangebot ablehnte. Hinzu kam, dass unter den germanischen Stämmen nach der Schlacht Zwist aufkam. An der Spitze der romfreundlichen Partei stand Segestes. Mit Hilfe von Germanicus konnte er seine von Arminius „entführte“ und von diesem schwangere Tochter Thusnelda wieder unter seine Verfügungsgewalt bringen. Er übergab sie Germanicus, der sie in Ravenna festsetzen ließ. Dass Arminius im Jahr 19 aber Marbod besiegen konnte, mag damit zusammenhängen, dass aus dessen Machtbereich die Semnonen und Langobarden zu ihm übergegangen waren. Er scheiterte jedoch beim Versuch, seine Machtstellung bei den Cheruskern auszubauen. Ein Angebot des Chattenfürsten Adgandestrius, Arminius mit Gift umzubringen, wurde von Rom abgelehnt. Der Vorgang verdeutlicht die innergermanischen Rivalitäten. Im Jahr 21 wurde Arminius von Verwandten ermordet. Nach Tacitus spielte hierbei sein Streben nach der Königsherrschaft die entscheidende Rolle. Römer Feldzüge des Tiberius und Germanicus Die katastrophale Niederlage des Jahres 9 n. Chr. hatte kurzfristig den fast völligen Rückzug Roms auf die Ausgangspositionen vor der Offensive von 12 v. Chr. zur Folge. Der Verlust von drei Legionen, sechs Kohorten und drei Alen ging mit der Zerstörung römischer Kastelle zwischen Rhein und Weser einher und bedeutete die zeitweilige Preisgabe aller darüber hinausgehenden Ambitionen. Kastelle, Bergwerke und Niederlassungen, wie zum Beispiel Waldgirmes oder Marktbreit, wurden aufgegeben und sogar planmäßig zerstört. Befürchtungen in Rom bestätigten sich allerdings nicht, die Germanen könnten den Rhein überqueren und die gallischen Stämme die Situation für einen Aufstand nutzen. Augustus ließ zur Vermeidung von Unruhen in der Stadt Rom überall Wachen aufstellen. Gallier und Germanen wurden aus der Stadt verwiesen und die germanische Leibwache wurde auf eine Insel deportiert. Die Varusschlacht bedeutete keineswegs das Ende der römischen Militärpräsenz in Germanien, vielmehr verfolgte Augustus auch danach ein offensives Konzept. Noch 9 oder 10 n. Chr. konnte Lucius Nonius Asprenas zur Befreiung der eingeschlossenen Truppen des nicht sicher zu lokalisierenden Lagers Aliso beitragen. Die drei verlorenen Varus-Legionen wurden sofort ersetzt (ohne allerdings die alten Bezeichnungen als 17., 18. und 19. Legion wieder aufzunehmen) und die Gesamtzahl der Rheinlegionen von sechs auf acht erhöht. Ebenso wurde die Flotte wieder eingesetzt. Augustus berichtet in den (26) wie folgt: Dieser Satz des Princeps lässt keinerlei Gedanken an Rückzug oder Resignation erkennen. Die Varusniederlage wurde im offiziellen Sprachgebrauch der , des Tatenberichts des Augustus, sogar verschwiegen. Der Satz ist vielmehr vom imperialen Stolz des Princeps auf die Eroberung einer so weitreichenden Ozeangrenze geprägt. Er zeigt auch, dass Augustus den Anspruch auf Germanien bis zu seinem Tod nicht aufgegeben hat. Tiberius wurde nach der Niederlage des Varus von Augustus wieder mit dem Kommando in Germanien betraut. Allerdings konnte er sich im Jahre 10 n. Chr. noch nicht entschließen, den Rhein zu überqueren. Ob seine große Zurückhaltung unmittelbar nach der Varusschlacht eher gegen einen Plan für die sofortige Rückeroberung des Raumes zwischen Elbe und Rhein spricht oder allein kluge Vorsicht widerspiegelt, ist in der Forschung sehr umstritten. In den folgenden Jahren überschritt Tiberius aber mehrmals den Rhein und drang tiefer ins Landesinnere vor. Schließlich sei er, so der Zeitzeuge Velleius Paterculus, mit Ruhm bedeckt in das Winterlager zurückgekehrt. Der Erfolg dieser Feldzüge des Tiberius wird in späteren antiken Quellen und in der modernen Forschung anders bewertet als bei Velleius. Nach Dio kam es zu keinen militärischen Auseinandersetzungen, da die Römer aus Furcht vom Rhein aus nicht weit vorrückten. Auch in der Forschung wird Velleius’ Darstellung der Feldzüge angezweifelt, da Velleius dazu neigte, die Leistungen des Tiberius deutlich überzubewerten. Außerdem sind keine Spuren von Militärwegen oder Anzeichen von Holzkohleschichten entdeckt worden, wie sie bei einem großflächigen Abbrennen von Siedlungen zu erwarten gewesen wären. Daran, dass Tiberius seine Truppen über den Rhein führte, besteht hingegen kein Zweifel. Doch lässt sich durch die spärliche Quellenlage nicht erhellen, was Tiberius in den drei Jahren in Germanien getan und erreicht hat. Im Jahr 14 begann Germanicus, der zum Jahresende 12 das Militärkommando übernommen hatte, erneut mit Feldzügen in Germanien. Die Germanicus-Feldzüge (14 bis 16 n. Chr.) richteten sich besonders gegen die Cherusker, Brukterer, Marser, Angrivarier und Chatten. Germanicus erhielt wohl schon in seinem ersten Jahr eine imperatorische Akklamation. Die noch unter Augustus erfolgte Auszeichnung ist ein deutliches Indiz für sein offensives Vorgehen. Unmittelbar nach dem Tod des Augustus gelang es Germanicus, eine Meuterei der Rheinlegionen zu unterdrücken. Anschließend führte Germanicus das Heer im Spätherbst in den rechtsrheinischen Raum. Das Ziel waren die germanischen Marser zwischen oberer Lippe und oberer Ruhr. In einem Umkreis von 50 römischen Meilen (rund 75 km) wurde das Land verwüstet. Auf dem Rückweg gerieten die Römer in einen Hinterhalt der Brukterer, Tubanten und Usipeter. Ihnen gelang es jedoch, sich gegen die Germanen durchzusetzen. In den Jahren 15 und 16 gab es zwischen den Römern und Germanen mit Beteiligung von Arminius mehrere große Schlachten, darunter die Schlacht an den Pontes longi, die Schlacht auf dem Idistavisischen Feld und die Schlacht am Angrivarierwall. Germanicus gelang es, zwei Legionsadler zurückzugewinnen, und er nahm Thusnelda, die schwangere Ehefrau von Arminius, gefangen. Bestattung der Gefallenen des Varusheeres unter Germanicus Der römische Historiker Tacitus beschreibt das Schlachtfeld, wie es noch im Jahre 15 von Germanicus vorgefunden wurde: Die Bestattung der Gefallenen des Varusheeres wurde von Tiberius kritisiert. Die Furcht der Soldaten würde sich durch den Anblick der erschlagenen und unbestatteten Soldaten noch vergrößern und ihre Kampfkraft lähmen. Außerdem habe Germanicus aufgrund seines Priesteramtes als Augur sich nicht mit der Bestattung der Soldaten befassen dürfen. Abberufung des Germanicus und Verzicht auf das rechtsrheinische Germanien Letztlich gaben die Römer nach einigen Jahren aber den Versuch auf, die Folgen der Varusschlacht zu revidieren. Die Feldzüge wurden durch den neuen Kaiser Tiberius im Jahre 16 beendet, weil der Aufwand an Menschen und Material für die Römer zu hoch wurde und eine indirekte Kontrolle Germaniens zu genügen schien. Tiberius kritisierte insbesondere die Art der Kriegsführung und die hohen Verluste. Er verwies dabei auf die von ihm selbst geführten Kämpfe in Germanien, in denen er plura consilio quam vi (mehr durch kluges Vorgehen als Gewalt) erreicht hätte. Es mögen aber auch noch andere Motive eine Rolle gespielt haben. Tiberius berief sich dabei auf den angeblichen Rat des Augustus, das Reich in seinen gegenwärtigen Grenzen zu belassen (consilium coercendi intra terminos imperii). Die Historizität des consilium coercendi wird allerdings in der modernen Forschung angezweifelt, Germanicus wurde ein Triumph de Cheruscis Chattisque et Angrivariis quaeque aliae nationes usque ad Albim colunt (Über die Cherusker und Chatten sowie die Angrivarier und die anderen Volksstämme, die im Gebiet bis zur Elbe wohnen) bewilligt und er selbst mit einem Kommando im Osten betraut. Der letzte Legionsadler wurde erst 30 Jahre später unter Kaiser Claudius zurückgegeben. Letzte Überlebende aus der Schlacht wurden fast 40 Jahre später befreit. Das seit Augustus ungelöste „Germanenproblem“ fand mit der offiziellen Einrichtung der zwei „germanischen“ Provinzen Germania inferior und Germania superior unter Kaiser Domitian sein Ende. Unter Trajan wurden Truppen vom Rhein an die Donau verlegt und das Römische Reich erhielt durch die Eroberung des Dakerreiches im heutigen Rumänien sowie die weiträumige Offensive im Osten des Römischen Reiches seine größte Ausdehnung. Selbst der expansive Kaiser Trajan unternahm nichts zur Wiedereroberung Germaniens. Erst dieser Verzicht Roms, nach einem Jahrhundert, ließ der Varusschlacht im Nachhinein historische Bedeutung zuwachsen. Allerdings unternahmen die Römer auch später noch begrenzte Feldzüge tief in das „freie Germanien“, wie unter anderem die Funde des Harzhornereignisses 2008 beweisen, wodurch Aussagen in schriftlichen Quellen bestätigt wurden. Diese waren jedoch vor allem zur Vorfeldsicherung der Grenze gedacht. Der letzte römische Feldzug jenseits des Rheins unter dem Befehl eines Kaisers wurde 378 von Gratian unternommen. Lokalisierung der Schlacht Seit Jahrhunderten ist die geographische Lage des Schlachtfeldes umstritten, da die schriftlichen Zeugnisse zur Varusschlacht keine genaue Lokalisierung zulassen. Theorien und Spekulationen über den Ort der Schlacht Erste Versuche, den Schauplatz aufzuspüren, gab es bereits im 11. Jahrhundert. Bischof Otto von Freising bezeichnete in seiner zwischen 1143 und 1146 verfassten Chronik Augsburg als Ort der Varusschlacht. Diese Lokalisierung erfreute sich in den folgenden Jahrhunderten großer Beliebtheit und wurde von Gelehrten wie Konrad Peutinger und Conrad Celtis vertreten. Weniger Verbreitung fanden Vorschläge, die Schlacht in der Gegend von Mainz oder auch Frankfurt zu lokalisieren. Mit der Wiederentdeckung der Annalen des Tacitus um 1507 erhielt die Frage nach dem Ort eine neue Grundlage. Der Geschichtsschreiber Tacitus berichtet von einem Vorstoß fünf Jahre nach Varus’ Niederlage: Daraus ergab sich der Begriff von der „Schlacht im Teutoburger Wald“. Georg Spalatin mutmaßte 1535 aufgrund des Gleichklangs des Namens Teutoburg den Ort bei Duisburg. In weiteren Lokalisierungsversuchen führten Beatus Rhenanus den Lippischen Wald, Philipp Melanchthon den Osning (heute Teutoburger Wald genannt) bzw. Kassel und Martin Luther den Harz an. Doch alle als ernst zu nehmen geltenden Versuche gingen seit jener Zeit von Tacitus’ Feststellung aus, der Saltus Teutoburgensis liege „nicht weit“ von dem Gebiet zwischen Ems und Lippe. Im Jahre 1616 prägte Philipp Clüver die neue Bezeichnung „Teutoburger Wald“ für den „Osning“. Sie wurde 1672 durch die Monumenta Paderbornensia von Ferdinand von Fürstenberg maßgeblich weiterverbreitet. Historiker, Archäologen, Heimatforscher und anderweitig Interessierte entwickelten seit dem 16. Jahrhundert mindestens 700 Theorien und Spekulationen zum Ort der Varusschlacht. Der Prähistoriker und Provinzialarchäologe Harald von Petrikovits bündelte die Vielzahl möglicher Orte geographisch zu größeren Theorie-Einheiten. Die von Fachleuten als am wahrscheinlichsten angesehenen Plätze liegen dabei fast alle in Ostwestfalen oder in daran angrenzenden Gebieten. Petrikovits zufolge gibt es dort vier Gruppen von Orten, an denen das Schlachtgeschehen jeweils angesiedelt wird: nach der Nordtheorie am nördlichen Rand von Wiehen- und Wesergebirge, wo sich der Fundplatz Kalkriese befindet; nach der Nordosttheorie im Gebiet des Teutoburger Waldes oder zwischen ihm und der Weser; nach der Münsterländer Theorie im Gebiet westlich bzw. südwestlich des Teutoburger Waldes; nach der Südtheorie in dem Bergland südöstlich der Münsterländer Bucht. Kalkrieser-Niewedder Senke Die archäologischen Funde in Kalkriese zeigen, dass dort eine römisch-germanische Auseinandersetzung stattgefunden hat. Bereits 1885 vermutete Theodor Mommsen aufgrund der untypischen Fundhäufung römischer Münzen, dass die Varusschlacht dort stattgefunden habe. Die Entdeckungen des britischen Majors Tony Clunn von 162 Denaren (1987) und der Fund von drei Schleuderbleien (1988), die zumindest die zeitweilige Anwesenheit von römischen Truppen am Ort belegen, leiteten eine systematische Untersuchung des Fundortes ein. In jüngerer Zeit wurden am Fundort bislang acht Knochengruben entdeckt. In einigen lassen sich allerdings nur die Überreste eines Individuums nachweisen. In der „Großen Knochengrube“ befanden sich mindestens neun Leichen, wobei manche Knochen eindeutige Kampfverletzungen aufweisen. In Kalkriese wurden über 4000 Stücke, zum größten Teil Kleinstobjekte, gefunden. Allerdings ist bislang nur ein Teil des Geländes durch Ausgrabungen erschlossen worden. Da die neueren Funde bei Kalkriese auch Kampfhandlungen belegen, wurde dieser Ort zu einem Favoriten in der Diskussion um den Ort der Schlacht. Andererseits reichen diese Befunde noch nicht aus, um Kalkriese als Ort der Varusschlacht nachzuweisen, da in verschiedene Schlachten geführt wurden, darunter auch später noch unter dem römischen Feldherrn Germanicus. Gegen Kalkriese als Ort der Varusschlacht spricht, dass dort bisher weder das für römische Soldaten so typische Essgeschirr, Terra Sigillata, noch sonstige, für Römer bekannte Keramik gefunden wurde. Es fehlt in Kalkriese jeglicher epigraphischer Hinweis über die Anwesenheit der drei vernichteten Legionen. Außerdem sind sämtliche Knochen und Knochenfragmente lediglich 17 Individuen zuzuordnen, was gegen Kampfhandlungen in der Größenordnung der Varusschlacht spricht. Vor allem aber lassen sich die archäologischen Befunde kaum mit den literarischen Angaben in Einklang bringen. Die Konsequenzen, die die Forschung daraus zieht, sind unterschiedlich. Klaus Bringmann sieht den archäologischen Befund als Beleg für ein vermutetes größeres Ganzes und spricht von einer „glänzenden Bestätigung“ des Berichts des Cassius Dio, der „in vollem Einklang mit dem archäologischen Befund von Kalkriese“ steht. Nach Meinung mancher Archäologen war das Ereignis der Varuskatastrophe viel kleiner, als es in den literarischen Quellen erscheint. 2022 gaben Forscher des Deutschen Bergbau-Museums Bochum neue Hinweise zur Verortung der Varusschlacht bei Kalkriese bekannt. Durch chemische Untersuchungen identifizieren sie anhand des „metallurgischen Fingerabdrucks“ die Anwesenheit der geschichtlich überlieferten 19. Legion als Teilnehmer der Varusschlacht im Gebiet von Kalkriese. Sie hatten rund 550 Proben aus Buntmetallfunden von sieben Legionsstandorten miteinander abgeglichen. Der Abgleich ergab signifikante Übereinstimmungen zwischen den Buntmetallfunden wie Gürtelschnallen, Gewandnadeln und Riemenhaltern aus Kalkriese und denen des Römerlagers Dangstetten, in dem die 19. Legion Jahre vor der Varusschlacht stationiert war. Numismatische Ansätze Schon seit dem Beginn einer ernstzunehmenden archäologischen Auseinandersetzung um den Ort der Varusschlacht standen die Fundmünzen als gut zu datierende Objekte im Mittelpunkt des Interesses. Theodor Mommsen ließ 1884 die Sammlung römischer Münzen aus dem Gut Barenau bei Kalkriese untersuchen und stellte dazu fest: „Meines Erachtens gehören die in und bei Barenau gefundenen Münzen zu dem Nachlass der im Jahre 9 n. Chr. im Venner Moore zu Grunde gegangenen Armee des Varus.“ Nach den neueren Bodenfunden wurden auch die Neufunde an Münzen einer Neubewertung durch den Numismatiker Frank Berger (1996) unterzogen. Berger legte sich, Mommsen folgend, darauf fest, dass in der Kalkrieser-Niewedder Senke nicht nur ein Nebenkriegsschauplatz war, sondern die Varusschlacht selbst sich abgespielt habe. Dafür führt er die Menge der Münzen an, die andernorts niemals außerhalb von Lagern oder Siedlungen gefunden worden ist. Auch über die Datierung des gesamten Bestandes – neben der im Zweiten Weltkrieg abhandengekommenen Sammlung Barenau – aus Prospektionsfunden 2 Gold-, 461 Silber- und 251 Kupfermünzen sowie 340 römische Münzen aus Grabungen sind sich Berger und Archäologe Wolfgang Schlüter sicher, diesen auf das Jahr 9 n. Chr. fixieren zu können. Ebenso wie bei dem Disput über Kalkriese als Ort der Varusschlacht selbst erhielt Berger bald Widerspruch von Reinhard Wolters (2000) und Peter Kehne (2000). Sie kritisierten, dass die Münzfunde selbst nur einen terminus post quem als Datierungsansatz lieferten, der ebenso gut auf die Feldzüge des Germanicus anwendbar sei. Berger räumte ein, dass der Kern der Einschätzung nicht an den Münzprägungen orientiert sei, sondern an den Gegenstempeln auf den Münzen, hier besonders an denjenigen des Varus („VAR“) und des C. Numonius Vala („C. VAL“). Diese wurden vermutlich im Rahmen von Donativen aufgeprägt und an die Truppen verteilt. Sie können nicht vor 7 n. Chr. entstanden sein. Auf der anderen Seite kommen in Kalkriese keine Münzen vor, die nach 9 n. Chr. geprägt wurden. Der häufigste Denartyp ist der des Augustus für seine Enkel Caius und Lucius. Der 12 n. Chr. zeitlich folgende Denartyp ist nicht mehr in Kalkriese vertreten. Allerdings sind die Verteilungswege der frischgeprägten Münzen von der Münzstätte bis zu den Soldaten in Germanien ebenso wenig bekannt wie die Dauer dieses Vorgangs. Überdies war die Münzprägung unregelmäßig und die Soldaten wurden vielfach mit alten und bereits im Umlauf befindlichen Münzen bezahlt. Ein Kern des Problems ist die Datierung der Münzhorizonte aus den Legionslagern an der Lippe von Konrad Kraft aus dem Jahr 1956, die in wesentlichen Zügen noch bis heute gültig ist. Kraft analysierte das Vorkommen der wichtigsten Münzserien, der Lyoner Altar-Serie und der Nemausus-Asse in den Lagern Haltern und Oberaden. Die Arbeit konnte jedoch noch keine Aussagen zum Horizont eines Fundplatzes aus der Zeit der Feldzüge des Germanicus treffen, weil solche zu dieser Zeit noch nicht bekannt waren. Wolters befürchtete Zirkelschlüsse zu anderen archäologischen Fundgattungen, etwa zur Terra Sigillata, für die Haltern einen wichtigen Datierungshorizont bildet. Hieraus ergibt sich auch die Frage, ob Haltern wirklich mit dem bei Velleius erwähnten Aliso identisch sein kann. Nach Berger stimmt das Enddatum von Haltern mit der Datierung von Kalkriese überein. Die im Einzelnen nicht unberechtigten Zweifel können aber nicht die schlüssige Münzdatierung auf Basis der Arbeiten von Kraft und Berger mit der Methodik insgesamt in Frage stellen. Die Gegenstempel auf Münzen wurden von Kehne teilweise stark abweichend gedeutet: „C.VAL“ deutet er als Pro Caesaris Valetudine („für die Gesundheit Caesars“), zu den Gegenstempeln „AVC“, die Berger und Ulrich Werz als AVG(ustus) lesen, mutmaßt Kehne AV(lus) C(aecina), wobei die Abkürzung des Vornamens Aulus höchst unüblich erscheint. Berger warf besonders Kehne Beliebigkeit der Argumente vor und führte Vergleiche zum Legionslager Augsburg-Oberhausen an, das besonders bei den Kupfermünzen eine andere Zusammenstellung aufweist. Letztlich wird seine These durch die Menge von über 3000 gefundenen Münzen gestützt, die in Norddeutschland einzigartig ist. Rezeption Humanismus und Reformation Im Mittelalter besaß die Varusschlacht keine Bedeutung. Das Interesse galt vornehmlich der Reichs- und Kirchengeschichte. Die neuzeitliche Rezeptionsgeschichte der Varusschlacht begann mit der Wiederentdeckung der Schriften des Tacitus (1455 die , 1507 die Annalen). Humanisten nördlich und südlich der Alpen interpretierten das Gefundene allerdings in unterschiedlicher Weise. Enea Silvio Piccolomini stellte fest, dass es den Deutschen des 15. Jahrhunderts viel besser ging als den Menschen im „alten Germanien“. Er führte diese Verbesserung auf den Einfluss Roms und der römischen Kirche zurück und begründete damit die Legitimität von Abgaben an die Kurie. Deutsche Humanisten wie Conrad Celtis und Heinrich Bebel stellten dagegen Tacitus’ Beschreibung der Germanen als treu, gerechtigkeitsliebend, keusch, freigiebig, fromm, aufrichtig und freiheitliebend in den Vordergrund und schrieben diese Eigenschaften dem „deutschen Volkscharakter“ zu. Gerade diese Eigenschaften waren für den ideologischen Streit mit Rom so geeignet, dass sie sich zu einem schon immer vorhandenen Gegensatz hochstilisieren ließen. Zugleich eigneten sie sich zur Vereinnahmung der Varus-Schlacht als den Beginn der deutschen Geschichte. Für Ulrich von Hutten stand Arminius auf einer Ebene mit den größten Feldherren des Altertums. 1529 verfasste er den Arminius-Dialog, ein fiktives Gespräch zwischen Arminius, Alexander dem Großen, Hannibal und Scipio dem Älteren. Für Hutten bedeutete Arminius' Sieg über das Heer des Varus den Eintritt in die Geschichte der Deutschen. Die Eindeutschung „Arminius“ zu „Hermann“ erfolgte im Umfeld Martin Luthers. Luther drückte seine Sympathie für den Cherusker folgendermaßen aus: „Wenn ich ein poet wer, so wolt ich den celebriren. Ich hab in von hertzen lib“. Spätestens 1543 durch das von Burchard Valdis geschriebene Reimgedicht über die Zwölf ersten alten Teutschen König und Fürsten hatte sich Hermann als „richtiger Name“ des Arminius durchgesetzt. Eine allgemeine Arminius-Begeisterung gab es im 16. Jahrhundert allerdings noch nicht. Die Katholiken waren ganz im Sinne von Enea Silvio Piccolomini froh, dass sie sich durch das Christentum gegenüber der „Arminischen Barbarey“ kulturell hochgearbeitet hatten. Doch auch unter den Protestanten gab es kritische Töne. Problematisch empfand man, dass Arminius sich gegen die Obrigkeit auflehnte. So schrieb der Lutherfreund und Humanist Georg Spalatin, der eine deutsche Ausgabe aller Arminius betreffenden römischen Quellen besorgte, Arminius habe „Glauben, Friede und Treue“ gebrochen und die Germanen dazu verführt, „ihre Ehre nicht gut versorgt“ zu haben. 18. Jahrhundert Entgegen dem Zeitgeist des 18. Jahrhunderts, der die kulturellen Wurzeln Deutschlands im griechischen und römischen Altertum suchte, verortete Justus Möser in seiner 1768 erschienenen „Osnabrückischen Geschichte“ das Idealbild menschlicher Gemeinschaften nicht in den Stadtstaaten des alten Griechenland, sondern in der „germanischen Urgesellschaft“ zwischen Arminius und Karl dem Großen. Zuvor hatte er in seinem 1749 geschriebenen Trauerspiel „Arminius“ seine Titelgestalt als Vorbild dargestellt. Johann Gottfried Herder griff in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ 1774 Mösers Gedanken auf, indem er die Gesetze der Germanen rühmte und sich von der griechischen und der römischen Antike bewusst abgrenzte. Einige Autoren des 18. Jahrhunderts sahen die Varusschlacht auch als Antithese zu der vor allem in Frankreich vertretenen Position, Deutschland sei kulturunfähig, politisch zerrissen und ökonomisch rückständig: Arminius habe eine Nation angeführt, die sich geeinigt habe, dem übermächtigen Eroberer mutig entgegengetreten sei und ihn – im Gegensatz zu den Franzosen, die mit Vercingetorix und der Schlacht um Alesia unterlagen – auch vernichtend geschlagen habe. Vor diesem geistigen Hintergrund widmeten einige deutschsprachige Autoren des 18. Jahrhunderts Arminius, seinem Liebesdrama mit Thusnelda und seinem Kampf gegen die Römer mehrere Opern und Theatertragödien. Friedrich Gottlieb Klopstock stellte in seiner „Hermann-Trilogie“ („Hermanns Schlacht“ 1769, „Hermann und die Fürsten“ 1784, „Hermanns Tod“ 1787) Arminius als Helden dar, der sich für das Vaterland geopfert habe. Er machte ihn dabei nicht nur zum Sieger gegen die Römer, sondern auch zum Retter der deutschen Kultur und Sprache; gleichzeitig trug er zur Verbreitung der Bezeichnung „Hermannsschlacht“ bei. Gleichwohl bezogen die tonangebenden Dichter um 1800 ihre Stoffe nicht aus dem Arminius-Mythos, sondern aus der Gegenwart oder dem Mittelalter. Als Friedrich Schiller die Geschichte eines Freiheitshelden auf die Bühne bringen wollte, wählte er nicht Arminius, sondern Wilhelm Tell. Von den Befreiungskriegen bis zur Reichsgründung Eine neue Dynamik gewann die Deutung der Varusschlacht im Zuge der napoleonischen Besetzung Deutschlands und der Befreiungskriege. Der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt verglich 1805 Napoleon mit den Feldherren des alten Rom und forderte einen „neuen Hermann“ als Heilsbringer. Johann Gottlieb Fichte behauptete 1808 wie Klopstock, dass man den Germanen die deutsche Sprache und den Erhalt des deutschen Freiheitsdranges verdanke. Im gleichen Jahr schrieb Heinrich von Kleist sein Drama „Die Hermannsschlacht“, in dem die Römer eine Allegorie auf die Franzosen und die Cherusker eine Allegorie auf die Preußen waren. Da aber das Drama zunächst weder gedruckt noch aufgeführt wurde, erzielte es auch keine zeitnahe Wirkung. Ganz anders Friedrich Ludwig Jahn, der ebenfalls Franzosenhass mit Hermannmythos verband, Arminius 1810 als „Volksheiland“ bezeichnete und das Datum der Varusschlacht als Nationalfeiertag eingesetzt wissen wollte. Er schrieb eine fiktive „Rede des Arminius an die Deutschen vor der Teutoburger Schlacht“, mit der er Freischärler für das Lützowsche Freikorps anzuwerben suchte. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig wurde diese von patriotischen Kreisen als „Neue Hermannsschlacht“ tituliert. Im gleichen Jahr veröffentlichte Arndt einen „Katechismus für den teutschen Kriegs- und Wehrmann“, in dem er die deutsche Geschichte mit Arminius beginnen ließ. Nach dem Wiener Kongress wurde Arminius von der preußischen und österreichischen Obrigkeit eher als Bedrohung wahrgenommen. Die Burschenschaften, die sich Namen wie „Germania“, „Arminia“ oder „Teutonia“ gegeben hatten, wurden verboten, Arndt entzog man die Lehrerlaubnis, Jahn musste gar ins Gefängnis. Der von Ernst Münch 1822 ins Deutsche übersetzte Arminius-Dialog Huttens wurde in Preußen verboten. Christian Dietrich Grabbe zeichnete in seinem 1836 fertiggestellten Geschichtsdrama „Die Hermannsschlacht“ ein realistischeres Bild der historischen Ereignisse als Kleist. Heinrich Heine verspottete 1844 in Caput XI von „Deutschland. Ein Wintermärchen“ die Vereinnahmung der Varusschlacht durch den deutschen Nationalismus. Freiligrath stellte die historische Kontinuität zwischen Germanen und Deutschen über die Zeit der Völkerwanderung hinweg in Frage. Immermann relativierte die Bedeutung von Arminius' Sieg angesichts der Tatsache, dass Germanicus schon sechs Jahre später wieder römische Truppen zum Ort der Varusschlacht führte. Ein Denkmal wurde der Varusschlacht dagegen in der 1842 fertiggestellten Walhalla gesetzt, in deren nördlichem Giebelfries sie dargestellt ist. Ernst von Bandel und Moritz Leopold Petri verfolgten über mehrere Jahrzehnte hinweg die Idee der Errichtung eines Arminiusdenkmals. 1838 wurde der „Verein für das Hermannsdenkmal“ gegründet, 1841 der Grundstein gelegt. Die Beschaffung der notwendigen Mittel erwies sich als sehr mühevoll. Erst nach der Reichsgründung 1871 wurde das Denkmal fertiggestellt, an seiner Einweihung am 17. August 1875 nahmen Kaiser Wilhelm I. und 30.000 Zuschauer teil. Bei den anlässlich der Einweihungsfeier gehaltenen Reden und in einigen Inschriften wurden Arminius und Wilhelm gleichgesetzt. Die Militärkapellen spielten – nach einer Melodie von Josef Gung’l – Joseph Victor von Scheffels Lied „Teutoburger Schlacht“, das dieser 1848 als „Bummellied“ geschrieben hatte. Ebenfalls begann sich im Zuge des Deutsch-Französischen Krieges und der Proklamation des Kaiserreiches 1871 Kleists „Hermannsschlacht“ beim Publikum durchzusetzen, nachdem die Uraufführung 1860 und die darauf folgenden Inszenierungen noch relativ erfolglos geblieben waren. 1914 verkündeten Boten zwischen den Akten die aktuellen Siegesmeldungen von der französischen Front. Die Hermannsschlacht ist auch der Titel eines 1862 bis 1864 geschaffenen, heute nicht mehr erhaltenen Gemäldes von Friedrich Gunkel, das der bayerische König Maximilian II. 1857 für das Maximilianeum in Auftrag gegeben hatte. Die Historienmalerei griff das Thema im 19. und frühen 20. Jahrhundert mehrfach auf. Vom Kaiserreich bis zur Zeit des Nationalsozialismus Von der Reichsgründung bis 1945 war Arminius im öffentlichen Bewusstsein der Grundsteinleger deutscher Geschichte; eine 2000-jährige historische Kontinuität wurde nicht in Frage gestellt. Getragen wurde dies von den Urteilen der Historiker. Felix Dahn verfasste 1872 einen Siegesgesang nach der Varusschlacht, der historische Bezüge mit aktuellen Weltherrschaftsphantasien verbindet. Es heißt dort beispielsweise: „Heil dem Helden Armin. Auf den Schild hebet ihn. Zeigt ihn den unsterblichen Ahnen: Solche Führer wie den gib uns, Wodan, mehr – und die Welt sie gehört den Germanen“. Theodor Mommsen sah in Arminius den „Befreier Deutschlands“ und lehrte in seiner Vorlesung „Römische Kaisergeschichte“, dass in der Varusschlacht zum ersten Mal ein deutsches Nationalgefühl aufgetreten sei. Friedrich Engels sah in der Varusschlacht „einen der entscheidendsten Wendepunkte der Weltgeschichte“. 1897 wurde auf Initiative deutscher Auswanderer das Hermann Heights Monument in den USA eingeweiht. In dieser Zeit entstanden auch zahlreiche Historienbilder, in denen Arminius eine bedeutende Rolle zugewiesen wurde. Darüber hinaus spielte die Arminius-Verehrung auch eine politische Rolle. Das 1875 fertiggestellte Hermannsdenkmal, für das auch Heinrich Heine gespendet hatte, entwickelte sich von nationalen, demokratischen und nationalistisch-antifranzösischen Intentionen zu einem antikatholischen Symbol während des Kulturkampfes und später zu einem Wallfahrtsort für Nationalisten, Rassisten und Antisemiten. 1893 versammelten sich die „Antisemiten Deutschlands“ am Hermannsdenkmal und würdigten Arminius als „Urvater aller rassisch reinen Deutschen“. Bei der Jubiläumsfeier 1909 sagte der Vertreter der Deutschen Turnerschaft, ohne die Varusschlacht wäre „das deutsche Volk bald mit römischem Blute durchsetzt“ worden. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs wurde der politische Mythos von der Hermannsschlacht bemüht, um die Burgfriedenspolitik durchzusetzen. Kaiser Wilhelm II. verkündete mit Bezug auf die Schlacht: „Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war“. Entsprechend bot sich nach der Niederlage 1918 Hermann als historische Parallele zur Dolchstoßlegende an. Nicht mehr als Sieger, sondern als Märtyrer, der gleichfalls „im Kriege unbesiegt“ der germanischen Zwietracht zum Opfer fiel. Im Ersten Weltkrieg kursierten Ansichtskarten mit dem Aufdruck „Wir kämpfen unter Hermanns Zeichen bis alle unsere Feinde bleichen“. Arthur Moeller van den Bruck sagte in seinem 1923 erschienenen Buch „Das Dritte Reich“ die Weltherrschaft der Deutschen voraus und begründete dies unter anderem mit Arminius' Sieg in der Varusschlacht. Der 50. Jahrestag der Einweihung des Hermannsdenkmals zog 1925 50.000 überwiegend republikfeindliche Menschen nach Detmold. Die in den Reden dominierenden chauvinistischen und revanchistischen Akzente mündeten in den Ruf nach dem nationalen Messias als Anführer in einer neuen Hermannschlacht. 1926 zeigte ein Gästebucheintrag Adolf Hitlers am Hermannsdenkmal, dass auch er sich von der Varusschlacht inspiriert fühlte. Ein Jahr später nutzte der Chefideologe der Nationalsozialisten Alfred Rosenberg den 150. Geburtstag Kleists, um dessen „Hermannschlacht“ für die „Bewegung“ zu vereinnahmen. Nicht mehr die Römer, sondern „Juden, Polen und Franzosen seien heute die ganze Brut, die in den Leib Germaniens sich eingefilzt wie ein Insektenschwarm“. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Künstler Werner Peiner mit der Erstellung von acht Wandteppichen für die Neue Reichskanzlei beauftragt, die die großen Schlachten der deutschen Geschichte illustrieren sollten. Der erste Teppich stellte die Varusschlacht dar. Arminius war zwar im Nationalsozialismus präsent, stand jedoch nicht im Mittelpunkt. Für Adolf Hitler lieferte vielmehr Rom den Maßstab für sein eigenes Reich. Diese Wertschätzung beeinflusste auch sein Bild von Hermann. Für ihn war er zwar der „erste deutsche Einiger“, der die germanischen Stämme gesammelt hatte, doch sei ihm dies nur gelungen, weil er von Rom ausgebildet wurde. Hermann habe dadurch dem „deutschen Volk zum größten politischen Erfolg dieser Vorzeit verholfen“, letztendlich sei er aber doch gescheitert, „und das Blut der Hermannschlacht sei umsonst geflossen.“ Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler führt das geringe Interesse der Nationalsozialisten an der Arminius-Gestalt darauf zurück, dass „ihr Interesse mehr der germanischen Expansion galt als der Verteidigung des «heimatlichen Bodens».“ Als dann 1944 die Heere der Alliierten bis nach Deutschland vordrangen, sei es für eine Wiederbelebung des Arminiuskultes zu spät gewesen. Forschungsgeschichte Der Varusschlacht wird seit dem 16. Jahrhundert eine besondere historische Bedeutung zugemessen, die das Urteil der Historiker spätestens vom 19. Jahrhundert bis heute prägt. „Als Wendepunkt der Weltgeschichte“ bezeichnete Theodor Mommsen die Varusschlacht, als er im März 1871, zwei Monate nach der Reichsgründung, seine Rede über „Die germanische Politik des Augustus“ hielt. Hans Delbrück hielt in seiner Festrede zum 1900-jährigen Jubiläum der Varusschlacht die deutsche Geschichte im Vergleich zu der anderer Nationen für „besonders reich“ und spielte dabei wiederum auf eine angenommene Kontinuität von Germanen zu Deutschen an. Der Althistoriker Ernst Kornemann ließ 1922 mit der Varusschlacht die deutsche Geschichte beginnen. Die Varusschlacht wurde in der älteren Forschung als nationaler Befreiungskampf der Germanen oder gar der Deutschen gegen die römischen Besatzer gedeutet. Diese Sichtweise blieb Jahrzehnte vorherrschend. Im Nationalsozialismus hat sich in der Alten Geschichte besonders Hans Erich Stier von 1933 bis 1938 in insgesamt acht Beiträgen mit der Varusschlacht und Arminius beschäftigt. Sein Aufsatz „Zur Varusschlacht“ von 1933 in der Historischen Zeitschrift macht deutlich, mit welchen Emotionen die Frage nach der Bedeutung der Varusschlacht geführt wurde. 1938 veröffentlichte Stier den Aufsatz „Die Bedeutung der römischen Angriffskriege für Westfalen“, mit dem er einen „Beitrag zum Verständnis der germanischen Revolution“ leisten wollte. Charakteristisch für das Ausmaß an Idealisierung des „germanischen Genius“ oder des „genialsten Schülers der Römer“ ist die Frage: „Warum fühlte man sich immer wieder versucht, Arminius' Sieg im Teutoburger Wald zu verkleinern?“ Neben Stier und Kornemann vertraten bei den deutschen Althistorikern der 30er und 40er Jahre in erster Linie Franz Miltner und Ernst Hohl (in Anlehnung an Mommsen) die Auffassung von der welthistorischen Bedeutung der Varusschlacht und des Arminius für die „Rettung der deutschen Nationalität“. Der Provinzialarchäologe Friedrich Koepp konstatierte im Jahr 1940: „Glorreicher hat sich kein anderes Volk in die Geschichte eingeführt als unsere Vorfahren durch diesen Sieg über die Herren der Welt.“ Bereits im 1905 veröffentlichten Werk formulierte Koepp unter Hinweis auf die fehlende städtische Zivilisation und die Ausdehnung der germanischen Wälder, dass der „deutsche Urwald […] die Deutschen vor dem Schicksal der Gallier bewahrt hat.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Wissenschaft für einige Zeit auf Distanz zu Themen, in denen die Germanen oder Arminius das Zentrum bildeten. Für eine erneute Annäherung an die Varusschlacht war die Zeit erst in den 1960er Jahren reif. 1961 veröffentlichte Otto Höfler die Abhandlung Siegfried, Arminius und die Symbolik mit einem Anhang über die Varusschlacht. Dieter Timpe näherte sich 1970 in seinen Arminiusstudien dem Cherusker auf Grundlage der antiken Quellen und formulierte seine Hypothese, dass der Angriff auf das Heer des Varus politisch als Meuterei zu werten sei. Timpe ersetzte dadurch das Bild eines Freiheitshelden durch das Bild eines Verräters und Kämpfers gegen die eigenen Truppen. Seine Rekonstruktion erzeugte kontroverse Reaktionen. Wenig später wurde von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde begonnen als eine umfassende Aufklärung über den Forschungsstand zu den Germanen. Schließlich wurden durch Quelleneditionen die Aussagen der antiken Autoren zu den Germanen zusammengetragen und auf wissenschaftlich-kritischer Basis zugänglich gemacht. Die moderne Forschung versucht das Bild von der Varusschlacht als „Wendepunkt der Geschichte“ zu relativieren. Reinhard Wolters machte 2008 deutlich, dass „die Varuskatastrophe weder militärisch noch politisch einen Einschnitt darstellte und somit keine ‚epochale Wende‘ bewirkte.“ Dennoch halten sich bis heute Urteile, welche die Varusschlacht als einen Wendepunkt auffassen. Nach dem Archäologen Peter S. Wells veränderte die Varusschlacht den Verlauf der Weltgeschichte. Zur 2000. Wiederkehr der Varusschlacht spielte der nationale Befreiungskampf keine Rolle mehr. Gegenwärtige Diskussionen unter Althistorikern und Archäologen behandeln vielmehr den Ort der Varusschlacht, die Ziele der römischen Germanienpolitik in augusteischer Zeit und ob im rechtsrheinischen Germanien unter der Statthalterschaft des Varus bereits eine römische Provinz entstanden war. Die Varusschlacht aus heutiger Perspektive Ausgrabungen von Kalkriese Mit den Ausgrabungen von Kalkriese ab 1987 setzte eine verstärkte Diskussion über den Ort der Schlacht ein. Bereits die ersten Funde wurden der Öffentlichkeit als Zeugnisse der Varusschlacht präsentiert. Kurz nach den ersten archäologischen Funden wurde 1993 in unmittelbarer Nähe zum Ausgrabungsfeld auf einem Bauernhof ein Informationsraum eröffnet. In den Medien stieß der Ort schnell auf breite Akzeptanz. In der strukturschwachen Region nutzt man die Varusschlacht gezielt als Standortvorteil. Touristische und kommerzielle Vermarktungskonzepte in Kalkriese sind „Varusschlacht soll Marke werden“, „Römer-Mett“ oder im Juli 2004 der Auftritt der Rockband Fury in the Slaughterhouse auf dem Schlachtfeld. Im Rahmen eines Projektes zur Weltausstellung Expo 2000 entstand der etwa 20 Hektar große Museumspark „Varusschlacht“, der im Jahr 2001 durch ein Museumsgebäude und im Jahre 2009 durch ein Besucherzentrum zum „Museum und Park Kalkriese“ in Bramsche ergänzt wurde. Der von der Varus-Gesellschaft herausgegebene Varus-Kurier berichtet regelmäßig über Fortschritte bei den Ausgrabungen in der Fundregion Kalkriese. Verfilmungen Bereits dreimal wurde die Hermannsschlacht oder Varusschlacht für das Kino adaptiert: das erste Mal in den Jahren 1922 und 1923 im Kontext des Ruhrkampfs als Stummfilm in fünf Akten unter dem Titel Die Hermannschlacht. Regie führte der Düsseldorfer Dramaturg Leo König, Adolf Bassermann spielte den Cheruskerfürsten Segestes. Gedreht wurde unweit des Hermannsdenkmals bei den Externsteinen. Am 27. Februar 1924 kam dieses von der Kritik überwiegend als nationalistisch empfundene Opus im Lippischen Landestheater in Detmold zur Aufführung. Lange galt es als verschollen. Erst 1990 wurde es im Zentralen Filmarchiv der UdSSR wiederentdeckt und 2009 auf DVD veröffentlicht. Eine zweite Verfilmung des Stoffs erschien 1977 unter dem deutschen Titel Hermann der Cherusker – Die Schlacht im Teutoburger Wald. Es handelt sich um eine deutsch-italienisch-jugoslawische Co-Produktion, die in den übrig gebliebenen Kulissen anderer Antikenfilme in Zagreb unter der Regie Ferdy Baldwins (Pseudonym für Ferdinando Baldi) realisiert wurde. Obwohl dieses Werk bereits seit 1965 mit Hans von Borsody als Hermann gedreht wurde, dauerte es zehn Jahre bis zur Deutschland-Premiere der als ‚Sandalen-Trashfilm‘ gehandelten Produktion, die am 3. Februar 1977 stattfand. In den Jahren 1993 bis 1995 entstand die dritte Umsetzung für das Kino. Produzenten und Autoren dieser Fassung waren Christian Deckert, Hartmut Kiesel, Christoph Köster, Stefan Mischer und Cornelius Völker. Die Hermannsschlacht wurde im Teutoburger Wald und im Rheinland gedreht. Neben Bühnenschauspielern und Hunderten von Laien treten in diesem Spielfilm die Künstler Markus Lüpertz, Tony Cragg und Alfonso Hüppi sowie der Kunsthistoriker Werner Spies als Akteure auf. Die Hermannsschlacht wurde im Mai 1995 in Düsseldorf uraufgeführt und erschien 2005 auf DVD. 2019 entstand in Budapest unter der Regie von Barbara Eder die Netflix-Serie Barbaren mit Jeanne Goursaud als Thusnelda, Laurence Rupp als Arminius und Gaetano Aronica als Varus. Eine Besonderheit dieser Adaption ist, dass die Römer ihre Dialoge komplett in Latein sprechen. 2000 Jahre Varusschlacht 2000 Jahre nach der Varusschlacht, im Jahr 2009, fanden zahlreiche Veranstaltungen zur Erinnerung an die Geschehnisse statt. Vom 16. Mai bis 25. Oktober 2009 waren in der Seestadthalle und im LWL-Römermuseum Haltern am See, im Museum und Park Kalkriese und im Lippischen Landesmuseum in Detmold die drei Ausstellungen des gemeinsamen Ausstellungsprojektes „IMPERIUM KONFLIKT MYTHOS. 2000 Jahre Varusschlacht“ zu sehen. Es war die größte historische Sonderausstellung in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Römermuseum Xanten im Archäologischen Park zeigte vom 24. April bis 30. August 2009 die Sonderausstellung „Marcus Caelius. Tod in der Varusschlacht“. Ebenso erschienen zahlreiche neue Publikationen zum Thema. Mit der Ausgabe einer Sondermarke am 4. Juni 2009 erinnerte die Bundesrepublik Deutschland an die Varusschlacht. Die Marke mit dem Wert 0,55 Euro zeigt einen Teil des Hermannsdenkmals bei Detmold, eine Büste des Kaisers Augustus und die Gesichtsmaske eines römischen Reiterhelms. Die rechtsextremistische Szene nutzte das Jubiläumsjahr 2009 zu fremdenfeindlicher und antiamerikanischer Agitation. In Publikationen und auf Veranstaltungen priesen deutsche Rechtsextremisten die Varusschlacht als Fanal eines „nationalen Befreiungskampfes“ und deuteten Arminius als Vorbild für einen gegenwärtigen Kampf gegen Einwanderer und die als „neues Rom“ bezeichneten USA. Quellen Cassius Dio: Römische Geschichte. Übersetzt von Otto Veh, Band 3 (= Bücher 44–50) und 4 (= Bücher 51–60), Artemis-Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-7608-3672-0 und ISBN 3-7608-3673-9. Velleius Paterculus: Römische Geschichte. Historia Romana. Übersetzt und lateinisch/deutsch herausgegeben von Marion Giebel, Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-008566-7. Sueton: Ausführlichste antike Biographie aus der Sammlung der Kaiserbiographien von Caesar bis Domitian. Zahlreiche Ausgaben, beispielsweise mit deutscher Übersetzung in: Gaius Suetonius Tranquillus: Sämtliche erhaltene Werke. Magnus, Essen 2004, ISBN 3-88400-071-3. Tacitus: Annalen. Lateinisch/deutsch herausgegeben von Erich Heller, 5. Aufl., Artemis & Winkler, München/Zürich 2005, ISBN 3-7608-1645-2. Hans-Werner Goetz/Karl-Wilhelm Welwei: Altes Germanien. Auszüge aus antiken Quellen über die Germanen und ihre Beziehungen zum Römischen Reich. 2 Teile, WBG, Darmstadt 1995, ISBN 3-534-05958-1. Joachim Herrmann (Hrsg.): Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u. Z. Teil 1: Von Homer bis Plutarch (8. Jh. v. u. Z. bis 1. Jh. u. Z.). Berlin 1988, ISBN 3-05-000348-0; Teil 3: Von Tacitus bis Ausonius (2. bis 4 Jh. u. Z.). Berlin 1991, ISBN 3-05-000571-8. Dieter Kestermann (Hrsg.): Quellensammlung zur Varus-Niederlage. Sämtliche antike Texte zur Schlacht, in Latein, Griechisch Deutsch. Horn 1992, ISBN 3-88080-063-4. Lutz Walther (Hrsg.): Varus, Varus! Antike Texte zur Schlacht im Teutoburger Wald. Lateinisch-griechisch-deutsch. Reclam, Stuttgart 2008. ISBN 978-3-15-018587-2. Literatur Kritische Sammelbesprechungen der umfangreichen Fachliteratur Peter Kehne: Neues, Bekanntes und Überflüssiges zur Varusschlacht und zum Kampfplatz Kalkriese. In: Die Kunde. Bd. 59, 2008, S. 229–280. Dieter Timpe: Die „Varusschlacht“ in ihren Kontexten. Eine kritische Nachlese zum Bimillennium 2009. In: Historische Zeitschrift. Bd. 294, 2012, S. 593–652. Forschungsliteratur Ernst Baltrusch, Morten Hegewisch, Michael Meyer, Uwe Puschner und Christian Wendt (Hrsg.): 2000 Jahre Varusschlacht. Geschichte – Archäologie – Legenden (= Topoi. Berlin studies of the ancient world. Bd. 7). de Gruyter, Berlin u. a. 2012, ISBN 978-3-11-028250-4. Boris Dreyer: Orte der Varuskatastrophe. Der historisch-archäologische Führer. Theiss, Darmstadt 2014, ISBN 978-3-8062-2956-1. Boris Dreyer: Arminius und der Untergang des Varus. Warum die Germanen keine Römer wurden. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-608-94510-2. Boris Dreyer: Der Fundplatz von Kalkriese und die antiken Berichte zur Varuskatastrophe und zum Heerzug des Caecina. In: Klio. Bd. 87, 2005, S. 396–420. Gesa von Essen: Hermannsschlachten. Germanen- und Römerbilder in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Wallstein, Göttingen 1998, ISBN 3-89244-312-2. Mamoun Fansa (Hrsg.): Varusschlacht und Germanenmythos. Eine Vortragsreihe anlässlich der Sonderausstellung Kalkriese – Römer im Osnabrücker Land in Oldenburg 1993 (= Archäologische Mitteilungen aus Nordwestdeutschland. Beiheft 9). 3. Auflage. Isensee, Oldenburg 2001, ISBN 3-89598-235-0. Joachim Harnecker: Arminius, Varus und das Schlachtfeld von Kalkriese. Eine Einführung in die archäologischen Arbeiten und ihre Ergebnisse. 2. Auflage. Rasch, Bramsche 2002, ISBN 3-934005-40-3. Ralf Günter Jahn: Der Römisch–Germanische Krieg (9–16 n. Chr.). Dissertation. Bonn 2001. Yann Le Bohec: La „bataille“ du Teutoburg. Lemme, Clermont-Ferrand 2013. Gustav Adolf Lehmann, Rainer Wiegels: Römische Präsenz und Herrschaft im Germanien der augusteischen Zeit. Der Fundplatz von Kalkriese im Kontext neuerer Forschungen und Ausgrabungsfunde. Beiträge zu der Tagung des Fachs Alte Geschichte der Universität Osnabrück und der Kommission „Imperium und Barbaricum“ der Göttinger Akademie der Wissenschaften in Osnabrück vom 10. bis 12. Juni 2004. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-82551-8. Ralf-Peter Märtin: Die Varusschlacht. Rom und die Germanen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-10-050612-2. Günther Moosbauer: Die Varusschlacht. 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Rasch, Osnabrück 1999, ISBN 3-932147-25-1. Michael Sommer: Die Arminiusschlacht. Spurensuche im Teutoburger Wald (= Kröners Taschenausgabe. Bd. 506). Kröner, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-520-50601-6. Peter S. Wells: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2005, ISBN 3-7608-2308-4. Rainer Wiegels (Hrsg.): Die Varusschlacht. Wendepunkt der Geschichte? (= Archäologie in Deutschland. Sonderheft). Theiss, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-8062-1760-5 (mit Beiträgen von Rainer Wiegels, Armin Becker, Johann-Sebastian Kühlborn, Günther Moosbauer und anderen). Rainer Wiegels, Winfried Woesler (Hrsg.): Arminius und die Varusschlacht. Geschichte – Mythos – Literatur. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Schöningh, Paderborn 2003, ISBN 3-506-79751-4 (darin unter anderem: Heinrich Seeba: Hermanns Kampf für Deutschlands Not; Renate Stauf: Germanenmythos und Griechenmythos als nationale Identitätsmythen; Wolfgang Wittkowski: Arminius aktuell: Kleists Hermannsschlacht und Goethes Hermann). Susanne Wilbers-Rost: Interdisziplinäre Untersuchungen auf dem Oberesch in Kalkriese. Archäologische Befunde und naturwissenschaftliche Begleituntersuchungen. von Zabern. Mainz 2007, ISBN 978-3-8053-3802-8. Martin M. Winkler: Arminius the liberator. Myth and ideology. Oxford University Press, Oxford 2016, ISBN 978-0-19-025291-5. Reinhard Wolters: Hermeneutik des Hinterhalts. Die antiken Berichte zur Varuskatastrophe und der Fundplatz von Kalkriese. In: Klio. Bd. 85, 2003, S. 131–170 (Wolters zählt zu den prominentesten Kritikern der Annahme, die Funde bei Kalkriese stünden in Zusammenhang mit der Varusschlacht). Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien. 1., durchgesehene, aktualisierte und erweiterte Auflage. Beck, München 2017, ISBN 978-3-406-69995-5 (Originalausgabe erschien 2008: Rezension). Ausstellungskataloge 2000 Jahre Varusschlacht. Imperium – Konflikt – Mythos. Herausgegeben vom LWL-Römermuseum/Museum und Park Kalkriese/Landesverband Lippe. 3 Bde., Theiss, Stuttgart 2009, ISBN 3-8062-2277-0 (Katalog mit zahlreichen Aufsätzen namhafter Forscher). Weblinks Antike Quellen Cassius Dio: Römische Geschichte. englische Übersetzung bei LacusCurtius Velleius Paterculus: Römische Geschichte. Historia Romana. Lateinischer Text mit englischer Übersetzung. Sueton: Aus der Sammlung der Kaiserbiographien. lateinischer Text. englische Übersetzung. Cornelius Tacitus: Annales. Buch 1. lateinischer Text. Projekte/Materialien Studentenprojekt Kalkriese – Die Örtlichkeit der Varusschlacht. Universität Osnabrück Arminius/Varus. Die Varusschlacht im Jahre 9 n. Chr. – Informationen und Ressourcen zur Varusschlacht und ihrer Rezeption im Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte, Münster Rezeption Varusschlacht im Film Informationen zur Verfilmung und Kinorezeption des historischen Stoffs Christian Dietrich Grabbe: Die Hermannsschlacht. Digitale Rekonstruktion des Dramas von 1838, Universitätsbibliothek Bielefeld. Lokalisierungstheorien Literaturüberblick Stefan Rebenich: Die Erfindung der Deutschen. In: Die Zeit vom 31. Dezember 2008 Zusammenstellung von Publikationen und Links zur Varusschlacht Literatur über die Varusschlacht in der Niedersächsischen Bibliographie Ausführliche Medienbeiträge Die Erfindung der Deutschen – Sendung in SWR2 Wissen am 15. Mai 2009 Die Varusschlacht war nicht das Ende – Sendung in SWR2 Wissen am 14. Mai 2009 Hans Holzhaider: Die Geheimnisse der Varus-Schlacht In: Süddeutsche Zeitung vom 7. Juli 2017 (gedruckte Ausgabe 8./9. Juli 2017, S. 33: „Der Totenwald“) Anmerkungen Varus Varus Varus 9 Teutoburger Wald Wiehengebirge Arminius Cherusker Brukterer Marser Germania magna
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gelsenkirchen
Gelsenkirchen
Gelsenkirchen [] ist eine Großstadt im zentralen Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen und gehört zur Metropolregion Rhein-Ruhr. Die kreisfreie Stadt im Regierungsbezirk Münster ist in der Landesplanung als Mittelzentrum ausgewiesen. Sie ist Mitglied im Landschaftsverband Westfalen-Lippe und im Regionalverband Ruhr. In Deutschland und darüber hinaus ist Gelsenkirchen vor allem als Heimat des Fußballclubs FC Schalke 04 bekannt und für den bis zur Jahrtausendwende betriebenen Bergbau. Die Stadt in ihren heutigen Grenzen ist das Ergebnis mehrerer Gebietsreformen, durch die einige umliegende Gemeinden und auch größere Städte, darunter die ehemalige Großstadt (seit 1926) Buer (seit 1912 Stadt Buer) sowie der Stadtteil Horst – früher die Freiheit Horst, seit 1891 Amt Horst – nach Gelsenkirchen eingegliedert bzw. mit dieser Stadt zusammengelegt wurden. Schon mit der ersten größeren Eingemeindung 1903 lag die Einwohnerzahl Gelsenkirchens über der 100.000-Grenze, was es zur Großstadt machte. Im Jahr 2022 lag Gelsenkirchen mit rund 260.000 Einwohnern auf Platz zwölf der 30 Großstädte Nordrhein-Westfalens. Früher hatte Gelsenkirchen aufgrund der vielen Fackeln, mit denen die Kokereien das überschüssige Koksofengas entsorgten, den Beinamen Stadt der 1000 Feuer. Seit den 1960er Jahren vollzieht sich ein Strukturwandel von der Montanindustrie zur Wissens- und Dienstleistungswirtschaft. Geographie und Klima Lage und Fläche Gelsenkirchen liegt an den flachen Hängen des breiten Emschertales mit dem hier parallel verlaufenden Rhein-Herne-Kanal im Südwesten Westfalens. Die Kernstadt liegt südlich des Flusses bzw. Kanals, während die Stadtteile Horst und sieben aus Buer hervorgegangene Stadtteile nördlich der Gewässer liegen. Ein Großteil des Stadtgebietes liegt infolge von Bergsenkungen unterhalb des Hauptvorfluters Emscher und muss deshalb ständig von der Emschergenossenschaft mit Entwässerungspumpen vor Überflutung geschützt werden. Die größte Ausdehnung des Stadtgebietes beträgt in Nord-Süd-Richtung 17 Kilometer und in West-Ost-Richtung 11 Kilometer. Die Stadtgrenze hat insgesamt eine Länge von 68 Kilometern. In Gelsenkirchen sind etwa zehn Prozent des Stadtgebiets Park- und Freizeitflächen und 25 % Wälder und landwirtschaftliche Flächen. Gelsenkirchen gehört damit zu den Städten mit einem überdurchschnittlichen Grünflächenanteil. Gelsenkirchen liegt in der Metropolregion Rhein-Ruhr. Nachbargemeinden Folgende Städte grenzen im Uhrzeigersinn, beginnend im Osten, an die Stadt Gelsenkirchen: Die kreisfreien Städte Herne, Bochum und Essen sowie die zum Kreis Recklinghausen gehörenden Städte Gladbeck, Dorsten, Marl und Herten. Exklave Gelsenkirchen besitzt eine etwa zwei Hektar große Exklave an der Stelle, wo der Hüller Bach die Stadtgrenze zwischen Bochum und Herne bildet. Diese gehört zum Stadtteil Ückendorf. Stadtgliederung Das Stadtgebiet Gelsenkirchens besteht aus fünf Stadtbezirken mit je einer Bezirksvertretung, die sich in Stadtteile unterteilen. Die Stadtbezirke mit zugehörigen Stadtteilen (jeweils in alphabetischer Reihenfolge): Gelsenkirchen-Mitte: Altstadt, Bismarck, Bulmke-Hüllen, Feldmark, Heßler, Schalke, Schalke-Nord Gelsenkirchen-Nord: Buer, Hassel, Scholven Gelsenkirchen-Ost: Erle, Resse, Resser Mark Gelsenkirchen-Süd: Neustadt, Rotthausen, Ückendorf Gelsenkirchen-West: Beckhausen, Horst Die Grenzen zwischen den Stadtbezirken bilden, mit Ausnahme der Grenze des Bezirkes Nord, verschiedene Elemente der Verkehrsinfrastruktur der Stadt. So trennt die Eisenbahnstrecke Herne-Oberhausen die Bezirke Mitte und Süd, der Rhein-Herne-Kanal Mitte und West bzw. Ost und die Kurt-Schumacher-Straße Ost und West. Den geringsten Anteil an der industriell und gewerblich genutzten Fläche der Stadt Gelsenkirchen haben heute die Bezirke Süd mit etwa 7,8 % (oder 9,11 % in Bezug zur Bezirksfläche) und Ost mit 8,9 %. Dagegen erkennt man noch im Bezirk Mitte mit einem Anteil von 37 % gemessen an der industriell genutzten Stadtfläche (oder 16 % zum Bezirk), die industrielle Vergangenheit wieder. In den Stadtbezirken Nord und West spiegelt sich in den Zahlen von 31 % und 15 % (in Bezug zur industriell genutzten Stadtfläche) der große Flächenverbrauch der dortigen BP Raffinerieanlagen wider. Die drei Bezirke Nord, Ost und West werden mit etwa 20 % der jeweiligen Bezirksfläche gleichermaßen stark landwirtschaftlich genutzt, wobei alleine im Bezirk Nord 42 % aller landwirtschaftlich genutzten Flächen der Stadt liegen. Schlusslichter sind die Stadtbezirke Mitte mit nur 5 % und Süd mit 11,9 % Anteil an der Bezirksfläche. Die forstwirtschaftliche Flächennutzung ist mit 14 % im Bezirk Ost (dort liegt das Waldgebiet Resser Mark) am größten. Bezogen auf das gesamte Stadtgebiet liegen im Bezirk Ost sogar 40 % aller forstwirtschaftlichen Flächen. Während sich also besonders im Norden und Osten der Stadt sowie noch im Stadtteil Beckhausen auch eine gewisse land- bzw. forstwirtschaftliche Prägung bemerkbar macht, ist vor allem südlich des Rhein-Herne-Kanals die montanindustrielle Vergangenheit der Stadt mit dazugehöriger Wohnbebauung zu erkennen, auch wenn an die ehemals dort betriebenen Zechen Holland, Rhein-Elbe und Hibernia sowie an das Gussstahlwerk (heute Wissenschaftspark) nur noch wenige Gebäude erinnern. Stadtteile vs. Gemarkungen Die drei nördlich der Emscher gelegenen Stadtbezirke Nord, West und Ost entsprechen weitgehend dem alten Amt Buer im Vest bzw. Kreis Recklinghausen abzüglich der Ämter Gladbeck (1885 abgespalten, heutige Stadt Gladbeck) und Westerholt (1911 selbstständig; seit 1975 Stadtteil von Herten). Horst schied zwar 1891 ebenfalls aus dem Amt Buer aus, wurde jedoch zusammen mit der Stadt Buer im Jahre 1928 mit Gelsenkirchen vereinigt, nachdem Horst bereits zuvor aus wirtschaftlichen Gründen den Anschluss an Buer gesucht hatte. Innerhalb der drei nördlichen Stadtbezirke gibt es lediglich die Gemarkungen Horst (5128) und Buer; innerhalb der Letztgenannten liegen alle anderen Stadtteile nördlich der Emscher (sowie auch jener Teil des Geländes der BP Öl, der zum heutigen Stadtteil Horst gehört). Südlich der Emscher existieren die folgenden Gemarkungen: Der neue Ortsteil Schalke-Nord liegt nicht, wie es der Name vermuten ließe, in der Hauptsache auf Schalker Gemarkung, sondern nimmt vor allem den Nordosten der Heßleraner und den Westen der Bismarcker Gemarkung ein. Seinen Namen rechtfertigt er vor allem durch den Schalker Bahnhof und die Glückauf-Kampfbahn in seinem Süden, die jedoch seit jeher auf Heßleraner Gebiet stehen. Der neue Ortsteil Feldmark nimmt den Nordwesten der Rotthausener, den Südwesten der Schalker Gemarkung und, zu kleineren Teilen, den Süden der Heßleraner Gemarkung ein. Die Einwohner des Stadtteils leben größtenteils auf altem Schalker Gebiet, da der wesentliche Teil des von Rotthausen übernommenen Teils von der Trabrennbahn und Halde Zollverein eingenommen werden. Der Stadtkern, inzwischen geteilt in Alt- und Neustadt, wuchs nach Westen etwas in die Rotthausener Gemarkung hinein, jedoch wurde im Norden ein deutlich größerer Teil an Schalke abgetreten. Ückendorf übernahm im Norden einige Gebiete von den heute vereinigten Bulmke und Hüllen, das wiederum im Norden Gebiete von Bismarck übernahm. Klimadiagramm Geschichte Mittelalter und Frühgeschichte Obwohl der heutige Stadtteil Buer erst 1003 n. Chr. als Puira (vermutlich ein verunglücktes Buira) urkundlich zum ersten Mal von Heribert I. erwähnt wurde, gab es auf dem Hügel nördlich der Emscher schon in der Bronzezeit, also mehr als tausend Jahre vor Christus, einige Jagdvölker (möglicherweise germanische Brukterer), die dort zwar nicht in Siedlungen, aber in dicht beieinander liegenden Einzelhöfen lebten. Später drangen die Römer in die Region vor. Um 700 n. Chr. wurde das Gebiet von den Sachsen besiedelt. Auch einige weitere Stadtteile, die heute im nördlichen Gelsenkirchen liegen, wurden bereits im frühen Mittelalter erwähnt; einige Beispiele sind Raedese (heute Stadtteil Resse), Middelvic (Middelich; heute zum Stadtteil Erle gehörend) oder Sutheim (Sutum) und Sculven (heute Stadtteil Scholven). Viele Bauerschaften wurden später mit der Bezeichnung iuxta Bure (bei Buer) näher lokalisiert. Um 1150 tauchte zum ersten Mal der Name Gelstenkerken oder Geilistirinkirkin auf. Die erste Schreibweise heißt übersetzt so viel wie Kirche bei den Siedlern (-seten) im Bruchland (gel). Die zweite Variante wurde von Franz Darpe mit Kirche (am Bach) der üppigen Stiere und von Paul Derks mit Kirche am Platz, wo sich geile Stiere tummelten übersetzt. Die benannte Kirche bezeichnete vermutlich die Gelsenkirchener Dorfkirche, eine der Vorgängerbauten der Kirche St. Georg. Der Schutzpatron St. Georg hat jedoch nichts mit dem ersten Teil des Stadtnamens zu tun. Etwa gleichzeitig wurde im Norden des heutigen Stadtgebiets im Stadtteil Buer die erste Kirche gebaut; diese ecclesia Buron (Kirche zu Buer) wurde 1160 in einem Verzeichnis von Pfarrkirchen des Deutzer Küsters Theodericus aufgelistet. Die Siedlung gehörte zum Vest Recklinghausen. Allerdings lebten in der Frühzeit und im Mittelalter nur wenige Dutzend Menschen in den Siedlungen um die Emschermulde. Die südlich der Emscher gelegenen Gebiete der heutigen Stadt Gelsenkirchen gehörten hingegen zur Grafschaft Mark, die seit 1666 (ab 1609 provisorisch) Teil Brandenburg-Preußens war. Von 1609 bis 1706 waren im Gebiet der heutigen Stadt Gelsenkirchen 15 Personen von Hexenverfolgungen betroffen. Anna Spiekermann, geboren in Gelsenkirchen-Buer (Bauerschaft Sutum), wurde am 31. Juli 1706 in Westerholt hingerichtet. Sie war das letzte Opfer der Hexenverfolgungen im Vest Recklinghausen. Bei den Hexenprozessen in der Freiheit Horst (Gelsenkirchen-Horst) wurden 14 Personen beschuldigt und sechs hingerichtet. 1609 wurden die Kinder Greitgen Nothoff, Johann Nothoff und die 8-jährige Trina Nothoff der Herrschaft verwiesen. Ihre Eltern Johann Nothoff und Hille Nothoff wurden stranguliert und anschließend verbrannt. Industrialisierung Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das Gebiet in und um Gelsenkirchen nur dünn besiedelt und fast ausschließlich agrarisch geprägt. 1815 ging das heutige Stadtgebiet Gelsenkirchens – nach vorübergehender Zugehörigkeit zum Großherzogtum Berg – an Preußen, das es der Provinz Westfalen angliederte. Während das damalige Gelsenkirchen dem Amt Wattenscheid im Kreis Bochum des Regierungsbezirks Arnsberg zugeordnet wurde, kam das Amt Buer (mit Horst) zum Kreis Recklinghausen im Regierungsbezirk Münster. Diese Zuordnung zu zwei Regierungsbezirken endete erst 1928. Nach der Entdeckung der Steinkohle im Jahre 1840 und der ihr folgenden Industrialisierung wurden 1847 die Stammstrecke der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft und der erste Gelsenkirchener Bahnhof eröffnet. 1868 wurde Gelsenkirchen Sitz eines eigenen Amtes im Kreis Bochum. Dazu gehörten die Gemeinden Gelsenkirchen, Braubauerschaft (ab 1900 Bismarck), Schalke, Heßler, Bulmke und Hüllen. Friedrich Grillo gründete 1872 in Schalke die Aktiengesellschaft für Chemische Industrie und den Schalker Gruben- und Hüttenverein. Ein Jahr später gründete er, ebenfalls in Schalke, die Glas- und Spiegel-Manufaktur AG. Nachdem Gelsenkirchen zu einem wichtigen Standort der Schwerindustrie geworden war, erhielt es 1875 das Stadtrecht. Gelsenkirchen wird Großstadt Im Jahre 1885 wurde Gelsenkirchen nach der Aufteilung des Kreises Bochum Sitz eines eigenen Kreises, der bis 1926 bestehen sollte. Dem Kreis Gelsenkirchen gehörten die Städte Gelsenkirchen und Wattenscheid sowie die Ämter Braubauerschaft (ab 1900 Bismarck), Schalke, Ückendorf und Wanne an. Wenige Jahre später, am 1. April 1897, schied Gelsenkirchen aus dem Kreis Gelsenkirchen aus und wurde kreisfreie Stadt. Horst schied 1891 aus dem Amt Buer aus. Die Verantwortungslosigkeit der Betreiber der Wasserversorgung führte 1901 zur Typhusepidemie in Gelsenkirchen. Am 1. Juli 1907 wurde der Hauptbahnhof Gelsenkirchen eröffnet, weil der alte Bahnhof auf Grund des starken Bevölkerungszuwachses nicht mehr genügend Kapazitäten hatte. Im Zuge der Industrialisierung waren viele polnischsprachige Arbeitnehmer aus der Provinz Posen zugezogen, die im Jahre 1905 13,9 % der Gelsenkirchener Stadtbevölkerung ausmachten. Buer wurde 1911 zur Stadt erhoben und ein Jahr später kreisfrei; das bis dahin zum Amt Buer gehörende Westerholt wurde Sitz eines eigenen Amtes. 1924 kam die Landgemeinde Rotthausen, die bis dahin zum Kreis Essen gehört hatte, zur Stadt Gelsenkirchen. Die Deutsche Reichsbahn-Gesellschaft baute von 1924 bis 1926 das Betriebswerk Gelsenkirchen-Bismarck, das bis 1981 in Betrieb war. Im Zuge der preußischen Gebietsreform wurden zum 1. April 1928 die Städte Gelsenkirchen und Buer mit dem Amt Horst zur neuen kreisfreien Stadt „Gelsenkirchen-Buer“ zusammengeschlossen. Seither gehört das gesamte Stadtgebiet zum Regierungsbezirk Münster. 1930 wurde der Name Gelsenkirchen-Buer durch den Rat der Stadt mit Wirkung vom 21. Mai in Gelsenkirchen geändert. Die Stadt beheimatete in der neuen Konstellation nun etwa 340.000 Menschen. Gelsenkirchen zur Zeit des Nationalsozialismus Während der Zeit des Nationalsozialismus war Gelsenkirchen durch seine Lage im Herzen des Ruhrgebiets eines der Zentren der Rüstungswirtschaft. Mitte der 1930er Jahre baute die Hibernia AG als Tochterfirma das Hydrierwerk Scholven, wo durch Kohleverflüssigung synthetisches Benzin erzeugt wurde. Im gleichen Jahr 1936 gründete die Gelsenkirchener Bergwerks-AG in Horst die Gelsenberg Benzin AG und erzeugte dort ab 1939 Benzin aus Kohle. Beide Werke gehören heute zu BP Gelsenkirchen. In keiner anderen Zeit war die Produktion der Gelsenkirchener Industrie so hoch. Dies schuf zwar zum einen – nach der Wegrationalisierung vieler Arbeitsplätze in den 1920er Jahren – kurzzeitig wieder mehr Arbeitsplätze im Bergbau und in der Schwerindustrie, zum anderen wurde Gelsenkirchen im Zweiten Weltkrieg zum Ziel alliierter Bomber, die bei den Luftangriffen auf das Ruhrgebiet drei Viertel des Stadtgebiets zerstörten. Noch heute sind manch ehemalige Hochbunker im Stadtbild zu finden. Neben dem Rathaus in Buer ist ein Luftschutzbunker teilweise noch im Originalzustand erhalten, im Zuge der Entkernung des Hans-Sachs-Hauses wurden dort noch vorhandene Bunkerreste entfernt. Der Fußballverein FC Schalke 04 passte sich zwar den politischen Gegebenheiten an, war dennoch nicht nationalsozialistisch aktiv. Adolf Hitler besuchte Gelsenkirchen zu den Trauerfeierlichkeiten des Industriellen Emil Kirdorf, die im Juli 1938 auf dem Gelände der Zeche Rheinelbe in Gelsenkirchen-Ückendorf stattfanden. Auch in Gelsenkirchen wurde im November 1938 die Synagoge im Stadtteil Buer von den Nationalsozialisten niedergebrannt, die Synagoge in der Gelsenkirchener Innenstadt wurde ebenfalls zerstört. Genau 66 Jahre später wurde dort der Grundstein für die am 1. Februar 2007 eingeweihte neue Synagoge Gelsenkirchen gelegt. In Gelsenkirchen-Horst gab es im Jahre 1944 ein Außenlager des KZ Buchenwald. Im Gelsenberg-Lager auf dem Betriebsgelände der Gelsenberg Benzin AG waren etwa 2000 ungarische Frauen und Mädchen untergebracht, die zur Zwangsarbeit auf dem Hydrierwerk eingesetzt waren. Bei den Bombenangriffen vom 11. September 1944 auf die Gelsenberg Benzin AG kamen etwa 150 von ihnen ums Leben. Ihnen war der Zutritt zu Bunkern und Schutzgräben verboten. Von dem Chirurgen Rudolf Bertram, der ab 1937 das Krankenhaus in Rotthausen und das St.-Josefs-Hospital in Gelsenkirchen-Horst betreute, ist überliefert, dass er zusammen mit der Krankenhausfürsorgerin Ruth Theobald und der Ordensschwester Epimacha 17 schwerstverletzte Jüdinnen, die nach den Bombenangriffen in Gelsenkirchener Krankenhäuser verbracht worden waren, vor dem Abtransport nach Sömmerda in das dortige Außenlager des KZ Buchenwald rettete. Durch den Einsatz von Bertram und vielen weiteren Beschäftigten der Krankenhäuser erlebten diese Frauen und Mädchen ihre Befreiung im April 1945 im Rotthauser Marienhospital. Für diesen Akt der Menschlichkeit wurde Bernhard Rudolf Bertram im Jahre 1980 posthum von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem die Auszeichnung Gerechter unter den Völkern zuteil. Bertram blieb bis zur Pensionierung im Jahr 1965 Chefarzt am St.-Josefs-Hospital und verstarb 1975 in Gelsenkirchen. 1996 wurde ihm zu Ehren vor dem St.-Josefs-Hospital in Gelsenkirchen-Horst eine Stele mit einer Gedenktafel aufgestellt, die an die Ereignisse erinnert. Der Platz vor dem Krankenhaus erhielt den Namen Rudolf-Bertram-Platz. Das nördlich des Rhein-Herne-Kanals gelegene Gebiet wurde Ende März durch die US-Armee besetzt. Der südlich des Kanals gelegene Teil Gelsenkirchens wurde erst am 10. April 1945 besetzt. Andernorts in Deutschland wurde der Krieg noch bis Anfang Mai fortgesetzt. Der Zweite Weltkrieg endete letztlich am 8. Mai mit der Bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. An der Cranger Str. 323 im Stadtteil Erle befindet sich heute die Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“. Nachkriegszeit Nach der weitreichenden Zerstörung der Stadt und ihrer Industrie durch die Luftangriffe auf das Ruhrgebiet ging am 17. Dezember 1953 die Kokerei Hassel als Deutschlands erster Kokereineubau nach dem Krieg in Betrieb. Mit Einführung der vierstelligen Postleitzahlen erhielt Gelsenkirchen 1961 als eine von wenigen Städten davon zwei: Gelsenkirchen 4650 und Buer 4660 (beide bis zum 1. Juli 1993 in Gebrauch). Die erste Gesamtschule in NRW wurde 1969 in Gelsenkirchen eingerichtet. Die Scholven-Chemie AG (ehemals Hydrierwerk Scholven) fusionierte 1975 mit der Gelsenberg-Benzin-AG zur VEBA-Oel AG. Gelsenkirchen war ein bedeutender Standort der Bekleidungsindustrie. Diese war einmal eine der fünf tragenden Säulen der lokalen Wirtschaft. Der steile Aufstieg begann in den 1950er und 1960er Jahren, dies zeigt auch das ehemalige Bahnhofsfenster, das heute am südlichen Ende der Bahnhofstraße zu sehen ist. Etwa 50 Unternehmen, wie etwa die Kemper KG, Nienhaus & Luig, Marcona, Harald Feigenhauer, Hugo Kogge, Napieralla & Söhne, Schreck und Witschel&Markmann boten Anfang der 1950er Jahre Arbeit für über 6000 Beschäftigte. 1958 begann zunächst Kurzarbeit, fünf Unternehmen mussten schließen. Anfang der 1970er Jahre fielen der Ölkrise und der dadurch fast unbezahlbar gewordenen Kunstfaserstoffe weitere Unternehmen zum Opfer. Zwischen 1979 und 1981 wurden die Heinze-Frauen bundesweit bekannt. Die Beschäftigten eines Gelsenkirchener Fotounternehmens erstritten vor Gericht die gleiche Bezahlung wie ihre männlichen Kollegen. Bei seinem Besuch in der Bundesrepublik Deutschland zelebrierte Papst Johannes Paul II. am 2. Mai 1987 im Parkstadion vor 85.000 Menschen eine Heilige Messe. Er nahm die ihm angetragene Ehrenmitgliedschaft im FC Schalke 04 an. Bis weit in die Zeit der Montan- und Stahlkrisen gab und gibt es in Gelsenkirchen große produzierende Unternehmen aus diesem Industriebereich, unter anderem die heute weiterhin bestehende Schalker Eisenhütte Maschinenfabrik und das Gussstahlwerk der Thyssen AG. In den 1990er Jahren wurde in Gelsenkirchen – später als in einigen anderen Ruhrgebietsstädten – die Umstrukturierung der Wirtschaft und der Stadt selbst sichtbar. So fand 1997 auf dem Gelände der stillgelegten Zeche Nordstern die Bundesgartenschau (BUGA) statt, die das ehemalige Zechengelände zum Landschaftspark umgestaltete. Zwei Jahre später fand das Finale der 1989 begonnenen, städteübergreifenden IBA Emscher Park statt. Die Kokerei Hassel produzierte am 29. September 1999 zum letzten Mal Koks. Mit der Stilllegung stellte die letzte Kokerei auf Gelsenkirchener Stadtgebiet ihre Produktion ein. Bis dahin war in Gelsenkirchen über 117 Jahre und 12 Tage Koks produziert worden. Im selben Jahr nahm die Shell Solar Deutschland AG die Produktion von Photovoltaikanlagen auf. Mit der Schließung der letzten Zeche Gelsenkirchens, der Zeche Ewald Hugo, wurden am 28. April 2000 3000 Bergleute entlassen. Der Stadtteil Buer feierte 2003 sein 1000-jähriges und der FC Schalke 04 am 4. Mai 2004 sein 100-jähriges Bestehen. 2015 geriet Gelsenkirchen im Jugendamt-Skandal wegen personeller Verflechtungen der Leitung des Jugendamts mit einem Kinderheim in Ungarn in die Schlagzeilen. Stadtfilme Zwischen 1951 und 1996 hat die Stadt Gelsenkirchen regelmäßig filmische Jahreschroniken produziert, von denen 34 erhalten sind und auch in digitaler Form vorliegen. In den Stadtfilmen wurde die politische, kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung Gelsenkirchens dokumentiert. Religionen Konfessionsstatistik Laut dem Zensus 2011 waren 33,7 % römisch-katholisch, 30,1 % der Einwohner evangelisch und 36,3 % waren konfessionslos, gehörten einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder machten keine Angabe. Nach einer Berechnung aus den Zensuszahlen für die Personen mit Migrationshintergrund lag der Bevölkerungsanteil der Muslime in Gelsenkirchen 2011 bei 14,4 % (rund 37.200 Personen). Die Zahl der Protestanten und Katholiken ist seitdem gesunken. Mit Stand Juni 2023 hatten 25,5 % der Einwohner die katholische Konfession und 21,0 % die evangelische. 53,5 % gehörten entweder einer anderen Glaubensgemeinschaft an oder waren konfessionslos. Judentum In Gelsenkirchen gibt es eine jüdische Gemeinde, die durch den Zuzug einer größeren Zahl aus der Sowjetunion bzw. der Russischen Föderation Ausgewanderter in den letzten Jahren gewachsen ist. 2020 zählte die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen 312 Mitglieder. In der Reichspogromnacht hatten Nazis überall im Deutschen Reich jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe zerstört und Synagogen in Brand gesteckt. Auch die Synagoge in Gelsenkirchen, die 1885 eingeweiht worden war, wurde damals bis auf die Grundmauern abgebrannt. Seit 1963 erinnerte eine Mahntafel an die Zerstörung der alten Synagoge. 1993 schließlich wurde das Gelände zum Platz der alten Synagoge umbenannt und 66 Jahre später, am 9. November 2004, legte Paul Spiegel den Grundstein für die neue Synagoge. Am 1. Februar 2007 wurde das Haus feierlich eröffnet. Das neue Zentrum der Jüdischen Gemeinde ist an der Stelle entstanden, an der sich auch die 1938 zerstörte alte Synagoge befand. Der Betraum bietet Platz für insgesamt 400 Gläubige, zusätzlich ist ein Gemeindezentrum mit Veranstaltungsraum angeschlossen. Christentum Von den Einwohnern (Stand 31. Dezember 2016) waren 85.002 (30,6 %) katholisch. Von den Einwohnern waren Ende 2018 nur noch 80.027 katholisch. Gelsenkirchen hatte als Gründung von Essen von Anfang an die gleichen kirchlichen Verhältnisse wie die Mutterkirche in Essen selbst, d. h. die Kirche gehörte zum Erzbistum Köln und war dem Dekanat Essen unterstellt. Mit dem Übergang an die Grafschaft Mark war der Gelsenkirchener Pfarrer dem Dechanten zu Wattenscheid unterstellt. Die Kirchen in Buer und Horst waren dem Dechanten zu Dorsten zugeordnet. In Gelsenkirchen setzte sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Reformation nach lutherischem Bekenntnis durch, doch konnten die Katholiken noch bis Ende des 19. Jahrhunderts die einzige Kirche der Stadt (St. Georg, heute Altstadtkirche) mitbenutzen (Simultankirche). Anfang des 17. Jahrhunderts entstand auch eine reformierte Gemeinde. Der Anteil der Protestanten und Katholiken in Gelsenkirchen war relativ ausgewogen. Buer und Horst blieben als Orte des Vests Recklinghausen katholisch. Erst durch Zuzug im 19. Jahrhundert entstanden auch hier evangelische Kirchengemeinden. Doch kam der Anteil an der Gesamtbevölkerung nie über ein Drittel hinaus. Die evangelische Kirchengemeinde Gelsenkirchens gehörte bis Ende des 19. Jahrhunderts zur Synode Bochum, doch wurde die Stadt 1892 Sitz eines eigenen Superintendenten bzw. einer Kreissynode für das gesamte Umland. Hieraus entstand später der Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid, zu dem heute 22 evangelische Kirchengemeinden der Stadt Gelsenkirchen und dem benachbarten Stadtbezirk Wattenscheid der Stadt Bochum innerhalb der Evangelischen Kirche von Westfalen gehören. Die nördlichen evangelischen Gemeinden bestehen aus Buer mit 8900 Mitgliedern, Markus-Gemeinde Hassel mit 1950 und Scholven mit 3350 Mitgliedern. Sie wollen sich 2007 zu einer Großgemeinde zusammenschließen. Die Katholiken in Gelsenkirchen konnten bis Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen mit den Protestanten die Kirche St. Georg nutzen. Infolge des starken Wachstums der Gemeinde war jedoch der Bau einer eigenen Kirche geboten. So wurde 1845 die Augustinuskirche erbaut. Weil sie aber schon bald zu klein war, entstand zwischen 1874 und 1884 die heutige St.-Augustinus-Kirche, die 1904 durch päpstlichen Erlass zur Propsteikirche erhoben wurde. Im Jahre 1905 waren in Gelsenkirchen 47,3 % der Bewohner evangelisch und 51,2 % katholisch. Die Propsteikirche wurde Mutterkirche mehrerer anderer katholischer Kirchen der Stadt. Während des Zweiten Weltkriegs 1944 durch Bomben stark zerstört, wurde die Augustinuskirche 1948 bis 1952 wieder aufgebaut und inzwischen mehrfach restauriert. Die Pfarrgemeinden Gelsenkirchens gehörten ab 1821 zum (Erz-)Bistum Paderborn. Die Stadt wurde Sitz eines Dekanats. Die Pfarrgemeinden in Buer und Horst gehörten ab 1821 zum Bistum Münster. Während Buer Sitz eines eigenen Dekanats wurde, gehörte Horst zum Dekanat Gladbeck. Im Jahre 1955 erfolgte die Ernennung der Pfarrkirche Sankt Urbanus in Buer zur Propsteikirche. Als 1958 das Bistum Essen gegründet wurde, kamen alle Pfarrgemeinden der Stadt Gelsenkirchen zu diesem neuen Bistum. Sie bilden heute das Stadtdekanat Gelsenkirchen. Sowohl von der evangelischen als auch von der katholischen Kirche werden in Gelsenkirchen eine Reihe größerer sozialer Einrichtungen betrieben, besonders im Gesundheitswesen. Dazu zählen unter anderem im Zentrum Gelsenkirchens die Evangelischen Kliniken und in Ückendorf die Zentrale der St. Augustinus Gelsenkirchen GmbH, die dort das Marienhospital unterhält, dazu das St.-Vinzenzhaus (Altenpflegeheim) und das St.-Josefsheim (Kinderheim) in Gelsenkirchen-Mitte sowie, im Zentrum Buers gelegen, das katholische St.-Marienhospital. Daneben gibt es in Gelsenkirchen orthodoxe Gemeinden. Zu den evangelischen Freikirchen in Gelsenkirchen werden gerechnet: eine Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten), eine Freie evangelische Gemeinde, ein Korps der Heilsarmee und die zum Mülheimer Verband gehörige Kirche 62. Durch die Gemeinschaftsbewegung bildeten sich parallel zur traditionellen Evangelischen Landeskirche in Preußen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Ortsteilen auch zahlreiche Landeskirchliche Gemeinschaften. Diese Gemeinschaften gehören in der Regel der Evangelischen Landeskirche an und halten neben den kirchlichen Gottesdiensten noch eigene Veranstaltungen ab. Hier ist zum Beispiel die Stadtmission zu nennen. Eine besondere Verbreitung erfuhren auch die zur Landeskirche gehörigen, aber ansonsten eigenständigen evangelisch-lutherischen Gebetsgemeinschaften (ELG). Viele dieser Gemeinschaften bestehen bis heute. Allein in Gelsenkirchen finden sich vier Gemeinden, die ELG Gelsenkirchen-Middelich, Erle, Hüllen und Ückendorf. Auch die neuapostolische Kirche und die Apostolische Gemeinschaft sind in Gelsenkirchen vertreten. Die neuapostolische Kirche hat in Gelsenkirchen 15 Gemeinden. Die apostolische Gemeinschaft bietet eine Gemeinde. Die Zeugen Jehovas betreiben neben ihren örtlichen Gemeinden einen Kongresssaal in Gelsenkirchen-Erle, in dem regelmäßig überregionale Treffen der Religionsgemeinschaft stattfinden. Islam Weiterhin sind islamische Gemeinschaften vertreten. Die islamischen Glaubensgemeinschaften sind durch Einwanderung, vor allem die türkischen Gastarbeiterfamilien (in den 1960er Jahren) allmählich entstanden. 2006 betrug der Anteil der Muslime an der Gelsenkirchener Gesamtbevölkerung 20 %. Im Stadtteil Hassel gibt es seit den 1990er Jahren eine klassische Moschee, inzwischen existieren in Gelsenkirchen 20 Moscheen (Stand: Januar 2018). 2001 wurde die Moschee Kesselstraße 25–27 gebaut. Es gab heftige Dispute zwischen dem Stadtteilbüro und dem Moscheeverein mit seinen (2005) 280 Mitgliedern. Dem Verein wurde vorgeworfen, mit der islamischen Gemeinschaft Millî Görüş, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird, zusammenzuarbeiten. Eingemeindungen Das Stadtgebiet Gelsenkirchens hat sich wie folgt entwickelt: Eingemeindung 1903: Bismarck (bis 1900 Braubauerschaft) – bis 1868 zum Amt Wattenscheid, Kreis Bochum, dann zum Amt Gelsenkirchen, Kreis Bochum, ab 1877 zum Amt Schalke, Kreis Bochum und ab 1887 zum Amt Braubauerschaft im inzwischen neu gegründeten Kreis Gelsenkirchen Schalke – bis 1868 zum Amt Wattenscheid, Kreis Bochum, dann zum Amt Gelsenkirchen, Kreis Bochum, ab 1877 eigenes Amt, das 1885 zum Kreis Gelsenkirchen kam Heßler – bis 1868 zum Amt Wattenscheid, Kreis Bochum, dann zum Amt Gelsenkirchen, Kreis Bochum, ab 1877 zum Amt Schalke, alle 1885 Kreis Gelsenkirchen Bulmke – bis 1868 zum Amt Wattenscheid, Kreis Bochum, dann zum Amt Gelsenkirchen, Kreis Bochum, ab 1877 zum Amt Schalke alle 1885 Kreis Gelsenkirchen, ab 1887 Bulmke zum Amt Braubauerschaft/Bismarck Hüllen – bis 1868 zum Amt Wattenscheid, Kreis Bochum, dann zum Amt Gelsenkirchen, Kreis Bochum und 1877 zum Amt Schalke, alle 1885 Kreis Gelsenkirchen, 1887 Hüllen zum Amt Braubauerschaft/Bismarck Ückendorf – bis 1876 zum Amt Wattenscheid, Kreis Bochum, dann eigenes Amt, das ab 1885 zum Kreis Gelsenkirchen kam Eingemeindung 1924 und 1926: 1924: Rotthausen – bis 1873 zur Bürgermeisterei Altenessen, Kreis Duisburg, dann zur Bürgermeisterei Stoppenberg, Kreis Essen und ab 1906 eigene Bürgermeisterei im Kreis Essen 1926: Teile von Röhlinghausen und Wanne Zusammenschluss 1928: Zusammenlegung der kreisfreien Städte Gelsenkirchen und Buer mit dem Amt Horst (bis 1891 zum Amt Buer gehörig, dann eigenes Amt) zur neuen kreisfreien Stadt Gelsenkirchen-Buer am 1. April 1928 Am 21. Mai 1930 wurde der Stadtname in Gelsenkirchen geändert. Einwohnerentwicklung 1903 überschritt die Einwohnerzahl der Stadt Gelsenkirchen nach der Eingemeindung von Schalke (26.077 Einwohner 1900), Ückendorf (21.937), Bismarck (21.169), Bulmke (11.001), Heßler (3508 Einwohner 1895) und Hüllen (2969 Einwohner 1895) die Grenze von 100.000 und machte sie zur Großstadt. 1924 erfolgte die Eingliederung von Rotthausen (29.413 Einwohner 1919), wodurch die Einwohnerzahl auf 206.595 stieg. Am 1. April 1928 wuchs die Bevölkerung der Stadt nach dem Zusammenschluss der Städte Gelsenkirchen (207.153 Einwohner 1925) und Buer (99.307) sowie der Gemeinde Horst-Emscher (23.412) auf 340.077. Im Jahre 1959 erreichte die Einwohnerzahl mit 391.745 ihren historischen Höchststand. Seitdem ist die Bevölkerungszahl um fast 35 % gesunken. Am 31. Dezember 2011 lebten in der Stadt nach Fortschreibung des Landesbetriebs für Information und Technik Nordrhein-Westfalen 256.652 Menschen mit Hauptwohnsitz, was den historischen Tiefststand seit dem Jahr 1946 darstellte. Diese Zahl war in den folgenden Jahren zwischenzeitlich auf über 260.000 angestiegen, zum 31. Dezember 2020 hatte Gelsenkirchen 259.105 Einwohner mit Hauptwohnsitz. Laut Prognosen des Landesbetriebs aus 2019 werden für das Jahr 2040 noch 254.045 Einwohner erwartet. Die extremen Bevölkerungszuwächse seit dem Beginn der Industrialisierung Mitte des 19. Jahrhunderts (hauptsächlich vor dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg) sind durch die angeworbenen Arbeiter der Montanindustrie zu erklären. Diese waren oft Polen und stammten vor dem Zweiten Weltkrieg überwiegend aus Ost- und Westpreußen sowie aus Posen und Schlesien. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der überwiegende Teil der Arbeiter aus Südeuropa und der Türkei. Der Ausländeranteil Gelsenkirchens lag am 31. Dezember 2022 bei 25,0 %. Innerhalb des Stadtgebiets zeigen sich bezüglich des Anteils der ausländischen Bevölkerung erhebliche Unterschiede. Während der Ausländeranteil in den südlichen und innerstädtischen Wohngebieten tendenziell hoch ist, sind die Werte in vielen nördlichen Stadtteilen niedriger. Politik Historische Entwicklung der Stadtverwaltung An der Spitze des Dorfes Gelsenkirchen standen 1608 zwei Bürgermeister, die von den Eingesessenen gewählt wurden. Während der Zeit der französischen Besetzung 1807 bis 1813 bildete Gelsenkirchen mit dem benachbarten Wattenscheid eine gemeinsame Munizipalität bzw. ab 1815 das Amt Wattenscheid im Kreis Bochum. Der dortige Amtmann war daher auch für Gelsenkirchen zuständig. 1868 wurde Gelsenkirchen eigene Amtsstadt und 1875 erhielt das Amt die Stadtrechte. An der Spitze stand danach der Bürgermeister, der nach Erlangung der Kreisfreiheit 1896 den Titel Oberbürgermeister erhielt. Buer und Horst wurden bis 1891 unter dem gemeinsamen Amt Buer verwaltet, dann gab es ein eigenständiges Amt Horst. Jedes Amt wurde von einem Amtmann geleitet. Nach Erlangung der Stadtrechte in Buer 1911 stand an der Spitze Buers ebenfalls ein Bürgermeister, später Oberbürgermeister. Die Stadt Gelsenkirchen-Buer bzw. die neue Stadt Gelsenkirchen (ab 1928) wurde von einem Oberbürgermeister geleitet. Während der Zeit der Nationalsozialisten wurde der Oberbürgermeister von der NSDAP eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militärregierung der Britischen Besatzungszone einen neuen Oberbürgermeister ein und 1946 führte sie die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen vom Volk gewählten Rat der Stadt, dessen Mitglieder man als Stadtverordnete bezeichnet. Der Rat wählte anfangs aus seiner Mitte den Oberbürgermeister als Vorsitzenden und Repräsentanten der Stadt, der ehrenamtlich tätig war. Des Weiteren wählte der Rat ab 1946 ebenfalls einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1996 wurde die Doppelspitze in der Stadtverwaltung aufgegeben. Seither gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberbürgermeister. Dieser ist Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Repräsentant der Stadt. Er wurde 1999 erstmals direkt gewählt. Bürgermeister, Oberbürgermeister und Oberstadtdirektoren Bürgermeister und Oberbürgermeister Folgende Persönlichkeiten waren Bürgermeister und Oberbürgermeister der Stadt Gelsenkirchen: 1877–1900: Friedrich Wilhelm Vattmann 1900–1919: Theodor Machens 1919–1928: Carl von Wedelstaedt (zuvor Amtmann von Ückendorf) 1928–1933: Emil Zimmermann (zuvor Oberbürgermeister von Buer) 1933–1945: Carl Engelbert Böhmer, NSDAP 1945–1946: Emil Zimmermann, zweite Amtszeit 1946–1963: Robert Geritzmann (SPD) 1963–1969: Hubert Scharley (SPD) 1969–1975: Josef Löbbert (SPD) 1975–1989: Werner Kuhlmann (SPD) 1989–1996: Kurt Bartlewski (SPD) 1996–1999: Dieter Rauer (SPD) 1999–2004: Oliver Wittke (CDU) 2004–2020: Frank Baranowski (SPD) 2020–Heute: Karin Welge (SPD) Bei der Stichwahl des Oberbürgermeisters am 27. September 2020 gewann Karin Welge (SPD) mit 59,4 % bei einer Wahlbeteiligung von 26,6 %. Bei der regulären Wahl (13.09.20) lag die Wahlbeteiligung bei 41,5 % mit einer Stimmverteilung von 40,4 % SPD bzw. 25,1 % CDU (Grüne: 9,3 %, FDP: 4,3 %, Die Linke: 3,0 %, AfD: 12,1 %). Oberstadtdirektoren Folgende Persönlichkeiten waren Oberstadtdirektoren in Gelsenkirchen: 1946–1950: Emil Zimmermann 1950–1968: Hans Hülsmann 1968–1975: Hans-Georg König 1975–1983: Heinrich Meya 1983–1989: Jürgen Linde 1989–1996: Klaus Bussfeld Stadtrat Nach der Stadtratswahl am 13. September 2020 gibt es im Stadtrat folgende Sitzverteilung (Stand: Oktober 2020). SPD und CDU haben für die Wahlperiode 2020–2025 eine Koalition geschlossen. Ergebnisse der Bundestagswahlen In der folgenden Tabelle sind die Ergebnisse der Bundestagswahlen im Wahlkreis Gelsenkirchen dargestellt (Zweitstimmenanteile). Unter der Regierung von Gerhard Schröder (SPD, 1998–2005) hat sich der Stimmanteil der SPD von 62,3 % auf 53,8 % entwickelt. Unter der Regierung Angela Merkels (CDU, 2005–2021) reduzierte sich der Stimmanteil der SPD weiter von 53,8 % auf 37,1 %. Der Stimmanteil der CDU stagnierte in diesen 23 Jahren (mit kleinen Ausnahmen 2013 und 2021) um 23 %. In diesem Zeitraum hatte der Wahlkreis der kreisfreien Stadt Gelsenkirchen die Nummern 123 (2013–2021), 124 (2002–2009) sowie 93/94 (1998). Verschuldung Die Gesamtsumme der Verschuldung der Stadt Gelsenkirchen beläuft sich zum Jahresende 2012 auf 1,606 Milliarden Euro. Jeder Einwohner ist damit mit 6.230 Euro verschuldet. Städtepartnerschaften Gelsenkirchen unterhält mit folgenden Städten eine Städtepartnerschaft: Newcastle upon Tyne (Vereinigtes Königreich), seit 1948 Zenica (Bosnien und Herzegowina), seit 1969 Schachty (Russland), seit 1989 Olsztyn (Polen), seit 1992 (ab 1952 Patenschaft) Cottbus (Brandenburg), seit 1995 Büyükçekmece (Türkei), seit 2004 In den 1960er und 1970er Jahren hatte Gelsenkirchen eine Partnerschaft mit der senegalesischen Stadt Kaolack, die jedoch nicht fortgeführt wurde. Wappen Das Stadtwappen vor dem Jahr 1928 zeigte eine stilisierte Kirche, mit der redend auf den Ortsnamen angespielt wurde. Die mittlere Öffnung symbolisiert Wehrhaftigkeit durch ein Stadttor mit Fallgitter; Schlägel und Eisen verweisen auf den Bergbau als Grundlage der Stadtwerdung. Das heraldisch rechte obere kleine Wappen zeigt den preußischen Schild, das heraldisch linke den Schachbalkenschild der Grafschaft Mark. Eine bildliche Darstellung des alten Stadtwappens befindet sich heute an der Außenfassade der Gertrud-Bäumer-Realschule in der Rotthauser Straße/Zeppelinallee. Wirtschaft und Infrastruktur Überblick Gelsenkirchen war bis in die 1980er Jahre stark von der Montanindustrie (Ruhrbergbau) geprägt. Weil dieser Wirtschaftszweig keine Zukunft mehr hatte und die Zechen in Gelsenkirchen eine nach der anderen schlossen, versuchte die Stadt, sich Ende der 1990er Jahre vor allem als Zentrum für Solartechnologie zu positionieren. Die wirtschaftliche Schwäche zeigt sich jedoch in einer weit über dem Bundesdurchschnitt von 5,2 % liegenden Arbeitslosenquote, die bei 14,1 % lag. (jeweils Stand Oktober 2021). Noch 2007 war die Stadt im Ranking des Prognos Zukunftsatlas um 15 Plätze zur Erstausgabe 2004 auf Rang 306 von 439 gestiegen. Die Gesamtlage hieß dabei „ausgeglichener Chance-Risiko-Mix“.Seit 2004 gab es eine stabile Mehrheit im Stadtrat und derselbe Oberbürgermeister wurde mit überwältigenden Mehrheiten immer wieder gewählt, bis er zur Wahl 2020 aufgab. Im Zukunftsatlas 2016 befand sich Gelsenkirchen auf Platz 389 von 402 Gebietskörperschaften in Deutschland und zählt damit zu den Regionen mit „hohen Zukunftsrisiken“. Die Stadt belegte damit den vorletzten Platz unter allen Kreisen und Städten in Westdeutschland sowie den letzten Platz unter allen kreisfreien Städten im gesamten Bundesgebiet. In der Ausgabe 2019 des Zukunftsatlasses hat sich die absolute Position auf 377 von 401 verbessert, ebenfalls mit „hohen Zukunftsrisiken“. Das liegt vor allem am Faktor Demografie mit einem 73. Platz, während in der Kategorie Wohlstand & Soziale Lage der 398. Platz verzeichnet wird. Unternehmen und Einrichtungen Folgende Unternehmen und Einrichtungen in Gelsenkirchen haben eine besondere Bedeutung: Die August Friedberg GmbH ist ein Schraubenhersteller für die Autoindustrie, den Maschinen- und Stahlbau und die Windkraftindustrie und beschäftigt 450 Mitarbeiter (2014). Ball Corporation ist ein Dosenhersteller. Die Bergmannsheil und Kinderklinik Buer ging aus der 1929 von der Bergbau-Berufsgenossenschaft gegründeten Knappschaftsklinik Bergmannsheil hervor, die 2002 mit der Städtischen Kinderklinik fusionierte. BP Gelsenkirchen/Ruhr Oel:An zwei Raffineriestandorten werden Kraftstoffe und petrochemische Produkte hergestellt. Das Unternehmen beschäftigte 2013 etwa 1980 Mitarbeiter. Bridon International an der Magdeburger Str. 14 (117 Mitarbeiter) hat 2007 das längste Stahlseil der Welt hergestellt. Es war vier km lang, 14 cm dick und 370 t schwer. ELE (Emscher Lippe Energie GmbH), regionaler Energieversorger, 485 Millionen Euro Umsatz (2006). Die Gelsenkirchener Werkstätten für angepasste Arbeit gGmbH bietet über 600 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen, 800 Mitarbeiter. Gelsenwasser AG ist ein Wasserversorger und beschäftigt an der Willy-Brandt-Allee 1123 Mitarbeiter. GGW (Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft mbH), das Wohnungsunternehmen der Stadt Gelsenkirchen gym80 International entwickelt und produziert seit 1980 Kraftgeräte, 170 Mitarbeiter. Küppersbusch fertigt im Schalker Gewerbepark Haushaltsgeräte, die weltweit exportiert werden und hat (Stand 2020) 66 Mitarbeiter. Loxx ist ein weltweites Speditionsunternehmen mit deutschlandweit (2011) 243 Mitarbeitern. Masterflex wurde 1987 gegründet und ist ein börsennotierter Spezialkunststoff-Hersteller für Schlauchsysteme. Der Gewinn betrug 2012 4,4 Millionen Euro. Es hat vor Ort 110 und weltweit (2019) 679 Mitarbeiter. medicos.AufSchalke ist ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum für ambulante Rehabilitation sowie Prävention im Bereich Sport und beschäftigte 2011 etwa 160 Mitarbeiter. Müller’s Mühle gehört zu VK Mühlen AG, seit 2014 umfirmiert in GoodMills Deutschland. 2020 waren hier, im Schatten des unternehmenseigenen Getreidesilos, rund 140 Mitarbeiter tätig. Die Norres Schlauchtechnik, Am Stadthafen, wurde 1889 gegründet und beschäftigte 2013 national 160 und international 220 Mitarbeiter. Oexmann in Schalke ist mit 130 Mitarbeitern bei Eiswaffeln international als Marktführer gut im Geschäft. Der Glashersteller Pilkington in der Haydnstraße übernahm 1980 die Flachglas AG (vormals DELOG Deutsche Libbey-Owens-Gesellschaft für maschinelle Glasherstellung), 500 Mitarbeiter (Stand 2020). REL (Radio Emscher-Lippe) hat seinen Sitz in Gelsenkirchen-Buer, Hochstr. 68 Roller, Möbelhaus mit über 80 Discountermärkten in ganz Deutschland. In der Zentrale an der Willy-Brandt-Allee arbeiten 160 Mitarbeiter. SABIC, ein saudi-arabisches Unternehmen, stellt Polyolefine her. Das Gelsenkirchener Werk wurde 1997 von DSM übernommen; etwa 400 Mitarbeiter (2020). FC Schalke 04, der Verein bietet rund um die Arena 300 Stellen für fest angestellte Mitarbeiter Die Schülerhilfe ist ein Franchise-Unternehmen der Nachhilfe-Branche. Am Firmensitz in Gelsenkirchen arbeiten über 100 fest angestellte Mitarbeiter und bundesweit rund 10.000 Nachhilfelehrer. Das Sozialwerk St. Georg betreibt in NRW Wohnheime für geistig und körperlich behinderte Menschen, beschäftigt werden 2200 Mitarbeiter. Sparkasse Gelsenkirchen, örtliche Sparkasse. Die Stadtwerke Gelsenkirchen sind die örtlichen Stadtwerke St. Augustinus Gelsenkirchen GmbH, gemeinnützig, hat etwa 2100 Beschäftigte und betreibt unter anderem zwei Krankenhäuser, ein Alten-, Pflege- und Jugendheim, Kindergärten, Friedhöfe sowie Wohn- und Geschäftshäuser. Stölting-Gruppe ist ein Immobiliendienstleister seit 1899, in Erle, hat 2014 in der Stadt ca. 900, in Deutschland und Österreich etwa 3500 Mitarbeiter. Straßen.NRW ist Teil der Landesverwaltung NRW. Sie hat am Betriebssitz Wildenbruchstr. 1 475 Mitarbeiter. Vivawest, ehemals THS Wohnen, eine der bestandsstärksten Immobilienverwaltungen Deutschlands Der Verkehrsverbund Rhein-Ruhr hat an der Augustastr. 1 in der Innenstadt seine Hauptverwaltung mit etwa 160 Mitarbeitern. Uniper Kraftwerke GmbH (Betreiber von Kraftwerken, unter anderem Kraftwerk Scholven, Stromerzeuger). Die Uniper Technologies GmbH hatte im Jahr 2020 etwa 400 Mitarbeiter. Volksbank Ruhr Mitte eG, örtliche Volksbank mit Hauptsitz im Stadtteil Buer, Goldbergplatz 2–4. ZF TRW, Autozulieferer an der Freiligrathstraße, 570 Mitarbeiter (2020) ZINQ GmbH & Co. KG, europäische Unternehmensgruppe im Bereich der Oberflächenveredelung von Stahl, Stammwerk in Gelsenkirchen-Schalke, Verwaltungssitz in Gelsenkirchen-Buer, 150 Mitarbeiter vor Ort, 2000 weltweit (2013) Leistung Im Jahre 2016 erbrachte Gelsenkirchen, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 7,656 Milliarden € und belegte damit Platz 49 innerhalb der Rangliste der deutschen Städte nach Wirtschaftsleistung. Das nominelle Wachstum zum Vorjahr betrug 1,8 %. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 29.284 € (Nordrhein-Westfalen: 37.416 €/ Deutschland 38.180 €) und damit deutlich unter dem regionalen und nationalen Durchschnitt. Am 31. März 2005 gab es in Gelsenkirchen 70.969 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, rund zwei Drittel davon im Dienstleistungssektor. Weiterhin gab es in Gelsenkirchen am 30. Juni 2005 rund 108.000 Erwerbstätige, zu denen rund 8900 Selbstständige und 7000 Unternehmer gehören. Die Arbeitslosenquote lag im Dezember 2018 bei 12,1 % und damit deutlich über dem Durchschnitt von Nordrhein-Westfalen mit 6,4 %. Die Wirtschaft in Gelsenkirchen hatte im ersten Halbjahr 2005 einen Umsatz von knapp acht Milliarden Euro. Dieses stellt zum Vergleichszeitraum im Vorjahr eine Steigerung um 16,4 % dar. Der Umsatz des Exportes betrug im selben Zeitraum etwa 610 Millionen Euro und stellt zum Vergleichszeitraum im Vorjahr eine Steigerung um 19,4 % dar. Die Stadt Gelsenkirchen ist laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung in Anbetracht ihrer Infrastruktur und Kommunalpolitik nach Leipzig, Karlsruhe und Bremen Deutschlands viertunternehmensfreundlichste Stadt. Im Widerspruch hierzu steht jedoch ein deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegender Gewerbesteuerhebesatz von 480 % (2016). Die beiden größten Einkaufsmeilen in Gelsenkirchen sind die Bahnhofstraße, welche, direkt an den Hauptbahnhof und das Bahnhofscenter anschließend, zum Neumarkt führt, sowie die Hochstraße im Stadtteil Buer, wobei die Bahnhofstraße mit etwa 55.000 täglichen Passanten zu den bedeutendsten Einkaufsmeilen des mittleren Ruhrgebiets und darüber hinaus zu den 30 meistbesuchten Einkaufsstraßen Deutschlands zählt. Wirtschaftliche Entwicklung Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war Gelsenkirchen vor allem landwirtschaftlich geprägt; das Dorf hatte nur wenige Hundert Einwohner. Dann begann in Gelsenkirchen, wie auch in der übrigen Region, mit dem Abbau der Steinkohle im Ruhrgebiet der wirtschaftliche Umschwung von der Landwirtschaft zur Schwerindustrie. Die Entwicklung der Industrie verlangte nach Verkehrsverbindungen; sie gab den Anstoß zum Bau der Stammstrecke der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft. Von der wachsenden Industrie angezogen kamen immer mehr Menschen, häufig aus Ostpreußen, das heute zu Polen und zu Russland gehört, in das Ruhrgebiet, um dort zu arbeiten. Bis um die Wende zum 20. Jahrhundert vervierfachte sich die Zahl der Einwohner Gelsenkirchens innerhalb weniger Jahre auf knapp 150.000. Die Schwerindustrie entwickelte sich über die Jahre zum wichtigsten Wirtschaftszweig in Gelsenkirchen. Nachdem in den 1920er Jahren viele Arbeitsplätze wegrationalisiert worden waren, gab es in Gelsenkirchen in den 1930er Jahren wieder einen kräftigen wirtschaftlichen Aufschwung, der Gelsenkirchen zu Europas Steinkohlestandort Nummer 1 machte. Zu diesem Aufschwung trug die beginnende Kriegsproduktion bei. Auf Grund der hohen wirtschaftlichen Bedeutung Gelsenkirchens wurden im Zweiten Weltkrieg mehr als drei Viertel der Stadt zerstört. Seit den 1960er Jahren verlor die Montanindustrie auch in Gelsenkirchen ihre einstige Bedeutung. Mit einigem Zögern und unter erheblichen strukturellen Problemen begab sich Gelsenkirchen auf neue Wege und versucht, sich als Standort für Zukunftstechnologien zu profilieren. Zum einen hat sich Gelsenkirchen als Solarstadt einen Namen gemacht (unter anderem wurden die Solarzellen für den neuen Berliner Hauptbahnhof in Gelsenkirchen produziert), zum anderen gibt es einen deutlich gewachsenen Dienstleistungssektor. Dennoch ist Gelsenkirchen mit durchschnittlich 17.635 €/Jahr auch 2021 die landesweite Hauptstadt der Geringverdiener. Verkehr Straßen-, Eisenbahn- und Wasser-Anbindung Gelsenkirchen liegt an den Bundesautobahnen 2, 42 und 52 sowie an den Bundesstraßen 224, 226 und 227. Die Stadt hat 1500 Straßen mit einer Gesamtlänge von 763,93 km (einschließlich Autobahnen). Der Gelsenkirchener Hauptbahnhof liegt an den Bahnstrecken Duisburg–Oberhausen–Herne–Dortmund und Essen–Recklinghausen–Münster. Hier fahren auf sechs Gleisen jeweils Züge des Regional- und Fernverkehrs. Es existieren fünf weitere Stationen des Schienenpersonennahverkehrs in den Stadtteilen Rotthausen, Hassel, Buer, Beckhausen und Bismarck. Die Stadt liegt am Rhein-Herne-Kanal, an dem der Hafen Gelsenkirchen besteht. Er ist als Industrie- und Handelshafen mit einem Jahresumschlag von zwei Millionen Tonnen und einer Wasserfläche von rund 120 Hektar einer der größten und wichtigsten Kanalhäfen Deutschlands und zudem an das Schienennetz angebunden. Bus und Straßenbahn Den Nahverkehr in Gelsenkirchen bedienen Straßenbahnen und Busse der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG (Bogestra) sowie primär im Stadtnorden der Vestischen (das Unternehmen heißt zwar Vestische Straßenbahnen GmbH, betreibt heute aber nur noch Omnibusse). Ferner gibt es auf verschiedenen stadtgrenzüberschreitenden Verbindungen SB-Linien der STOAG und des BVR, hinzu kommen die Stadtbusse der Ruhrbahn, welche auch eine Straßenbahnstrecke und eine Stadtbahn befährt. Dabei handelt es sich im Einzelnen um die drei Straßenbahnlinien 107, 301, 302, eine Stadtbahnlinie (U11, die -nördlich des Kanals oberirdisch- den Stadtteil Horst mit der Essener Universität, der dortigen Innenstadt und der Messe verbindet) sowie etwa 50 Buslinien. Außerdem sind am Wochenende/vor Feiertagen mehrere Nachtbuslinien unterwegs, die zwischen 0:00 und 5:00 Uhr eine stündliche Basisversorgung gewährleisten, ergänzend besteht dann auch ein (halb-)stündliches Angebot im DB-Nahverkehr. Alle Linien sind in den Tarif des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr integriert. U-Bahn In Gelsenkirchen verlaufen einzelne Straßen- oder Stadtbahnlinien abschnittsweise unterirdisch. Etwa 90 % der Gelsenkirchener U-Bahn-Tunnel sind, auf Grund ihrer speziellen Bauweise, senkungs- und erdbebensicher. Die Senkungssicherheit war der ausschließliche Grund für die neu entwickelte Bauweise, die vor allem Bergschäden vorbeugen soll, die durch nicht (ordentlich) verfüllte Schächte des Raubbergbaus entstehen. Der Nachteil dieser Bauweise liegt jedoch in den Kosten, die etwa doppelt so hoch sind wie die eines Standardtunnels. Längere Zeiten war auch eine Linie U21 geplant, die vom Bahnhof Buer Nord über Buer Mitte, Erle, Bismarck, Schalke, Gelsenkirchen Hauptbahnhof, Ückendorf nach Witten führen sollte. Diese Planung wurde allerdings verworfen. In der Landesplanung 1998 war die Verlängerung der Linie 302 bis zum Bahnhof Buer Nord enthalten. Diese wurde bis heute (Januar 2019) noch nicht verwirklicht. Außerdem plante die damalige Essener Verkehrs-AG (EVAG) zwischenzeitlich, die Linie U11 bis zur Arena weiterzuführen, doch aus Kostengründen wurde auch dieses Projekt nicht realisiert. Sonstiges Nach der Stadt ist seit dem 7. September 2004 ein Intercity-Express benannt. Der in Teilen geplante Radschnellweg Ruhr führt auch durch Gelsenkirchen, die dort bereits fertiggestellte Trasse wird nun in Bochum erweitert. Beim ADFC-Fahrradklima-Test 2022 erhielt die Stadt Gelsenkirchen Schulnote 4,3. Von 1912 bis etwa 1940 gab es im Stadtteil Feldmark einen Flugplatz, ebenso weitgehend zu militärischen Zwecken ab etwa 1934 im Berger Feld. Auf dieser Fläche entstand Jahrzehnte später das Parkstadion. Infrastrukturausbau anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 Anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ist die Verkehrsinfrastruktur in Gelsenkirchen zur Veltins-Arena hin ausgebaut worden. Ab Anfang 2005 wurde der Gelsenkirchener Hauptbahnhof großzügig umgebaut und am 8. Juni 2006, also einen Tag vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, fertiggestellt. Das Deutsche-Bahn-Reisezentrum wurde deutlich näher zu den Bahnsteigen gelegt, das alte Reisezentrum abgerissen und dort ein bahnhofsnaher Taxistand gebaut. Zudem erhielten U-Bahn-Abgang und Taxistand eine Überdachung mit einer Photovoltaikanlage. Weiterhin wurde zu jedem Bahnsteig ein Aufzug gebaut und ein Blindenleitsystem verlegt, sodass der Bahnhof nun barrierefrei ist. Im U-Bahnhof wurden die Bahnsteige abgesenkt und die Stromversorgung der Linie 302 zudem so ausgebaut, dass sie nun mit zwei aneinander gekoppelten Fahrzeugen (Doppeltraktion) gefahren werden kann. Die Straßenbahn-Haltestelle Veltins-Arena hat durch eine großzügige Überdachung den Charakter eines Bahnhofs erhalten, allerdings ist diese nicht barrierefrei; Rollstuhlfahrer werden mittels Durchsage in der Straßenbahn gebeten, diese an der benachbarten Haltestelle Willy-Brandt-Allee zu verlassen. Die Bauarbeiten im unmittelbaren Bahnhofsumfeld und an der Infrastruktur von und zur Arena werden durch eine Umgestaltung des Gelsenkirchener Einkaufsbereiches – der Bahnhofstraße und des Bahnhofcenters – ergänzt. Weitere Großprojekte waren unter anderem die Komplettsanierung der Uferstraße (wichtige Ost-West-Verbindung parallel zum Rhein-Herne-Kanal), die neue Anschlussstelle der A 42 mit der Bezeichnung Gelsenkirchen-Schalke sowie weitere Baumaßnahmen, wie etwa die Verlängerung von Abbiegespuren. Medien Einzig verbliebene lokale Tageszeitung ist die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ). Am 1. April 2006 haben die Ruhr-Nachrichten die Lokalausgabe für Gelsenkirchen eingestellt. Die Buersche Zeitung erschien nach 125 Jahren letztmals am 30. September 2006. Stattdessen gibt es im nach wie vor erscheinenden Schwesterblatt Hertener Allgemeine (Kopfblatt der Recklinghäuser Zeitung) maximal eine Seite mit Gelsenkirchener, primär buerschen Kurzberichten, die aber stadtweit ohne Bedeutung sind. Gelsenkirchen ist somit ein Einzeitungskreis. Weiterhin wird wöchentlich mittwochs und samstags das Anzeigenblatt Stadtspiegel Gelsenkirchen im Stadtgebiet verteilt, wovon es für Buer eine eigene Ausgabe gibt. Ferner werden gratis monatlich die Anzeigendruckwerke 100 % Buer bzw. BUER ! und nachfolgend, seit November 2019, Hallo Buer aufgelegt, letzteres auf Zeitungspapier im Tabloidformat, alternativ mit Onlineberichterstattung. Daneben erscheinen die monatlichen bzw. unregelmäßigen Ausgaben von Familienpost, Beckhausener Kurier und Wochenblick für Gelsenkirchen. Einmal im Monat ist gratis das Gelsenkirchener Stadtmagazin isso. zu haben. Das kostenlose Monatsmagazin GE:spräch wurde 2016 in das inzwischen kostenpflichtige Ruhrgespräch umgewandelt. Nur bis 2012 erschien das Magazin GE:kult, welches über aktuelle Kunst und Kultur mit lokalem Bezug informierte. Diesem Genre widmet sich auch die von der Stadt publizierte und ebenfalls online verfügbare Broschüre Kulturtipps Gelsenkirchen. Seit März 2013 gibt die Stadtverwaltung viermal jährlich das achtseitige Bürgermagazin GELSENKIRCHEN heraus, welches auch über die Homepage der Stadt einsehbar ist. Gelsenkirchen ist Sitz des 1987 gegründeten Verbands Lokaler Rundfunk in Nordrhein-Westfalen e. V. (VLR), der die Interessen der Veranstaltergemeinschaften im nordrhein-westfälischen Lokalfunk vertritt. In Gelsenkirchen-Buer ist auf der Hochstraße der Radiosender Radio Emscher-Lippe beheimatet. Der TV-Lernsender nrwision bündelt in seiner Mediathek Fernsehsendungen über Gelsenkirchen bzw. von Fernsehmachern aus Gelsenkirchen. Zwischen 1948 und 1983 wurden die Gelsenkirchener Blätter vom städtischen Presseamt herausgegeben. Die lokalhistorische Website Gelsenkirchener Geschichten wurde 2006 gestartet. Hierzu gibt es ein Regiowiki. Ferner publiziert der örtliche Heimatbund seit 2019 die themenbezogen erscheinende Emscher-Zeitung. Eine derartige Vereinigung gibt es auch in Buer. Seit April 2022 ist ein Gelsenkirchen-Podcast der Stadtverwaltung mit dem Namen Das GEhört sich so verfügbar. Bildung Die Westfälische Hochschule Gelsenkirchen Bocholt Recklinghausen wurde 1992 als Fachhochschule Gelsenkirchen gegründet und erhielt 2012 ihren heutigen Namen. Die Hochschule unterhält folgende Fachbereiche: Wirtschaft, Wirtschaftsrecht, Informatik, physikalische Technik, Elektrotechnik, Maschinenbau, Journalismus & Public Relations und Versorgungs- und Entsorgungstechnik. Gelsenkirchen ist darüber hinaus Sitz und einer von sieben Standorten der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (Fachbereiche: Kommunaler Verwaltungsdienst, Polizeivollzugsdienst, Modellstudiengang Verwaltungsbetriebswirtschaftslehre). In Gelsenkirchen gibt es 51 Grundschulen (36 Gemeinschaftsgrundschulen, zwölf katholische Grundschulen, drei evangelische Grundschulen), acht Hauptschulen, sechs Realschulen, sieben Gymnasien (vier altstadtnah, drei in Buer; das heutige Schalker Gymnasium ist mit seiner Gründung im Jahre 1876 das älteste der Stadt) und vier Gesamtschulen, von denen die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck die einzige Gesamtschule in der Trägerschaft der westfälischen Landeskirche und zudem die einzige Schule in freier Trägerschaft in Gelsenkirchen ist. Die Gesamtschule Berger Feld liegt in unmittelbarer Nähe des Vereinsgeländes des Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04, mit dem eine intensive Zusammenarbeit besteht. Seit 1995 besteht das Talentzentrum Gelsenkirchen und seit 2000 die Fußballschule Auf Schalke/Teilinternat Gesamtschule Berger Feld. Von 53 Nutzern dieses Teilinternats haben bisher 23 den Sprung in den Profi-Bereich geschafft, darunter Mesut Özil, Manuel Neuer, Alexander Baumjohann, Benedikt Höwedes, Sebastian Boenisch, Tim Hoogland, Michael Delura, Julian Draxler und Joel Matip. Im Juni 2007 wurde die Gesamtschule Berger Feld als vierte deutsche Schule vom DFB als Eliteschule des Fußballs ausgezeichnet. Die Gesamtschulen Horst und Ückendorf bieten Oberstufenbildung in den südlichen Stadtteilen.Darüber hinaus gibt es vier Berufskollegs: Im Süden das Berufskolleg für Technik und Gestaltung (BTG) und das Berufskolleg Königstraße, im Norden das Eduard-Spranger-Berufskolleg und das Hans-Schwier-Berufskolleg. Zudem gibt es in Gelsenkirchen für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Förderbedarfen 14 Förderschulen (Förderschwerpunkte: Lernen, geistige Entwicklung, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung, Hören und Kommunikation, Sehen, körperliche und motorische Entwicklung, sowie eine Schule für Kranke). In Sutum wird im FloristPark International an der Theodor-Otte-Straße auf einem früheren Bauernhof, der unter Denkmalschutz steht, die deutschlandweit einzige Fachschule des Fachverbandes Deutscher Floristen e. V. betrieben, wo regelmäßig Meisterkurse zum Beruf des Floristmeisters und Fortbildungsveranstaltungen für Floristen stattfinden. In der Virchowstraße in Gelsenkirchen-Ückendorf unterhalten christliche Krankenhäuser aus Gelsenkirchen und Umgebung für die Ausbildung in der Altenpflege, der Krankenpflege und der Kinderkrankenpflege das Kirchliche Bildungszentrum für Gesundheitsberufe im Revier. Die Stadtverwaltung Gelsenkirchen betreibt eine Volkshochschule sowie eine Stadtbibliothek mit drei Zweigstellen in den Stadtteilen Horst, Buer und Erle mit mehr als 100.000 Büchern, Filmen und CDs sowie einer Kinderbibliothek. Ebenso gibt es einen Bücherbus, der an verschiedenen Straßen im Stadtgebiet hält. Forschung Gelsenkirchen ist Standort vieler forschender Einrichtungen, die sich mit den verschiedensten Fachbereichen beschäftigen. Der Wissenschaftspark Rheinelbe ist ein Forschungszentrum im Stadtteil Ückendorf. Es werden dort unter anderem Solartechnologien verschiedener Unternehmen erforscht; das Institut für Stadtgeschichte erforscht die Vergangenheit der Stadt und das Institut für Arbeit und Technik erforscht neue Methoden, Techniken und Technologien rund um die Arbeitswelt. Das ebenfalls im Stadtteil Ückendorf beheimatete IKT – Institut für Unterirdische Infrastruktur entwickelt innovative Technologien für die Kanalisationstechnik. Einige weitere forschende Institutionen sind die Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in NRW (unter anderem Institut für Verwaltungswissenschaften), das Hygieneinstitut des Ruhrgebiets, die Westfälische Hochschule (unter anderem Forschungsschwerpunkt Komponentenbasierte Softwareentwicklung (CombaSoft), Institut für Internet-Sicherheit, Institut zur Förderung von Innovation und Existenzgründung, Institut für biologische und chemische Informatik, Institut für demand logistics), das Labor und Servicecenter des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme und das Pathologische und Gewebepathologische Institut. Technisches Hilfswerk In Gelsenkirchen sind eine Geschäftsstelle und ein Ortsverband der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk beheimatet. Die zwei Technischen Züge bestehen aus vier Bergungsgruppen und den Fachgruppen Infrastruktur, Räumen und Elektroversorgung. Die Unterkunft befindet sich im Katastrophenschutzzentrum der Stadt Gelsenkirchen, Adenauerallee 100. Kultur und Sehenswürdigkeiten Überblick Besondere kulturelle Einrichtungen sind die ZOOM Erlebniswelt (ehemaliger Ruhr-Zoo), der Wissenschaftspark Rheinelbe, das Sport-Paradies, die Kaue (sozio-kulturelles Zentrum) und das Kulturzentrum Die Flora. Auf dem ehemaligen Gelände der Zeche Nordstern (Bundesgartenschau 97) befand sich die Modellbahndauerausstellung Der Deutschlandexpress, bis 2001 die größte digitale Dreileiter-Modellbahnanlage der Welt; heute sind nur das Miniatur Wunderland in Hamburg und die Loxx Miniatur Welten Berlin größer. Weiterhin gibt es in Gelsenkirchen einige Siedlungen, Aussichts- und Ankerpunkte der Route der Industriekultur. Die Gelsenkirchener Aussichtspunkte der Route sind die Halden Rungenberg und Rheinelbe. Ebenfalls in die Route wurden die Siedlungen Flöz Dickebank und Schüngelberg aufgenommen. Der Nordsternpark bietet Informationen über das ehemalige Zechengelände sowie über die industrielle Vergangenheit der Region. Er wird deshalb als einer der Ankerpunkte der Route bezeichnet. Theater In Gelsenkirchen gibt es mehrere Theater mit verschiedenen Schwerpunkten. Das Musiktheater im Revier, kurz MiR, beherbergt zwei Bühnen, das große und kleine Haus. Das Programm des MiR besteht vor allem aus Oper, Operette, Musical, Ballett, Schauspiel (Gastspiele), Puppenspiel und Kinder- und Jugendtheater. Von 2012 bis 2019 hatte die US-amerikanische Tänzerin und Choreographin Bridget Breiner die Stelle der Ballettdirektorin inne. Seitdem Giuseppe Spota ihre Nachfolge angetreten hat, wird der Bereich nicht mehr unter „Ballett“, sondern unter „Tanz“ geführt. Die Neue Philharmonie Westfalen, die unter anderem im MiR spielt, entstand 1996 aus der Fusion der Orchester von Recklinghausen und Gelsenkirchen und spielt heute als eines von drei Landesorchestern in ganz Nordrhein-Westfalen. Das im Nordsternpark gelegene Amphitheater Gelsenkirchen wurde 1997 zur Bundesgartenschau am Rhein-Herne-Kanal errichtet. Im Frühjahr und Sommer finden im Amphitheater unter anderem das Rock-Hard-Festival, verschiedene andere Musikevents und Freilichtkinoaufführungen statt. Das Consol-Theater in Bismarck war einst das Lüftermaschinengebäude mit den Ventilationsmaschinen der Zeche Consolidation. Seit 2001 finden im Consol-Theater regelmäßig Aufführungen mit dem Programmschwerpunkt Kinder- und Jugendtheater statt. Das Emscher-Lippe-Theater ist ein Ensemble junger Künstler der Emscher-Lippe-Region rund um Gelsenkirchen. Die Aufführungen finden in städtischen Schulen der Region statt. Die Theatergesellschaft Preziosa 1883 e. V. ist ein weiteres Ensemble, das sich ausschließlich aus Amateuren zusammensetzt und ebenfalls städtische Schulen für seine Aufführungen nutzt. Weiterhin finden in der Veltins-Arena verschiedene Musikevents mit internationalen Künstlern und Musicals in unregelmäßigen Abständen statt – bisher wurden zum Beispiel die Opern Aida, Carmen und Turandot aufgeführt. Museen Im Zentrum des Stadtteils Buer liegt an der Horster Straße 5–7 das Kunstmuseum Gelsenkirchen. Es wurde 1984 nach zweijähriger Bauzeit eröffnet. Die Sammlung umfasst etwa 1300 Exponate der klassischen Moderne, des Konstruktivismus, der Kinetik und der zeitgenössischen Kunst, eine Grafiksammlung und die Sammlung von Anton Stankowski. Jährlich werden sechs bis acht Wechselausstellungen durchgeführt. Museum Schloss Horst mit Videoanimationen und technischen Effekten. Das Thema ist „Leben und Arbeiten in der Renaissance“. Die Eröffnung war am 4. November 2010. Die kleine Sammlung Der Treudank an der Vattmannstraße beherbergt Dokumente der ehemals deutschen Stadt Allenstein (Ostpreußen). Daneben gibt es einige private Museen. Im Kleinen Museum in der Eschweiler Str. 11 wird die Geschichte des Bergbaus in Gelsenkirchen und insbesondere der Zeche Hugo gezeigt. Auch die Bergbausammlung Rotthausen, Belforter Str. 20, widmet sich dieser Epoche der Industriegeschichte. Das Motorradmuseum an der Wallstraße 52 verfügt über 90 Oldtimer und wurde von Karl Rebuschat (* 1932; † 4. Juni 2012) geleitet. Die älteste Maschine ist eine DKW-Blutblase von 1925. Angeschlossen ist ein Teilemarkt mit seltenen Stücken, der jeden zweiten Sonntag im Monat geöffnet ist und Tausende von Motorradinteressenten anzieht. Das Schalke-Museum in der südlichen Veltins-Arena thematisiert die Geschichte des FC Schalke 04. Bibliotheken Gelsenkirchener Stadtbibliothek (mit Stadtteilbibliotheken in Erle, Horst und Buer und mit einer Kinderbibliothek) Bibliothek der Fachhochschule Gelsenkirchen Galerien Atelier Antenne Künstlersiedlung Halfmannshof. Sie besteht seit 1931 und beherbergte von allen sechs Kunstrichtungen immer nur einen Künstler. Die große Zeit war in den 1960er/1970er Jahren, als Ferdinand Spindel ihr Sprecher war. Seit Spindel den Schaumstoff als Kunst-Gestaltungsmaterial entdeckte, galt die Stadt als Avantgarde-Zentrum, und Düsseldorfer und Kölner Kunstexperten reisten nach Gelsenkirchen. Der Hof organisierte bedeutende Ausstellungen wie Zero, Konstruktive und Lichtkunst. Jazz&ArtGalerie (Lutz Motzko) Galerie Kabuth Galerie Stein Galerie Patricia Ferdinand-Ude (ausgezeichnet mit der Banane von Thomas Baumgärtel) Die Werkstatt Galerie Hundert. Ausgestellt und vertrieben werden dort Fotografien, die aus der Sammlung des Pixelprojekt Ruhrgebiet stammen. Der Name der Galerie leitet sich aus dem Umstand ab, dass die Fotografien jeweils in einer limitierten Auflage von 100+1 Stück hergestellt werden. Bauwerke Baudenkmale Nach Angaben der Unteren Denkmalbehörde der Stadt Gelsenkirchen gibt es in der Stadt 343 Baudenkmale. Kirchen Die Evangelische Altstadtkirche steht an der Stelle der alten Dorfkirche St. Georg (gegründet um 1000) und der kriegszerstörten historistischen Vorgängerkirche von 1884. Der heutige Bau, Hauptwerk des Gelsenkirchener Architekten Denis Boniver, wurde 1956 eingeweiht und prägt mit seinem markanten Turm das Stadtbild. Ebenfalls von Boniver stammt die ovale Friedenskirche in Schalke (1959), die die kriegszerstörte evangelische Kirche am Schalker Markt (1882) ersetzte. Die katholische Propsteikirche St. Augustinus am Neumarkt ist eine neugotische Basilika, die 1892 geweiht wurde. Im Zentrum von Buer steht die neugotische Propsteikirche St. Urbanus, die 1893 vollendet wurde. Ihre Silhouette prägt der (seit dem Zweiten Weltkrieg) stumpfe Turm. Die ebenfalls neugotische Horster Hippolytuskirche (1897) ist vor allem bekannt wegen ihrer modernen Glasfenster. Aus der Zeit zwischen den Weltkriegen sind mehrere bemerkenswerte Kirchen erhalten, darunter die denkmalgeschützte Heilig-Kreuz-Kirche von Josef Franke an der Bochumer Straße. An der Richard-Wagner-Straße erhebt sich die von 1891 bis 1897 erbaute katholische Kirche St. Mariä Himmelfahrt. Die vom Paderborner Diözesanbaumeister Arnold Güldenpfennig erbaute Kirche ist eines der seltenen dreitürmigen Gotteshäuser im Bistum. Sie enthält eine qualitativ hochwertige, künstlerisch gestaltete Innenausstattung. Der Westturm ist reich gegliedert und bildet einen Gegenpol zu den zwei kleineren Osttürmen. Obwohl sie seit 1994 unter Denkmalschutz steht und keine relevanten Bauschäden hat, wurde sie im Zuge der Sparmaßnahmen des Bistums Essen am 7. Juni 2007 aus der gottesdienstlichen Nutzung entlassen. Die in den Jahren 1910 bis 1911 erbaute erste evangelische Pauluskirche in Gelsenkirchen-Bulmke war ein Werk des Kirchenbaumeisters Arno Eugen Fritsche. Am 9. Oktober 1910 wurde feierlich der Grundstein zum Neubau gelegt, und am 15. Dezember 1911 wurde sie eingeweiht. – Dann kam der 6. November 1944. Bei dem Großangriff, der große Teile Bulmkes in Schutt und Asche legte, traf eine Sprengbombe die ausgebrannte Kirche. Infolgedessen stürzten die Seite des Hauptportals und die Ostseite der Kirche in sich zusammen. Die Neubelebung des Kirchbauvereins 1952 war der Startschuss, etwas Neues zu wagen. Mehrere Architekten machten Pläne zum Wiederaufbau der Pauluskirche. Am Ende setzte sich Otto Prinz mit seinen Entwürfen durch. Der Wiederaufbau gestaltete sich teilweise schwieriger als erhofft. Dennoch war es dann am 23. Juni 1957 so weit, dass die neue Kirche eingeweiht wurde. Bis zum heutigen Tag steht sie nun fast unverändert da. In der äußeren Gestalt nicht mehr der Monumentalbau von 1911, sondern der Schlichtheit der 1950er Jahre Respekt zollend, erhebt sie sich auf ihrem Hügel in der Mitte des Stadtteils Gelsenkirchen-Bulmke. Die im Zweiten Weltkrieg zerstörte neugotische Kreuzkirche (Gelsenkirchen-Feldmark) wurde in den 1950er Jahren in schlichterer Form neu aufgebaut. Hans-Sachs-Haus Ein charakteristisches Gebäude in der Gelsenkirchener Innenstadt ist das Hans-Sachs-Haus, ein 1927 von dem Essener Architekten Alfred Fischer erbautes Büro- und Geschäftshaus mit Konzertsaal. Besonderes Stilmerkmal sind seine abgerundeten Ecken sowie ein expressionistischer Turm. Stilistisch stellt das Haus ein Bindeglied zwischen Backsteinexpressionismus und der neu-sachlichen Architektur des Bauhaus-Stils dar. Das Hans-Sachs-Haus diente jahrzehntelang als Rathaus und beherbergte im Konzertsaal die größte weltliche Saal-Orgel Europas, eine Walcker-Orgel mit 92 Registern. In den Fluren des Hauses befand sich das mutmaßlich erste Farbleitsystem der Welt. Das Vorhaben, das (laut Gutachten) teilweise baufällige Hans-Sachs-Haus denkmalgerecht zu sanieren, scheiterte an ungünstig abgeschlossenen Verträgen und der desolaten finanziellen Lage der Stadt Gelsenkirchen. Eine Kostenexplosion verhinderte die ursprünglich für 2007 vorgesehene Wiedereröffnung, stattdessen folgte ein langer Baustopp. Schließlich wurden im Rahmen eines Architektenwettbewerbs Möglichkeiten zu Erhalt und Wiederbelebung des Hauses gesucht. Gewinner des Wettbewerbs war das Architekturbüro Gerkan, Marg und Partner, dessen Entwurf eine Entkernung des historischen Hans-Sachs-Hauses und einen Neubau unter Erhalt der Backsteinfassade und des Turmes vorsah. Nach der Phase des Innenausbaus fand die anschließende Übergabe im August 2013 statt. Seitdem ist das Hans-Sachs-Haus wieder der Sitz von Stadtverwaltung und Oberbürgermeister. Musiktheater Das 1956–1959 von Werner Ruhnau, Harald Deilmann, Ortwin Rave und Max von Hausen erbaute Musiktheater im Revier ist eines der bedeutendsten Bauwerke der deutschen Nachkriegsarchitektur und bietet 1005 Besuchern Platz. Besonders bei Nacht strahlt das an der Florastraße gelegene MiR ein besonderes Flair aus. Im Foyer des MiR befinden sich große blaue Schwammreliefs des französischen Künstlers Yves Klein. Das angegliederte Kleine Haus (für 347 Besucher) beherbergt eine frühe kinetische Arbeit von Jean Tinguely. Backsteinexpressionismus Der Architekt Josef Franke prägte in den 1920er Jahren das Stadtbild Gelsenkirchens mit mehreren repräsentativen Bauten, die man dem Backsteinexpressionismus zurechnet. Hierzu gehören unter anderem das Ricarda-Huch-Gymnasium (früher Lyzeum Aloysianum), das Wohn- und Geschäftshaus Ring-Eck, das Straßenbahndepot an der Wanner Straße und die Heilig-Kreuz-Kirche (Bochumer Straße 115) in Ückendorf, eine katholische Parabelkirche von 1927 bis 1929. Über drei Portalen wurde ein 41 m hoher Turm errichtet, welcher in der Mitte zwei Glockentürme verbindet. Ganz oben wurde eine Christusfigur aus Backsteinen gemauert. 1993 bekam die Kirche die Auszeichnung Europa Nostra und steht seit den 1990er Jahren unter Denkmalschutz. Sie wurde 2008 als Kirche geschlossen und dient als Ausstellungsgebäude. Weitere Beispiele für den in Gelsenkirchen weit verbreiteten Backstein-Expressionismus sind das 1928 erbaute ehemalige Finanzamt Süd, das 1920 erbaute Volkshaus Rotthausen und das Hans-Sachs-Haus (s. o.). Westlich des Finanzamts an der Zeppelinallee 15 hat der Bauherr Hohen-Hinnebusch in den 1930er Jahren ein Mehrfamilienhaus gebaut. Oben in die Fassade hat er den Mann mit leeren Taschen aus Sandstein einbauen lassen. Die Figur weist noch heute unwidersprochen zum ehemaligen Finanzamt. Sportarchitektur Das bekannteste und größte Bauwerk in Gelsenkirchen ist die 2001 im Stadtteil Erle erbaute Veltins-Arena (ehemalige Arena Auf Schalke); es hat einen herausfahrbaren Rasen und ein schließbares Dach. Die Heimspielstätte des FC Schalke 04 bietet bei nationalen Fußballspielen 62.271 Gästen Platz, bei internationalen Spielen gibt es auf Grund des Stehplatzverbotes lediglich 54.740 Plätze in der Arena. Bei Konzerten hat die Arena sogar eine Kapazität von 79.612 Zuschauern. Das nach dem UEFA-Stadioninfrastruktur-Reglement zunächst als Elitestadion, seit 2010 in die Klassifikation 4 eingestufte Stadion ist von vielen, selbst weit entfernten Punkten im Ruhrgebiet aus zu sehen. In unmittelbarer Nachbarschaft der Veltins-Arena befindet sich ihr Vorgänger – das Parkstadion. Es wurde 1973 als Nachfolger der Glückauf-Kampfbahn eröffnet, die sich allerdings noch auf der Gemarkung Heßler (heute im Stadtteil Schalke-Nord) befand, und war ein Jahr später ein Spielort der Fußball-Weltmeisterschaft 1974. Nach dem Abriss eines Großteils des Stadions wurden dort zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ein Hotel sowie ein Reha-Zentrum gebaut. Das Parkstadion besteht heutzutage nur noch aus der ehemaligen Gegengeraden und dort finden seit 2020 die Spiele der 2. Mannschaft des FC Schalke 04 statt. Die 1965 erbaute und 1979 erweiterte Tribüne des GelsenTrabParks war bei ihrer Eröffnung die größte geschlossene Tribüne Europas. Die Tribüne ist 112 Meter lang und ist mit 9.600 Sitzplätzen ausgestattet. Industriekulturelle Bauwerke und Baudenkmäler Gelsenkirchen gehörte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu den größten Städten mit einer überwiegend montanen Wirtschaft. Aus dieser Zeit sind viele Industrieanlagen der Montanindustrie erhalten geblieben. Einige der Anlagen wurden restauriert und zum großen Teil umfunktioniert. Einige Paradebeispiele für die Umnutzung alter Zechenanlagen sind die Schachthalle der Zeche Nordstern, die heute nach umfassender Restaurierung unter anderem die Hauptverwaltung der THS GmbH beheimatet, die Maschinenhalle des Schachtes Oberschuir der ehemaligen Zeche Consolidation im Stadtteil Feldmark ist regelmäßig Ort für Ausstellungen aller Art, die restaurierte Bergbausiedlung Schüngelberg in Buer an der Halde Rungenberg oder das Consol-Theater, das im Lüftermaschinengebäude der Zeche Consolidation beheimatet ist. Doppel-Malakoffanlage der Zeche Holland 1/2 Fördergerüst der Zeche Consolidation in Bismarck, letzter Doppelbock in Fachwerkbauweise Westfalens Fördergerüst, Förderturm und Kaue der Zeche Nordstern im Nordsternpark Förderturm mit Maschinenhalle der Zeche Hugo in Buer ehemals preußische Zeche Bergmannsglück an der Bergmannsglückstraße nördlich von Buer gepunkteter Gasdruckbehälter an der Üchtingstraße/Emscher; gestaltet von Rolf Glasmeier ehemaliges Bahnwärterhaus an der Horster Straße mit der Aufschrift „Hugo Bahn“. Es steht seit 1880, ist ein Industrie-Baudenkmal und im besten Zustand. Das Bahnbetriebswerk Bismarck von 1924 ist denkmalgeschützt. Es hat einen Rundlokschuppen mit Drehscheibe und liegt an der Grimbergstraße. Weitere Bauten Auf einem ausgedehnten Industriegelände in Ückendorf wurde von 1861 bis 1930 in der Zeche Rheinelbe Kohle gefördert, anschließend war das Gussstahlwerk noch bis 1984 in Betrieb. 1989 begannen hier die Planungen für den Wissenschaftspark Rheinelbe, der 1995 anlässlich der IBA Emscher Park errichtet wurde. Er wurde mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet. Die 300 m lange Halle mit ihrer schräg gestellten Glasfassade steht im rechten Winkel zu den angeschlossenen Bürotrakten. In der Glashalle befindet sich eine Arbeit des Lichtkünstlers Dan Flavin; sie bietet Platz für wechselnde Ausstellungen. Der Bau trägt eine der größten Dach-Photovoltaikanlagen. Ähnlich futuristisch wie der Wissenschaftspark präsentiert sich das Institut für Unterirdische Infrastruktur, das sich ebenfalls im Stadtteil Ückendorf befindet. Die Wasserburg Haus Lüttinghof wurde 1308 auf Initiative der Kölner Erzbischöfe zum Schutze des Vests Recklinghausen errichtet. Der Name der Wasserburg ist auf die Familie Luttekenhove zurückzuführen, die sie als Lehen erhielt. Der kunstgeschichtliche Rang der Burg beruht auf ihrer mittelalterlichen Silhouette als Niederungsburg. Das von 1988 bis 1991 aufwändig restaurierte Haus Lüttinghof liegt in einem Naturschutzgebiet im Norden Gelsenkirchens, an der Lüttinghofallee 3. Ein bedeutendes Renaissance-Schloss im nordwestdeutschen Raum ist das Schloss Horst. Bei Ausgrabungen 2005 am Schloss wurden Fundamente aus der Zeit um 1200 gefunden. Mindestens solange ist der Stadtteil Horst also besiedelt. Zwar wurde schon um 1282 ein erster Bau errichtet, aber der Schlossbau, der heute nach Restaurierung als Standesamt dient, wurde in der Frührenaissance von 1556 bis 1578 errichtet. Neben den restaurierten Teilen entstand auch eine große Glashalle, die den Innenhof des Schlosses überspannt. Das Schloss Berge, früher auch Haus Berge genannt, steht im Stadtteil Buer auf der Südseite des Buerschen Berges. Erbaut wurde es als Wasserburg zum Schutze des heutigen Gelsenkirchener Stadtteils Erle, wurde aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts im späten Barockstil zum Schloss umgestaltet. Die Hauptverwaltung der Gelsenwasser AG befindet sich an der Kurt-Schumacher-Straße Ecke Willy-Brandt-Allee. Der Neubau wurde 2004 bezogen und ist ein Glaskubus von 55 × 15 × 30 m³. Das umgebende 40 cm tiefe Wasserbecken verhindert einen eigenen Eingang. Der Neubau von den Architekten Anin & Partner ist nur durch drei Brücken vom Altbau aus zu erreichen. Das WEKA-Karree in der Innenstadt wurde 1912 von den Düsseldorfer Architekten Walter Klose und Georg Schäfer als Kaufpalast des Warenhaus-Unternehmens Gebr. Alsberg AG erbaut. Heute beheimatet das WEKA-Karree unter anderem eine Niederlassung des VRR, das Blutspendezentrum Gelsenkirchen sowie verschiedene Einzelhandelsgeschäfte. Das Kraftwerk Scholven ist mit einer installierten Leistung von 2.300 Megawatt eines der leistungsstärksten Steinkohlekraftwerke Europas. Die 302 m hohen Schornsteine, die zu den höchsten in Deutschland gehören, bilden zusammen mit den sieben Kühltürmen eine beeindruckende Industriekulisse. Von 1981 bis 2003 wurde in Gelsenkirchen-Hassel ein 160 Megawatt leistendes Heizkraftwerk, das Kraftwerk Westerholt, betrieben. Dessen Schornstein war mit 337 Metern Höhe der vierthöchste Kamin in Europa und der höchste Deutschlands. Nach der Stilllegung 2003 wurde das Kraftwerk rückgebaut, der Schornstein wurde am 3. Dezember 2006 gesprengt. An der Gildenstraße wurde am 1. Februar 2007 eine neue Synagoge am Standort der alten eröffnet, die 1938 in der Reichspogromnacht niedergebrannt wurde. Die Baukosten von 5,2 Millionen Euro trugen zu je einem Drittel das Land Nordrhein-Westfalen, die Stadt Gelsenkirchen und die jüdische Gemeinde. Das Amphitheater Gelsenkirchen am Rhein-Herne-Kanal im Nordsternpark wurde 1997 anlässlich der Bundesgartenschau erbaut. Die Bühne des Amphitheaters liegt in einer eigens für das Amphitheater ausgehobenen Einbuchtung im Rhein-Herne-Kanal. Es dient seit Ende der Bundesgartenschau 1997 immer wieder für Open-Air-Veranstaltungen, wie Konzerte, Boxsportveranstaltungen, Kinovorstellungen und dem jährlich stattfindenden Rock-Hard-Festival. Die 1998 erbaute Markthalle im Stadtteil Buer beherbergt neben Marktständen auf 2000 Quadratmetern auch eine vielseitige Gastronomie. Die Markthalle wurde dem Stil alter Hallen und Passagen nachempfunden. Amtshaus bzw. Rathaus Buer (erbaut 1911) → Buer. Früherer Sitz des Amtsgerichts Gelsenkirchen-Buer (erbaut 1973), Goldbergstraße 89, ein 6-geschossiger Bau aus Stahl und Glas. Vor dem Dienstgebäude befand sich während des Bestehens des Gerichts eine aus beweglichen Stahlzylindern bestehende Mobile Plastik ohne Titel des Gelsenkirchener Bildhauers Günter Tollmann. Mit dem Umzug im Januar 2016 wurde diese Plastik vor das neue Justizzentrum im Gelsenkirchener Süden versetzt. Justizzentrum an der Ecke Bochumer Straße/Junkerweg im Stadtteil Neustadt Früherer Sitz des Amtsgerichts Gelsenkirchen an der Overwegstraße, typischer Behördenbau aus der Zeit um 1900, jedoch nach Kriegsschäden verändert Die umgewidmete Bleckkirche (heute städtische Kulturstätte) in Bismarck war die älteste Kirche der Stadt. Haus Leithe, ehemaliger Adelssitz in Gelsenkirchen-Neustadt Haus Leythe, ehemaliges Rittergut in Gelsenkirchen-Erle Hallenbäder in Horst, Buer, Schalke und Erle (Sport-Paradies) Polizeiwache Buer (erbaut 1926) Parks Gelsenkirchen hat neben kleineren Wäldern, wie dem Buerschen Stadtwald im Stadtteil Buer, auch einige Parks. Der in Gelsenkirchen-Horst nördlich des Rhein-Herne-Kanals gelegene Nordsternpark und seine Fortsetzung, der Landschaftspark Heßler südlich des Kanals waren 1997 Ausstellungsgelände der Bundesgartenschau und sind nicht zuletzt wegen des großen Spielplatzes, des Klettergartens, eines Lehr- und Erlebnisbauernhofes und des Herkules von Gelsenkirchen ein beliebtes Ausflugsziel. Im südwestlich gelegenen Revierpark Nienhausen finden viele jährliche Veranstaltungen statt, wie das Sommerfest oder die Mineralienbörse. Ferner befinden sich dort ein Minigolfplatz, ein Freibad, mehrere Spielplätze und das Aktivarium (Therme). Am Nordrand der Stadt wurde 2020 der Glückaufpark Hassel eröffnet. Im Zentrum der Stadt liegt der etwa 22 Hektar große Gelsenkirchener Stadtgarten, der 1897 unter dem Namen Kaiser-Wilhelm-Park angelegt worden war. Dort gibt es einen großen Enten- und Schwanenteich sowie weitläufige Wiesen. Der etwa sechs Hektar große Bulmker Park im Stadtteil Bulmke-Hüllen in der Nähe des Stadtzentrums besteht aus einem See mit umherführendem Fußweg. In der Nachkriegszeit galt er als der größte Schwarzmarkt des Ruhrgebietes. Auf halbem Weg zwischen Veltins-Arena und der Buerer Innenstadt liegt das Schloss Berge mit seinem Park, dessen zentraler Punkt der Berger See ist. Dort findet jährlich ein großes Sommerfest statt, das 2003 mehr als eine halbe Million Besucher hatte. Nördlich steht auf dem Vestischen Rücken das Ehrenmal Gelsenkirchen-Buer. Jenseits des Sees und der Kurt-Schumacher-Str. ist der Lohmühlenteich in einer parkähnlichen Anlage zu finden. Zusammen mit dem Von-Wedelstaedt-Park und dem Skulpturenwald Rheinelbe kommen so insgesamt 35 km² Grünfläche zusammen – ein Drittel Gesamtfläche Gelsenkirchens (siehe auch: Liste der Landschaftsschutzgebiete und Liste der Naturschutzgebiete). Sport Der bekannteste Sportverein aus Gelsenkirchen ist der FC Schalke 04 (voller Name seit 1928: FC Gelsenkirchen-Schalke 04), dessen Spielstätte die Veltins-Arena (ehemalige Arena AufSchalke) ist, die auch durch viele Konzerte, Musicals, Opern und andere Events bekannt ist. Zahlreiche Fußballpokal- und Weltmeisterschaftsspiele fanden in Gelsenkirchen statt, darunter drei DFB-Pokalendspiele. Auffälligerweise fanden jedoch von Endspielen deutscher und Weltmeisterschaften, der UEFA-Champions-League, der UEFA-Women’s-Champions-League, der Europa League, des Europapokals der Pokalsieger, des DFB-Pokals der Frauen lediglich das der Champions League 2004 sowie mit Mailand geteilt, das des damaligen UEFA-Cups 1997 in Gelsenkirchen statt. Eishockey wird in der Emscher-Lippe-Halle im Sport-Paradies Gelsenkirchen gespielt. Erfolgreichster Verein war der ESV Schalker Haie, der Mitte der 1980er Jahre zweitklassig spielte. Der momentane Nachfolgeverein, der EHC Gelsenkirchen, widmet sich ausschließlich dem Nachwuchs und spielt mit seinen Nachwuchsmannschaften in den unteren Ligen des LEV-NRW. In Gelsenkirchen gibt es auch mehrere Basketballvereine, wie die Citybasket Gelsenkirchen, die CSG Bulmke und die Basketballabteilung des FC Schalke 04. Der FC Schalke 04 spielt als ranghöchster Verein in der 2. Bundesliga Pro A und spielte in der Saison 1988/89 sogar in der Basketball-Bundesliga. Außerdem sind in Gelsenkirchen drei Badmintonvereine beheimatet. Der Boxverein BC Erle 49 war von 1979 bis 1991 in der Ersten Boxbundesliga vertreten und brachte zudem seit 1954 über 40 Deutsche Meister im Einzel hervor. In Gelsenkirchen gibt es in jedem Stadtteil mindestens eine städtische Sportanlage mit einem Asche- oder Rasenfußballplatz und einer Laufbahn. Zu jedem dieser Sportplätze gehört meistens auch ein Fußballverein. Der nach dem FC Schalke 04 bekannteste war der 2007 aufgelöste STV Horst-Emscher, erwähnenswert sind außerdem der SC Buer-Hassel 1919, der SSV Buer, der SuS Beckhausen 05, SpVgg Erle 1919, der RWW Bismarck 1925 e. V. und der ETuS Gelsenkirchen 34. Insgesamt hat Gelsenkirchen etwa 70 Fußballvereine mit ungefähr 10.000 Mitgliedern. Ferner hat Gelsenkirchen eine Trabrennbahn im Stadtteil Feldmark in direkter Nähe des Revierpark Nienhausen (GelsenTrabPark). Hier finden häufig sonntags ab 13:30 Uhr oder donnerstags ab 18:30 Uhr Trabrennen statt (in Ausnahmefällen freitags). In Gelsenkirchen gab es eine Galopprennbahn im Stadtteil Horst, die aber schon vor einigen Jahren geschlossen wurde. Inmitten der ehemaligen Galopprennbahn befindet sich eine 9-Loch-Golfanlage. Außerdem existiert eine Windhundrennbahn an der Wiedehopfstr. im Stadtteil Resser Mark, unweit der Stadtgrenze zu Herne. Des Weiteren gibt es Freibäder in Heßler (Jahnstadion), das Sport-Paradies in Erle, in dem im Winter nur dessen drei Hallenschwimmbecken zur Verfügung stehen, und im Revierpark Nienhausen (Feldmark). Neben diesen Freibädern gibt es Hallenbäder im Zentrum (Zentralbad), in Horst, in Erle (Sport-Paradies; beinhaltet auch Kegelbahnen und Schießstände) sowie in Buer. Der Verein TTC Horst Emscher war Ende der 1980er Jahre mit einer Damenmannschaft in der 2. Tischtennis-Bundesliga vertreten. Gelsenkirchen besitzt zudem einen American-Football-Verein. Die Gelsenkirchen Devils wurden 1992 gegründet und spielen zurzeit in der Regionalliga NRW. Ferner hat Gelsenkirchen 25 ansässige Schützenvereine. Der älteste, der Schützenverein Buer, wurde 1769 und der jüngste, die Bürgerschützengilde Sutum, 2001 gegründet. Während 15 dieser 25 Vereine heute noch die alte Tradition der Schützen aufrechterhalten, widmen sich die anderen zehn Vereine ausschließlich dem Schießsport. Bekanntester Schützenverein ist der Luftgewehr-Bundesligist BSV Buer-Bülse 1926 e. V. Mit dem VfB 09/13 Gelsenkirchen hat die Stadt einen Verein, in dem Cricket gespielt wird. Die Black-Miners sind in der Saison 2020 in die 1. Cricket Bundesliga aufgestiegen. Seit 1966 wurde die Deutsche Dreiband-Meisterschaft insgesamt fünfmal in Gelsenkirchen ausgetragen. 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town für die Gestaltung eines viertägigen Programms für eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin für Special Olympics Seychellen ausgewählt. Damit wurde sie Teil des größten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns. Regelmäßige Veranstaltungen In Gelsenkirchen finden das ganze Jahr über zahlreiche Veranstaltungen statt, darunter ein Sommerfest auf Schloss Berge mit Musik und Feuerwerk (2003 wurden rund 500.000 Besucher an.gegeben) ein Sommerfest im Revierpark Nienhausen (Stadtteil Feldmark) mit Liveprogrammen, Spielmöglichkeiten für Kinder und ebenfalls ein Feuerwerk. das Schlossparkfest am Schloss Horst, das Buersche Cityfest und Buer Live. Sport Neben den Festen gibt es viele sportliche Veranstaltungen, wie den Karstadt-Ruhrmarathon, dessen Come-together-Point (der Punkt, an dem die zwei Marathonstrecken zusammenkamen) 2005 in Gelsenkirchen lag. Auch die Ruhr-Olympiade, eine weitere regionale Sportveranstaltung im Ruhrgebiet, erfreut sich jedes Jahr großer Beliebtheit bei Teilnehmern und Zuschauern. Weitere Sportveranstaltungen sind der Emscher-Nachttriathlon im Nordsternpark, die Buersche Radnacht sowie der Biathlon in der Veltins-Arena, für den jährlich mehrere Dutzend Tonnen Schnee unter anderem vom Alpincenter Bottrop herangefahren werden. Musik Überregional bekannt sind die Jazztage Gelsenkirchen, die 2019 zum letzten Mal stattgefunden haben. Seit 2013 gibt es die Konzertreihe FineArtJazz, die mit international bekannten Jazz-Musikern ganzjährig Konzerte in außergewöhnlichen Orten wie z. B. dem Nordsternturm, dem Haus Lüttinghof oder im Schloss Horst stattfinden. Als weitere musikalische Veranstaltungen sind die Buersche Musiknacht, die mehrmals im Jahr stattfindet, und die Gespaña, ein jährlich stattfindendes spanisches Kulturfest, zu nennen. Im Jahr 2003 veranstaltete das Metal-Magazin Rock Hard anlässlich seines 20. Jubiläums an Pfingsten ein Rockfestival im Amphitheater mit hochkarätigen Headlinern wie Blind Guardian. Aufgrund des großen Erfolges wurde das Rock-Hard-Festival im nächsten Jahr wiederholt und ist seitdem zu einem überregionalen Ereignis in Sachen Hard Rock und Metal geworden. In der Veltins-Arena finden ganzjährig Großkonzerte statt. Fotografie Seit 2008 findet mit nationaler bis internationaler Ausrichtung im Wissenschaftspark Gelsenkirchen jährlich an zwei Tagen die bild.sprachen – Plattform für Fotografie und Fotografieprojekte statt. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt bei Fotografie an der Schnittstelle zwischen Gebrauchsfotografie (Design), Dokumentarfotografie und Kunst. Die Plattform bietet Fotografen die Möglichkeit, ihre Projekte, ihre Ideen, ihre Dienstleistung, ihren Stil und ihre Bildsprache Vertretern von Institutionen und Unternehmen aber auch von Medien und aus der Kommunikationsbranche vorzustellen. Nachtleben Die bestbesuchte Diskothek der Stadt ist die Alte Hütte im Stadtteil Resse, die im Januar 2013 ihr 30-jähriges Bestehen feierte. Die Diskothek Apfelbaum an der Willy-Brandt-Allee schloss im Juli 2008 und wurde im Oktober unter dem Namen Mad-House wieder eröffnet, wurde aber im Sommer 2011 erneut aufgegeben. Die Kaue, die sich in Teilen der Gebäude der ehemaligen Zeche Wilhelmine Victoria in Gelsenkirchen-Heßler befindet, ist regelmäßig Gastgeber für Kabarett, Konzerte und andere Veranstaltungen. In der Gelsenkirchener Altstadt gibt es mehrere Kneipen und Bars, die mit Partys und ähnlichen Anlässen ein Nachtleben in Gelsenkirchen bieten. Der Irish Pub Consilium (geschlossen 2018), Bang Bang Burger & Beer sowie Rosi sprechen hier eher jüngeres Publikum an. Dazu gibt es noch das Flash Light, welches eine Reminiszenz an die alte Gelsenkirchener Disco Flash ist, sowie den City Pub Musiktreff. Unregelmäßige Partys auf Gelsenkirchener Stadtgebiet veranstaltet ein Zusammenschluss, der unter dem Namen Bang Bang Gelsen alles von Hip-Hop bis House bietet. Des Weiteren gibt es das in einem nachempfundenen Barock-Ambiente gestalteten Amadeus im Alten Schlachthof, sowie die ebenfalls bekannten, im Stadtteil Buer gelegenen Kneipen Zutz und Fliegenpils, die gelegentlich DJs für Diskoabende engagieren, sowie das Lokal ohne Namen, das in Gelsenkirchen auch Fuck (aufgrund eines nie entfernten Graffitos an der Häuserfront) genannt wird. Auch Cocktailbars wie z. B. das Manyos sind in Buer etabliert. 2007 feierten 25.000 Tanzwillige die größte Ü-30-Party Deutschlands in der Veltins-Arena. Filmschauplatz Gelsenkirchen Für folgende Kino-, Kurz- und Fernsehfilme wurden Szenen in Gelsenkirchen gedreht: Kameradschaft, 1931 Regie: Georg Wilhelm Pabst, Darsteller: Fritz Kampers, Alexander Granach, Ernst Busch und andere Gedreht wurde unter Tage in Gelsenkirchener Bergwerken. Das Wunder des Malachias, 1961, Regie: Bernhard Wicki, Darsteller: Horst Bollmann, Günter Pfitzmann, Günter Strack, Loriot und andere Gedreht wurde an der evangelischen Altstadtkirche und im Musiktheater im Revier. Die Zärtlichkeit der Wölfe, 1973 Regie: Ulli Lommel, Darsteller: Kurt Raab, Wolfgang Schenck, Rainer Werner Fassbinder, Tana Schanzara, Rosel Zech, Brigitte Mira und andere Gedreht wurde unter anderem auf dem alten Gelsenkirchener Hauptbahnhof. Alice in den Städten, 1974 Regie: Wim Wenders, Darsteller: Rüdiger Vogler, Yella Rottländer und andere Die Szene am Haus der Großmutter wurde an der Kanalstraße in Gelsenkirchen-Bismarck gedreht. Das Ende der Beherrschung, 1976 Regie: Gabi Kubach, Darsteller: Gila von Weitershausen, Manfred Zapatka, Pola Kinski und andere Sowohl der alte Bahnhofsvorplatz und das Innere des alten Hbf sind als Schauplatz einer längeren Szene zu sehen. Aufforderung zum Tanz, 1977 Regie: Peter F. Bringmann, Darsteller: Marius Müller-Westernhagen, Guido Gagliardi, Tana Schanzara, Gudrun Landgrebe und andere Gedreht wurde in der Braunschweiger Straße/Ecke Roßbachstraße in Ückendorf, in der Vohwinkelstraße in Bulmke sowie in der damaligen Disco „Manhattan“ an der Horster Straße in Buer. Tour de Ruhr, 1980 Darsteller: Marie-Luise Marjan, Ralf Richter und andere Gedreht wurde unter anderem an der Hochkampstraße/Ruhrzoo/Parallelstraße Flächenbrand, 1980 Gedreht wurde vor allem in der Rudelgasse (Erle) und auf der De-la-Chevallerie-Straße im Bereich des buerschen Rathauses. Tatort, Folge Schußfahrt, 1980 Darsteller: unter anderem Willy Semmelrogge Gedreht wurde am 14. Mai 1980 auf der Feldhauser Straße/Abfahrt zur B 224 Richtung Essen. Johnny Flash, 1986 Regie: Werner Nekes, Darsteller: Helge Schneider, Andreas Kunze, Heike-Melba Fendel und andere Gedreht wurde auf der Trabrennbahn in Gelsenkirchen am Nienhausen-Busch (Gelsentrab-Park). Die Lok, 1991 Regie: Gerd Haag, Darsteller: Rolf Hoppe, Marcus Fleischer, Katharina Schüttler, Isabel Dotzauer, Christian Kitsch, Sebastian Kroehnert, Gedreht wurde auf dem Gelände des historischen Bahnbetriebswerkes Gelsenkirchen-Bismarck. Kleine Haie, 1992 Regie: Sönke Wortmann, Darsteller: Jürgen Vogel, Kai Wiesinger, Gedeon Burkhard, Armin Rohde, Meret Becker und andere 00 Schneider – Jagd auf Nihil Baxter, 1994 Regie: Helge Schneider, Darsteller: Helge Schneider, Helmut Körschgen, Andreas Kunze und andere Gedreht wurde an der Kesselstraße in Gelsenkirchen-Bulmke. Fußball ist unser Leben, 2000 Regie: Tomy Wigand, Darsteller: Uwe Ochsenknecht, Ralf Richter, Oscar Ortega Sánchez, Tana Schanzara und andere Solino, 2002 Regie: Fatih Akin, Darsteller: Christian Tasche, Moritz Bleibtreu und andere Dieser in Duisburg spielende Film wurde zu einem kleinen Teil in der Schauburg in Gelsenkirchen-Buer gedreht. Zwei Wochen Argentinien, 2002 Regie: Holger Haase, Darsteller: Michael Kessler, Uli Krohn, Soraya Gomaa, Annabelle Herrmann und andere Gedreht wurde in der Erdbrüggenstraße am Gelände der Zeche Consolidation in Bismarck. Drei Frauen, ein Plan und die ganz große Kohle, 2002 Regie: Reinhard Schwabenitzky, Darsteller: Tina Ruland, Marco Rima, Elfi Eschke, Meral Perin und andere Gedreht wurde auf der Berliner Brücke, in der Gewerkenstraße und in der alten Schüngelberg-Siedlung nahe der Zeche Hugo. Aus der Tiefe des Raumes (Untertitel: …mitten ins Netz! Groteske, 2004) Regie: Gil Mehmert, Darsteller: Christoph Maria Herbst, Eckhard Preuß, Sandra S. Leonhard, Arndt Schwering-Sohnrey, Mira Bartuschek und andere Gedreht wurde unter anderem auf der Bochumer Straße in Gelsenkirchen-Ückendorf, welche mit Oldtimern und alter Straßenbahn in eine Szene aus dem Jahre 1965 verwandelt wurde. Der Prinz von Wanne-Eickel (Lustiger Ruhrgebiets-Krimi, 2005/06) Regie: Alexander von Janitzky, Darsteller unter anderem: Anil Desai, Tim Dickmann, Mario Scheller, Hendrik Michaelis, Sabrina Lange, Alois Bröder, Detlef Zwitzers, Volker Schaper, Harry Wijnvoord, Roberto Blanco, Jürgen Drews. Gedreht wurde unter anderem an und in der Discothek Venetian, auf einer Gelsenkirchener Golfanlage und am Berger See. Melancholie, 2007 Regie: Christoph Nagel, Darsteller unter anderem: Philipp Heise, Lukas Piofczyk, Martha Zaremba, Tobias Sporkmann. Gedreht wurde unter anderem am Maritim-Hotel, im Stadtgarten, auf der Halde Rheinelbe und am Busbahnhof in Gelsenkirchen-Buer. Der Abgrund: Eine Stadt stürzt ein (Katastrophenfilm, 2008) Regie: Sebastian Vigg, Darsteller: Liane Forestieri, Marco Girnth, Michael Lott, Ercan Durmaz, Oliver Stritzel, Christian Grashof, Henning Baum Gedreht wurde unter anderem am Verwaltungsgericht (Alte Post), das im Film ein durch Tagebruch einsturzgefährdetes Krankenhaus darstellt; am Café extrablatt, in dem Scheiben und Mobiliar bei einem Beben zu Bruch gehen (im Hintergrund Hamburg-Mannheimer-Gebäude und Bahnhofstraße); auf der Ringstraße (Feuerwehreinsatz zum extrablatt) usw.; alle Feuerwehrfahrzeuge sind von der Feuerwehr Gelsenkirchen, die den Dreh in Gelsenkirchen begleitet hat. Am Ende des Filmes ist auf der Tür des Löschzuges deutlich das Stadtwappen und das Logo der Stadt Gelsenkirchen zu erkennen. El Olivo – Der Olivenbaum (Tragikomödie, 2016) Regie: Icíar Bollaín, Darsteller: Anna Castillo, Javier Gutiérrez, Manuel Cucala Gedreht wurde im Hans-Sachs-Haus, wo der (künstliche) Olivenbaum im Foyer aufgestellt wurde, und auf dem Alfred-Fischer-Platz an der Rückseite dieses Gebäudes. Im Film wird jedoch assoziiert, es stünde in Düsseldorf. Der Junge muss an die frische Luft – Meine Kindheit und ich (Autobiographie, 2017) Regie: Caroline Link, Darsteller: Hape Kerkeling Gedreht wurde am Ahlmannshof im Stadtteil Bismarck. Gundermann (Musikfilm, 2018) Regie: Andreas Dresen, Darsteller: Alexander Scheer, Eva Weißenborn, Axel Prahl Gedreht wurden einzelne Szenen in Hassel. Persönlichkeiten Sonstiges Naturschutzgebiet Mechtenberg Bergbaubehörde (seit Herbst 2010 geschlossen) Stadtteilarchiv Rotthausen e. V. im Volkshaus, Mozartstraße 9, 45884 Gelsenkirchen Tierheim in Erle; 2005 gab es in Gelsenkirchen 11.000 Hunde. Von Georg Kreisler stammt das Lied „Das gibt es nur bei uns in Gelsenkirchen“, welches ebenfalls zur Bekanntheit der Stadt beigetragen hat. Im November 2021 gestaltete Jacques Tilly ein Gelsenkirchen-Bild. Siehe auch Gelsenkirchener Barock Literatur Westfälisches Städtebuch. Bd. III 2. Teilband aus Deutsches Städtebuch. Handbuch städtischer Geschichte. Im Auftrage der Arbeitsgemeinschaft der historischen Kommissionen und mit Unterstützung des Deutschen Städtetages, des Deutschen Städtebundes und des Deutschen Gemeindetages, hrsg. von Erich Keyser. Kohlhammer, Stuttgart 1954. Walther Hubatsch (Hrsg.): Grundriss zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945. Bd. 8: Westfalen. Johann-Gottfried-Herder-Institut, Marburg an der Lahn 1980, ISBN 3-87969-123-1. Jürgen Boebers-Süßmann: 125 Jahre StadtGEschichten(n) Gelsenkirchen. Buchhandlung Minerva, Gelsenkirchen 2001, ISBN 3-921052-82-3. Ludger Tewes: Mittelalter im Ruhrgebiet. Siedlung am westfälischen Hellweg zwischen Essen und Dortmund (13. bis 16. Jahrhundert). Schoeningh, Paderborn 1997, ISBN 3-506-79152-4. Heinz-Jürgen Priamus (Hrsg.): Gelsenkirchen wie es früher war. Wartberg, Gudensberg-Gleichen 1994, 1996, ISBN 3-86134-185-9. Hans-Werner Wehling: Gelsenkirchen. Stadtentwicklung, Strukturwandel und Zukunftsperspektiven. Aschendorff, Münster 2014, ISBN 978-3-402-14940-9. Heiner Jahn, Jörg Loskill, Wolf Stegemann (Hrsg.): Stadtansichten Gelsenkirchen – Von Menschen, Musen und Maloche. Junius, Gelsenkirchen 1978. Weblinks Stadt Gelsenkirchen – (Offizielle Webpräsenz) GELSENKIRCHEN – (Onlineausgabe der Stadtzeitung) ISG – Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchener Geschichten – Onlineforum rund um Gelsenkirchen Gelsenkirchener Geschichten Wiki – Nachschlagewerk (Stadtwiki) rund um Gelsenkirchen Gelsenzentrum – Portal zur Aufarbeitung und Dokumentation lokaler zeitgeschichtlicher Ereignisse in Gelsenkirchen i-love-gelsenkirchen.de Einzelnachweise Ort in Nordrhein-Westfalen Kreisfreie Stadt in Nordrhein-Westfalen Gemeinde in Nordrhein-Westfalen Ort mit Binnenhafen Ehemalige Kreisstadt in Nordrhein-Westfalen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserdampf
Wasserdampf
In der Umgangssprache versteht man unter Wasserdampf meist die sichtbaren Dampfschwaden von kondensiertem Wasserdampf (Nassdampf). Dampfschwaden sind sichtbar, weil sich mikroskopisch kleine Tröpfchen gebildet haben, wie auch in Wolken und bei Nebel, die aufgrund der Mie-Streuung Sonnenlicht streuen, wodurch der Tyndall-Effekt auftritt und die eigentlich farblosen Tröpfchen sichtbar werden. In Technik und Naturwissenschaft ist Wasserdampf die Bezeichnung für Wasser im gasförmigen Aggregatzustand. Dieser ist unsichtbar wie Luft, wird aber nicht als Wassergas bezeichnet, da dieser Begriff eine andere Bedeutung hat. Wasserdampfhaltige Abgase kondensieren zu weißen Abgasfahnen, dem Schornstein entweicht also "Dampf". Rußhaltige schwarze oder graue Abgase hingegen werden als Rauch bezeichnet. Entstehung und Zustände Bei einem Standard-Umgebungsdruck von 1,013 bar (101,325 kPa) siedet reines Wasser bei 100 °C. Wird dem verbliebenen Wasser darüber hinaus Energie (Wärme) zugeführt, verdampft es, ohne dass es zu einem weiteren Temperaturanstieg kommt. Aus 1 Liter (entsprechend 1 kg) Wasser entstehen 1673 Liter Wasserdampf (unter Standardbedingungen), wofür eine Energiezufuhr von 2257 kJ benötigt wird. Die zugeführte Energie erhöht die innere Energie des Dampfes um 2088 kJ und leistet gegenüber dem Umgebungsdruck eine Volumenänderungsarbeit W. Beide Beiträge addiert ergeben die Verdampfungsenthalpie H, die sich in einem Enthalpie-Entropie-Diagramm (h-s-Diagramm) in Form einer Differenz auf der y-Achse als spezifische Größe ablesen lässt. Das hier abgebildete T-s-Diagramm stellt die für die Verdampfung (bei 100 °C) notwendige Wärme in Form der gepunkteten blauen Fläche dar. Ebenso lässt sich dabei der Zuwachs an Verdampfungsentropie (Delta S) ermitteln: = Verdampfungsenthalpie = Siedetemperatur in K Wie aus dem Phasendiagramm entnommen wird, siedet Wasser bei einem Luftdruck von 0,4 bar schon bei etwa 75 °C (so etwa auf dem Mount Everest). Die aufzuwendende Verdampfungsenthalpie ist entsprechend größer, ebenso die Volumenzunahme des Dampfes. Mit steigendem Druck nimmt die Verdampfungsenthalpie des Wassers ab, bis sie im kritischen Punkt gleich Null ist. Daraus folgend die kleiner werdenden Flächen im T-s-Diagramm. Erscheinungsformen Der Dampfdruck des Wassers ist temperaturabhängig. Bei Temperaturen unterhalb des Siedepunktes spricht man von Verdunstung. In gesättigter Umgebungsluft stellt sich ein Gleichgewicht zwischen verdunstendem Wasser und kondensierendem Wasserdampf ein. Die Übergangsbedingungen zwischen flüssigem Wasser und Wasserdampf sind in der Siedepunktkurve des Zustandsdiagramms dargestellt. Nassdampf Wenn Dampf in eine kältere Umgebung strömt, kondensieren Teile des gasförmigen Wassers zu feinsten Tröpfchen. Ein solches Gemisch bezeichnet man als Nassdampf, der zum Beispiel beim Wasserkochen, oder auch beim Ausatmen im Winter beobachtet werden kann. Im T-s-Diagramm erstreckt sich der Bereich des Nassdampfes bis zum kritischen Punkt bei 374 °C und 221,2 bar. Der Inhalt des Nassdampfes an reinem Dampf ist durch den Massenanteil x gekennzeichnet, der sich mit folgender Formel berechnen lässt Diese Definition begrenzt den Dampfgehalt zwischen 0 ≤ x ≤ 1. Über die ideale Gasgleichung können äquivalente Definitionen abgeleitet werden, die den Bereich des Dampfgehaltes nicht beschränken: Darin bezeichnet das spezifische Volumen, die Enthalpie und die Entropie. Der Zustand der gesättigten Flüssigkeit wird durch gekennzeichnet, der des gesättigten Dampfes durch . Heißdampf Überhitzter Dampf Überhitzter Dampf ist Dampf mit einer Temperatur oberhalb der Siedetemperatur. Der Dampfgehalt beträgt nach obiger Formel . In Dampfkesseln wird der erzeugte Dampf mittels des Überhitzers in diesen Zustand gebracht. Abhängig vom Grad der Überhitzung werden die Bezeichnungen „Trockendampf“ und „Heißdampf“ verwendet. Überkritisches Wasser Werden Temperatur und Druck von Wasser in einem geeigneten Druckbehälter stark erhöht, dann wird irgendwann der so genannte kritische Punkt überschritten und ein „überkritischer“ Zustand erreicht. Im überkritischen Zustand ist die Unterscheidung zwischen Wasserdampf und flüssigem Wasser sinnlos, denn weder in ihrer Dichte noch durch andere Eigenschaften sind sie noch voneinander zu unterscheiden. Es gibt dann keine Phasengrenze mehr. Unterhalb des kritischen Punktes ist der Wasserdampf folglich „unterkritisch“ und kann sich im Gleichgewicht mit flüssigem Wasser befinden. Wird in diesem Bereich das flüssige Wasser vollständig verdampft und dann die Temperatur weiter erhöht, so entsteht „überhitzter Dampf“. Diese Form des Dampfes enthält keine Wassertröpfchen mehr und ist in ihrem physikalischen Verhalten ebenfalls ein Gas. Überkritisches Wasser hat besonders aggressive Eigenschaften. Es wurden daher Versuche unternommen, mit dessen Hilfe biologisch schwer abbaubare organische Schadstoffe, wie Dioxine, PCB hydrolytisch zu spalten. Für den Dampfkessel erfordert der Übergang in den überkritischen Zustand eine besondere Bauart. Wegen des geringen Dichteunterschieds zwischen Wasser und Dampf kommt kein Auftrieb und damit kein stabiler Naturumlauf zustande. Kessel, die über oder auch nahe unter dem kritischen Punkt betrieben werden, sind deshalb immer Zwangslaufkessel. Da bei überkritischen Kesseln keine Trennung von Dampf- und Wasserphase mehr notwendig oder möglich ist, entfällt die Trommel und die Bauart ist ein Zwangsdurchlaufkessel, oft vom Typ Benson. Sattdampf oder trocken gesättigter Dampf Der Grenzbereich zwischen Nass- und Heißdampf heißt „Sattdampf“, auch gesättigter Dampf oder trocken gesättigter Dampf. Die meisten Tabellenwerte zu Wasserdampfzuständen sind darauf bezogen. Grenzkurven Im T-s-Diagramm kommt den beiden Grenzkurven x = 0 und x = 1 eine besondere Bedeutung zu, die sich im kritischen Punkt treffen. Die Kurve x = 0, auch Siedelinie oder untere Grenzlinie, grenzt das Gebiet der Flüssigkeit vom Nassdampf ab, während die Kurve x = 1, auch Taulinie, Sattdampfkurve oder obere Grenzlinie, den Nassdampf vom Heißdampf trennt und gleichzeitig den Zustand des Sattdampfes markiert. Die Schreibweise mit x für den Massenbruch ist hierbei nicht einheitlich definiert, da vor allem in der Chemie der Massenanteil mit w angegeben wird und x hier mehrheitlich für den Stoffmengenanteil steht. Beide Größen lassen sich ineinander umrechnen und gleichen sich in den Grenzwerten 0 und 1. Erscheinung Gasförmiger oder überhitzter Wasserdampf ist farblos und eigentlich unsichtbar, wie die meisten Gase. Nassdampf ist durch die mitgerissenen Wassertropfen dagegen sichtbar. Bei Kontakt mit hinreichend kühler Umgebungsluft kommt es zur Unterschreitung des Taupunktes und folglich zu einer Kondensation weiterer feinster Wassertropfen. Die Existenz des Wasserdampfs in der Luft wird durch das an den Tröpfchen gestreute Licht sichtbar. Wasserdampf kann auch direkt aus der festen Phase von Wasser entstehen: Eis oder Schnee werden „von der Sonne weggeleckt“. Dieses Phänomen wird besonders bei trockener Luft im Hochgebirge beobachtet, wenn verschneite Hänge bei Temperaturen von weit unter 0 °C mit der Zeit schneefrei werden. Das Eis, also das feste Wasser sublimiert zu Wasserdampf. Die Luftfeuchte nimmt durch Abdunsten aus dem Schnee zu, und zuvor verschneite Flächen apern aus, ein Phänomen beispielsweise im Himalaya. Aus denselben Ursachen trocknet im Freien aufgehängte Wäsche auch bei Temperaturen unter Null, sobald die relative Luftfeuchtigkeit gering genug ist. In der Luft unsichtbar vorhandener Wasserdampf kondensiert unter besonderen Bedingungen (durch Kristallisationskeime) und wird sichtbar, etwa wenn ein Flugzeug in Bodennähe mit hoher Geschwindigkeit fliegt, dieser im Bild deutlich sichtbare Effekt wird oft fälschlich als „die Schallmauer“ bezeichnet, dieser Effekt ist jedoch kein Über- oder Unterschalleffekt. Durch die hohe Anströmgeschwindigkeit der Luft kann aus strömungsmechanischen Gründen, beispielsweise hohe Druckschwankungen, die Temperatur der anströmenden Luft stark und somit unter den Taupunkt abfallen, was zu einer Auskondensation führt. Der Wasserdampf im heißen Abgas wird hingegen von der sich erwärmenden Luft aufgenommen. Sieden In Abhängigkeit von der Wärmestromdichte, die der siedenden Flüssigkeit über eine Heizfläche zugeführt wird, bilden sich unterschiedliche Formen des Siedens. Liegt die Temperatur der Heizfläche einige Grad über der Siedetemperatur, bilden sich an Unebenheiten Blasenkeime. Bis zu Wärmestromdichten von 2 kW/m² bilden sich Blasen, die beim Hinaufsteigen wieder kondensieren. Diese Siedeform wird als stilles Sieden bezeichnet. Mit steigender Wärmestromdichte nimmt die Blasenbildung zu, und die Blasen erreichen die Oberfläche. Die an den Heizflächen abreißenden Blasen führen zu einem hohen Wärmeübergangskoeffizienten. Die Wandtemperaturen steigen nicht wesentlich über die Siedetemperatur (bis etwa 30 K). Beim Blasensieden können Wärmestromdichten bis 1000 kW/m² erreicht werden. Wird die Wärmestromdichte dann noch weiter gesteigert, setzt sprunghaft das Filmsieden ein: Es bildet sich ein durchgehender Dampffilm. Dieser wirkt wie eine Isolierschicht, und der Wärmeübergangskoeffizient wird drastisch reduziert. Wird der Wärmestrom nicht reduziert, so wird erst dann wieder ein Gleichgewichtszustand erreicht, wenn die Wärme durch ausreichend hohe Wärmestrahlung abgegeben werden kann. Dieser Zustand wird aber erst bei einer Überhitzung der Heizfläche von rund 1000 K erreicht. In der Regel wird bei diesem Übergang vom Blasensieden zum Filmsieden die Heizfläche zerstört. Um einer Zerstörung von Heizflächen an Dampfkesseln vorzubeugen, wird die maximale Wärmestromdichte auf 300 kW/m² begrenzt. In kleineren Fällen gibt es das Überschießen durch einen Siedeverzug. Tabellen, Diagramme und Formeln Wegen seiner enormen Bedeutung für die Energiewirtschaft zählt Wasserdampf zu den am besten erforschten Stoffen in der Thermodynamik. Seine physikalischen Eigenschaften wurden durch umfangreiche und häufige Messungen und Berechnungen bestimmt und in umfangreichen Tabellenwerken, den so genannten Wasserdampftafeln, erfasst. T-s-Diagramm Im T-s-Diagramm ist zu erkennen, dass beim Übergang von Flüssigkeit zu Dampf die Entropie zunimmt. Dies entspricht der Anschauung, dass die Teilchen einer Flüssigkeit wesentlich geordneter sind als die chaotische Vermengung der Teilchen bei einem Gas. Die Entropie wird auf der Abszisse aufgetragen. Eine weitere Besonderheit des Diagramms ist seine Eigenschaft, die zur Verdampfung des Wassers notwendige Wärmemenge als Fläche darzustellen. Mit der Beziehung: ΔH = T · ΔS ergibt sich für die Verdampfungsenthalpie eine Rechteckfläche, die zwischen T = 0 K und der jeweiligen Verdampfungsgeraden aufgespannt wird. H-s-Diagramm Bei einem Mollier-Diagramm wird die Entropie des Dampfes auf der Abszisse und die zugehörige Enthalpie auf der Ordinate aufgetragen. Die grundlegenden physikalischen Eigenschaften des Wasserdampfes lassen sich zwar nicht einfach interpretieren, jedoch können die zur Zustandsänderung des Dampfes nötigen Wärmemengen, also beispielsweise die Verdampfungsenthalpie, direkt von der Ordinate abgelesen werden. Magnus-Formel Eine Näherungsformel für die Berechnung des Sättigungsdampfdruckes in Abhängigkeit von der Temperatur ist die Magnus-Formel: Temperatur θ in °C, Koeffizienten Diese Formel ist sehr genau (unterhalb 0,22 %) im Bereich zwischen 0 und 100 °C und immer noch gut (unterhalb 4,3 %) zwischen −20 und 374 °C, der maximale Fehler liegt bei 290 °C. Wegen des einfachen Aufbaus und der hohen Genauigkeit wird sie zur Taupunktbestimmung vor allem in der Meteorologie und in der Bauphysik verwendet. Mit leicht unterschiedlichen Koeffizienten ergeben sich Werte, die auf 0,1 % mit der in DIN 4108 abgedruckten Tabelle für bauphysikalische Berechnungen übereinstimmt. Die Magnus-Formel wurde von Heinrich Gustav Magnus empirisch ermittelt und seitdem lediglich durch genauere Werte der Koeffizienten ergänzt. Eine aus der Thermodynamik abgeleitete Gesetzmäßigkeit für Phasendiagramme stellen die Clapeyron-Gleichung und die Clausius-Clapeyron-Gleichung dar. Aufgrund vieler praktischer Probleme in Bezug auf diese eher theoretischen Gleichungen stellt die Magnus-Formel jedoch trotzdem die beste und praktikabelste Näherung dar. Näherungs-Formel Eine brauchbare Faustformel für die Berechnung der Sattdampftemperatur aus dem Sattdampfdruck und umgekehrt ist , wenn man den Druck p in bar (absolut) einsetzt. Die zugehörige Temperatur θ ergibt sich in Grad Celsius. Diese Formel ist im Bereich p kr. > p > p = 3 bar (200 °C > θ > 100 °C) auf etwa 3 % genau. Klimaeffekte Im terrestrischen Wettergeschehen spielt Wasserdampf eine entscheidende Rolle. Ankommende Sonnenstrahlung wird beim Durchdringen der Atmosphäre vom Wasserdampf, oder auch von der Trübung der Luft in ihrer Strahlungsstärke gemindert. Ein Kilogramm Luft kann bei 30 °C und 1 bar Druck etwa 26 Gramm Wasserdampf als Luftfeuchtigkeit aufnehmen. Diese Menge fällt bei 10 °C auf etwa 7,5 g/kg ab. Die überschüssige Menge wird je nach Wetterlage als Niederschlag in Form von Regen, Schnee, Hagel, Nebel, Tau, Reif oder Raureif aus der Luft ausgeschieden. Wolken senden die ankommende Sonnenstrahlung teilweise zurück ins All und verringern auf diese Weise die am Boden ankommende Energiemenge. Das gleiche tun sie mit der von unten kommenden Wärmestrahlung und erhöhen damit die atmosphärische Gegenstrahlung. Ob Wolken die Erdoberfläche wärmen oder kühlen hängt davon ab, in welcher Höhe sie sich befinden: Niedrig stehende Wolken kühlen die Erde, hoch stehende Wolken wirken wärmend. In der Stratosphäre vorhandene Spuren von Wasserdampf gelten als besonders klimarelevant. Die Klimaforscher beobachteten in den letzten 40 Jahren ein Anwachsen des Wasserdampfs in der Stratosphäre um 75 % (siehe polare Stratosphärenwolken) und machen diesen für die Erhöhung der mittleren Erdtemperatur mitverantwortlich. Die Herkunft des Wasserdampfs in diesen Höhen ist noch unklar, man vermutet jedoch einen Zusammenhang mit der in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen Methanausbringung durch die industrielle Landwirtschaft. Methan wird in diesen großen Höhen zu Kohlendioxid und Wasserdampf oxidiert, womit allerdings nur die Hälfte des Zuwachses zu erklären ist. In der Erdatmosphäre vorhandener Wasserdampf ist mit um 36 % bis zu 70 % Anteil die Hauptquelle der atmosphärischen Gegenstrahlung und Träger des „natürlichen“ Treibhauseffektes. Die große Bandbreite (36 % bis 70 %) kommt nicht dadurch zustande, dass man den Effekt nicht genau messen könnte, sondern dadurch, dass die atmosphärische Luftfeuchtigkeit zeitlich und örtlich starken natürlichen Schwankungen unterliegt. Der Treibhauseffekt ist für den Strahlungshaushalt der Erde ein wichtiger Effekt und hat eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur auf ein Niveau von 15 °C zur Folge. Das Leben auf der Erde wurde dadurch überhaupt erst möglich. Als Durchschnittstemperatur ohne Treibhauseffekt wird meist eine Temperatur von etwa −18 °C angegeben. Wasserdampf-Rückkopplung Eine steigende Durchschnittstemperatur der Erde führt zu einem steigenden mittleren Wasserdampfgehalt der Atmosphäre. Gemäß der Clausius-Clapeyron-Gleichung kann die Atmosphäre mit jedem Grad Temperaturanstieg 7 % mehr Wasserdampf enthalten. Im Kontext der globalen Erwärmung ist die so genannte „Wasserdampf-Rückkopplung“ neben der Eis-Albedo-Rückkopplung die stärkste bisher bekannte positive Rückkopplung: Bei einer angenommenen Klimasensitivität von 2,8 °C bei einer Verdoppelung der atmosphärischen Kohlenstoffdioxidkonzentration ist 1,2 °C auf die direkte wärmende Wirkung des CO2 zurückzuführen, ein Grad entfällt auf die Wasserdampf-Rückkopplung und der Rest auf die übrigen Rückkopplungen. Während der letzten 35 Jahre ist die Luftfeuchtigkeit am oberen Rand der Wetterschicht um durchschnittlich ca. zehn Prozent gestiegen. Wissenschaftler halten es für möglich, dass eine Wasserdampf-Rückkopplung auch auf anderen Planeten stattfindet; so könnte die Venus kurz nach ihrer Entstehung vor viereinhalb Milliarden Jahren für längere Zeit einen Ozean besessen haben, und im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte soll auch eine Wasserdampf-Rückkopplung aufgetreten sein. Natürliches Vorkommen Reiner Wasserdampf entsteht in der Natur auf der Erde in Vulkanen, Fumarolen und bei Geysiren. Es ist der wichtigste Parameter bei vulkanischen Eruptionen und bestimmt deren Charakter mit. Es ist dabei maßgebend, dass viele Minerale bzw. Gesteine Wasser oder andere flüchtige Stoffe in ihr Kristallgitter einbinden, besonders unter der Wirkung hoher Drücke. Da Magma beim Aufsteigen in der Kruste eine Druckentlastung erfährt, treibt der Wasserdampf zusammen mit anderen Fluiden aus dem Magma aus und bildet Blasen, welche durch den Druck zunächst jedoch nicht frei expandieren. Unterschreitet der Druck einen bestimmten Wert, so verbinden sich diese Fluidblasen und führen zu einer Art enormen Siedeverzugs, werden also explosionsartig frei. Dabei reißen sie auch größere Mengen Magma mit und verursachen die vergleichsweise seltenen explosiven Vulkanausbrüche. Da der Anteil an Fluiden in den Gesteinen bei konvergierenden Plattengrenzen besonders groß ist, zeigt sich bei diesen auch die deutlichste Tendenz für diesen Vulkantyp. Menschlicher Wasserdampf Wasserdampf ist ein wichtiges Hilfsmittel für den menschlichen Wärmehaushalt. Bei hohen Umgebungstemperaturen wird zur Thermoregulation durch Schwitzen die überschüssige Körperwärme (Verdunstungskälte) an die Umgebung abgegeben. Die dabei umgesetzten Wärmemengen sind erheblich, zur Verdunstung von einem Gramm Schweiß werden 2,43 kJ Wärme benötigt. Der gesunde Mensch erzeugt bei normalen Umgebungstemperaturen täglich etwa 500 g Wasserdampf durch Schwitzen, hinzu kommt noch einmal die doppelte Menge mit der ausgeatmeten Luft. Auch dadurch wird die Körpertemperatur auf 37 °C geregelt. Wasserdampfeintrag Bei der Verbrennung von Erdölprodukten werden die Kohlenwasserstoffe der Erdölfraktionen im Wesentlichen in Kohlenstoffdioxid und Wasserdampf umgesetzt. Im Autoverkehr sind die Quellen Benzin und Diesel, im Luftverkehr Kerosin, in der Hausheizung Heizöl und in der Industrie Schweröle. Der im Abgas enthaltene kondensierende Wasserdampf macht sich beim Flugzeug durch Kondensstreifen am Himmel bemerkbar. Bei der Verbrennung von Erdgas, das mittlerweile zur Heizung von Gebäuden verwendet wird, fällt wegen der vier Wasserstoffatome je Kohlenstoffatom im Methanmolekül doppelt so viel Wasserdampf wie Kohlenstoffdioxid an. Dies ist der Grund dafür, dass Brennwertgeräte für Erdgas effektiver arbeiten als für Heizöl. Wasserdampf wird bei vielen großtechnischen Prozessen als Abfallprodukt in die Atmosphäre eingetragen. Wasserdampf in der Klimatechnik Eine Klimaanlage ist eine Gebäudeausstattung, die einen definierten Wasserdampfgehalt der Luft garantiert. Um Fertigprodukte aus Eisen- und Stahlwerkstoffen vor Korrosion, Lagerbestände wie Bücher vor Verwitterung und Lebensmittel vor Austrocknung zu schützen, werden Lagerhallen klimatisiert. In der Wohnraumklimatisierung trägt der Wasserdampfgehalt in erheblichem Maße zum Wohlbefinden des Menschen bei. Bei der Beurteilung der Raumluft spielt der Begriff der Behaglichkeit eine zentrale Rolle; ein Aspekt ist der als angenehm empfundene Zusammenhang zwischen Raumlufttemperatur und relativer Luftfeuchtigkeit. Dieser wird von einer Klimaanlage sichergestellt und liegt in der Regel zwischen 30 % und 70 % relativer Luftfeuchte. Quantifizierung von Wasserdampf Da der Wasserdampf bei verschiedensten Gegebenheiten und Prozessen eine große Rolle spielt, wird er mit unterschiedlichsten Messmethoden und -geräten erfasst und in einer Vielzahl von Größen angegeben. Für meteorologische Zwecke in Bezug auf die feuchte Luft wird oft die relative Luftfeuchte φ verwendet. Diese kann man unter anderem mit einem Haarhygrometer messen. In der Technik wird in der Regel die absolute Feuchte x verwendet. Diese misst man mit einem LiCl-Geber oder Coulometrischem Feuchtesensor, bei welchen (ausgehend von stark hygroskopischem Diphosphorpentoxid) auf den Wasserdampfgehalt der Luft geschlossen wird. Eine weitere Möglichkeit zur Bestimmung des Wasserdampfgehaltes der Luft ist die Messung ihrer Temperatur an je einem trockenen und angefeuchteten Thermometer, wobei die Messstelle des zweiten Thermometers mit einem wassergetränkten Gewebe umwickelt und zur Förderung der Verdunstung mit einem kleinen Lüfter angeblasen wird. Mithilfe der beiden abgelesenen Werte lässt sich aus dem Mollier-h-x-Diagramm sofort die zugehörige Luftfeuchtigkeit ablesen. Das Psychrometer ist das praktische Ergebnis der Weiterentwicklung dieser Messmethode. In Dampferzeugern dienen neben Thermometer auch Manometer zur einfachen Messung der Dampfparameter. Wasserdampf in der Geschichte Der Anblick von Wasserdampf ist den Menschen seit der Nutzbarmachung des Feuers bekannt; er entstand mehr oder weniger unbeabsichtigt beim Kochen oder beim Löschen der Feuerstelle mit Wasser. Erste Überlegungen zur technischen Nutzung von Wasserdampf werden Archimedes zugeschrieben, der eine Dampfkanone konstruierte. Leonardo da Vinci stellte zu diesem Thema erste Berechnungen an, wonach eine acht Kilogramm schwere Kugel aus einer solchen Kanone verschossen etwa 1250 Meter weit fliegen würde. Heron von Alexandria erfand den Heronsball, eine erste Dampfmaschine. Seine Erfindung hatte in der Antike keinen praktischen Nutzwert, sie zeigte aber die technische Möglichkeit der Nutzung von Wasserdampf auf. Auf Denis Papin geht die praktische Ausführung des Schnellkochtopfes zurück. Dieser erste Druckbehälter wurde von Anfang an mit einem Sicherheitsventil ausgerüstet, nachdem es mit einem Prototyp bei den ersten Versuchen zu einem Zerknall kam. Die Erfindung und Nutzung der Dampfmaschine machten es notwendig, das Arbeitsmittel Wasserdampf theoretisch und praktisch zu untersuchen. Zu den Praktikern gehören James Watt und Carl Gustav Patrik de Laval, die durch die Vermarktung ihrer Maschinen zu wohlhabenden Männern wurden. Zu den Theoretikern gehörte dagegen Nicolas Léonard Sadi Carnot, der Überlegungen zu Wasserdampf und der Dampfmaschine anstellte. In die Reihe der Forscher, die sich eingehend mit den Eigenschaften von Wasserdampf beschäftigten, gehören auch Rudolf Julius Emanuel Clausius und Ludwig Boltzmann. Nutzung in der Technik Wasserdampf wird in der Technik in Dampfkesseln erzeugt und beispielsweise zu folgenden Zwecken verwendet: als Arbeitsmittel in Dampfmaschinen, Dampflokomotiven und Dampfturbinen, bei der Förderung von Erdöl und als Hilfsmittel beim Steamcracken für die Herstellung von Benzin, als Zwischenprodukt bei der Meerwasserentsalzung, als ein Rohstoff für die Herstellung von Wasser- und Generatorgas durch das Steam-Reforming, in Dampfheizungen, Autoklaven und bei der Siedekühlung als Träger der Wärmeenergie. zum Fördern von flüssigem Wasser mit einer Dampfstrahlpumpe, bei der Wasserdampfdestillation als Schleppmittel, Erzeugen eines Vakuums durch Verdrängung der Luft aus einem geschlossenen Druckbehälter mit anschließender Kondensation. Die derzeit größten Kraftwerksdampferzeuger haben eine Leistung von bis zu 3600 Tonnen Dampf pro Stunde. Derartige Mengen werden beispielsweise mit einem Wasserrohrkessel bereitgestellt. Beim technischen Einsatz von Wasserdampf ist zu beachten, dass Nassdampf im Unterschied zu den meisten anderen Flüssigkeiten und Gasen nicht gepumpt werden kann. Die beim Verdichten des Dampfes auftretenden Wasserschläge würden die Fördermaschine innerhalb kürzester Zeit zerstören. Weitere Anwendungen zur Bodensterilisation und Bodenhygienisierung durch Dämpfen (Bodendesinfektion) mit Heißdampf zur Reinigung mittels Dampfreinigern, in der Küche zur schonenden Zubereitung von Lebensmitteln durch Dämpfen, in der Mehl­erzeugung, vor allem bei Vollkornmehl, zur Stabilisierung des Getreidekeimlings, zum Bearbeiten von Holz im Boots-, Möbel- und Instrumentenbau, zum Erzeugen eines Vakuums in geschlossenen Druckbehältern durch Verdrängung der Luft und anschließende Kondensation, zur Sterilisation von medizinischen und mikrobiologischen Instrumenten durch sogenanntes autoklavieren, zum Bügeln von Wäsche. In der Medizin und Therapeutik wird Wasserdampf für die Wärmeübertragung und als Träger therapeutischer Stoffe verwendet: Inhalation zur Heilung, etwa von Husten, oder zur Linderung von Erkältungen, mit Inhalatoren oder einer Gesichtssauna, im Wellnessbereich in Dampfbädern. Gefahren durch Wasserdampf Geringe Mengen Wasserdampf können große Mengen Wärme und damit Energie transportieren. Aus diesem Grund ist das zerstörerische Potenzial von dampfführenden Apparaturen wie Dampferzeuger und Rohrleitungen erheblich. Kesselzerknalle von Dampfkesseln gehörten zu den schwersten Unfällen in der Technikgeschichte; derartige Ereignisse haben in der Vergangenheit mit einem Schlag Industrie­betriebe zerstört. Diese Ereignisse lösten die Gründung von Dampfkessel-Überwachungsvereinen aus, aus denen sich später die Technischen Überwachungsvereine, heute bekannt unter der Abkürzung TÜV, entwickelten. Die Gefahr entsteht durch den „unsichtbaren“ Wasserdampf, der mit hoher Temperatur und hohem Druck in einem Strahl von erheblicher Länge aus einem defekten Dampfkessel frei austritt. Betrachtet man das oben aufgeführte h-s-Diagramm, bedeutet die Freisetzung von Sattdampf zuerst eine adiabate Zustandsänderung, bei der der Druck reduziert wird. Den Ausgangspunkt bildet die Sattdampfkurve rechts vom kritischen Punkt (= Sattdampfzustand im Kessel). Die Druckreduzierung verläuft parallel zur x-Achse (die Enthalpie bleibt gleich). Der austretende Freistrahl vermischt sich mit der Umgebungsluft und kühlt ab. Bei Unterschreitung von 100 °C (= Sattdampftemperatur bei Umgebungsdruck) beginnt der Dampf zu kondensieren und sichtbar zu werden. Eine Gefahr bei großen Dampfaustritten ist andererseits die Bildung von Nebel, der für Flüchtende die Orientierung erschwert. Und schließlich kann ausströmender überhitzter Wasserdampf sogar Brände auslösen. Das Nachverdampfen von flüssigem Wasser geschieht durch die in der Umgebung der defekten Stelle eintretende Druckverringerung. Ein großflächiger Kontakt mit einem Strahl Wasserdampf oder heißem Wasser ist wegen der augenblicklich eintretenden Verbrühungen tödlich. In der letzten Zeit sind im Zusammenhang mit Wasserdampf weniger Unfälle geschehen, weil sich der Stand der Technik auf diesem Gebiet permanent zu größeren Sicherheiten hin entwickelt hat. Aufgrund des großen Volumenunterschiedes zwischen Wasser und Wasserdampf (1:1700) ist es gefährlich, bestimmte Brände mit Wasser zu löschen. Bei einem Kaminbrand kann das Löschwasser zu einem Zerreißen des Kamins führen und somit die Löschkräfte gefährden und Sachschaden anrichten. Auch ein Fettbrand darf nicht mit Wasser gelöscht werden, da Wasser wegen der höheren Dichte unter das brennende Fett gelangt, an der heißen Fläche verdampft und sich dabei ausdehnt und brennendes Fett mit reißt, so kommt es zur Fettexplosion. Begriffe und Stoffwerte Name Wasserdampf weitere Namen dazu das nebenstehende Diagramm Summenformel H2O Dichte 0,598 kg/m³ (bei 100 °C und 1,01325 bar) Spezifische Wärmekapazität 2,08 kJ/(kg K) (bei 100 °C und 1,01325 bar) Wärmeleitfähigkeit  0,0248 W/(m·K) Tripelpunkt 273,160 K entspricht 0,01 °C bei 0,00612 bar kritischer Punkt 374,150 °C bei: 221,20 bar Siehe auch p-v-T-Diagramm Kinetische Gastheorie Literatur Dubbel Kapitel D. 17. Auflage. Springer, Berlin 1990, ISBN 3-540-52381-2. Mollier h,s-Diagram for Water and Steam. Springer, Berlin 1998, ISBN 3-540-64375-3. Walter Wagner: Wasser und Wasserdampf im Anlagenbau. Kamprath-Reihe. Vogel, Würzburg 2003, ISBN 3-8023-1938-9. Properties of Water and Steam in SI-Units. Thermodynamische Eigenschaften von Wasser und Wasserdampf, 0–800 °C, 0–1000 bar. Springer, Berlin 1981, ISBN 3-540-09601-9, ISBN 0-387-09601-9. Weblinks Ein leeres TS-Diagramm für Wasser und Wasserdampf auf Commons Ein leeres Mollier-hs-Diagramm für Wasserdampf in hoher Auflösung auf Commons Website der International Association for the Properties of Water and Steam (engl.) Wasserdampftafel für flüssiges Wasser und Sattdampf – Freeware in MS-Excel, OpenDocument und anderen Formaten Programmdownload (Win) „Air Humid Handling“ zum Berechnen mithilfe des Mollier h-x-Diagramms Einzelnachweise Wasser in der Technik Wasser (Hydrologie) Gas Dampftechnik Wärmeträger Klimaveränderung
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%BCnspecht
Grünspecht
Der Grünspecht (), manchmal auch Grasspecht oder Erdspecht genannt, ist eine Vogelart aus der Familie der Spechte (Picidae). Der Grünspecht und seine Schwesterart, der Grauspecht (), sind die einzigen Vertreter der Gattung Picus in Mitteleuropa. Beschreibung Der Grünspecht wird bis zu 32 Zentimeter lang und hat eine Flügelspannweite von bis zu 52 Zentimetern. Die Oberseite ist dunkelgrün, die Unterseite ist blass hell- bis graugrün gefärbt. Der Kopf ist an den Seiten durch eine schwarze Gesichtsmaske gezeichnet, die vom Schnabel bis hinter die Augen reicht, was ihm die Bezeichnung Fliegender Zorro im Volksmund einbringt. Der Oberkopf und der Nacken sind rot, der Bürzel grüngelb. Die Ohrgegend, Kinn und Kehle sind dagegen weißlich. Die Flügel oder Schwingen der Tiere sind braunschwarz, gelblich oder bräunlichweiß gefleckt. Die Steuerfedern sind auf grüngrauem Grund schwärzlich gebändert. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind gering, beim Männchen ist der Wangenfleck rot mit einem schwarzen Rand, beim Weibchen ist dieser Wangenfleck einfarbig schwarz. Die Augen des Grünspechts sind bläulichweiß, Schnabel und Füße sind bleigrau. Männchen und Weibchen sind gleich groß und schwer. Fänglinge in der Camargue wogen im Mittel 177 g (Männchen) oder 174 g (Weibchen), die Spanne reichte von 138 g bis 201 g. Das Jugendgefieder unterscheidet sich stark von dem Gefieder der erwachsenen Tiere, es ist insgesamt deutlich matter. Kopfseiten, Hals und die Unterseite sind auf fast weißem Grund stark dunkel gefleckt bis gebändert. Die roten Anteile der Kopffärbung sind unscheinbar und meistens mit grauen Flecken durchsetzt. Die Flügel und die Gefiederoberseite weisen zudem eine deutliche weiße Fleckung auf. In Mitteleuropa kann der Grünspecht nur mit dem etwas kleineren, aber sonst sehr ähnlichen Grauspecht verwechselt werden. Im Gegensatz zum Grünspecht hat der Grauspecht jedoch einen grauen Kopf, ein dunkelrotes Auge und nur einen schmalen schwarzen Kinnstreif. Dem Grauspecht fehlt außerdem der rote Scheitel des Grünspechtes, nur beim Männchen ist der Vorderkopf rot, beim Weibchen fehlt eine rote Kopfzeichnung. Oft gibt schon der Beobachtungsort Hinweise zur Artbestimmung, der Grauspecht fehlt im Nordwesten Mitteleuropas und ist im Vergleich zum Grünspecht viel stärker an Gebirge und an Wald gebunden (siehe Verbreitung). Mauser Die Jugendmauser erfolgt kontinuierlich und beginnt bereits in der Bruthöhle. Im Verlauf von etwa vier Monaten ist sie abgeschlossen und entsprechend besitzen die Jungtiere im Spätherbst bereits das Federkleid der Adultvögel. Lautäußerungen und Trommelgeräusch Grünspechte trommeln deutlich seltener als die meisten anderen heimischen Spechte. Sie produzieren dann nur leise und unregelmäßige Wirbel. Auffällig ist dagegen der markante Reviergesang, der von beiden Geschlechtern, intensiver jedoch vom Männchen, geäußert wird. Dieser klingt wie ein lautes Lachen („klü-klü-klü-klü-klü-klü-klü“). Die aus bis zu 20 Silben bestehende, etwas nasal klingende Rufreihe bleibt auf einer Tonhöhe und wird gegen Ende schneller und etwas leiser. Häufig ist ein zweisilbiger, deutlicher Abschluss („klü-ück“). Bei warmem Winterwetter sind diese Rufe in Mitteleuropa schon im Dezember und Januar zu hören, üblicherweise jedoch erst gegen Ende Februar. Die ähnliche Rufreihe des Grauspechtes klingt reiner und liegt in der Tonhöhe meist etwas höher. Die Strophe fällt in der Tonhöhe ab, wird gegen Ende hin langsamer und deutlich leiser und verstummt ohne Akzent. Grünspechte äußern beim Landen oft ein scharfes „Kjäck“, zuweilen auch „Kjück“, das bei Beunruhigung oder in Aggressionssituationen zu einem mehrsilbigen Ruf („Kjück-Kjück-Kjück-Kjück“) gereiht wird. Stimmbeispiele Rufreihe des Grünspechts Rufreihe des Grauspechts Verbreitung und Lebensraum Der Grünspecht bewohnt große Teile Europas und Vorderasiens, sein Vorkommen liegt also in der westlichen Paläarktis. Er kommt dabei vom südlichen Skandinavien und Großbritannien über den größten Teil des europäischen Festlandes bis in das Mittelmeergebiet und im Südosten bis zum Kaukasus, Turkmenistan und zum nördlichen Iran vor. Die boreale Nadelwaldzone im Norden und die Steppen und Halbwüsten im Süden des Verbreitungsgebietes werden nur randlich besiedelt. Er bevorzugt halboffene Landschaften mit ausgedehnten Althölzern, vor allem Waldränder, Feldgehölze, Streuobstwiesen, Parks, Haine und große Gärten mit Baumbestand. Innerhalb ausgedehnter Waldgebiete kommt er nur in stark aufgelichteten Bereichen, an Waldwiesen und größeren Lichtungen vor. Die Art zeigt dabei eine starke Präferenz für Laubwälder, in ausgedehnten Nadelholzforsten kann sie großflächig sehr selten sein oder fehlen. Der Grünspecht ist aufgrund seiner starken Spezialisierung auf bodenlebende Ameisen anfällig für strenge Winter mit hohen Schneelagen. Schwerpunkt der Verbreitung sind daher die Niederungen und die unteren Lagen der Mittelgebirge bis in eine Höhe von etwa 500 m über NN. Im schneereichen und von Nadelwäldern dominierten Bayerischen Wald ist er sehr selten und fehlt oberhalb 900 m ganz. Die Höhenverbreitung scheint zusätzlich durch das Vorkommen des vor allem in der collinen Stufe verbreiteten Grauspechtes beeinflusst zu werden, bei gleichzeitigem Vorkommen beider Arten kann der Grünspecht schon in Höhenlagen ab 150 m über NN großflächig fehlen (etwa in Nordrhein-Westfalen), diese Höhenlagen sind dann vom Grauspecht besiedelt. Im Alpenraum ist diese Begrenzung der Verbreitung hinsichtlich der Meereshöhe so nicht vorhanden. In den Bayerischen Voralpen und Alpen besiedelt der Grünspecht alle Höhenlagen von 600 bis 1400 m über NN recht gleichmäßig und wurde bis in 1700 m Meereshöhe nachgewiesen, der Grauspecht besiedelte dieselben Höhenlagen in etwas geringerer Dichte. In der Schweiz liegt der Schwerpunkt der Verbreitung in Höhen bis 1000 m NN, die Art kommt dort jedoch regelmäßig bis in Höhen von 2000 m über NN vor. Der Grauspecht ist dort auf Höhenlagen unter etwa 700 m über NN beschränkt, besiedelt also dort nur die colline Stufe. Die höchsten Nachweise liegen dabei im Kanton Wallis in der Schweiz in 2150 m Höhe, im Transkaukasus wurde der Grünspecht sogar in 2745 m Höhe nachgewiesen. Lebensweise Aktivität Der Grünspecht ist tagaktiv, bei Dunkelheit bewegt er sich nur noch kletternd. Er hat eine regelmäßige Aktivitätsphase und kann in dieser über Wochen täglich die gleichen Routen abfliegen und an denselben Plätzen seine Nahrung suchen. Die Aktivitätsphase selbst dauert abhängig vom Tageslicht zwischen acht Stunden im Dezember und 15 Stunden im Juli. Der Grünspecht bewegt sich häufig und geschickter als die anderen Spechte am Boden, wodurch er auch als „Erdspecht“ bekannt ist (nicht zu verwechseln mit Geocolaptes olivaceus, dem südafrikanischen Erdspecht). Dabei hüpft er Strecken bis zu drei Metern in einzelnen Sprüngen von maximal 25 Zentimetern ab, ohne zu fliegen. Im Gegensatz zum Bunt- und zum Blutspecht klettert der Grünspecht nicht ruckartig, sondern eher fließend, dabei allerdings nicht so schnell wie der Grauspecht. Bei relativ dicht stehenden Baumreihen fliegt er auch nicht von einem Baum zum nächsten, sondern überwindet die Distanzen in einem recht charakteristischen Segelflug. Dabei klettert er zunächst den einen Baumstamm empor, um anschließend von unterhalb der Baumkrone bis zum Fuß des nächsten Baumes zu gleiten. Er wiederholt dieses Schauspiel gern vielfach hintereinander. Er ist ein weitgehend standorttreuer Vogel, der nur kurze Wanderungen unternimmt. Im Winter schweift er teilweise weit umher und erscheint oft in Gärten, um dort nach Nahrung zu suchen. Es handelt sich entsprechend um einen Stand- und Strichvogel. Die Jungvögel verlassen die Reviere ihrer Eltern und suchen sich eigene Reviere in deren Nähe, auch bei diesen Wanderungen entfernen sie sich in der Regel nur bis zu 30 Kilometer vom Geburtsort. Die weitesten bislang durch Beringung nachgewiesenen Wanderungen betrugen in einem Fall 82 km, in einem weiteren 170 km. Ernährung Der Grünspecht sucht seine Nahrung fast ausschließlich auf dem Boden, er hackt viel weniger an Bäumen als die anderen Spechte. Von allen mitteleuropäischen Spechten ist der Grünspecht am meisten auf bodenbewohnende Ameisen spezialisiert. Diese fängt er in ihren Gängen mit seiner 10 Zentimeter langen Zunge, die in ein verhorntes und mit Widerhaken bestücktes Ende ausläuft. In den frühen Morgenstunden, kurz nach Sonnenaufgang, suchen Grünspechte Wiesen- und Weideflächen mit lockerem Oberboden und Störstellen auf, um mit ihren langen Schnäbeln gezielt mehrere Zentimeter tiefe Löcher zu bohren. Dabei erbeuten die Vögel häufig die Rote Waldameise und andere Formica-Arten, im Sommer verschiedene Lasius-Arten (Wegameisen). Im Winter graben Grünspechte Tunnel in den Schnee, um zu Ameisenhügeln zu gelangen, die dann meist regelmäßig besucht werden. Vor allem im Winter sucht er Felswände auf, aber auch regelmäßig Dächer, Hauswände oder Leitungsmasten, und sucht dort in Spalten nach überwinternden Arthropoden, vor allem nach Fliegen, Mücken und Spinnen. Würmer und weitere Wirbellose sind dagegen nur selten Teil der Ernährung. Gelegentlich fressen Grünspechte auch Beeren, etwa Vogelbeeren und die Samenmäntel der Eibe, und anderes Obst wie Kirschen, Äpfel oder Trauben. Fortpflanzung und Entwicklung Grünspechte erreichen ihre Geschlechtsreife noch im ersten Lebensjahr. Die Balz beginnt mit ersten Kontaktrufen der Männchen ab Dezember und nimmt dann über den Januar und Februar deutlich zu. Die eigentliche Paargründung und die Festlegung der Reviergrenzen erfolgt in Mitteleuropa Mitte März bis Anfang April. Die Vögel bilden dabei wahrscheinlich Saisonehen, mehrjährige Beziehungen von Paaren werden jedoch auch nicht ausgeschlossen. Die höchste Gesangsaktivität ist im April und im Mai zu verzeichnen. Als Nisthöhlen dienen im Regelfall verlassene Brut- und Überwinterungshöhlen anderer Spechte oder die eigenen Überwinterungshöhlen. Wie der Grauspecht sind die Grünspechte bei der Auswahl der Baumarten wenig wählerisch und können entsprechend in den verschiedensten Baumarten Höhlen nutzen. So findet man sie in Laubwäldern häufig in Buchen, Eichen, Bergahorn und Linden, in Auwäldern dagegen in Birken, Pappeln, Weiden oder Erlen. Auch in verschiedenen Obstbäumen, Platanen, Ebereschen, Kastanien und Fichten können sich die Nisthöhlen befinden. Finden sie keine bereits verlassenen Höhlen, legen sie selber welche an, meist in weicheren Fäulnisherden. Bei zu hartem Holz wird der Höhlenbau abgebrochen. Diese angefangenen Höhlen faulen danach im Laufe der Jahre aus und werden schließlich nach einigen Jahren nicht selten doch noch zu Bruthöhlen. Die Tiefe des Innenraums der Bruthöhle wird im Normalfall auf etwa 25 bis 60 Zentimeter ausgespänt. Das Flugloch hat eine Höhe und Breite von jeweils 50 bis 75 Millimeter. Kurze Zeit nach der Paarung legt das Weibchen fünf bis acht reinweiße Eier mit Maßen von durchschnittlich 31 × 23 Millimeter. Die Eiablage beginnt zwischen Anfang April und Mitte Mai, die Brutdauer beträgt 14 bis 17 Tage. Die Jungvögel entwickeln sich dann innerhalb von 23 bis 27 Tagen und fliegen im Juni bis Juli aus. Weitere Gelege werden nur produziert, wenn die Ursprungsgelege keine Nachkommen ergeben, in dem Fall kann das Weibchen bis zu zwei Nachgelege produzieren, die in einer neuen, von beiden Partnern vorbereiteten Höhle abgelegt werden. In den ersten drei bis sieben Wochen füttern und führen beide Elterntiere ihren Nachwuchs, auch danach kann es bei bis zu 15 Wochen alten Jungspechten noch einen lockeren Kontakt zu den Eltern geben. Systematik Der Grünspecht wird mit etwa 15 anderen Spechtarten in die Gattung Picus eingeordnet, die paläarktisch verbreitet ist. Als Schwesterart gilt der Grauspecht (Picus canus), der neben dem Grünspecht die einzige Art Europas ist. Die Artentrennung wird dabei auf die letzte Eiszeit, die Würmeiszeit, datiert, in deren Verlauf zwei Populationen der Stammart getrennt wurden und erst nach deren Ende vor etwa 10.000 Jahren wieder aufeinander trafen. Je nach Quelle werden heute drei bis elf Unterarten anerkannt, wobei die Übergänge zwischen diesen fließend sind (klinal). Glutz von Blotzheim & Bauer (1994) erkennen neben der Nominatform nur die Unterarten Picus viridis sharpei auf der Iberischen Halbinsel und Picus viridis innominatus im südwestlichen Iran an, die sich deutlich in einer Reihe von Färbungsmerkmalen von der Nominatform unterscheiden. Der Atlasgrünspecht (Picus vaillanti) galt ebenfalls lange als Unterart des Grünspechts, wird inzwischen jedoch als eigenständige Art betrachtet. Bestandsentwicklung Der Grünspecht ist einer der häufigsten Spechte in Europa. Sein europäischer Gesamtbestand wird auf 370.000 bis 1,7 Millionen Brutpaare geschätzt (nach neueren Zahlen 590.000 bis 1,3 Millionen), davon sollen bis zu 165.000 Paare in Mitteleuropa leben. Weltweit geht man sogar von 920.000 bis 2,9 Millionen Tieren aus. Der deutsche Bestand wurde Ende der 1990er Jahre auf 23.000 bis 35.000 Brutpaare geschätzt; der Grünspecht ist damit in Deutschland nach Buntspecht und Schwarzspecht der dritthäufigste Specht. In Österreich gibt es etwa 7.000 bis 14.000 Brutpaare. Angaben zur Bestandsentwicklung sind widersprüchlich und beruhen nur selten auf großflächigen Erfassungen. In Deutschland wurden für die 1990er Jahre aus acht Bundesländern Abnahmen von 20–50 % gemeldet, aus dreien Zunahmen in derselben Größenordnung, für fünf Bundesländer wurde der Bestand als etwa gleichbleibend eingeschätzt. Ein Zusammenhang zwischen Bestandstrend und geographischer Lage war nicht erkennbar. In Österreich gilt die Art nicht als gefährdet, ist jedoch in manchen Bundesländern, wie etwa Kärnten, vollkommen geschützt. In Großbritannien wurde nach 1940 eine leichte Abnahme im Norden Englands festgestellt, aber gleichzeitig erfolgte in Schottland eine Arealausdehnung nach Norden. In den Niederlanden gab es einen gesicherten Bestandsrückgang zwischen Mitte der 1970er und Anfang der 1990er Jahre; der Bestand hat sich insgesamt etwa halbiert. In Polen und in Frankreich weist der Bestand einen positiven Trend auf. Als Grund für negative Entwicklungen wird vor allem der Verlust geeigneter Lebensräume in Form von offenen und strukturreichen Gebieten angesehen. Der Rückgang von Wiesenameisen durch weiträumige Umwandlung von Grünland in Ackerland und verstärkten Einsatz von Bioziden in der Landwirtschaft ist dabei wohl die wesentliche Ursache. Eutrophierung und fehlende Mahd von aufgelassenen Wiesen dürften ebenfalls eine Rolle spielen. Kurzfristige, teilweise erhebliche Bestandsrückgänge sind auf harte Winter zurückzuführen, die der Grünspecht weniger gut überstehen kann als seine Schwesterart, der Grauspecht. Starke Einbußen aufgrund der Witterung werden im Regelfall erst nach zehn Jahren wieder ausgeglichen, und in Gebieten, in denen beide Arten leben, verschiebt sich das Artenverhältnis nach härteren Wintern deutlich zu Gunsten des Grauspechts. Aufgrund der aktuellen Situation und des Bestandsrückgangs über die letzten Jahrzehnte wird der Grünspecht in Deutschland und den Niederlanden in der Vorwarnliste der Roten Liste gefährdeter Arten geführt. Auf internationaler Ebene wird die Art in der Berner Konvention im Anhang II geführt (= zu schützende Art), in der Vogelschutzrichtlinie von 1979 (79/409/EWG) wird sie jedoch nicht aufgeführt. Menschen und Grünspechte Volksglauben, Medizin und Kultur Grünspechte als solche spielen in der menschlichen Kulturgeschichte nur eine geringe Rolle, vor allem da sie weder als Schädlinge noch als potentielle Nahrungs- und Jagdvögel von Bedeutung sind. Gemeinsam mit dem Schwarzspecht (Dryocopus martius) galten sie als „Regenvogel“, da ihre Kontaktrufe mit dem Einfluss der ersten Warmfronten die ersten großen Frühjahrsregenfälle des Jahres ankündigten. Samuel Hahnemann berichtete in seinem Apothekerlexikon 1793–1798 von der angeblich heilenden Kraft der Grünspechtknochen, die überliefert war, seiner Meinung nach jedoch nicht existierte: Im übertragenen Sinne fand der Begriff Grünspecht vor allem als Bezeichnung für einen halbwüchsigen, vorlauten Besserwisser („Grünschnabel“) Verwendung. Außerdem wurde er seit dem 18. Jahrhundert zur Bezeichnung eines Försters oder Jägers und seit dem frühen 20. Jahrhundert auch für einen Polizeibeamten genutzt. Verwendung in der Literatur Der Grünspecht taucht in der Literatur recht selten auf, gemeinhin ist hier von einem Specht die Rede. Die älteste literarische Erwähnung ist dabei wohl im Werk Die Vögel des griechischen Dichters Aristophanes zu finden, der schrieb: Auch in den deutschen Sagen der Brüder Grimm findet sich eine Erwähnung des Grünspechts. Hier wird in der Sage Die Springwurzel erwähnt: Die Springwurzel erhält man dadurch, dass man einem Grünspecht (Elster oder Wiedehopf) sein Nest mit einem Holz zukeilt; der Vogel, wie er das bemerkt, fliegt alsbald fort und weiß die wunderbare Wurzel zu finden, die ein Mensch noch immer vergeblich gesucht hat. Er bringt sie im Schnabel und will sein Nest damit wieder öffnen; denn hält er sie vor den Holzkeil, so springt er heraus, wie vom stärksten Schlag getrieben. Johann Gaudenz von Salis-Seewis spielte auf die Geräuschentwicklung des Grünspechts an und schrieb in seinem Gedicht Die Einsiedelei 1789: Eine zentrale Rolle spielt der Grünspecht in der Erzählung Die Bernsteinhexe von Wilhelm Meinhold. Hier erscheint einer Frau ein vermeintlicher Geist oder Teufel in Gestalt des Grünspechts und sammelt die Haare eines Toten ein, die er in sein Astloch transportiert: Auch die übertragenen Bedeutungen wurden in die Literatur übernommen. In Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich wird beispielsweise der junge Protagonist Heinrich Lee als Grünspecht bezeichnet (Heda, Grünspecht! wo hinaus?), zum einen aufgrund seiner Unerfahrenheit, zum anderen aber auch aufgrund seines im Romantitel wiedergegebenen Spitznamens. Jean Paul schrieb in seinem Roman Dr. Katzenbergers Badereise: In der Astronomie 1999 wurde der Asteroid (8774) Viridis nach Picus viridis benannt. Vogel des Jahres 2014 Der Naturschutzbund Deutschland und der Landesbund für Vogelschutz in Bayern haben den Grünspecht zum „Vogel des Jahres 2014“ in Deutschland erkoren. Die Wahl wurde am 18. Oktober 2013 bekannt gegeben. Der Grünspecht dient hier als Stellvertreter für den Lebensraum Obstwiese, auf dessen Gefährdung im Rahmen der Kampagne aufmerksam gemacht werden soll. Quellen Zitierte Quellen Literatur Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Die Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. Aula-Verlag, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 285–286. Hans-Günther Bauer, Peter Berthold, Peter Boye, Wilfried Knief, Peter Südbeck, Klaus Witt: Rote Liste der Brutvögel Deutschlands. In: Berichte zum Vogelschutz. Band 39, 2002, S. 13–60. Mark Beaman, Steve Madge: Handbuch der Vogelbestimmung. Europa und Westpaläarktis. Eugen Ulmer Verlag 1998, ISBN 3-8001-3471-3, S. 532. Dieter Blume: Schwarzspecht, Grauspecht, Grünspecht. Neue Brehm-Bücherei Bd. 300, Westarp-Wissenschaften, Magdeburg 1996, ISBN 3-89432-497-X. Urs N. Glutz von Blotzheim, Kurt M. Bauer (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 9, 2. Auflage. AULA-Verlag, Wiesbaden 1994, S. 943–964, ISBN 3-89104-562-X. Wolfgang Scherzinger: Die Spechte im Nationalpark Bayerischer Wald. Schriftenreihe des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Heft 9, 1982. David Snow, Christopher Perrins (Hrsg.): The Complete Birds of the Western Palaearctic. Oxford University Press 1998, CD-ROM, ISBN 0-19-268579-1. Siegfried Wagner: Grünspecht. In: Avifauna Kärntens 1. Die Brutvögel. Verlag des Naturwissenschaftlichen Vereins für Kärnten, Klagenfurt 2006, ISBN 3-85328-039-0, S. 192f. Weblinks Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Grünspechts Grunspecht Vogel des Jahres (Deutschland) Wikipedia:Artikel mit Video Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden Vogel des Jahres (Österreich)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Flavius%20Josephus
Flavius Josephus
Flavius Josephus (; geboren 37/38 n. Chr. in Jerusalem; gestorben um 100 vermutlich in Rom) war ein jüdisch-hellenistischer Historiker. Als junger Priester aus der Jerusalemer Oberschicht hatte Josephus eine aktive Rolle im Jüdischen Krieg: Er verteidigte Galiläa im Frühjahr 67 gegen die römische Armee unter Vespasian. In Jotapata geriet er in römische Gefangenschaft. Er prophezeite dem Feldherrn Vespasian dessen künftiges Kaisertum. Als Freigelassener begleitete er Vespasians Sohn Titus in der Endphase des Krieges und wurde so Zeuge der Eroberung von Jerusalem (70 n. Chr.). Mit Titus kam er im folgenden Jahr nach Rom, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Er erhielt das römische Bürgerrecht und lebte fortan von einer kaiserlichen Pension und dem Ertrag seiner Landgüter in Judäa. Die Muße nutzte er zur Abfassung mehrerer Werke in griechischer Sprache: eine Geschichte des Jüdischen Krieges (in diesem Artikel zitiert als: Bellum), eine Geschichte des jüdischen Volkes von der Erschaffung der Welt bis zum Vorabend dieses Krieges (zitiert als: Antiquitates), eine kurze Autobiografie als Anhang dazu (zitiert als: Vita) und als Spätwerk eine Verteidigung des Judentums gegen die Kritik zeitgenössischer Autoren (zitiert als: Contra Apionem). Römische Historiker erwähnten Josephus nur als jüdischen Gefangenen mit einem Orakelspruch über Vespasians Kaisertum. Für alle Informationen zu seiner Biografie ist man daher auf das Bellum und die Vita angewiesen. Erhalten blieben die Schriften des Josephus, weil sie schon in der Spätantike von christlichen Autoren als eine Art Nachschlagewerk entdeckt wurden. Bei Josephus fand der Leser des Neuen Testaments nützliche Hintergrundinformationen: Er war der einzige zeitgenössische Autor, der sich detailliert und mit eigener Ortskenntnis über Galiläa äußerte. Die Stadt Jerusalem und der Tempel dort werden ebenfalls genau beschrieben. Josephus erwähnte Johannes den Täufer und wohl auch Jesus von Nazareth – allerdings ist diese Textstelle (das sogenannte Testimonium Flavianum) christlich überarbeitet worden und der ursprüngliche Wortlaut unsicher. Im Bellum beschrieb Josephus ausführlich das Leiden der Menschen im belagerten Jerusalem. Er brach mit den Konventionen der antiken Geschichtsschreibung, die ihn zu Sachlichkeit verpflichteten, um über das Unglück seiner Heimat zu klagen. Seit Origenes deuteten christliche Theologen diese Kriegsberichte als Gottes Strafgericht an den Juden, eine Konsequenz aus der in ihren Augen von Juden verschuldeten Kreuzigung Jesu. Für die Geschichte Judäas von etwa 200 v. Chr. bis 75 n. Chr. sind Josephus’ Werke die wichtigste antike Quelle. Sein Alleinstellungsmerkmal ist, dass er als antiker Jude über seine Kindheit und Jugend einerseits und seine Rolle im Krieg gegen Rom andererseits Auskunft gibt. Allerdings begegnet der Leser nie direkt dem jungen galiläischen Militärführer, sondern widersprüchlichen Bildern, die ein älterer römischer Bürger von seinem früheren Ich entwarf. Die neuere Forschung befasst sich damit, wie Josephus im Rom der Flavier als jüdischer Historiker seinen Weg suchte. Die Einwohner Roms waren ständig mit dem Thema Judäa konfrontiert, denn Vespasian und Titus feierten ihren Sieg in einer aufständischen Provinz mit Triumphzug, Münzprägungen und Monumentalarchitektur, als wäre es eine Neueroberung. Josephus stellte sich der Aufgabe, als einer der Besiegten die Geschichte dieses Krieges den Siegern anders zu erzählen. Entstanden ist dabei ein hybrides Werk, das Jüdisches, Griechisches und Römisches verbindet. Das macht Josephus zu einem interessanten Autor für eine postkoloniale Lektüre. Name So stellte sich Josephus in seinem ersten Werk dem Leser vor. Er trug den häufigen hebräischen Namen und transkribierte ihn als in das Griechische, mit nicht aspiriertem p, wohl weil auf -phos endende griechische Personennamen eher selten sind. Dabei blieb er aber den hebräischen Namenskonventionen treu, so dass sich hypothetisch der Name rekonstruieren lässt, unter dem er in seiner Jugend bekannt gewesen sein dürfte: . Den römischen Namen Flavius Iosephus verwendete Josephus in seinen Schriften selbst nicht. Er ist erst bei christlichen Autoren ab dem späten 2. Jahrhundert bezeugt. Angesichts Josephus’ enger Anbindung an Kaiser Vespasian nach dem Jüdischen Krieg ist allerdings tatsächlich anzunehmen, dass dieser ihm das römische Bürgerrecht verlieh. Vermutlich übernahm Josephus dabei, wie es allgemein üblich war, das Praenomen und das Gentilnomen seines Patrons, der mit vollem Namen Titus Flavius Vespasianus hieß, und hängte seinen bisherigen nichtrömischen Namen Iosephus als dritten Namensbestandteil (Cognomen) an. Demnach ist anzunehmen, dass sein römischer Name Titus Flavius Iosephus lautete, auch wenn das Praenomen Titus in den antiken Quellen nicht bezeugt ist. Leben Herkunftsfamilie und Jugend Josephus gab an, im ersten Regierungsjahr des Kaisers Caligula geboren zu sein; an anderer Stelle erwähnte er, dass sein 56. Lebensjahr das 13. Regierungsjahr des Kaisers Domitian gewesen sei. Daraus ergibt sich ein Geburtsdatum zwischen dem 13. September 37 und dem 17. März 38. Die Familie gehörte zur Jerusalemer Oberschicht und hatte Grundbesitz im Umland der Stadt. Vater und Mutter stammten der Vita zufolge aus dem priesterlich-königlichen Geschlecht der Hasmonäer, wobei das bei der Mutter nicht weiter ausgeführt wird. Der Vater Matthias gehörte der ersten von 24 Priesterdienstklassen an. Auf die Hasmonäer konnte sich Matthias allerdings nicht in rein patrilinearer Generationenfolge zurückführen. Er stammte von einer Tochter des Hohepriesters Jonatan ab. Ernst Baltrusch vermutet, dass Josephus seine traditionelle jüdisch-priesterliche Sozialisation in der Autobiografie so darstellen wollte, dass sie für die römische Leserschaft als aristokratischer Bildungsweg verständlich war – fremd und vertraut zugleich: Josephus hatte einen vermutlich älteren, da nach dem Vater benannten Bruder Matthias und wurde gemeinsam mit ihm erzogen. Mit etwa 14 Jahren sei er als Wunderkind bekannt gewesen; „die Hohepriester und die Vornehmsten der Stadt“ hätten sich wiederholt mit ihm getroffen, um Details der Tora erläutert zu bekommen. Ein literarischer Topos, zum Vergleich lässt sich Plutarchs Biografie Ciceros anführen: Die Eltern von Mitschülern hätten den Unterricht besucht, um Ciceros Intelligenz zu bewundern. So wie ein junger Römer mit 16 Jahren das Elternhaus verließ, um sich unter Aufsicht eines Tutors auf die Teilnahme am öffentlichen Leben vorzubereiten, stilisierte Josephus den nächsten Schritt seiner Biografie: Zunächst erkundete er die philosophischen Schulen des Judentums (als solche präsentiert er Pharisäer, Sadduzäer und Essener): „Unter strenger Selbstzucht und mit vielen Mühen durchlief ich alle drei.“ Danach habe er sich für drei Jahre der Leitung eines Asketen namens Bannus anvertraut, der sich in der Judäischen Wüste aufhielt. Die Bannus-Episode ist ein Beispiel dafür, wie Josephus den Leser zu transkulturellen Lektüren einlud: In der jüdischen Tradition steht die Wüste als Ort religiöser Erfahrung hauptsächlich im Zusammenhang mit der in der Bibel beschriebenen 40-jährigen Wanderung der Israeliten durch die Sinai-Halbinsel nach dem Auszug aus Ägypten. Häufige Übergießungen mit kaltem Wasser, wie von Bannus praktiziert, waren im Rahmen griechisch-römischer Badekultur ohne weiteres verständlich. Die Vorstellung eines in Baumrinde gekleideten Vegetariers gab dem Ganzen allerdings eine exotische Note: Herodots Beschreibung von Indern und Skythen klingt an. Über einen tatsächlichen Wüstenaufenthalt des jugendlichen Josephus lässt sich aus der Vita nichts Sicheres entnehmen. Mit 19 Jahren kehrte Josephus nach Jerusalem zurück und schloss sich den Pharisäern an. Für einen jungen Mann der Oberschicht hätte die Wahl der sadduzäischen Religionspartei näher gelegen. Aber wenn er sich schon für die Pharisäer entschied, versteht man nicht recht, warum seine historischen Werke ein eher negatives Bild von ihnen zeichnen. Im Rahmen der Vita ist festzuhalten, dass Josephus Erwartungen des Publikums erfüllte: Seine Lehrjahre hatten zu einer Lebensentscheidung geführt, und so besaß er eine innere Orientierung, als er in die Öffentlichkeit hinaustrat. Die Vita wäre missverstanden, wenn man aus ihr ableitete, dass Josephus im Alltag nach pharisäischen Regeln lebte. Wünschenswert war nämlich, dass Personen des öffentlichen Lebens die philosophischen Neigungen ihrer Jugend zugunsten ihrer politischen Aufgaben zurückstellten. Prägend für Josephus’ Werk war nicht das Pharisäertum, sondern das Priestertum, auf das er sich immer wieder berief. Dies sei der Grund, warum er die eigene Tradition kompetent auslegen und der Leser seiner Darstellung vertrauen könne. Im Alter von 19 oder 20 Jahren begann für junge Priester der Dienst im Tempel. Sein Insiderwissen zeigt, dass Josephus ihn aus eigener Erfahrung kannte. In seiner Vita überging er die Jahre von 57 bis 63 n. Chr. mit Stillschweigen. Er erweckte den Eindruck, dass er in dieser politisch turbulenten Zeit nur die Rolle eines Beobachters eingenommen habe. Romreise Nach Plutarch konnte man auf zweierlei Weise eine öffentliche Laufbahn beginnen, entweder durch Bewährung in einer militärischen Aktion oder einen Auftritt vor Gericht bzw. Teilnahme an einer Gesandtschaft zum Kaiser. Beides erforderte Mut und Intelligenz. Diesem Ideal entsprach die Vita des Josephus gut, indem sie Josephus’ Romreise im Jahr 63/64 heraushob. Er wollte die Freilassung von jüdischen Priestern erwirken, die der Präfekt Felix „aus geringem und hergeholtem Anlass hatte verhaften lassen“ und daraufhin nach Rom überstellen ließ, damit sie sich vor dem Kaiser verantworteten. Es bleibt unklar, ob Josephus aus eigener Initiative handelte oder von wem er beauftragt wurde. Eine Überstellung nach Rom deutet auf schwerwiegendere Anklagen, vielleicht politischer Art, hin. Die literarische Formung dieser Episode der Vita ist offensichtlich. Josephus gab an, in einem Freundeskreis mit Aliturus, einem Schauspieler jüdischer Abstammung, bekannt geworden zu sein, der den Kontakt zu Neros Frau Poppaea Sabina herstellte. Durch ihre Intervention seien die Priester freigekommen. Möglicherweise ist Aliturus eine literarische Figur nach dem Vorbild des bekannten Mimen Lucius Domitius Paris. Passend für einen Autor der Flavierzeit wäre dies eine ironische Spitze gegen die Verhältnisse am Hof Neros gewesen: Schauspieler und Frauen führten die Regierungsgeschäfte. Die Episode der Romreise zeigt dem Leser der Vita, dass ihr Held für diplomatische Einsätze geeignet war. In der Forschung wird diskutiert, ob die Rom-Mission Josephus nach Meinung der Jerusalemer für die verantwortungsvolle Aufgabe der Verteidigung Galiläas qualifizierte und fehlende militärische Erfahrung ersetzte. Militärführer im Jüdischen Krieg Als Josephus nach Judäa zurückkehrte, war der Aufstand, der sich dann zum Krieg gegen Rom ausweitete, schon im Gange. Er habe mit Argumenten versucht, mäßigend auf die Zeloten zu wirken, schrieb Josephus. „Doch drang ich nicht durch; denn zu sehr hatte der Fanatismus der Verzweifelten um sich gegriffen.“ Danach habe er im inneren Tempelbereich Zuflucht gesucht, bis der Zelotenführer Manaḥem gestürzt und ermordet wurde (Herbst 66). Der Tempel war allerdings kein Zentrum der Friedenspartei, im Gegenteil: Dort hatte der Tempelhauptmann Elʿazar seine Machtbasis, und Josephus scheint sich Elʿazars Zelotengruppe angeschlossen zu haben. Eine Strafexpedition des Statthalters von Syrien, Gaius Cestius Gallus, endete im Herbst des Jahres 66 mit einer römischen Niederlage bei Bet-Ḥoron; danach brach die römische Verwaltung in Judäa zusammen. Schon lange schwelende Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eskalierten. Chaos war die Folge. „Tatsächlich versuchte eine Gruppe junger Jerusalemiter aus der priesterlichen Aristokratie umgehend, sich den Aufstand zunutze zu machen und im jüdischen Palästina eine Art Staat zu errichten …, allerdings mit sehr geringem Erfolg“ (Seth Schwartz). Schon in der ersten Phase des Aufstands waren es „Gruppen und Personen jenseits der traditionellen Macht- und Verfassungsstrukturen“, die die Jerusalemer Politik bestimmten. Trotzdem legte Josephus Wert darauf, das Jerusalem des Jahres 66 als eine funktionierende Polis zu stilisieren; eine legitime Regierung habe ihn als Militärführer nach Galiläa entsandt, und ihr sei er auch verantwortlich gewesen. Im Bellum betritt Josephus erst in diesem Moment die politische Bühne, und er tut als Strategos in Galiläa das ihm Mögliche, um der Sache der Aufständischen zum Erfolg zu verhelfen – bis er unter dramatischen Umständen auf die Seite der Römer übergeht. Anders ist die Darstellung der später verfassten Vita: Josephus wird hier zusammen mit zwei anderen Priestern von den „führende(n) Leuten in Jerusalem“ mit einem Geheimauftrag nach Galiläa geschickt: „damit wir die üblen Elemente zur Niederlegung der Waffen bewegten und belehrten, dass es besser sei, sie für die Elite des Volks zur Verfügung zu halten.“ Strategisch war Galiläa von großer Bedeutung, da absehbar war, dass die römische Armee von Norden her auf Jerusalem vorrücken würde. Im Bellum lässt Josephus zahlreiche Orte befestigen und trainiert seine Kämpfer nach römischer Art. Louis H. Feldman kommentiert: Natürlich sei es möglich, dass Josephus große militärische Leistungen vollbrachte, genauso gut könne er aber antike Militärhandbücher bei der Abfassung des Bellum abgeschrieben haben, da sein Bericht über die eigenen Maßnahmen dem dort empfohlenen Vorgehen auffällig entspreche. Die Vita erzählt, wie politische Gegner Josephus mehrfach in Bedrängnis brachten, er aber die Situation jedes Mal zum eigenen Vorteil wandelte. Im Sinne seines Geheimauftrags geht es in der Vita nicht um eine effektive Verteidigung Galiläas, sondern um ein Ruhighalten der Bevölkerung und Abwarten, was die römische Armee unternehmen würde, und so zieht ihr Held anscheinend planlos wochenlang von Dorf zu Dorf. Was der historische Josephus zwischen dem Dezember 66 und dem Mai 67 tat, kann nur vermutet werden. So nimmt Seth Schwartz an, dass er einer von mehreren jüdischen Warlords gewesen sei, die in Galiläa konkurrierten, ein „auf eigene Faust handelnder Abenteurer“ und damit weniger Repräsentant staatlicher Ordnung als Symptom für das politische Chaos. In Galiläa gab es schon vor Kriegsbeginn bewaffnete Gruppen. Josephus habe versucht, aus diesen unorganisierten Banden ein Söldnerheer zu schaffen. Damit sei er ziemlich erfolglos gewesen und habe mit seiner Miliz von einigen hundert Leuten nur eine schmale Machtbasis in dem Ort Tarichaeae am See Genezareth gehabt, so Schwartz. Er stützt seine Analyse auf die Vita: Sepphoris, eine von zwei wichtigen Städten Galiläas, blieb strikt romtreu. Tiberias, die andere größere Stadt, entschied sich für den Widerstand, aber unterstellte sich nicht dem Kommando des Josephus. „Die ländlichen Gegenden beherrschte eine wohlhabende und gut vernetzte Persönlichkeit“, nämlich Johannes von Gischala. Er war später einer der führenden Verteidiger Jerusalems, wurde im Triumphzug der Flavier mitgeführt und verbrachte den Rest seines Lebens in römischer Kerkerhaft. Im Frühjahr und Sommer des Jahres 67 trafen drei römische Legionen in Galiläa ein, verstärkt durch Hilfstruppen und Heere von Klientelkönigen, insgesamt rund 60.000 Soldaten unter dem Kommando des Vespasian. Dieser Übermacht konnten die Aufständischen nicht in einer Schlacht gegenübertreten. Josephus hatte aber wohl wirklich vor, die römische Armee aufzuhalten. Nachdem er Gabara eingenommen hatte, rückte Vespasian in Richtung auf Jotapata vor. Josephus kam ihm von Tiberias her entgegen und verschanzte sich in dieser Bergfestung. Die Entscheidung, gerade hier den Kampf mit Rom zu suchen, zeigt Josephus’ militärische Unerfahrenheit. Die Verteidigung von Jotapata stellt Josephus im Bellum ausführlich dar. 47 Tage hielt Jotapata der Belagerung stand, wurde aber schließlich erobert. Was dann folgt, macht den Eindruck einer literarischen Fiktion: Josephus habe sich „mitten durch die Feinde hindurchgestohlen“ und sei in eine Zisterne gesprungen, von dort in eine Höhle gelangt, wo er auf 40 vornehme Jotapatener traf. Zwei Tage harrten sie aus, dann wurde ihr Versteck verraten. Ein römischer Freund des Josephus überbrachte das Angebot Vespasians: Kapitulation gegen Leben. Josephus habe sich nun auf sein Priestertum besonnen, seine Qualifikation, heilige Schriften zu interpretieren und prophetische Träume zu empfangen. Er betete: Von prophetischen Träumen war bisher keine Rede, und das Anrufen Gottes zum Zeugen gehört nicht zum Gebets-, sondern zum Eidesformular: Diese Elemente begründen für den Leser, warum Josephus nicht heroisch sterben, sondern überleben muss. Josephus ergibt sich wohlgemerkt nicht deshalb, weil Widerstand gegen Rom sinnlos wäre, sondern weil er eine prophetische Botschaft auszurichten hat. Die 40 Jotapatener waren aber zum Selbstmord entschlossen. Josephus schlug vor, das Los entscheiden zu lassen, wer als nächstes getötet werden sollte. Josephus und ein Mann, den er vereinbarungsgemäß hätte umbringen müssen, blieben als letzte übrig und ergaben sich den Römern. Dass Josephus das Losverfahren manipulierte, ist ein naheliegender Verdacht; ausdrücklich steht das allerdings nur in der mittelalterlichen altslawischen Übersetzung des Bellum. Im römischen Lager Gefangener Vespasians Laut Josephus begab sich Vespasian schon wenige Tage nach dem Fall Jotapatas nach Caesarea Maritima. Dort verbrachte Josephus zwei Jahre als Kriegsgefangener in Ketten. Da er ein Usurpator war, hatte für Vespasians späteres Kaisertum die Legitimation durch Gottheiten große Bedeutung. Und er erhielt solche Omina, unter anderem vom Gott der Juden. Tacitus erwähnte das Orakel auf dem Berg Karmel und ließ die Prophezeiung des Josephus aus. Durch Erwähnungen bei Sueton und Cassius Dio ist aber wahrscheinlich, dass „Josephus’ Spruch in die offizielle römische Omina-Liste Eingang gefunden hat.“ Wenn man die Datierung von Josephus’ Gefangennahme ins Jahr 67 akzeptiert, so sprach er Vespasian zu einem Zeitpunkt als künftigen Kaiser an, als Neros Herrschaft zwar ins Wanken geraten, Vespasians Aufstieg aber noch nicht absehbar war. Der Text des Bellum ist verderbt; Reinhold Merkelbach schlägt eine Konjektur vor und paraphrasiert den im Orakelstil gehaltenen Spruch des Josephus so: Man hat vermutet, dass Josephus ihm nur militärischen Erfolg vorhergesagt habe, oder dass Vespasian bereits zu diesem Zeitpunkt entsprechende Ambitionen hegte und die Prophezeiung in einer Art kreativem Zusammenwirken zwischen dem Feldherrn und seinem Gefangenen entstand. Wie die Darstellung bei Sueton und Cassius Dio zeigt, hatte Josephus die Erfüllung seiner Prophezeiung mit seinem Statuswechsel in der Weise verknüpft, dass Vespasian ihn freilassen musste, um die Prophezeiung für sich nutzen zu können. Andernfalls wäre Josephus’ Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen, entwertet worden. Am 1. Juli 69 proklamierten die in Ägypten stationierten Legionen Vespasian als Kaiser. Die Freilassung des Josephus erfolgte im Anschluss daran. Seine Kette wurde mit einer Axt durchschlagen, um das Stigma der Gefangenschaft zu entfernen. Vespasian nahm ihn im Oktober 69 als Symbol seines legitimen Anspruchs auf den Thron mit nach Ägypten. Er weilte etwa acht Monate in Alexandria, wahrte so Distanz zu den Grausamkeiten des Bürgerkriegs und wartete die Entwicklung in Rom ab. Vespasian empfing weitere Omina und trat selbst als Wundertäter auf. Man sieht darin Inszenierungen und Propagandamaßnahmen zugunsten des künftigen Kaisers. In dieser Phase gab es wohl kaum Kontakte mit Josephus, der die Zeit privat nutzte und eine Alexandrinerin heiratete. Im Gefolge des Titus Mit Titus kam Josephus im Frühjahr 70 von Ägypten nach Judäa und war Zeuge der Belagerung Jerusalems. Er diente den Römern als Dolmetscher und befragte Überläufer und Gefangene. Josephus schrieb, er sei durch beide Kriegsparteien in Gefahr gewesen. Die Zeloten versuchten, ihn, den Verräter, in ihre Gewalt zu bekommen. Andererseits missbilligten einige Militärangehörige, dass sich Josephus im römischen Lager aufhielt, denn er bringe Unglück. Josephus legte Wert darauf, dass er sich nicht an Plünderungen im eroberten Jerusalem beteiligt habe. Titus habe ihm erlaubt, sich aus den Trümmern zu nehmen, was immer er wolle. Er habe aber nur gefangene Jerusalemer aus der Sklaverei freigebeten und „heilige Bücher“ aus der Kriegsbeute als Geschenk erhalten. Steve Mason kommentiert: Das Interesse an Büchern zeichnete Josephus stets aus, und die Zerstörung Jerusalems und des Tempels habe manch wertvolles Manuskript der Privatbibliothek des Josephus hinzugefügt. Mit dem Freibitten von Kriegsgefangenen erwies sich Josephus als aristokratischer Wohltäter seiner Freunde. Auch seinen Bruder Matthias konnte er auf diese Weise retten. Schriftsteller im Rom der Flavier Die Bevölkerung in der Metropole Rom war sehr heterogen. Glen W. Bowersock hebt eine Zuwanderergruppe hervor: Eliten aus den Provinzen, die von Angehörigen der römischen Verwaltung nach Rom „transplantiert“ wurden, um im Sinne ihres Patrons literarische Werke zu verfassen. Dionysios von Halikarnassos verfasste eine monumentale Geschichte Roms, während Nikolaos von Damaskus eine Weltgeschichte verfasste, die Josephus später ausgiebig benutzte. Beide können als Rollenvorbilder für Josephus gesehen werden. Josephus kam im Frühsommer 71 in Rom an. Als einer von vielen Klienten des flavischen Kaiserhauses wurde für seine Unterbringung gesorgt. Da er nicht in der kaiserlichen Residenz auf dem Palatin wohnte, sondern in der Domus der Flavier auf dem Quirinal, kann man daraus nicht schließen, dass Josephus leichten Zugang zum Kaiserhaus hatte und politischen Einfluss ausüben konnte. Sueton erwähnte, dass Vespasian lateinischen und griechischen Rhetoren jährlich hundert Silberdenare zugeteilt habe. Man nimmt an, dass auch Josephus in den Genuss dieser kaiserlichen Pension kam. Die Vergünstigungen, die Josephus in der Vita aufführte, reihten ihn nach Meinung von Zvi Yavetz unter Mediziner, Magier, Philosophen und Spaßmacher ein – die weniger wichtigen Personen in der Entourage des Titus. Der Triumph, den Vespasian und Titus im Jahr 71 in Rom für ihren Sieg über Judäa feierten, wurde von Josephus besonders farbig und detailreich beschrieben. Es ist die umfassendste zeitgenössische Beschreibung eines kaiserzeitlichen Triumphzugs. Für die große jüdische Bevölkerung Roms muss dieses Ereignis schwer erträglich gewesen sein. Umso erstaunlicher ist, dass Josephus den Feierlichkeiten im Bellum eine fröhliche Note gab und die im Tempel erbeuteten Kultgeräte als Hauptattraktionen darstellte. Anscheinend fand er einen gewissen Trost darin, dass Schaubrottisch und Menora später im Templum Pacis an einem würdigen Ort aufgestellt waren. Der Tempelvorhang und die Torarolle wurden nach dem Triumph im kaiserlichen Palast aufbewahrt, insofern von Vespasian unter seinen Schutz genommen – wenn man versuchte, dem etwas Positives abzugewinnen. Josephus’ Beschreibung des Triumphs im Bellum hob die Traditionstreue der Flavier hervor (was deren Selbstverständnis entsprach); die Gebete und Opfer, die den Triumphzug begleiteten, geschahen laut Josephus genau nach alter römischer Sitte – dass sie zum Kult des Jupiter Capitolinus gehörten, blendete er aus. Man kann vermuten, dass er, der Vespasian das Kaisertum prophezeit hatte, im Triumphzug auch zur Schau gestellt wurde; darüber verlautet aber bei Josephus nichts. Hannah M. Cotton und Werner Eck zeichnen das Bild eines in Rom vereinsamten und sozial isolierten Josephus; symptomatisch dafür sei die Widmung dreier Werke in den 90er Jahren an einen Mäzen namens Epaphroditos. Dabei könne es sich nicht um den gleichnamigen Freigelassenen Neros handeln, denn der fiel etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen von Josephus’ Werken in Ungnade. Wahrscheinlich sei Epaphroditos von Chaeronea gemeint – hochgebildet und wohlhabend, aber kein Mitglied der sozio-politischen Elite. Auch Jonathan Price vermutet, dass Josephus keinen Zugang zu literarischen Zirkeln der Hauptstadt fand, schon allein, weil sein Griechisch nicht so makellos war, dass er in diesen Kreisen eigene Texte hätte vortragen können. Etwas anders urteilt Eran Almagor: An sich wurde hohe Sprachbeherrschung in der Zweiten Sophistik zwar vorausgesetzt. Aber auch Nicht-Muttersprachler konnten Erfolg haben, wenn sie ihre Außenseiterrolle und damit auch die Originalität (oder Hybridität) ihres Werks selbstbewusst thematisierten. Tessa Rajak weist darauf hin, dass Josephus, als er in Rom wohnte, weiterhin Verbindungen in den östlichen Mittelmeerraum hatte: durch seine Landgüter in Judäa, vor allem aber durch seine Ehe mit einer vornehmen Jüdin aus Kreta. Josephus’ Werk enthält keine Information dazu, unter welchen Umständen er diese Frau bzw. ihre Familie kennenlernte. Ehen und Kinder Josephus erwähnte seine Ehefrau und seine Mutter beiläufig in einer (literarischen) Rede, die er den Verteidigern des belagerten Jerusalems hielt. Beide befanden sich in der Stadt und starben offenbar dort. Als Josephus in römischer Gefangenschaft war, veranlasste Vespasian, dass er „ein einheimisches Mädchen von den kriegsgefangenen Frauen aus Caesarea“ heiratete. Als Priester hätte Josephus die Ehe mit einer Kriegsgefangenen eigentlich nicht eingehen dürfen. Diese Frau trennte sich später auf eigene Initiative von Josephus, als dieser freigelassen wurde und Vespasian nach Alexandria begleitete. Er ging darauf in Alexandria die dritte Ehe ein. Josephus und die anonyme Alexandrinerin hatten drei Kinder, von denen ein Sohn Hyrkanos (geboren 73/74) das Erwachsenenalter erreichte. Als er dann in Rom wohnte, schickte Josephus seine Frau fort, da ihm ihre „Charaktereigenschaften […] missfielen“. Er heiratete ein viertes Mal; diese Ehe beschreibt er als glücklich: Seine Frau war „in Kreta zu Hause, von Geburt aber Jüdin […], ihre Eltern waren überaus vornehm […], ihr Charakter zeichnete sie vor allen Frauen aus […].“ Aus dieser Ehe stammten zwei Söhne namens Justus (geboren 76/77) und Simonides Agrippa (geboren 78/79). Es ist kein Zufall, dass Josephus die Namen der Frauen in seiner Familie verschweigt. Das entspricht der römischen Gepflogenheit, Frauen nur mit dem Namen ihrer gens zu bezeichnen. Letzte Lebensjahre In der Vita erwähnt Josephus den Tod Herodes Agrippas II. Photios I. notierte im 9. Jahrhundert, Agrippas Todesjahr sei das „dritte Jahr Trajans“, d. h. das Jahr 100. Davon ist die in der Literatur oft zu findende Angabe abgeleitet, Flavius Josephus sei nach 100 n. Chr. verstorben. Jedoch datieren viele Historiker den Tod des Agrippa auf 92/93. Dann ist wahrscheinlich, dass Flavius Josephus noch vor dem Sturz Domitians (8. September 96) verstarb oder zumindest seine schriftstellerische Tätigkeit beendete. Dafür spricht, dass sich in seinem Werk keine Bezugnahme auf die Kaiser Nerva oder Trajan findet. Werk Sprachkenntnisse Josephus wuchs zweisprachig aramäisch-hebräisch auf. Er eignete sich bereits in früher Kindheit gute griechische Sprachkenntnisse an, erhielt aber wohl keinen literarisch-rhetorischen Unterricht. Nach eigener Einschätzung beherrschte er Griechisch schriftlich besser als mündlich. Seine Werke sind typische Beispiele für den Attizismus, wie er als Reaktion auf das Koine-Griechisch in der Kaiserzeit kultiviert wurde. Nach dem sehr guten Griechisch des Bellum fallen Antiquitates und Vita qualitativ ab; mit Contra Apionem wird noch einmal ein höheres Sprachniveau erreicht. Da er in Rom wohnte, waren Lateinkenntnisse für Josephus unverzichtbar. Er thematisierte sie nicht, aber die Indizien sprechen dafür: Alle griechischen Schriften des Josephus zeigen einen starken Einfluss des Lateinischen, sowohl auf die Syntax als auch auf das Vokabular. Dieser blieb konstant hoch, während die aramäische Färbung im Lauf der Zeit nachließ. Aramäisches Erstlingswerk Im Vorwort des Bellum erwähnte Josephus, dass er zuvor eine Schrift über den Jüdischen Krieg „für die innerasiatischen Nichtgriechen in ihrer Muttersprache zusammengestellt und übersandt“ habe. Diese Schrift ist nicht erhalten, sie wird nirgendwo sonst erwähnt oder zitiert. Es könnte sich dabei z. B. um eine Gruppe von aramäischen Briefen handeln, die Josephus vielleicht noch während des laufenden Krieges an Verwandte im Partherreich richtete. Jonathan Price merkt hierzu an, dass Josephus sein erstes Publikum im Osten gesucht habe. Er vermutet, dass Josephus auch später in Rom bei Lesern mit Wurzeln im östlichen Mittelmeerraum am ehesten Erfolg hatte. Die ältere Forschung nahm an, dass Josephus’ Werke als Auftragsarbeiten der flavischen Propaganda entstanden seien. Ein griechisch verfasster Text wäre im Partherreich allerdings ohne weiteres verständlich gewesen und seine politische Botschaft leichter kontrollierbar. Das macht eine aramäische Propagandaschrift unplausibel. Jüdischer Krieg (Bellum Judaicum) Bald nach seiner Ankunft in Rom (71 n. Chr.) begann Josephus, wohl aus eigenem Antrieb, mit der Arbeit an einem Geschichtswerk über den Jüdischen Krieg. Mitarbeiter „für die griechische Sprache“ unterstützten ihn, wie er später rückblickend schrieb. Die Forschungsmeinungen zum Beitrag dieser Mitarbeiter gehen weit auseinander: Vertreter der Maximalposition nehmen an, dass Unbekannte mit klassischer Bildung erheblich am Text mitgeschrieben hätten. Eine Minimalposition dagegen wäre die Annahme, Josephus habe seine Texte vor Veröffentlichung sicherheitshalber auf sprachliche Fehler durchsehen lassen. Das Bellum ist jedenfalls keine erweiterte Übersetzung aus dem Aramäischen, sondern ein von vornherein für ein römisches Publikum entworfenes Werk. Wenn die Schriftstellerei seine eigene Idee war, heißt das nicht, dass Josephus objektiv über den Krieg schreiben konnte oder wollte. Da er in einem Klientenverhältnis zu den Flaviern stand, war es selbstverständlich, sie positiv darzustellen. „Das flavische Haus musste als nicht befleckter Sieger aus dem Konflikt mit dem jüdischen Volk hervorgehen,“ so Werner Eck. Die Hauptschuld hatten demnach die frevlerischen Zeloten, die den Tempel immer mehr besudelten und die ganze Jerusalemer Bevölkerung mit sich ins Verderben rissen: Aber Rom sollte eine Mitschuld am Ausbruch des Krieges haben. Josephus ließ im Bellum eine Reihe von unfähigen Präfekten auftreten, weil er nicht wagen konnte, ihre Vorgesetzten zu kritisieren, die senatorischen Statthalter von Syrien. Josephus bekannte sich im Vorwort zur akribisch-genauen Geschichtsschreibung in der Art eines Thukydides, kündigte aber auch an, über das Unglück seiner Heimat klagen zu wollen – ein deutlicher Stilbruch, der nicht jedem antiken Leser gefallen haben dürfte. Seine dramatisch-poetische Geschichtsschreibung erweiterte die etablierte Form der Kriegsdarstellung um die Perspektive der leidenden Bevölkerung. Blut fließt in Strömen, am See Genezareth und in den Gassen Jerusalems verwesen die Leichen. Josephus verband Selbsterlebtes und Symbolisches zu eindrücklichen Bildern der Kriegsgräuel: Ausgehungerte Flüchtlinge essen sich gierig satt und sterben am Übermaß. Auxiliarsoldaten schlitzen Überläufern den Leib auf, weil sie Goldmünzen in den Eingeweiden zu finden hoffen. Die vornehme Jüdin Maria schlachtet ihren Säugling und kocht ihn. Das Titusbild des Josephus ist ambivalent. Für die Grausamkeit, die diesem nachgesagt wurde, liefert das Bellum Anschauungsmaterial und zugleich Entschuldigungen. Ein Beispiel: Titus schickt täglich Reiterabteilungen aus, um arme Jerusalemer aufzugreifen, die sich auf Nahrungssuche aus der Stadt gewagt haben. Diese lässt er foltern und dann in Sichtweite der Stadt kreuzigen. Titus habe Mitleid mit diesen Menschen gehabt, aber er habe sie ja nicht ziehen lassen können, so viele Gefangene könne man nicht bewachen, und schließlich: Ihr qualvoller Tod sollte die Verteidiger Jerusalems zur Aufgabe bewegen. Das Bellum hält nämlich die Fiktion aufrecht, dass (dank der Milde des Titus) alles hätte gut werden können, wenn nur die Zeloten eingelenkt hätten. Dass Titus den Tempel habe schonen wollen, zieht sich als Leitmotiv durch das gesamte Werk, während alle anderen antiken Quellen den Schluss nahelegen, dass Titus den Tempel zerstören ließ. Um Titus von der Verantwortung für den Tempelbrand zu entlasten, nahm Josephus in Kauf, die Legionäre beim Vordringen aufs Tempelgelände als undiszipliniert darzustellen. Das wiederum stellte Titus und seinen Kommandeuren kein gutes Zeugnis aus. Die Mehrheit der heutigen Historiker hält wie bereits Jacob Bernays und Theodor Mommsen die Darstellung des Josephus für unplausibel und gibt der Version des Tacitus, die durch Sulpicius Severus überliefert ist, den Vorzug. Dass dies die offizielle Version war, zeigt auch eine beim Triumphzug mitgeführte Schautafel mit Darstellung des Tempelbrands. Tommaso Leoni vertritt die Minderheitsmeinung: Der Tempel sei gegen den Willen des Titus durch kollektive Disziplinlosigkeit der Soldaten niedergebrannt worden, aber nach der Einnahme der Stadt sei eine Belobigung der siegreichen Armee die einzige Möglichkeit gewesen. Was geschehen war, sei im Nachhinein als befehlsgemäß interpretiert worden. Josephus brachte sein Werk nach Fertigstellung auf die übliche Weise in Umlauf, indem er Kopien an einflussreiche Personen verteilte. Titus sei vom Bellum so angetan gewesen, dass er es zum maßgeblichen Bericht über den Jüdischen Krieg erklärte und mit seiner Unterschrift veröffentlichen ließ, so die Vita. James Rives vermutet, dass Titus zunehmend daran interessiert war, als gnädiger Caesar zu gelten, und daher das Bild billigte, das Josephus im Bellum von ihm entwarf. Das letzte im Buch erwähnte Datum ist die Einweihung des Templum Pacis im Sommer 75. Da Vespasian im Juni 79 starb, war Josephus’ Werk offenbar schon vor diesem Datum so weit fertiggestellt, dass er es ihm präsentieren konnte. Jüdische Altertümer (Antiquitates Judaicae) Josephus gab an, dieses umfangreiche Werk im 13. Jahr der Herrschaft Domitians (93/94 n. Chr.) abgeschlossen zu haben. Er konzipierte die 20 Bücher der Jüdischen Altertümer nach dem Vorbild der Römischen Altertümer, die Dionysios von Halikarnassos ein Jahrhundert vor ihm verfasst hatte, ebenfalls 20 Bücher. Altertümer (ἀρχαιολογία archaiología) hat hier den Sinn von Frühgeschichte. Das Hauptthema der Antiquitates wird am Anfang programmatisch vorgestellt: Aus dem Lauf der Geschichte könne der Leser erkennen, dass die Befolgung der Tora (der „vortrefflichen Gesetzgebung“) zu einem gelingenden Leben verhelfe (εὐδαιμονία eudaimonía „Lebensglück“). Josephus zufolge sollten sich Juden und Nichtjuden gleichermaßen daran orientieren. Von der Schöpfung bis zum Vorabend des Krieges gegen Rom (66 n. Chr.) wird die Geschichte in chronologischer Ordnung erzählt. Dabei folgte Josephus zunächst der biblischen Darstellung, deren Stoffe er teilweise neu arrangierte. Obwohl er behauptete, er habe die heiligen Texte genau übersetzt, war seine eigene Leistung in den Antiquitates nicht Übersetzung, sondern freie, am Publikumsgeschmack orientierte Nacherzählung. Sprachkenntnis und Zugang zum hebräischen Text hatte er wohl, aber er nutzte bereits existierende griechische Übersetzungen, weil das seine Arbeit erheblich erleichterte. Er markierte in Buch 11 nicht, wo seine Bibel-Paraphrase endet, und erweckte so den Eindruck, die Antiquitates seien insgesamt eine Übersetzung jüdischer heiliger Schriften ins Griechische. Josephus musste in seiner Darstellung der Hasmonäer (Bücher 12–14) den naheliegenden Gedanken abwehren, dass ihr Freiheitskampf gegen die Seleukiden 167/166 v. Chr. mit dem Aufstand der Zeloten gegen Rom 66 n. Chr. vergleichbar sei. Die wichtigste Quelle ist das 1. Buch der Makkabäer (1 Makk), das Josephus in griechischer Übersetzung vorlag. Dieses Werk ist wahrscheinlich noch unter der Regierung des Johannes Hyrkanos oder in den ersten Jahren des Alexander Jannäus niedergeschrieben worden (um 100 v. Chr.). Es stand im Dienst der hasmonäischen Herrschaftslegitimation; für 1 Makk waren die Hasmonäer keine Partei, die mit anderen konkurrierte, sondern Kämpfer für „Israel“, ihre Anhänger waren das „Volk“, ihre innenpolitischen Gegner sämtlich „Gottlose“. Josephus behauptete in der Vita, mit den Hasmonäern verwandt zu sein, und gab seinem Sohn den dynastischen Namen Hyrkanos. Aber in den Antiquitates entfernte er die dynastische Propaganda, die er in 1 Makk las. Josephus definierte in Contra Apionem, was aus seiner Sicht einen Krieg legitimierte: „Die übrigen Beeinträchtigungen ertragen wir gelassen, doch sobald jemand uns zum Antasten unserer Gesetze zwingen will, fangen wir Kriege an auch als die Schwächeren, und bis zum Äußersten halten wir im Unglück aus.“ Diese Motive trug Josephus in seine Paraphrase von 1 Makk ein. Erkämpft wurde also die Freiheit, nach den traditionellen Gesetzen zu leben – wenn nötig, auch zu sterben. Das Bild des Dynastiegründers Simon ist weniger euphorisch als in 1 Makk; Johannes Hyrkanos wird zwar als Herrscher gewürdigt, sein Regierungshandeln im Einzelnen aber kritisiert. Bei Alexander Jannäus relativieren seine Grausamkeit und die unter seiner Regierung zunehmenden innenpolitischen Spannungen die territorialen Gewinne, die er mit seiner aggressiven Außenpolitik erzielte. Während er für die Regierungszeit des Herodes (Bücher 15–17) die Weltgeschichte des Nikolaos von Damaskus nutzen konnte, stand ihm für die Folgezeit keine so hochwertige Quelle zur Verfügung. Buch 18, das die Zeit des Jesus von Nazareth und der Urgemeinde behandelt, ist daher „Patchwork“. Zu Pontius Pilatus, der schon im Bellum als einer der Präfekten der Vorkriegszeit erwähnt wurde, hatte Josephus relativ viele Informationen. Daniel R. Schwartz vermutet, dass er in Rom Archivalien einsehen konnte, die im Zusammenhang mit der Anhörung des Pilatus über seine Amtsführung entstanden waren. In der historisch-kritischen Exegese des Neuen Testaments besteht weitgehender Konsens, dass die Erwähnung des Jesus von Nazareth (Testimonium Flavianum) in der Spätantike christlich überarbeitet wurde. Der ursprüngliche Text des Josephus ist nicht sicher rekonstruierbar. Es ist aber nach Friedrich Wilhelm Horn wahrscheinlich, dass Josephus an dieser Stelle etwas zu den stadtrömischen Christen sagen wollte, von denen er in den Jahren seines Romaufenthalts gehört hatte. Er habe außerdem noch von früher her Informationen über Jesus gehabt, die ihn in Galiläa oder Jerusalem erreichten. Josephus stelle etwas verwundert fest, dass der „Stamm der Christen“ Jesus noch immer verehrte, obwohl er doch gekreuzigt worden sei. Allerdings ist das Testimonium Flavianum nicht gut in den Kontext eingebettet. Eine vollständige christliche Interpolation sei zwar unwahrscheinlich, so Horn, aber nicht auszuschließen. Johannes der Täufer lehrte nach der Darstellung des Josephus eine ethische Lebensführung. Auch Josephus berichtet wie die synoptischen Evangelien darüber, dass Herodes Antipas den Täufer hinrichten ließ und dass viele Zeitgenossen diese Exekution kritisierten. Einen Zusammenhang zwischen Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth stellte Josephus nicht her. Im Gegensatz zum Testimonium Flavianum ist die Authentizität von Josephus’ Beschreibung des Täufers sehr wahrscheinlich. Dafür spricht sowohl ihre frühe Bezeugung bei Origenes, ihr typisch josephisches Vokabular und ihr Inhalt, der sich vom Täuferbild des Neuen Testaments markant unterscheidet. Aus meinem Leben (Vita) Das Verfassen einer Autobiografie kam in den letzten Jahrzehnten der römischen Republik in Mode; die Vita des Josephus „stellt das älteste [erhaltene] Beispiel ihrer Gattung dar.“ Der Hauptteil befasst sich mit den wenigen Monaten, die der Verfasser als Militärführer in Galiläa zubrachte. Die römische Belagerung Jotapatas und die Gefangennahme des Josephus lässt die Vita aus. Sprachlich ist die Vita das schlechteste von Josephus’ Werken. Was Josephus mit diesem anscheinend eilig zusammengeschriebenen Text bezweckte, ist unklar. Er ist als Anhang zu den Antiquitates konzipiert, wurde also 93/94 n. Chr. oder kurz danach niedergeschrieben. Anzunehmen ist, dass die Vita sich genauso wie dieses große Werk an gebildete Nichtjuden in Rom wandte, die die jüdische Kultur interessant fanden. Die Vita rechnet durchgängig damit, dass das Publikum mit einem Aristokraten sympathisiert, der eine paternalistische Fürsorge für die einfachen Leute hat und sie deshalb mit taktischen Manövern ruhig zu halten versucht. Der Großteil der Autobiographie ist der Auseinandersetzung mit Justus von Tiberias gewidmet. Dabei fallen zahlreiche Widersprüche zu Josephus’ Darstellung der Ereignisse in seinem Werk Der Jüdische Krieg auf. In seiner Vita verteidigt sich Josephus gegen Vorwürfe von Justus, die Juden während des Aufstandes an Rom verraten zu haben. Allerdings war von Josephus in Rom bekannt, dass er ein Militärführer der Aufständischen gewesen war, und nach seiner Eigendarstellung im Bellum sogar ein besonders gefährlicher Gegner Roms. Justus konnte in den 90er Jahren niemanden damit schockieren, dass er behauptete, der junge Josephus sei antirömisch eingestellt gewesen. Steve Mason schlägt deshalb eine andere Interpretation vor: dass Josephus in der Vita ständig von Rivalen herausgefordert und mit Vorwürfen konfrontiert wird, diene dem Zweck, den guten Charakter (ἦθος ẽthos) des Helden umso besser herauszustellen. Denn Rhetorik braucht Gegenpositionen, die sie argumentativ überwinden kann. Insofern braucht der Josephus der Vita Feinde. Uriel Rappaport dagegen sieht die Selbstdarstellung im Bellum und in der Vita in der Persönlichkeit des Autors begründet. Dieser habe darunter gelitten, dass er als Militärführer versagt habe und seine Bildung nach jüdischen und römischen Kriterien nur mäßig gewesen sei. Darum habe er in der literarischen Figur „Josephus“ ein ideales Selbst geschaffen: die Person, die er gern gewesen wäre. Über die Ursprünglichkeit des Judentums (Contra Apionem) Das letzte Werk des Josephus, entstanden zwischen 93/94 und 96 n. Chr., setzt sich mit antiker Judenfeindschaft auseinander. In einem ersten Teil stellte Josephus heraus, dass das Judentum eine sehr alte Religion sei, obwohl es in den Werken griechischer Historiker nicht erwähnt wird (was nur deren Unwissenheit zeige). Sein Gegenüber waren die „klassischen Griechen“, nicht deren Nachkommen, Josephus’ Zeitgenossen. Um seine eigene Kultur zu verteidigen, griff er die kulturelle Vorherrschaft dieses Griechentums an. Im zweiten Hauptteil wandte sich Josephus den antijüdischen Klischees einzelner antiker Autoren zu. Darin eingeschoben ist eine positive Darstellung der jüdischen Verfassung (2,145–286), bei der die Stimmen der Kritiker zwischenzeitlich vergessen sind. Thematisch berührt sich dieser Teil mit der Darstellung des mosaischen Gesetzes in den Antiquitates, aber in Contra Apionem ist das jüdische Gemeinwesen weniger politisch als philosophisch aufgefasst. Josephus prägte dafür den Begriff Theokratie: Josephus verstand Theokratie anders als der heutige Sprachgebrauch: ein Staat, in dem die politische Macht beim Klerus liegt. „In der von Josephus gemeinten Theokratie dagegen übt Gott seine Herrschaft gewissermaßen ‚direkt‘ aus.“ Dieses Gemeinwesen ist eine literarische Größe, von Josephus mit Blick auf ein römisches Publikum entworfen und mit „Toga tragenden Juden“ bevölkert (John M. G. Barclay), die sich an eigentlich altrömischen Werten orientieren: Liebe zum Landleben, Treue zu den traditionellen Gesetzen, Pietät gegenüber den Toten, restriktive Sexualmoral. Wie sorgfältig Josephus seine Worte wählte, zeigt das Thema Bilderverbot. Die Gegenseite hatte kritisiert, dass Juden in ihren Synagogen für die Kaiser keine Statuen aufstellten. Josephus räumte ein: „Nun gut, Griechen und einige Andere meinen, es sei gut, Bilder aufzustellen.“ Dies habe Mose den Juden verboten. Das typisch römische Aufstellen von Statuen wird unter der Hand zur Sitte von „Griechen und einigen Anderen“. In Contra Apionem spielt der Autor immer wieder mit einem „Griechen“-Stereotyp: geschwätzig, unbeständig, unberechenbar und daher dem Rechtsdenken und der Würde, römischen Werten, entgegengesetzt (vgl. hierzu die rhetorische Strategie Ciceros in Pro Flacco). Andere Ehrenbezeugungen für die Kaiser und das Volk der Römer seien jedoch gestattet, vor allem die Opfer für den Kaiser. Josephus ignorierte, dass es den Tempel schon seit gut 20 Jahren nicht mehr gab. Er behauptete kontrafaktisch, dass dort auf Kosten aller Juden täglich für den Kaiser Opfer dargebracht würden. In Vorbereitung auf Contra Apionem hatte sich Josephus offenbar intensiv mit Werken jüdischer Autoren aus Alexandria befasst. Er gab seinem Spätwerk auch stilistischen Glanz und ein neues, frisches Vokabular (zahlreiche Hapax legomena), was im Vergleich mit der kurz zuvor geschriebenen, schlichten Vita auffällt. Wirkungsgeschichte Römische Leser Wenn diese Angabe des Eusebius von Caesarea überhaupt historisch verwertbar ist, war Josephus wohl eher wegen der Prophezeiung des Kaisertums für Vespasian bekannt denn als Autor. Die Spuren einer zeitgenössischen paganen Rezeption seines Werks sind nämlich gering. Gelegentliche Ähnlichkeiten zwischen dem Jüdischen Krieg und den Historien des Tacitus können auch damit erklärt werden, dass beide Autoren auf die gleichen Quellen zugriffen. Der Neuplatoniker Porphyrios zitierte einzelne Stellen des Bellum in seiner Schrift „Über die Enthaltung vom Beseelten“. Auch die Reden des Libanios (4. Jahrhundert) zeigen möglicherweise Kenntnisse von Josephus’ Werken. Christliche Leser Josephus’ Werke wurden von Autoren der Alten Kirche häufig benutzt und gelangten wohl jetzt erst, verstärkt seit dem 3. Jahrhundert, zu größerer Bekanntheit. Für die Beliebtheit seiner Schriften bei Christen lassen sich folgende Gründe anführen: Er war der einzige nicht-christliche zeitgenössische Autor, der Jesus von Nazareth erwähnte (Testimonium Flavianum). Sein Bericht über die Zerstörung Jerusalems und des Tempels ließ sich als Erfüllung einer Prophezeiung Jesu lesen. Ein Text wie gilt vielen historisch-kritischen Exegeten als Vaticinium ex eventu: Ein ursprüngliches eschatologisches Drohwort des Jesus von Nazareth wurde demnach unter dem Eindruck der Kriegsereignisse überformt. Für antike und mittelalterliche Theologen stellte sich das anders dar. Man konnte mit dem Bellum in der Hand beweisen, dass Jesu Worte sich buchstäblich erfüllt hatten. Dieses Argument findet man bei so verschiedenen Autoren wie Eusebius von Caesarea, Walahfrid Strabo, Johannes von Salisbury, Jacobus de Voragine oder Eike von Repgow sowie vielen Späteren. Das Testimonium Flavianum wurde in seiner Wirkungsgeschichte „weit in den Schatten gestellt durch eine Umdeutung großen Stils, die nur als pseudohistorisch bezeichnet werden kann,“ so Heinz Schreckenberg: die Behauptung eines Kausalzusammenhangs zwischen der Kreuzigung Jesu und der Zerstörung Jerusalems. Origenes beschuldigte Josephus, dass er verschleiere, warum Jerusalem wirklich zerstört worden sei: als göttliche Bestrafung der Juden für die Ablehnung von Jesus Christus. In immer neuen rhetorischen Varianten nahmen Autoren der Alten Kirche das Motiv einer Kollektivstrafe auf, beispielsweise Johannes Chrysostomos, der behauptete, Christus selbst habe Jerusalem zerstört und die Überlebenden in alle Länder zerstreut. Sie zögen nun als Flüchtlinge umher, „gehaßt von allen Menschen, verabscheuenswürdig, allen preisgegeben, von ihnen Schlimmes zu erleiden. Recht so!“ Sein Werk enthielt zahlreiche nützliche Informationen über die Umwelt des Neuen Testaments. Ein Beispiel: Für den christlichen Leser bereitete Josephus’ Beschreibung von Galiläa und insbesondere die fast paradiesisch geschilderte Landschaft am See Genezareth die Bühne für das Wirken von Jesus und seinen Jüngern. Diese Landschaftsbeschreibung (Ekphrasis) bildet im Bellum aber den Kontrast zu dem Blutbad, das die römische Armee binnen Kürze dort anrichten wird. Eusebius von Caesarea fand in Contra Apionem sowohl Argumente gegen pagane Religionen als auch Gründe für die Überlegenheit des Christentums über das Judentum. Mit seinem Spätwerk leistete Josephus Sprachhilfe für die sich neu formierende christliche Apologetik. Josephus hatte römische und jüdische Geschichte zueinander in Beziehung gesetzt. Es war für mittelalterliche Leser sehr reizvoll, Bibel und Antike zu einem Gesamtbild verbinden zu können. Aus der positiven Darstellung römischer Akteure bei Josephus ergab sich eine positive Sicht des paganen, vor-konstantinischen Rom, das als proto-christlich gesehen werden konnte. Die römischen Kaiser, die gen Jerusalem ziehen, um ein Strafgericht zu vollstrecken, waren Identifikationsfiguren der Kreuzfahrer. Explizit wird dieser Gedanke in der Papst Sergius IV. zugeschriebenen Kreuzzugs-Enzyklika, die den Kämpfern gegen die Muslime den gleichen Sündenerlass zusagte, wie ihn Vespasian und Titus durch die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. erlangt hätten. Wahrscheinlich entstand dieser Text erst in der Zeit des Ersten Kreuzzugs (1096–1099) in der Abtei Saint-Pierre (Moissac). Kaum erstaunlich, dass Chronisten der Kreuzzüge wie Fulcher von Chartres und Wilhelm von Tyros sich immer wieder auf Josephus bezogen, gern im Zusammenhang mit der Topografie des Heiligen Landes. Als Dominikaner und Franziskaner im 13. Jahrhundert Argumente zur Widerlegung des Talmud sammelten, wurde Josephus zum Kronzeugen. Er repräsentierte z. B. für Raymund Martini ein proto-talmudisches, „richtiges“ Judentum, auf das man sich berufen konnte, um zeitgenössische jüdische Glaubenspraxis als „falsch“ darzustellen – in letzter Konsequenz lieferte Josephus damit Gründe für Talmudverbrennungen. Der Umgang mit dem Werk des Josephus entsprach der ambivalenten Haltung christlicher Autoren zum Judentum insgesamt, das einerseits als Teil der eigenen Tradition beansprucht, andererseits abgelehnt wurde. Anders als Philon von Alexandria wurde Josephus nicht zum Christen erklärt, da sein Zeugnis über Jesus und die Urgemeinde mehr Wert hatte, wenn es das Votum eines Nichtchristen war. Gleichwohl stellte Hieronymus den Josephus wie einen Kirchenschriftsteller in seiner christlichen Literaturgeschichte (De viris illustribus) vor, und auch mittelalterliche Bibliothekskataloge ordneten die Werke des Josephus bei den Kirchenvätern ein. Noch in der modernen Edition lateinischer Kirchenschriftsteller Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum war Band 37 für die lateinische Übersetzung des Josephus vorgesehen; hiervon erschien nur der Teilband 37.6 mit dem Text des Contra Apionem. Lateinische Nachdichtung und Übersetzung Die Rezeption des Josephus in lateinischer Sprache geschah zweigleisig: bereits im 4. Jahrhundert entstand eine freie Paraphrase des Bellum (Pseudo-Hegesippus). Dieses Werk interpretiert die Zerstörung Jerusalems als göttliches Strafgericht über das jüdische Volk. Es gibt durchaus Stellen im Bellum, wo Josephus das Kriegsgeschehen so deutet, aber Pseudo-Hegesippus betonte diesen Gedanken stärker und ist nach der Analyse von Albert H. Bell weniger eine Josephus-Nachdichtung als ein eigenständiges Geschichtswerk. Etwas jünger sind die eigentlichen Übersetzungen ins Lateinische, die für die drei größeren Werke, aber nicht für die Vita vorliegen. Als erstes wurde das Bellum übersetzt. Die Übersetzungen der Antiquitates und Contra Apionem folgten, sie wurden in Cassiodors Kloster begonnen und Mitte des 6. Jahrhunderts abgeschlossen. Bekanntheit von Josephus’ Werk Es gibt 133 ganz oder teilweise erhaltene Manuskripte von Josephus’ Werken; die ältesten stammen aus dem 9./10. Jahrhundert. Auch Einträge in Bücherverzeichnissen und Zitate in Florilegien zeigen, wie verbreitet die Josephus-Lektüre im Mittelalter war. Typischerweise wurde das Testimonium Flavianum im Text besonders hervorgehoben, etwa durch rote Tinte. Josephus war ein viel gelesener Autor – vor dem Hintergrund, dass nur ein kleiner Teil der Christen lesen konnte. Peter Burke untersuchte die Rezeption antiker Historiker seit dem Aufkommen des Buchdrucks anhand der Auflagen, die ihre Werke erzielten. Für Josephus’ Bellum und Antiquitates ergibt sich folgendes Bild: Sämtliche lateinischen Autoren (außer Eutropius) hatten höhere Auflagen als die griechischen; bei den griechischen Editionen belegt Josephus die beiden ersten Plätze. Mitte des 16. Jahrhunderts erreichten Bellum und Antiquitates ihre höchste Popularität. Josephus’ Werke wurden außerdem deutlich häufiger in volkssprachlichen Übersetzungen gelesen als in griechischer oder lateinischer Fassung. Nach dem Konzil von Trient benötigten Bibelübersetzungen im römisch-katholischen Raum ab 1559 die Genehmigung des Heiligen Offiziums der Inquisition. Danach fanden italienische Josephus-Ausgaben auf dem venezianischen Büchermarkt sehr guten Absatz. Sie waren offenbar für viele Leser eine Art Bibelersatz. In den 1590er Jahren kamen auch Nacherzählungen der biblischen Geschichte auf den Index, aber nicht die Werke des Josephus selbst – jedenfalls nicht in Italien. Die spanische Inquisition war strenger und verbot die spanische Übersetzung der Antiquitates ab 1559 mehrfach. Dieses Werk erschien dem Zensor wohl als eine Rewritten Bible, während das Bellum eine in Spanien erlaubte Lektüre blieb. Die Josephus-Übersetzung von William Whiston, die seit ihrem Erscheinen 1737 immer wieder nachgedruckt wurde, entwickelte sich im englischsprachigen Raum zu einem Klassiker. In strengen protestantischen Kreisen war Whistons Josephus-Übersetzung neben der Bibel die einzige erlaubte Sonntagslektüre. Das zeigt, wie stark er als Bibelkommentar und Brücke zwischen Altem und Neuem Testament rezipiert wurde. Josephus’ Werke als Kommentar zur Bibel Hrabanus Maurus zitierte Josephus häufig, sowohl direkt als auch vermittelt durch Eusebius von Caesarea und Beda Venerabilis; seine Bibelauslegung ist eine Hauptquelle für den großen Standardkommentar der Glossa Ordinaria. Typisch für die frühmittelalterliche christliche Josephus-Rezeption ist, dass neben die Lektüre seiner Werke die Tradierung seiner Stoffe in Kompendien tritt: Josephus aus zweiter oder dritter Hand. Josephus’ Beschreibungen formten das Bild, das man sich beispielsweise von Salomo, Alexander dem Großen oder Herodes machte, und dass er biblische Personen hellenistisch als Kulturbringer interpretierte, ging in Lehrbücher ein und wurde dadurch Allgemeingut. Unter anderem bei Walahfrid Strabo findet sich das Motiv, dass 30 Juden für einen Denar in die Sklaverei verkauft worden seien, entsprechend den 30 Silberlingen, die Judas Iskariot für seinen Verrat erhielt (Talionsstrafe). Josephus geht mehrfach auf die Versklavung der Überlebenden ein, schreibt aber nicht, dass 30 Menschen nur einen Denar wert gewesen seien: ein Beispiel für den freien Umgang mit dem Josephustext im frühen Mittelalter. Nachdem Josephus im 10./11. Jahrhundert weniger gelesen worden war, nahm das Interesse an seinem Werk im 12. und 13. Jahrhundert in Nordwesteuropa sprunghaft zu. Aus dieser Zeit stammen die meisten Josephus-Manuskripte, mitunter kostbar illuminierte Exemplare. Anscheinend galten Josephus’ Werke als unverzichtbar in einer guten Bibliothek. Als Buchbesitzer begegnen dabei oft Personen, die mit dem Lehrbetrieb von Schulen verbunden waren, besonders in Paris. Andreas von St. Viktor und Petrus Comestor, zwei Viktoriner des 12. Jahrhunderts, nutzten die Werke des Josephus häufig. Im Bestreben, den Literalsinn des Bibeltextes umfassend zu erhellen, folgten sie dem Schulgründer Hugo von St. Viktor. Die intensive Josephus-Lektüre ging einher mit Hebräischstudien und der Auswertung anderer antik-jüdischer sowie patristischer Texte. Comestors Werk Historia Scholastica, das Josephus ausgiebig zitierte, wurde zum Standard-Lehrbuch für Studienanfänger. Volkssprachliche Übersetzungen oder Bearbeitungen vermittelten den Inhalt auch an interessierte Laien. Die Bibelwissenschaft nutzt heute neben Josephus viele weitere antike Texte; seit Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Kenntnis des antiken Judentums durch die Schriftrollen vom Toten Meer noch erheblich bereichert. Martin Hengel brachte die bleibende Bedeutung des Josephus für die neutestamentliche Exegese so auf den Punkt: Jüdische Leser Die rabbinische Literatur ignorierte Person und Werk des Josephus. Das ist aber nichts Besonderes, weil auch andere griechisch schreibende jüdische Autoren nicht gelesen wurden. Der Talmud überliefert die Legende, dass Jochanan ben Zakkai dem Feldherrn Vespasian das Kaisertum prophezeit habe (Gittin 56a–b), was sowohl Abraham Schalit als auch Anthony J. Saldarini zu Vergleichen zwischen Josephus und Jochanan ben Zakkai nutzten. Sefer Josippon – eine hebräische Nachdichtung Erst im frühen Mittelalter ist eine jüdische Rezeption von Josephus’ Werk nachweisbar. Im 10. Jahrhundert verfasste jemand unter dem Namen Josef ben Gorion in Süditalien in hebräischer Sprache eine eklektische Geschichte des Judentums vom Babylonischen Exil bis zum Fall von Masada. Dieses Werk wird als Josippon bezeichnet. Er benutzte mehrere lateinische Quellen, darunter Pseudo-Hegesippus. Den Text bearbeitete er in folgender Weise: Alle christlichen Interpretationen des Kriegsgeschehens wurden entweder ausgelassen oder umformuliert. Nicht die Kreuzigung Jesu ist Ursache für die Zerstörung des Tempels, sondern das Blutvergießen im Tempelbereich. Das komplette Kapitel, das Johannes den Täufer und Jesus von Nazareth erwähnt, ließ der Verfasser des Josippon aus. Mehrere Bibelkommentatoren benutzten den Josippon, während ein direkter Zugriff auf das Werk des Josephus bei ihnen nicht nachweisbar ist: Raschi, Saadja Gaon, Josef Kaspi, Abraham ibn Esra. Der Josippon wurde in jüdischen Gemeinden des gesamten Mittelmeerraums viel gelesen, was wiederum von der christlichen Umwelt bemerkt wurde. Hier galt der Josippon teilweise als das von Josephus erwähnte Erstlingswerk und wurde deshalb ins Lateinische übersetzt. Der italienische Humanist Giovanni Pico della Mirandola versuchte, den Josippon wegen seines vermeintlich hohen Quellenwerts auf Hebräisch zu lesen. Isaak Abrabanel, der spanisch-jüdische Gelehrte, zitierte in seinem Werk meist den Josippon, aber gelegentlich auch Josephus selbst (nach der lateinischen Übersetzung); damit steht er unter den jüdischen Bibelkommentatoren des Mittelalters einzig da. Abrabanels Werk wiederum wurde von christlichen Gelehrten studiert und ging beispielsweise in die Kommentare der englischen Josephus-Übersetzung von William Whiston ein (1737). Entdeckung von Josephus’ Werk im 16. Jahrhundert Azaria dei Rossi las Josephus’ Werke in lateinischer Übersetzung und erschloss sie als Quelle für die jüdische Geschichte des Altertums (Meʾor ʿEnajim, 1573–1575). Von nun an hatten auch jüdische Gelehrte Zugang zu Josephus und nicht nur zu Nachdichtungen. 1577 erschien in Konstantinopel eine hebräische Übersetzung von Contra Apionem, das Werk eines sonst nicht bekannten Arztes iberischer Herkunft namens Samuel Schullam. Diese antike Apologie des Judentums scheint Schullam sehr angesprochen zu haben; er übersetzte den lateinischen Text frei und aktualisierend. Dass Josephus z. B. meinte, die nicht-jüdischen Völker hätten die Befolgung des Sabbats, das Fasten, Lampenanzünden und die Speisegebote von ihren jüdischen Nachbarn gelernt, ergab für Schullam keinen Sinn: diese Lebensweise unterscheide Juden von ihrer Umwelt. David de Pomis veröffentlichte 1588 in Venedig eine Apologie, die sich stark auf Josephus’ Antiquitates stützte: Wenn nicht-jüdische Herrscher in der Antike der jüdischen Gemeinschaft Wohlwollen bewiesen und sie gerecht behandelt hätten, wofür er bei Josephus viele Beispiele fand, dann könnten christliche Obrigkeiten das doch umso eher. De Pomis’ Werk wurde auf den Index gesetzt, was seine Rezeption jahrhundertelang verhinderte. Haskala, Zionismus und Staat Israel Negative Urteile über die Persönlichkeit des Josephus sind bei den jüdischen wie christlichen Historikern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Regel. Unter denen, die Josephus schlicht für einen Verräter hielten, sind zum Beispiel Heinrich Graetz und Richard Laqueur. Autoren der Haskala wie Moshe Leib Lilienblum und Isaak Bär Levinsohn sahen Josephus mit seiner jüdisch-römischen Identität durchaus als Vorbild, wobei sie gleichzeitig mit den Zeloten sympathisierten. Ungewöhnlich ist das Urteil Joseph Klausners: Er identifizierte sich mit den Zeloten und sah Parallelen zwischen ihrem Unabhängigkeitskampf und dem zeitgenössischen Kampf gegen die britische Mandatsregierung. Trotzdem akzeptierte er Josephus’ Wechsel ins römische Lager, denn dieser sei ein Gelehrter und kein Kämpfer gewesen und habe alles seiner Mission untergeordnet, als Historiker das Geschehen für die Nachwelt festzuhalten. Zwischen den 1920er und 1970er Jahren gehörten Josephus-Prozesse als Improvisationstheater zum Programm zionistischer Erziehungsarbeit. Dabei war durchaus offen, wie die Sache für „Josephus“ ausging. Shlomo Avineri beschrieb eine derartige Veranstaltung der Herzlija-Ortsgruppe der sozialistischen Jugendorganisation No’ar ha-Oved, bei der es zwei Angeklagte gab: Josephus und Jochanan ben Zakkai – beide hatten das Lager der Widerstandskämpfer verlassen. Nach intensiven Verhandlungen wurden beide freigesprochen: Josephus wegen seiner historischen Werke und Jochanan ben Zakkai wegen seiner Verdienste um das Überleben des jüdischen Volkes nach der Niederlage. Die Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer führte in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Neubewertung des Josephus in Israel. Daniel R. Schwartz begründet das so: „Die Rollen – dem Boden Palästinas entsprungen just zu dem Zeitpunkt der israelischen Unabhängigkeitserklärung – waren in der zionistischen Argumentation brauchbar als Beweise dafür, dass jüdischer Ansprüche auf Palästina legitim seien, […] aber Bedeutung gewannen diese Texte erst durch die Erläuterung und den Kontext, den Josephus lieferte. Da war es schwierig, ihn weiterhin zu verdammen und zu schmähen.“ Auch die in der Öffentlichkeit stark beachteten Ausgrabungen in Masada unter Leitung von Yigael Yadin wurden interpretiert und populärwissenschaftlich aufbereitet mit massivem Rückgriff auf das Bellum. „Die berührende Geschichte vom Ende Masadas, erzählt vom tief ambivalenten Josephus, wurde Israels kraftvollstes Symbol und ein unverzichtbarer nationaler Mythos“ (Tessa Rajak). Seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973 änderte sich das gesellschaftliche Klima in Israel. Der Patriotismus der Gründerjahre wich, so Schwartz, einem pragmatischeren Blick auf militärische Unternehmungen. Ein Jude der Antike, der einen Kampf gegen Rom für aussichtslos hielt, konnte in den 1980er Jahren als Realist gelten. Als Abraham Schalit sich Anfang der 1970er Jahre in diesem Sinn äußerte, war das noch eine Einzelstimme. Josephus in Kunst und Literatur Bilder von Josephus Das klassische Autorenbild der neuzeitlichen Josephus-Drucke findet sich in William Whistons englischer Übersetzung der Antiquitates (1737). Josephus, ein aristokratisch wirkender alter Mann mit weißem Bart, ist mit einem pseudo-türkischen Turban mit Juwelen und Feder als Orientale gekennzeichnet. Spätere Josephus-Ausgaben variieren die Kopfbedeckung, folgen aber im Wesentlichen dem gleichen Bildschema. Die antike römische Büste eines Mannes in der Kopenhagener Ny Carlsberg Glyptotek wurde ab 1930 wiederholt als zeitgenössisches Porträt von Flavius Josephus interpretiert und wird bis heute häufig als solches zitiert. Zur Begründung wurden jedoch im Wesentlichen antisemitische Stereotype wie die Nasen- und Augenform des Porträtierten herangezogen, sodass die Identifikation als Josephus-Darstellung heute in der Wissenschaft nicht mehr vertreten wird und im Gegenteil als unbegründet und unwahrscheinlich gilt. Josephus in der Literatur Josephus’ Werk steuerte zahlreiche Einzelzüge zur Darstellung biblischer Stoffe in der Weltliteratur bei. Spezifisch josephisch sind die viel rezipierten, nichtbiblischen Erzählungen von Herodes und Mariamne I. wie auch Titus und Berenike. Mysterienspiele Das Bellum wurde im Mittelalter in volkssprachlichen Mysterienspielen rezipiert, die den Jüdischen Krieg als verdientes Strafgericht für die Kreuzigung Jesu deuteten. Ein Beispiel ist Eustache Marcadés La Vengeance de Nostre Seigneur Jhesu Crist. Hier tritt Josephus ungewöhnlicherweise als Militärführer auf; andere Vengeance-Spiele geben ihm die Rolle eines Arztes oder Magiers. Der Plot dieser Spiele ist oft folgender: Eine Herrscherfigur wird von einer rätselhaften Krankheit befallen und kann nur dadurch geheilt werden, dass sie Gottes Strafe an den Juden vollzieht. Quer durch Europa wurden Vengeance-Spiele mit großem Aufwand inszeniert. Das Motiv des Arztes Josephus ging in den Sachsenspiegel ein und begründete dort das königliche Judenschutzrecht: „Diesen Frieden erwirkte ein Jude, der Josephus hieß, bei König Vespasian, als er dessen Sohn Titus von der Gicht heilte.“ Historische Romane Die Josephus-Trilogie (1932–1942) Lion Feuchtwangers ist die wichtigste literarische Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Josephus. Der Autor zeichnet den Weg des Protagonisten vom jüdischen Nationalisten zum Kosmopoliten nach. Sein Josephus begeistert sich für das biblische Buch Kohelet und möchte seinen Sohn so erziehen, dass er „die vollendete Mischung aus Griechentum und Judentum“ darstellt. Doch Domitian sorgt dafür, dass Josephus’ Sohn bei einem fingierten Unfall zu Tode kommt. Josephus kehrt daraufhin nach Judäa zurück. Dort stirbt er: In seinem Roman „Die Quelle“ (The Source, 1965) erzählt der amerikanische Bestsellerautor James A. Michener die Geschichte der fiktiven Stadt Makor in Galiläa in 15 Episoden. In einer Episode leitet Josephus, „der beste Soldat, den die Juden jemals gehabt haben“ (S. 436), die Verteidigung Makors, flieht, geht nach Jotapata, rettet sich mit vierzig Überlebenden, manipuliert die Strohhalme, die die Reihenfolge der Tötungen bestimmen, so dass er als letzter übrigbleibt, und rettet sein Leben, indem er die Kaiserwürde für Vespasian und Titus voraussagt. Er wird so „zum Verräter der Juden Galilaeas“ (S. 463). Dramen In Friedrich Schillers Drama Die Räuber (1782) gibt es folgendes Wirtshausgespräch (1. Akt, 2. Szene): Karl Moor blickt von seiner Lektüre auf: „Mir ekelt vor diesem Tintenkleksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.“ Darauf Moritz Spiegelberg: „Den Josephus mußt du lesen. […] Lies den Josephus, ich bitte dich drum.“ Die Lektüre der „Räuber“-geschichten im Bellum ist hier Vorbereitung für die eigene Gründung einer Räuberbande. Da Schiller diese Anspielung nicht erläutert, ist ein Publikum vorausgesetzt, das mit dem Bellum gut vertraut ist. Alfred Bassermann vermutete, Schiller habe im Bellum „den Gedanken eines großartigen Räuberlebens und zugleich den Gegensatz der beiden Räuber-Typen, Spiegelbergs und Moors“ gefunden. Im 20. Jahrhundert entstanden mehrere Dramen, die sich mit der Persönlichkeit des Josephus und seiner Rolle im Jüdischen Krieg befassten, was der Bedeutung dieses Themas im Zionismus entspricht. Jitzchak Katzenelson schrieb 1941 im Warschauer Ghetto das jiddische Drama „In der Nähe von Jerusalem“ (ארום ירושלים Arum Yerushalayim). Katzenelson war eigentlich Hebraist; ein hebräisches Werk „Bei den Hirten: Eine Nacht in der Umgebung von Jerusalem“ (1931) wurde von ihm ins Jiddische übersetzt und auf die Ghetto-Situation hin aktualisiert. Neben anderen Personen der jüdischen Geschichte wird Josephus von einem Medium beschworen und von zionistischen Pionieren (Chalutzim) befragt: Wie ist sein politisches Handeln zu beurteilen, und was bedeuten seine Schriften für das Judentum? Josephus erscheint als vollkommen assimilierter Jude, der seinen Namen und seine priesterliche Herkunft vergessen hat. Die Ghetto-Situation wird mehrfach thematisiert: die Verpflichtung, das Geschehene für die Nachwelt zu bezeugen, das Wesen des Verrats und die Rechtfertigung des Verräters, die Bedeutung der Rebellenbewegung und des versuchten Aufstands. Katzenelson bezeichnete die Werke des Josephus respektvoll als Sforim (jiddisch: heilige Bücher), die zum Kanon der jüdischen Literatur gehörten. Ob die geplante Aufführung als Purimspiel stattfand, ist nicht bekannt. Nathan Bistritzky-Agmons hebräisches Drama „Jerusalem und Rom“ (ירושלים ורומי Yerushalayim veRomi) wurde 1939 als Buch veröffentlicht und 1941 vom Habimah-Theater uraufgeführt. Josephus tritt hier für die Versöhnung von Ost und West ein; er bittet Jochanan Ben Zakkai, nach Jerusalem zurückzukehren und die Zeloten aufzuhalten. Sowohl in Rom als auch in Jerusalem seien Fanatiker an der Macht. In der Darstellung des Josephus ist ein Einfluss Feuchtwangers erkennbar. Schin Schalom veröffentlichte 1956 in der Sammlung „Ba-metaḥ hagavoah, neun Geschichten und ein Drama“ (במתח הגבוה, תשעה סיפורים ומחזה) ein hebräisches Drama über Josephus’ Seitenwechsel in Jotapata, „Die Höhle des Josephus“. Auch dies ist eine überarbeitete Version eines bereits 1934/35 unter dem gleichen Titel veröffentlichten Werks. Einzelthemen der Josephus-Forschung Textforschung Mit dem einzigen erhaltenen Papyrusfragment mit Josephus-Text, Papyrus Vindobonensis Graecus 29810 (spätes 3. Jahrhundert n. Chr.), lässt sich gut illustrieren, dass der Unterschied zwischen den mittelalterlichen Manuskripten und dem ursprünglichen Text des Josephus erheblich ist: Das Fragment in der Österreichischen Nationalbibliothek stammt von einer Ausgabe des Bellum und enthält 112 Wörter ganz oder teilweise; neunmal weicht dieser Text von sämtlichen Manuskripten ab, die Benedikt Niese für seine wissenschaftliche Textedition zur Verfügung standen. Dabei ist das Bellum von den vier Werken des Josephus vergleichsweise am besten überliefert. Niese besorgte die bis heute maßgebliche Edition des griechischen Josephus-Textes, eine Ausgabe mit umfangreichem textkritischem Apparat (Editio maior, 7 Bände, 1885–1895) und eine in vielen Fällen abweichende Ausgabe mit knapperem Apparat (Editio minor, 6 Bände, 1888–1895), die als seine Ausgabe letzter Hand gilt. Seitdem sind rund 50 Manuskripte bekannt geworden, die Niese noch nicht nutzen konnte. In mehreren europäischen Ländern entstanden Übersetzungen bzw. zweisprachige Ausgaben, die an Nieses Text Veränderungen vornahmen. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wird unklar, auf welchen griechischen Text sich Fachleute in ihren Publikationen jeweils beziehen. Heinz Schreckenberg hält deshalb die Erstellung einer neuen großen kritischen Textausgabe für dringend erforderlich, mindestens aber eine Revision von Nieses Werk. Bis dahin, so Tommaso Leoni, biete Nieses Editio maior trotz allem den relativ besten Text des Bellum, aber dieser sei manchmal im kritischen Apparat versteckt. Die Textverderbnisse in den Antiquitates sind teilweise eine Folge davon, dass die mittelalterlichen Kopisten die Bibel-Nacherzählung des Josephus dem griechischen Bibeltext der Septuaginta annäherten. Ein französisches Team um Étienne Nodet hat seit 1992 ein neues Handschriften-Stemma für die Bücher 1 bis 10 der Antiquitates erarbeitet, mit dem Ergebnis, dass zwei Handschriften aus dem 11. Jahrhundert, die Niese für weniger wichtig hielt, den besten Text zu bieten scheinen: Codex Vindobonensis historicus Graecus 20 (bei Niese: „historicus Graecus No. 2“), Österreichische Nationalbibliothek; Codex Parisinus Graecus 1419, Französische Nationalbibliothek. Die Münsteraner Edition der Vita bietet einen Mischtext, der sich von Nieses Editio maior darin unterscheidet, dass der Codex Bononiensis Graecus 3548 eingearbeitet wurde, der sich in der Universitätsbibliothek Bologna befindet. Obwohl relativ spät (14./15. Jahrhundert), wird er als Zeuge der besten Überlieferung eingestuft. Contra Apionem ist das am schlechtesten erhaltene Werk des Josephus. Sämtliche griechischen Zeugen, auch die indirekten, sind von einem Kodex abhängig, in dem mehrere Blätter fehlten; diese große Textlücke muss mit Hilfe der lateinischen Übersetzung ergänzt werden. Niese ging davon aus, dass alle jüngeren griechischen Manuskripte Abschriften des Codex Laurentianus 69,22 aus dem 11. Jahrhundert seien. Das Münsteraner Übersetzerteam (Folker Siegert, Heinz Schreckenberg, Manuel Vogel) bewertet dagegen den Codex Schleusingensis graecus 1 (15./16. Jahrhundert, Bibliothek des Hennebergschen Gymnasiums, Schleusingen) als Zeugen einer teilweise unabhängigen Tradition. Arnoldus Arlenius hatte diesen Kodex für die 1544 gedruckte Erstausgabe des griechischen Josephustextes verwendet. Die vom Laurentianus abweichenden Lesarten dieser Druckausgabe erhalten dadurch größeres Gewicht; sie galten bis dahin als Konjekturen des Arlenius. Archäologie in Israel/Palästina Seit Mitte des 19. Jahrhunderts suchten Palästinaforscher antike Ortslagen oder Bauwerke „mit Josephus in der einen Hand und dem Spaten in der anderen“ – eine Erfolgsgeschichte, die sich bis in die Gegenwart fortsetze, so Jürgen Zangenberg. Aber sie sei methodisch bedenklich. „Jegliche Interpretation, gerade auch der vermeintlich nur ‚sachbezogenen‘ Passagen, hat … mit der Tatsache zu beginnen, dass Josephus zuallererst antiker Historiker ist.“ Ebenso wie Yigael Yadin die Grabungsbefunde von Masada mit dem Bericht des Josephus harmonisierte, fand auch der Ausgräber von Gamla, Shmarya Guttman, den Bericht über die römische Eroberung dieser Festung im Golan in vielen Einzelheiten bestätigt. Benjamin Mazar zufolge illustrieren die Funde der israelischen Grabungen entlang der südlichen und westlichen Umfassungsmauer des Tempelbergs seit 1968 Baudetails des Herodianischen Tempels, die im Bellum und den Antiquitates beschrieben sind. Neuere Beispiele dafür, dass archäologische Befunde mit Hilfe von Josephus’ Angaben interpretiert werden, sind die Grabungen in Jotapata (Mordechai Aviam, 1992–1994) und die Identifikation eines Palastes und eines Hippodroms in Tiberias (Yizhar Hirschfeld, Katharina Galor 2005). Mehrfach wurde die „Glaubwürdigkeit“ des Josephus in der Forschung diskutiert. Auf der einen Seite bestätigt der archäologische Befund oft die Angaben des Josephus oder lässt sich jedenfalls so interpretieren. Dem stehen aber Beispiele gegenüber, wo Josephus eklatant falsche Angaben etwa zu Entfernungen, Maßen von Gebäuden oder Bevölkerungsgrößen macht. Dies wird teilweise mit Kopistenfehlern erklärt. Ein bekanntes und schwieriges Problem der Forschung sind Josephus’ Beschreibungen der Dritten Mauer, d. h. der äußeren nördlichen Stadtbefestigung von Jerusalem. Michael Avi-Yonah charakterisierte sie als ein Durcheinander aus unmöglichen Entfernungsangaben, disparaten Beschreibungen derselben Ereignisse, und einem chaotischen Gebrauch des griechischen Fachvokabulars. Kenneth Atkinson arbeitete Widersprüche zwischen den Grabungsergebnissen in Gamla und Masada und der Kriegsschilderung im Bellum heraus. Man müsse davon ausgehen, dass die römische Einnahme historisch anders ablief als von Josephus dargestellt. Es ist beispielsweise aufgrund der Gegebenheiten auf dem Berggipfel gar nicht möglich, dass 9000 Verteidiger sich beim Eindringen der römischen Armee in Gamla von dort aus in die Tiefe stürzten und so kollektiven Selbstmord verübten. Gamla war auch nur schwach befestigt und leistete Vespasians Armee kaum Widerstand. Bereits zuvor hatte Shaye Cohen die Kombination von archäologischen Befunden und Josephus’ Bericht vom Ende Masadas in Frage gestellt. Postkoloniale Lektüre Homi K. Bhabha hat den Postkolonialismus durch die These weiterentwickelt, dass Kolonisten und Kolonisierte auf komplexe Weise interagieren. Die Herrschenden erwarten, dass die Unterlegenen ihre Kultur nachahmen. Diese tun das auch – aber nicht richtig, nicht vollständig. Ein Grundwiderspruch des Kolonialismus besteht darin, dass er die Kolonisierten erziehen und zivilisieren will, aber einen bleibenden Unterschied zu ihnen behauptet: In other words, natives can become Anglicized but never English. Die Kolonisierten können die dominante Kultur aber auf kreative Weise zur Selbstbehauptung benutzen (resistant adaption). Dieser Ansatz ermöglicht es, Josephus’ Werk jenseits der Alternativen Flavische Propaganda und Jüdische Apologetik zu lesen: Josephus und andere Historiker mit Wurzeln im Osten des Reichs versuchten, „die eigene Geschichte in einem Idiom zu erzählen, das die Mehrheitskultur(en) verstand(en), aber mit primärem Bezug auf die eigenen Traditionen – und für ihre eigenen Zwecke“. Ein Beispiel aus dem Bellum: Herodes Agrippa II. versucht, die Jerusalemer vom Krieg gegen Rom abzubringen, indem er im Stil imperialer Propaganda ausführt, dass Rom die ganze Welt beherrsche. Seine Rede lässt die bekannten Völker der Antike mit ihren jeweiligen besonderen Fähigkeiten vorbeidefilieren; Rom hat sie alle besiegt (Mimikry einer gentes-devictae-Liste). Agrippa (bzw. Josephus) führt dies aber nicht auf die Gunst Jupiters zurück, sondern auf den Gott der unterlegenen Juden. Damit destabilisiere er, so David A. Kaden, den dominanten imperialen Diskurs. Man weiß nicht mehr recht, ob da ein Jude oder ein Römer spricht. Die Situation kultureller Grenzgänger kennzeichnet Bhabha mit dem Begriff in-between-ness, etwa „zwischen den Stühlen Sitzen“. Wenn Josephus beschreibt, wie er selbst in römischem Auftrag vor der Mauer des belagerten Jerusalems den Verteidigern eine Rede in ihrer Muttersprache gehalten habe, so verkörpert er in-between-ness in seiner eigenen Person. Werkausgaben Flavii Josephi opera edidit et apparato critico instruxit Benedictus Niese. Weidmann, 7 Bände, Berlin 1885–1895. Im Folgenden sind die jeweils besten deutschen Übersetzungen bzw. griechisch-deutschen Ausgaben genannt. Zu weiteren Editionen siehe die Hauptartikel Jüdischer Krieg, Jüdische Altertümer und Über die Ursprünglichkeit des Judentums. Niese führte die heute in der Literatur übliche Buch/Paragraphen-Zählung ein, während Werkausgaben, die einen älteren griechischen Text zugrunde legen, eine Buch/Kapitel/Abschnitt-Zählung haben (z. B. Whistons englische und Clementz’ deutsche Übersetzung). Zur Umrechnung kann man die digitale Ausgabe des Niese-Textes in der Perseus Collection nutzen. De bello Judaico – Der Jüdische Krieg. Griechisch–deutsch, herausgegeben und mit einer Einleitung sowie mit Anmerkungen versehen von Otto Michel und Otto Bauernfeind. wbg academic, 3 Bände, Sonderausgabe (2., unveränderte Auflage) Darmstadt 2013. ISBN 978-3-534-25008-0. Jüdische Altertümer. Übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Heinrich Clementz, Halle 1900. Band 1 (Digitalisat) Band 2 (Digitalisat). Diese Übersetzung hat erhebliche Mängel: zugrunde liegen die bereits bei Erscheinen von Clementz’ Übersetzung veralteten griechischen Textausgaben von Dindorf (1865) und Haverkamp (1726); außerdem übersetzte Clementz ungenau, teilweise paraphrasierend. Nachdem das Münsteraner Übersetzungsprojekt abgebrochen wurde, ist mit einer Neuübersetzung der Antiquitates ins Deutsche vorerst nicht zu rechnen. Immerhin ist eine Vorübersetzung von Ant 1,1–2,200 online verfügbar: PDF. Aus meinem Leben (Vita). Kritische Ausgabe, Übersetzung und Kommentar hrsg. von Folker Siegert, Heinz Schreckenberg, Manuel Vogel. Mohr Siebeck, 2., durchgesehene Auflage Tübingen 2011. ISBN 978-3-16-147407-1. Über die Ursprünglichkeit des Judentums (Contra Apionem). Deutsch / Altgriechisch, hrsg. von Folker Siegert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. ISBN 978-3-525-54206-4. (Teilband 1: Digitalisat; Teilband 2: Digitalisat) Literatur Hilfsmittel A complete concordance to Flavius Josephus. Hrsg. von Karl Heinrich Rengstorf und Abraham Schalit. Brill, Leiden 1968–1983. – Band 1: Α–Δ. 1973; Band 2: Ε–Κ. 1975; Band 3: Λ–Π. 1979; Band 4: Ρ–Ω. 1983. Supplementband: Namenwörterbuch zu Flavius Josephus. Bearbeitet von Abraham Schalit, 1968. Heinz Schreckenberg: Bibliographie zu Flavius Josephus (= Arbeiten zur Literatur und Geschichte des hellenistischen Judentums. Band 14). Brill, Leiden 1979, ISBN 90-04-05968-7. Überblicksdarstellungen Heinz Schreckenberg: Josephus (Flavius Josephus). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 18. Hiersemann, Stuttgart 1998, Sp. 761–801. Louis H. Feldman: Flavius Josephus Revisited: The Man, His Writings, and His Significance. In: Wolfgang Haase (Hrsg.): Aufstieg und Niedergang der römischen Welt (ANRW). Band 21/2: Hellenistisches Judentum in römischer Zeit: Philon und Josephus (Forts.). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1984, ISBN 3-11-009522-X. Louis H. Feldman: Josephus and Modern Scholarship (1937–1980). Walter de Gruyter, Berlin / New York 1984, ISBN 3-11-008138-5. Sammelbände, Kompendien Honora Howell Chapman, Zuleika Rodgers (Hrsg.): A Companion to Josephus (= Blackwell Companions to the Ancient World). Wiley & Sons, Chichester 2016, ISBN 978-1-4443-3533-0. „In seiner Vielfalt dokumentiert der Band die Fortschritte der interdisziplinären Erforschung von Leben, Werk und Wirkung des Josephus und zeigt auf, welche neuen Perspektiven dabei eine Rolle spielen (müssen).“ (Jens Herzer, Rezension in: Historische Zeitschrift 303 (2018), S. 802f.) Zuleika Rodgers (Hrsg.): Making History. Josephus and Historical Method (= Journal for the study of Judaism. Band 110). Brill, Leiden / Boston 2007, ISBN 90-04-15008-0. Joseph Sievers, Gaia Lembi (Hrsg.): Josephus and Jewish History in Flavian Rome and Beyond (= Supplements to the Journal for the Study of Judaism. Band 104). 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https://de.wikipedia.org/wiki/Raumschiff%20Enterprise%20%E2%80%93%20Das%20n%C3%A4chste%20Jahrhundert
Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert
Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert ist eine US-amerikanische Science-Fiction-Fernsehserie, die in den Vereinigten Staaten von 1987 bis 1994 unter dem Originaltitel Star Trek: The Next Generation erstausgestrahlt wurde. Hauptsächlich in Fan-Kreisen wird sie mit TNG abgekürzt. Sie ist eine Nachfolgeserie von Raumschiff Enterprise und – unter Berücksichtigung der Zeichentrickserie Die Enterprise – die insgesamt dritte Fernsehserie, die im fiktiven Star-Trek-Universum spielt. Wesentlicher Beweggrund des Filmstudios Paramount Pictures für ihre Entstehung war der Erfolg der ersten Star-Trek-Kinofilme und der Wiederholungen von Raumschiff Enterprise. In insgesamt 178 Episoden, die über sieben Staffeln verteilt sind, erzählt die im 24. Jahrhundert spielende Serie von den Missionen der Besatzung des Sternenflottenraumschiffs Enterprise-D, einem Nachfolgemodell der Enterprise-Raumschiffe aus den vorherigen Star-Trek-Produktionen. Zu den Missionen gehören die Entdeckung neuer und bislang unbekannter Lebensformen, das Erforschen von fremden Kulturen und von Phänomenen im All, die Vermittlung und Schlichtung bei sozialen und interkulturellen Konflikten und die Hilfe bei technischen Problemen. Mitunter geht es auch um kämpferische Auseinandersetzungen zwischen der Vereinten Föderation der Planeten und anderen Mächten. In den Vereinigten Staaten entwickelte sich die Serie mit regelmäßig über 10 Millionen Zuschauern zu einem großen Erfolg im Fernsehen und für Paramount Pictures zu einer äußerst lukrativen Einnahmequelle. Vor allem deshalb gilt sie als eine der erfolgreichsten Science-Fiction-Serien. Auch im deutschsprachigen Raum, wo sie stets nur im Nachmittagsprogramm erstausgestrahlt wurde, war die Serie im Fernsehen erfolgreich, vor allem nachdem der Sender Sat.1 1993 die Ausstrahlung des ZDF übernahm. Auf dem Höhepunkt des Zuschauererfolges wurde die Serie 1994 beendet, um die Handlung im Kino fortzusetzen. Bis 2002 entstanden vier auf der Serie basierende Kinofilme. Aufbauend auf dem Erfolg der Serie entstanden zudem die Ablegerserie Star Trek: Deep Space Nine, die Nachfolgeserie Star Trek: Raumschiff Voyager und die Prequel-Serie Star Trek: Enterprise, deren Beendigung 2005 den Abschluss von 18 Jahren ununterbrochener, mit Das nächste Jahrhundert begonnener Star-Trek-Fernseh­produktion darstellte. Erst 2023 wurde die Geschichte der TNG-Crew mit der Fernsehserie Star Trek: Picard zu einem Abschluss geführt. Die Serie wurde unter anderem mit 18 Emmy- und zwei Hugo Awards ausgezeichnet. Kritiker lobten die letzten fünf Staffeln, verglichen mit den ersten beiden Staffeln und mit Raumschiff Enterprise, als vielschichtiger. Alle Episoden wurden ab Beginn der 2010er Jahre für die Veröffentlichung mit hochauflösendem Bild restauriert. Die Serie wurde für zahlreiche Merchandising-Produkte adaptiert, darunter Romane und Comics, und trug wesentlich zu der Begeisterungswelle für Star Trek in den 1990er Jahren bei. Der neuere Teil der über 120 Romane setzt die Fernsehserie nach der Handlung des vierten Kinofilms Nemesis mit einem teilweise neuen Figurenensemble fort. Inhalt Siehe Hauptartikel: Staffeln 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 Überblick Innerhalb der Star-Trek-Zeitleiste spielt die Serie, den vom ZDF vergebenen Serientitel Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert erklärend, im Jahrhundert nach den Ereignissen aus Raumschiff Enterprise. Die sieben Staffeln spielen in den Jahren 2364 bis 2370. Eine in der Serie übliche Zeitmessgröße ist die Sternzeit. Sie wird meist im Rahmen von Einträgen in das Computerlogbuch genannt, mit denen eine der Hauptfiguren – allen voran Jean-Luc Picard, der Captain der Enterprise – die Geschehnisse resümiert und reflektiert sowie als Erzähler den Zuschauer informiert. Im 24. Jahrhundert gehören die Regierungen einer Vielzahl von Planeten zur Vereinten Föderation der Planeten, einer von den Menschen im 22. Jahrhundert mitgegründeten und von der Erde aus regierten Allianz. Territorium und Lage der meisten dieser Planeten ist der Alpha-Quadrant der Milchstraße. Die Sternenflotte dient der Föderation zur Erforschung des Alls, wird aber auch für militärische Zwecke genutzt. Das Raumschiff USS Enterprise NCC-1701-D besteht – ähnlich der USS Enterprise NCC-1701 aus der klassischen Serie – aus der diskusförmigen Untertassensektion und der über einen engen Hals verbundenen Antriebssektion, die zwei horizontale, annähernd quaderförmige Antriebsgondeln besitzt. Die Enterprise ist das Flaggschiff der Föderation und dient hauptsächlich als Forschungsschiff. Von der Föderation wird sie oft damit beauftragt, in Konflikten zwischen Föderationsmitgliedern und -nichtmitgliedern zu schlichten, bei Notfällen oder der Lösung technischer Probleme zu helfen, astrophysikalische Phänomene zu untersuchen, Individuen und Materialien zu transportieren oder als Gastgeber für diplomatische Gespräche zu fungieren. In etlichen Episoden kommt es auch zu zufälligen Konfrontationen mit fremden Spezies, sei es auf dem Schiff, im All oder auf Planeten. Die „Oberste Direktive“ der Föderation gebietet es der Besatzung, sich nicht in die natürliche Entwicklung fremder Kulturen einzumischen, besonders solcher ohne Warp-Technologie. Das Raumschiff beherbergt mit gewöhnlich über 1000 Personen – und damit deutlich mehr als auf der alten Enterprise – neben der Besatzung auch Familienmitglieder, insbesondere auch Kinder und sogar Tiere. Wie schon auf der Enterprise der klassischen Serie sind an Bord sogenannte Shuttleschiffe untergebracht – kleine Raumschiffe, die benutzt werden, wenn Beamen unmöglich oder unerwünscht ist oder wenige Personen allein weite Wege zurücklegen. Wichtigster Handlungsort ist die kreisförmige Hauptbrücke, die mit einem großen Hauptbildschirm, Computerkonsolen sowie Sitz- und Stehplätzen für die wichtigsten Offiziere ausgestattet ist. Die Hauptbrücke befindet sich in der Untertassensektion, die auch die Mannschaftsquartiere enthält. Die Antriebssektion, von der die Untertassensektion im Bedarfsfall abgetrennt werden kann, enthält den Maschinenraum, in dem sich der Warp-Antrieb befindet. Die Schiffscomputer lassen sich nun auch interaktiv, sprachgesteuert und mittels Displays bedienen und werden unter anderem zur Kommunikation und Navigation genutzt. Zur Fortbewegung innerhalb des Schiffes dienen die aufzugsähnlichen Turbolifte. Türen öffnen sich in der Regel automatisch gesteuert über Bewegungssensoren. Replikatoren ermöglichen das schnelle Erzeugen fertig zubereiteter Speisen und Getränke. Die im Pilotfilm neu in das Star-Trek-Universum eingeführten Holodecks dienen zur holografischen Projektion von Personen, Umgebungen und Situationen wie in einer virtuellen Realität. Raumschiffsbesatzung Im Zentrum der Handlung stehen die Führungsoffiziere des Raumschiffes, mitunter auch andere Besatzungsmitglieder. Viele Episoden geben Einblick in die Herkunft, die Vergangenheit und die privaten Interessen der Hauptfiguren sowie in deren Beziehungen zueinander. Captain Jean-Luc Picard stammt aus Frankreich, spricht in der Originalfassung jedoch mit britischem Akzent. Er hat keine eigene Familie und wegen der dadurch fehlenden Erfahrungen eine Aversion gegen Kinder. Im Handlungsverlauf hat er einige Romanzen, etwa mit der Archäologin Vash, die jedoch allesamt nicht von Dauer sind. Er lebt zu Beginn der Handlung schon seit vielen Jahren mit einem Kunstherz. Picard war einst in den Tod des Ehemanns der Schiffsärztin, Dr. Beverly Crusher, verwickelt. Diese arbeitet vorwiegend in den medizinischen Behandlungsräumen des Schiffes. Ihre Arbeitsstelle wird während ihrer Abwesenheit in der zweiten Staffel durch Dr. Katherine Pulaski besetzt. In späteren Staffeln arbeitet Dr. Crusher manchmal vertretungsweise als Schiffskommandantin. Commander William T. Riker aus Alaska ist der erste Offizier. Von Picard wird er daher meist „Nummer Eins“ genannt. Im Serienverlauf lehnt er es mehrfach ab, das Kommando über ein eigenes Schiff zu übernehmen. Riker hatte einst eine Liebesbeziehung mit Counselor Deanna Troi. Sie ist je zur Hälfte Mensch und Betazoid, womit sie in besonderem Maße imstande ist, die Emotionen anderer Individuen zu erfühlen – eine Fähigkeit, die sie für ihren Beruf als Schiffsberaterin nutzt. In der siebten Staffel besteht sie die Prüfung zur Zulassung als Brückenoffizierin. Sie erhält mitunter Besuch von ihrer exzentrischen Mutter Lwaxana, die mit ihr teilweise telepathisch kommuniziert. Der weißgoldhäutige und gelbäugige Lieutenant Commander Data ist zweiter Offizier und ein Android. Sein positronisches Gehirn ermöglicht es ihm, Sachverhalte und Informationen frei von subjektiven Einflüssen sowie wesentlich effizienter als Humanoide zu erfassen, zu analysieren und zu beurteilen. Zudem besitzt er eine bedeutend größere physische Belastbarkeit und Körperkraft als Menschen und eine – zumindest theoretisch – endlos lange Lebensdauer. Mit diesen Fähigkeiten unterstützt er seine Kollegen in zahlreichen Situationen entscheidend. Da Data konstruktionsbedingt keine Gefühle und Emotionen empfinden kann, besitzt er auch deswegen ein großes Defizit an sozialen Fähigkeiten wie etwa Humor und Taktgefühl. Diese versucht er im weiteren Handlungsverlauf zu trainieren, indem er danach strebt, menschlicher zu werden. Zum Beispiel konstruiert er zwecks Fortpflanzung einen Androiden, den er als sein Kind betrachtet, der aber nur kurzlebig ist. In der vierten Staffel ruft Datas Erschaffer, der Kybernetiker Dr. Noonien Soong, Data zu sich, um ihm einen Chip zum Erleben von Emotionen einzusetzen. Datas älterer, weniger weit entwickelter „Bruder“ Lore kann sich des Chips aber vorher bemächtigen und Soong ermorden. Später erfährt Data in Visionen, dass ihn Soong mit der bislang ungekannten Möglichkeit des Träumens versehen hatte, welches Data fortan ausprobiert. Nachdem sich Data des Emotionschips von seinem Bruder bemächtigen konnte, entschließt er sich in der siebten Staffel wegen der Befürchtung, so zu werden wie Lore, gegen das Einsetzen des Chips. Lieutenant Commander Geordi La Forge ist seit seiner Geburt blind und deshalb auf einen sogenannten Visor angewiesen, ein technisches Gerät, das ihm das Sehen sogar über das menschliche Spektrum hinaus ermöglicht, aber seine Augen vollständig verdeckt. Unter den Führungsoffizieren des Schiffes ist er der einzige Afroamerikaner. Vor seiner Beförderung zum Chefingenieur der Enterprise in der zweiten Staffel wird er noch als Navigator eingesetzt. In seiner neuen Funktion ist er vorwiegend im Maschinenraum tätig. Dort arbeitet teilweise auch Wesley Crusher, der zu Handlungsbeginn 15-jährige Sohn Dr. Crushers. Aufgrund besonders verdienstvoller Leistungen, unter anderem beim Durchführen wissenschaftlicher Experimente, wird er alsbald als Navigator eingesetzt. Er arbeitet anfangs als Leutnant ehrenhalber (Englisch: acting ensign) – in der deutschen Synchronfassung fehlerhaft mit „Fähnrich“ – und wird in der 72. Episode (Die Damen Troi, Staffel 3) zum Leutnant (Englisch: ensign) ernannt. Nach mehreren gescheiterten Versuchen wird er in der vierten Staffel zum Besuch der Sternenflottenakademie zugelassen und verlässt deshalb die Schiffsbesatzung. Sein Schicksal ist dennoch Thema einiger späterer Episoden, unter anderem geht es darin um seine Verwicklung in eine unplanmäßig verlaufene Manöverübung von Sternenflottenkadetten. Er entschließt sich in der siebten Staffel zum Austritt aus der Sternenflotte, um dem dimensionübergreifend „Reisenden“ in eine höhere Daseinsebene zu folgen. Lieutenant Natasha „Tasha“ Yar hat in der ersten Staffel die Position der Sicherheitschefin des Schiffs inne. Während einer Außenmission auf einem fremden Planeten wird sie durch ein feindliches Wesen als Zeichen einer Machtdemonstration ermordet. Infolge ihres Todes übernimmt Lieutenant Worf, bis dahin taktischer Offizier, Yars Funktion. Er ist der einzige Klingone im Dienste der Sternenflotte und durch einen inneren Trieb oft versucht, Konflikte durch Kämpfe, anstatt Diplomatie zu lösen. Worfs leibliche Eltern wurden, als er noch ein Kind war, bei einem Massaker durch Romulaner ermordet. Dadurch zum Waisen geworden, wurde er von menschlichen Eltern adoptiert und auf der Erde erzogen. Obwohl Worf bis ins Erwachsenenalter in der Gesellschaft von Menschen lebte, ist er mit der klingonischen Kultur ausgesprochen gut vertraut. Hin und wieder geht es um die Geschichte von Worfs Familie, zu der auch sein leiblicher Bruder Kurn gehört, und um die klingonische Mythologie. Aus Worfs Beziehung mit der je zur Hälfte klingonischen und menschlichen Frau K’Ehleyr geht der gemeinsame Sohn Alexander hervor, von dessen Existenz Worf und die Zuschauer erstmals in der Episode Tödliche Nachfolge (Staffel 4) erfahren. Einige Zeit nach K’Ehleyrs Tod übernimmt Worf die Erziehung Alexanders, womit er aber meist überfordert ist. Alexander zeigt wiederholt Schwierigkeiten, sich an klingonische Verhaltensweisen zu gewöhnen. Überwiegend in den Transporterräumen und das Beamen kontrollierend, arbeitet der aus Irland stammende Chief Miles O’Brien. In späteren Staffeln geht es manchmal um seine Liebesbeziehung mit Keiko, die er heiratet. Im Jahr 2369 verlässt er die Enterprise und wird Chefingenieur auf der Raumstation Deep Space Nine. Zum Schiffspersonal gehört außerdem Guinan, die zwar eine menschliche Gestalt besitzt, aber dennoch einer extraterrestrischen Spezies angehört. Dass es sich dabei um die Spezies der El-Aurianer handelt, erfährt der Zuschauer erst im Kinofilm Treffen der Generationen. Guinan leitet das „Zehn-Vorne“, ein Aussichtsrestaurant an der vorderen Seite des Deck 10 („Ten-Forward“), das sowohl der Crew und auch Gästen als eine Lounge zum Entspannen sowie als Raum für gemeinsame kulturelle Veranstaltungen und als ein allgemeiner Freizeitort dient. Kontakt mit Vertretern anderer Spezies und Kulturen Nahezu alle Vertreter der anderen Kulturen, mit denen die Crew der Enterprise zusammentrifft, besitzen eine menschenähnliche Erscheinungsform, das heißt Kopf, Augen, Mund und je zwei Hände und Füße. Als Erklärung dafür erfährt der Zuschauer in der sechsten Staffel, dass viele der Kulturen eine gemeinsame genetische Basis besitzen, die durch eine sehr frühe Zivilisation in die ursprünglichen Ozeane zahlreicher Welten integriert wurde. Dabei handelt es sich um eine der Panspermie entsprechende Erklärung. Von den meisten nichtmenschlichen Kreaturen bekommen die Zuschauer nur deren Köpfe zu Gesicht, eine Vielzahl der Spezies besitzt etwa eine gegenüber Menschen anders geformte Stirn. Auch solche Wesen, deren Körper nicht organisch sind, treten oft in humanoider Form auf, so etwa Q. Q ist ein omnipotentes, stets arrogant auftretendes Wesen aus dem gleichnamigen Raum-Zeit-Kontinuum, das meist in der Form eines männlichen Menschen auftritt. Er ist der festen Ansicht, die Menschheit sei zu primitiv, um das All zu erforschen. So klagt er bereits im Pilotfilm als Richter Captain Picard stellvertretend für alle Menschen der zurückliegenden Verbrechen der Menschheit an. Picard kann Q jedoch durch diplomatisches Geschick beim Lösen eines von Q gestellten Problems davon überzeugen, dass die Menschen aus den Fehlern ihrer Vergangenheit gelernt haben. Q verspricht daraufhin, die Menschheit weiter zu beobachten. Im weiteren Serienverlauf erscheint Q einige weitere Male, wobei sich seine Abneigung zunehmend in Neugier und gesteigertes Interesse am Schicksal von Captain Picard verwandelt. Parallel dazu wird seine reine Geringschätzung gegenüber der Menschheit im Laufe der Serie immer mehr von der Auffassung ergänzt, dass den Menschen eine Verbesserung möglich sei und dass diese anzustreben sei. Die Crew empfindet sein Erscheinen jedoch meist lediglich als lästig und potenziell bedrohlich. Im finalen Zweiteiler Gestern, heute, morgen erscheint Q mit der Absicht, das ruhende Verfahren gegen die Menschheit aus dem Pilotfilm wieder aufzunehmen, indem er Captain Picard die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit aufzeigen will. Die Episode schließt mit dem Hinweis Qs, dass die Prüfung der Menschheit auf ihre Tauglichkeit nie abgeschlossen sein wird. Q ist es auch, der die Enterprise in einen weit entfernten Teil der Galaxie versetzt, wo die Besatzung erstmals mit den Borg konfrontiert wird. Qs Absicht dabei ist es wiederum, zu demonstrieren, dass die Menschen noch nicht bereit seien, den Gefahren der Raumfahrt entgegenzutreten. Die Borg sind Wesen, die aus Maschinen und den Körpern humanoider Rassen bestehen und ein kollektives Bewusstsein besitzen. Sie erweisen sich mit ihrem kubusförmigen Raumschiff als weit überlegene Gegner. Als Hauptziel ihrer Existenz betrachten sie die Assimilation fremder Technologie, um sich selbst weiterzuentwickeln. Als die Borg die Enterprise zu assimilieren versuchen, versetzt Q die Enterprise zurück an ihren Ausgangsort, nachdem Picard gegenüber Q gesteht, auf ihn angewiesen zu sein. Über ein Jahr später sind die Borg in das Gebiet der Föderation eingedrungen und beabsichtigen, die Erdbevölkerung zu assimilieren. Sie assimilieren zunächst Picard in ihr Kollektiv, damit er ihnen als Sprecher mit den Menschen dient. In einer Raumschlacht gegen die Borg erleidet die Föderation schwere Verluste. Durch Tricks gelingt es der Enterprise-Crew, Picard zurückzuholen und das Borg-Schiff zu dessen Selbstzerstörung zu veranlassen. Picard wird von den Borg-Implantaten befreit, behält aber die Erinnerungen an die Zeit seiner Assimilation (siehe In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde). In der fünften Staffel hat die Crew vorübergehend einen verletzten Borg an Bord, dem sie den Namen Hugh und ein Verständnis für Individualität gibt. Hugh gehört später zu denjenigen Borg, die Lore für Experimente zum Erschaffen einer perfekten, künstlichen Rasse nutzt. Die großohrigen, spitzzähnigen Ferengi sind eine Spezies, deren Vertreter zumeist hinterhältig, misstrauisch, in Frauen anderer Spezies vernarrt und ausgesprochen profitgierig auftreten. Einer von ihnen stellt Picard in der ersten Staffel eine Falle, um ihn dazu zu zwingen, eine Schlacht erneut zu durchleben, in der Picard mit seinem früheren Raumschiff einst ein Ferengi-Raumschiff zerstören ließ. Eines anderen Tages entführen die Ferengi Lwaxana Troi, um deren telepathische Fähigkeiten gewinnbringend zu vermarkten. Dabei scheitern sie jedoch ebenso wie beim Versuch, die Nutzungsrechte an einem Wurmloch zu erwerben, das sich als nicht stabil genug erweist. Das Gebiet der Romulaner ist im All durch die „Neutrale Zone“, eine Pufferzone, von dem der Föderation getrennt. Nach über 20 Jahren Kontaktstille zwischen beiden Seiten kommt es ab der ersten Staffel vereinzelt zu Begegnungen von Romulanern mit der Enterprise. Als etwa die Enterprise-Crew auf einem Planeten in der Neutralen Zone ein abgestürztes romulanisches Raumschiff mit zwei Besatzungsmitgliedern findet, droht ein Krieg, da andere Romulaner die Enterprise beschuldigen, es abgeschossen zu haben. Picard gelingt es aber in letzter Minute, die Romulaner von seinen friedlichen Absichten zu überzeugen. Mit zum romulanischen Offiziersstab gehört Sela, die Tochter eines Romulaners und Yars, der sie täuschend ähnlich sieht. Als Raumschiffskommandantin unterstützt sie klingonische Kräfte, als diese einen Bürgerkrieg in deren Heimat provozieren (siehe Der Kampf um das Klingonische Reich, Teile 1 und 2). In der Mitte des 24. Jahrhunderts ist das Reich der Klingonen, anders als in den vorangegangenen Star-Trek-Produktionen, kein Feind der Föderation mehr, sondern eine alliierte Macht. Dennoch herrscht unter den Klingonen manchmal Misstrauen der Föderation gegenüber. Es zeigt sich etwa bei einem Offiziersaustauschprogramm, bei dem Riker vorübergehend Dienst auf einem klingonischen Raumschiff tut. Das Verhältnis von Föderation bzw. Sternenflotte zu den Klingonen steht neben der politisch-diplomatischen Ebene auch im persönlich-familiären Umfeld Worfs im Vordergrund. Als dessen seit langem toten Vater Mogh durch die klingonische Regierung die Schuld am Tode hunderter Klingonen gegeben wird, ist Worf zur Vermeidung eines klingonischen Bürgerkrieges dazu gezwungen, die Entehrung seiner Familie in Kauf zu nehmen. Diese erhält er aber knapp zwei Jahre später vom neuen klingonischen Herrscher Gowron zurück. Das Imperium der Cardassianer ist eine Macht, die lange Zeit Krieg gegen die Föderation führte. Als es in der vierten Staffel zum ersten Mal im Zentrum der Handlung steht, währen die erfolgreichen Bemühungen um einen Waffenstillstand zwischen beiden Mächten erst kurze Zeit. Nach wie vor herrscht aber Misstrauen zwischen beiden Seiten. Das zeigt sich etwa im Zweiteiler Geheime Mission auf Celtris Drei (Staffel 6), in der Picard, Dr. Crusher und Worf ein Spezialkommando bilden, um von den Cardassianern im Geheimen und mit Gentechnik entwickelte biowaffenfähige Viren zu vernichten. Bei der Aktion fällt Picard vorübergehend in die Hände von Cardassianern, die ihn foltern. In der siebten Staffel hat die Föderation mit den Cardassianern ein Abkommen geschlossen, das auch ein Grenzgebiet zwischen den beiden Welten definiert, das „Entmilitarisierte Zone“ genannt wird. Föderationsmitglieder, die sich auch von der Enterprise aus diesem Gebiet nicht vertreiben lassen und die Cardassianer weiterhin bekämpfen wollen, formieren sich zum Maquis, einer Widerstandsgruppe. In der fünften Staffel erfährt der Zuschauer erstmals von den Bajoranern, deren Heimatplanet seit Jahrzehnten von den Cardassianern besetzt und ausgebeutet wird. Eine der wenigen Bajoraner in Diensten der Sternenflotte ist Ro Laren, die als Teil der Brückenbesatzung in der fünften Staffel als Fähnrich arbeitet und sich dabei teils aufsässig verhält. In der siebten Staffel schließt sie sich dem Maquis an. Abgesehen von den Spezies, mit deren Vertretern die Crew der Enterprise im Serienverlauf wiederholt im Kontakt ist, gibt es auch Außerirdische, deren Begegnung mit der Mannschaft nur in einer Episode erzählt wird. Dazu gehören auch die beiden Prä-Warp-Zivilisationen der Mintakaner und der Malcorianer, von denen einige Vertreter – ohne, dass es die Enterprise-Crew beabsichtigt hat – etwas über die Möglichkeit der Raumfahrt erfahren, wodurch die oberste Direktive der Föderation verletzt wird. Zeitreisen und Raum-Zeit-Anomalien Mitunter geraten die Enterprise beziehungsweise Besatzungsmitglieder in Anomalien oder Paradoxien im Raum oder in der Zeit, das heißt, sie werden in andere Dimensionen transferiert oder durch Zeitreisen in eine andere Zeit versetzt. Entsprechende Episoden drehen sich oft darum, diesen Anomalien wieder zu entfliehen, den normalen Zeitverlauf wiederherzustellen oder in die Ausgangszeit zurückzukehren. In der ersten solcher Episoden, Die Zukunft schweigt (Staffel 2), begegnet die Enterprise einem ihrer Shuttleschiffe, in dem sich ein zweiter Picard befindet und das sechs Stunden aus der Zukunft stammt, in der die Enterprise zerstört werden wird. In Déjà vu (Staffel 5) gerät die Enterprise in eine Zeitschleife, wodurch die Crewmitglieder dieselbe Situation, die ebenfalls mit der Zerstörung des Schiffes endet, mehrfach durchleben. Der Zweiteiler Gefahr aus dem 19. Jahrhundert (Staffeln 5 und 6) handelt von Außerirdischen, die auf der Erde am Ende des 19. Jahrhunderts Cholera-Opfern die Nervenenergie absaugen, die sie zum Überleben brauchen, und damit die Stabilität der Zeitlinie beeinträchtigen. Unbeabsichtigt in jene Zeit zurückgereist, kommt Data in Kontakt sowohl mit Guinan als auch mit Mark Twain und Jack London. In dem Zweiteiler Gestern, heute, morgen wird Picard durch das Q-Kontinuum vor- und rückwärts durch die Zeit geschickt. In Die alte Enterprise (Staffel 3) erscheint aus einer Raumanomalie die Enterprise-C, das Vorgängermodell der Enterprise-D. Letztere wird im selben Moment in eine andere Zeitlinie versetzt, in der sich die Föderation im Krieg gegen die Klingonen befindet. In So nah und doch so fern (Staffel 5) werden La Forge und Ro durch einen Transporterunfall in eine andere Dimension versetzt und dadurch unsichtbar sowie für alle anderen auch materielos. In Gefangen in einem temporären Fragment (Staffel 6) finden sich Picard, Data, La Forge und Troi in einem Feld von temporalen Anomalien wieder, in denen die Zeit teilweise schneller, langsamer und auch rückwärts verläuft. In Parallelen (Staffel 7) findet sich Worf, nachdem er zufällig und unbemerkt mit einem Quantenspalt im Raum-Zeit-Kontinuum in Kontakt gekommen ist, wiederholt in einer anderen Realität wieder. Vorspann Im Vorspann jeder Episode der ersten beiden Staffeln gleitet die Kamera im Weltraum, ausgehend von Erde, Sonne und Mond, vorbei an Jupiter und Saturn. Ab der dritten Staffel bewegt sie sich stattdessen durch einen blauen Nebel und nähert sich dann einer Spiralgalaxie, bevor sie einen feurig roten Planeten und dessen Ringe fokussiert. Anschließend schwenkt die Kamera auf das fliegende Raumschiff Enterprise. Währenddessen spricht eine Stimme aus dem Off in der deutschen Fernsehsynchronfassung die folgende Einleitung: Die Einleitung weicht in der deutschen Fernsehsynchronfassung an manchen Stellen von der englischen Originalfassung ab. Dort ist von Galaxien keine Rede; mit einer Ausnahme verlässt das Schiff die Milchstraße ohnehin nicht. In der deutschen Synchronfassung, die für die CIC-Videokassetten erstellt worden ist, liegt der Einleitungstext inhaltlich näher an dem der Originalfassung (siehe Staffel 1). In der englischen Originalfassung lautet der Einleitungstext: Nachdem der Zuschauer den Einleitungstext gehört hat, sieht er das Raumschiff auf Überlichtgeschwindigkeit beschleunigen und blitzartig in der Tiefe des Alls verschwinden. Während die Ouvertüre aus Star Trek: Der Film in einer Neuaufnahme zu hören ist und die Enterprise noch einige weitere Male vorbeifliegt, werden die Namen der Hauptdarsteller eingeblendet. Der Vorspann variiert sowohl akustisch als auch optisch den Vorspann aus Raumschiff Enterprise. Produktion Konzeption und Stabszusammensetzung Wegen des Zuschauererfolges der ersten drei Star-Trek-Kinofilme und massiver Fürsprache der Syndication-Sender, die Raumschiff Enterprise erfolgreich im Fernsehen wiederholten, beschloss das Filmstudio Paramount Pictures 1986, Raumschiff Enterprise als Fernsehserie fortzusetzen. Wegen des fortgeschrittenen Alters und den als zu hoch befürchteten Gagenforderungen von William Shatner und den anderen Darstellern aus der klassischen Serie plante das Studio mit neuen Darstellern und einer neuen Raumschiffsbesatzung. Der Spock-Darsteller und Filmregisseur Leonard Nimoy lehnte zugunsten seiner Kinolaufbahn die Anfrage Paramounts ab, als Kreativ-Verantwortlicher für die neue Serie zu fungieren. Paramount engagierte stattdessen den von seiner Arbeit für die Seifenoper Falcon Crest bekannten Drehbuchautor und Produzenten Gregory Strangis, der daraufhin mit der Ausarbeitung eines Konzeptes für die Serie begann. Paramount befürchtete, dass eine Star-Trek-Fernsehserie ohne die Figuren Kirk und Spock nicht erfolgreich genug sein könne, und stellte deshalb, einhergehend mit der Entlassung von Strangis, den Star-Trek-Schöpfer Gene Roddenberry als Kreativ-Verantwortlichen ein. Roddenberry war zuvor vom Studio für den zu geringen Erfolg des ersten Kinofilms verantwortlich gemacht worden, weshalb er an der Entstehung der folgenden Filme nicht mehr wesentlich beteiligt war. Um ihm angesichts dessen nicht die alleinige Verantwortung über die Serie zu übertragen, teilte ihm Paramount Rick Berman, bis dahin stellvertretender Programmdirektor bei Paramount, als Aufsichtsperson zu. Mindestens 63 verschiedene Seriennamen wurden in Erwägung gezogen, bevor die Entscheidung auf Star Trek: The Next Generation fiel. Roddenberry holte mehrere Autoren und andere Personen in sein Team, mit denen er schon bei Raumschiff Enterprise zusammengearbeitet hatte. Dazu gehören David Gerrold, Robert Justman und D. C. Fontana. Obwohl das Konzept für die Serie hauptsächlich aus der Arbeit Gerrolds und aus Vorschlägen Justmans bestand, gab Roddenberry es als seine eigene Leistung aus. Captain Picard wurde als eine im Vergleich zu Kirk reifere, ältere und stärker auf die Mittel der Diplomatie zurückgreifende Figur angelegt. Als Kirk-ähnlich und draufgängerisch wurde dafür die Figur Riker konzipiert. Hinter den Entwürfen für die beiden Figuren steckte auch die Absicht, die Serie von der familiär anmutenden und von Rivalität geprägten Beziehung zwischen Kirk und Spock zu distanzieren. Roddenberrys Vorstellung, dass die Menschheit zwischenmenschliche Konflikte in der Zukunft überwunden haben werde, war ursächlich für seine Forderung an die Drehbuchautoren nach Konfliktfreiheit innerhalb der Raumschiffsbesatzung. Um dieses Ziel umzusetzen, nahm Roddenberry an vielen Drehbüchern nachträglich Änderungen vor, die teils gravierend waren, und verhinderte die Umsetzung etlicher Ideen und Vorschläge. Während der ersten Staffel ließ er sich dabei auch von dem Rechtsanwalt Leonard Maizlish helfen. Zum Beispiel wurde das Drehbuch zur Episode Die Verschwörung (Staffel 1), die eine Verschwörung innerhalb der Sternenflotte thematisiert, auf Roddenberrys Betreiben so verändert, dass sich am Ende außerirdische Parasiten in den Körpern der betreffenden Offiziere als ursächlich für die Verschwörung herausstellen. Wegen seines Verhaltens, das Stabsmitglieder als kleinlich und autoritär charakterisierten, verließen etliche Autoren das Team wieder. 24 Autoren stießen in den ersten drei Staffeln zum Team und verließen es im selben Zeitraum – das sind etwa dreimal so viele wie gewöhnlich bei Fernsehserien. Die Drehbuchautorengewerkschaft Writers Guild of America vertrat einige Autoren, die sich über nicht vereinbarte Änderungen beklagten, in Schiedsgerichtsverfahren gegen Paramount. Das Magazin Cinefantastique fasste die zahlreichen Ausstiege von Drehbuchautoren und Produzenten als einen „kreativen Exodus“ zusammen. Als Folge der Auseinandersetzungen mit der Gewerkschaft wurde Maizlish nach der ersten Staffel von der weiteren Mitwirkung an der Serie ausgeschlossen. Deswegen, und weil sich Roddenberrys Gesundheit verschlechterte, gewann Berman ab der zweiten Staffel gegenüber Roddenberry an Einfluss auf die Produktion. Bedingt durch einen nicht nur auf die Serie bezogenen Streik der Writers Guild 1988 umfasste die zweite Staffel schließlich nur 22 statt 26 Episoden, für die deshalb auch Drehbücher von Star Trek: Phase Two verwendet wurden. Aus demselben Grund entstand die letzte Episode der zweiten Staffel zum Großteil als Zusammenschnitt von Szenen vergangener Episoden. Mit gewachsenem Einfluss ersetzte Berman vor Beginn der dritten Staffel einen Großteil des Stabs. Dazu gehörte auch Drehbuchautor Maurice Hurley, der in seiner Funktion als Supervising Producer durch Michael Wagner ersetzt wurde. Wagner schied nach drei Wochen Arbeit für die Serie wieder aus dem Stab aus, hatte in dieser Zeit aber seinen früheren Kollegen Michael Piller als Drehbuchautor engagiert. Piller fungierte fortan als leitender Drehbuchautor und – neben Berman und Roddenberry, dessen Einfluss weiter sank, – als Produzent. Er förderte im Gegensatz zu Roddenberry eine offene Atmosphäre bei den Treffen der Mitglieder des Drehbuchautorenteams. Eine wesentliche, von ihm ab der dritten Staffel verfolgte Regel für die Gestaltung der Drehbücher beschrieb er wie folgt: „Diejenigen Leute, die von außerhalb des Schiffes kommen, müssen Auslöser dafür sein, dass unsere Leute“, womit die Hauptfiguren gemeint sind, „in ihre persönlichen Konflikte geraten.“ Piller führte mit Beginn der dritten Staffel die Möglichkeit ein, auch unverlangt eingesandte Manuskripte in die Auswahl für Drehbücher einzubeziehen. Damit konnten auch Amateure, Freiberufler und andere Autoren, die nicht zum Autorenteam gehörten, Drehbücher beisteuern. Die Serie war die erste und – bis zum Beginn von Deep Space Nine einzige – US-Fernsehserie, bei der diese Möglichkeit bestand. Das Produktionsteam erhielt pro Jahr über 3000 solcher Manuskripte. Um die Qualität der Manuskripte zu steigern, veranstalteten etablierte Drehbuchautoren auch Schreibworkshops bei Star-Trek-Conventions. Nach Konflikten mit Piller während der Produktion der dritten Staffel schieden die Drehbuchautoren Hans Beimler, Richard Manning und Melinda Snodgrass aus dem Stab aus. Auf Pillers Fürsprache hin wurde Ronald D. Moore ins Drehbuchautorenteam aufgenommen, nachdem Moores Manuskript als Episode Mutterliebe (Staffel 3) verfilmt worden war; in den Folgestaffeln wurde Moore zum Story Editor und Produzenten befördert. Von ihm stammen viele der auf die Klingonen zentrierten Geschichten. Drehbuchautor Brannon Braga, auf den viele der sich um Realitätsverzerrungen drehenden Geschichten zurückgehen, war in der dritten Staffel noch als Praktikant tätig. Er wurde später ebenfalls ins Team aufgenommen und zum Story Editor befördert. Moore und Braga, damals noch Twens, wurden zu zwei der am häufigsten eingesetzten Drehbuchautoren. Insgesamt nennen die Credits etwa 150 an der Entstehung der Drehbücher beteiligte Autoren. Dazu gehören auch Wissenschaftler wie der in der zweiten Staffel als Story Editor eingesetzte Physiker Leonard Mlodinow. Der Linguist Marc Okrand, Erschaffer der klingonischen Sprache, steuerte die klingonischen Ausdrücke bei. Der Ingenieur Naren Shankar war anfangs Praktikant der Writers Guild und fungierte hauptsächlich als wissenschaftlicher Berater. Trotz des Einspruchs mehrerer Drehbuchautoren vermied Berman Fortsetzungsgeschichten weitestgehend, damit die Fernsehsender die Ausstrahlungsreihenfolge frei wählen konnten. Picard-Darsteller Stewart und Riker-Darsteller Frakes setzten sich dafür ein, sexistische Passagen aus den Drehbüchern zu entfernen. Mehrfach mit seinem Ausstieg aus der Serie drohend, setzte Stewart ab der dritten Staffel auch durch, dass seine Rolle komplexer angelegt wird. Dazu gehörten Tätigkeiten für Picard, die über Routineabläufe auf der Enterprise hinausgehen. Als gefährlichste Gegner der Föderation dienten den Autoren zunächst die Ferengi und – als sich ihnen diese nicht als bedrohlich genug erwiesen – die von Hurley geschaffenen Borg. Der Zweiteiler Der Kampf um das Klingonische Reich (Staffeln 4 und 5) war ursprünglich als die Staffeln 3 und 4 verbindender Cliffhanger geplant, wurde jedoch zugunsten der Borg-zentrierten Episoden In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde verschoben. Am Drehbuch für den Zweiteiler Geheime Mission auf Celtris Drei (Staffel 6), in dem Picard in cardassianischer Gewalt gefoltert wird, wirkte auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International mit. Manche Episodendrehbücher entstanden inspiriert durch Spielfilme und literarische Werke (Beispiele siehe auch: Staffel 6). Joe Menosky, Drehbuchautor ab der vierten Staffel, ließ sich in seiner zweijährigen Zeit als Story Editor und Co-Produzent beim Großteil der von ihm mitverfassten Episoden von den Büchern des US-Schriftstellers James Hillman inspirieren. Für die Geschichte, die in dem Zweiteiler Wiedervereinigung? (Staffel 5) erzählt wird, nutzte Michael Piller die deutsche Wiedervereinigung als Ausgangspunkt. Wiedervereinigung? wurde Roddenberry gewidmet, der kurz vor der US-Erstausstrahlung verstorben war. Der Zweiteiler bildet mit den Auftritten von Leonard Nimoy und Mark Lenard in den Rollen von Spock bzw. Sarek ein Beispiel für Episoden, in denen Darsteller ihre in Raumschiff Enterprise gespielten Figuren als Gastrollen erneut verkörperten. Weitere Beispiele sind der Pilotfilm, in dem DeForest Kelley als Dr. McCoy auftritt, und die Episode Besuch von der alten Enterprise (Staffel 6), in der James Doohan als Ingenieur Scott mitwirkt. Jeri Taylor gehörte ab der vierten Staffel zum Drehbuchautorenteam und war darin die einzige Frau. Für die fünfte Staffel verfolgte sie die Absicht, die Figur Troi, die sie als zu eindimensional und unterbenutzt empfand, stärker in die Handlung einzubinden. Mit Beginn der sechsten Staffel wurde sie neben Piller und Berman, die sich von da an zudem der Produktion von DS9 widmeten, zum Co-Executive Producer. Szenenbild, Kostüme und Masken Für das Raumschiffinnere, vor allem für Korridore, wurden etliche Sets aus den ersten vier Star-Trek-Kinofilmen wiederverwendet und angepasst. Die für die Filme verwendete Brücke, wurde als Kampfbrücke der U.S.S. Enterprise und für die Brücke des Raumschiffs USS Stargazer neu verwendet. Die Konsole des Sternenflottenkommandos aus dem vierten Film für einen Teil des neuen Maschinenraums. Szenenbildner in der ersten Staffel war Herman F. Zimmerman, ab der zweiten Staffel Richard D. James. Einhergehend mit dem Personalwechsel und infolge von Budgeterhöhungen kamen modifizierte Sets zum Einsatz. Dazu gehörte auch der Raumschiffshintergrund, das heißt das All und die Sterne. Weil an dem für das schwarze All anfangs verwendeten Material Duvetine zu viel Schmutz haften blieb, ersetzte James es zu Beginn der zweiten Staffel durch schwarzen Samt, auf den Sterne geklebt wurden. In der ersten Staffel kamen für Planetenoberflächen noch Zykloramen und Pappmaché-Felsen zum Einsatz, die aus Raumschiff Enterprise wiederverwendet wurden. Felsen aus Pappmaché gab es auch in späteren Staffeln. Zumindest für die Episode Eine Handvoll Datas (Staffel 6) wurde auch ein Set von Warner Bros. verwendet. Für auf Computerkonsolen angezeigte und sich bewegende Grafiken verwendete man in den ersten 30 Episoden Polarisationsfilter auf drehbaren Rädern. Diese Technik diente als Ersatz für Bildschirme, welche durch ihre 24-Hertz-Frequenz nicht mit der 30-Hertz-Frequenz des Fernsehens synchronisierbar waren. Ab der 31. Episode kamen stattdessen Bildschirme von Sony zum Einsatz. Für die grafische Gestaltung der Computerkonsolen war der Bühnenbildner Michael Okuda verantwortlich, der in dieser Funktion bereits beim vierten Star-Trek-Kinofilm mitgewirkt hatte. Die von ihm geschaffenen zahlreichen, im Raumschiffinneren enthaltenen Displays zur Bedienung des Schiffscomputers basierten auf Ideogrammen; deshalb etablierte sich gemeinhin die Bezeichnung „Okudagramme“. Der Designer William Ware Theiss entwarf die in den ersten beiden Staffeln eingesetzten Sternenflottenuniformen. Robert Blackman, der ab der dritten Staffel die Funktion des Kostümdesigners ausübte, gestaltete die zu Beginn jener Staffel für besseren Tragekomfort eingeführten Uniformen; sie kosteten je etwa 3000 US-Dollar. Wie schon in Raumschiff Enterprise gibt es je nach Funktionsbereich schwarz-rote, -gelbe und -blaue Uniformen; im Unterschied zur Originalserie stehen die schwarz-roten Uniformen nun aber für Kommando- und Navigationsfunktionen und die schwarz-gelben für technisches und Sicherheitspersonal. Für das Make-up war der Oscar-Preisträger Michael Westmore verantwortlich. Schauplätze und Dreharbeiten Die Dreharbeiten für den Pilotfilm begannen am 29. Mai 1987. Sie fanden überwiegend in den Paramount-Studios in Hollywood statt. Die verhältnismäßig wenigen Außendrehs entstanden an kalifornischen Schauplätzen, meist in und um Los Angeles. Dazu gehörten für den Pilotfilm der Griffith Park und für andere Episoden das Tillman Water Reclamation Plant bei Van Nuys und die Movie Ranch Golden Oaks Ranch. Die Dreharbeiten für die Episode Die letzte Mission (Staffel 4) führte man über zwei Tage hinweg in der Salztonebene El Mirage Lake durch. Die Serie wurde auf 35-mm-Film und optimiert für das Fernsehbildformat 4:3 gedreht. Die Postproduktion der ersten beiden Staffeln fand auf analogem Videoband mit Composite-Video-Datenübertragung statt. Über den Serienverlauf hinweg kamen insgesamt 28 Regisseure zum Einsatz. Zu den aktivsten gehören Cliff Bole (25 Episoden), Les Landau (22), Winrich Kolbe (16), Rob Bowman (13) und Robert Scheerer (11). Von den Hauptdarstellern führten Jonathan Frakes (8), Patrick Stewart (5), LeVar Burton (2) und Gates McFadden (1) Regie (siehe Hauptartikel: Liste der Star-Trek-Regisseure). Kameramann war in den ersten beiden Staffeln Edward R. Brown. Ihm folgte bis zum Beginn der sechsten Staffel Marvin V. Rush, danach übernahm – mit Ausnahme zweier Episoden in der siebten Staffel – Jonathan West. Spezialeffekte und visuelle Effekte Ein Teil der Spezialeffekte wurde mittels Motion-Control-Fotografie erstellt, ein geringer Teil mit CGI. Matte Paintings, etwa von Planetenoberflächen und Landschaften, lieferte die Firma Illusion Arts. Zumindest in der ersten Staffel wurden auch Effekte aus den Star-Trek-Kinofilmen wiederverwendet, so etwa ein Matte Painting des Sternenflottenhauptquartiers. Von Industrial Light & Magic stammten zwei etwa 60 bzw. 180 Zentimeter lange Modelle der Enterprise, die zusammen etwa 75.000 US-Dollar kosteten. Diese beiden Modelle wurden hauptsächlich in den ersten beiden Staffeln verwendet. Das große war darüber hinaus das einzige Modell, mit dem die Sequenzen, in denen das Schiff geteilt wird, gefilmt werden konnten; Mit diesen Modellen erstellten Industrial Light & Magic (für den Pilotfilm) und Image G wiederverwendbare Bluescreen-Aufnahmen. Ab Mitte der dritten Staffel ersetzte ein neues, etwa 120 Zentimeter langes Modell der Enterprise die beiden Vorgänger, da das große Modell sich als zu sperrig erwies und das kleine zu detailarm war. Die Modelle für das Borg-Raumschiff schuf Starlight Effects. Bis zur fünften Staffel wurden auch die Modelle der klingonischen Raumschiffe aus den Star-Trek-Kinofilmen wiederverwendet. Die eingesetzten Raumschiffmodelle hatten meist keine zueinander maßstabsgerechte Größe, sodass bei den Motion-Control-Aufnahmen Umrechnungen erforderlich wurden. Pro Episode entstanden durchschnittlich 50 bis 60, teils über 100 Einzelaufnahmen für visuelle Effekte, für die komplette erste Staffel waren es etwa 1800. Angesichts der großen Menge an benötigten Effekten und der im Vergleich zu Kinofilmen knapperen Zeit für ihre Erstellung entschieden die Produzenten zur Vermeidung zu hoher Kosten, die Effekte auf Video und nicht auf Negativfilm produzieren zu lassen. Mit dieser Entscheidung war allerdings auch ein beträchtlicher potentieller Einnahmeverlust für das Filmstudio verbunden. Denn damit wurde auch die Bildauflösung auf das US-amerikanische NTSC-Format festgelegt. Aus diesem Grund konnten die Episoden nicht wie damals üblich zu Spielfilmen für ausländische Kinos zusammengeschnitten werden und überdies nur mit Qualitätsverlusten in ausländischen Videoformaten wie etwa PAL vertrieben werden. Etwa 90 Prozent der Sequenzen, aus denen die Effekte bestehen, wurden zunächst auf 35-mm-Film aufgenommen und anschließend in das Videoformat übertragen. Für die Erstellung der Effekte war hauptsächlich die Firma The Post Group zuständig, für den Transfer der Filmaufnahmen auf Video und das Bluescreen-Compositing die Firma Composite Image Systems. Sie gehörten damals im Bereich der Video-Postproduktion zu den führenden Unternehmen. Mit Produktionsbeginn der sechsten Staffel wurden diese Unternehmen durch Digital Magic bzw. CIS Hollywood ersetzt. Die Erstellung der visuellen Effekte leiteten Robert Legato und Dan Curry. Um aus mehreren Sequenzen Effekte zu erstellen, wurde auch Technik von Grass Valley verwendet. Planeten und Effekte wie etwa Phaser-Schüsse entstanden unter Verwendung von Apparaten der Firma Quantel. Für das Bluescreen-Compositing kam auch Technologie von Ultimatte zum Einsatz, deren Vorteil gegenüber früheren Technologien es war, Schatten und Reflexionen realistischer wirken zu lassen. Vertonung Die von Dennis McCarthy geschaffene Titelmusik ist eine Bearbeitung von Jerry Goldsmiths Titelmelodie aus Star Trek: Der Film von 1979 und des Classic-Themas von Alexander Courage. McCarthy wechselte sich in der Funktion des hauptsächlichen Musikkomponisten episodenweise zunächst mit Ron Jones ab. Jones zeigte sich davon überzeugt, die in der Zukunft spielende Handlung optimal mit elektronischer Musik zu unterlegen. Sein Stil missfiel jedoch der Paramount-Leitung, die ihn als „störend“ und mit den Toneffekten konfligierend empfand und Jones deshalb kurz vor Ende der Produktion der vierten Staffel entließ. Daraufhin ersetzte ihn Jay Chattaway. Für die Tonmischung, den Tonschnitt und das Automatic Dialogue Recording war die in Hollywood ansässige Firma Modern Sound verantwortlich. HD-Restaurierung Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Erstausstrahlungsstarts (1987) begann 2012 der Paramount-Eigentümer CBS, die Episoden für die Veröffentlichung in HD-Auflösung auf Blu-ray Disc, aber auch für spätere Fernsehausstrahlungen und den Online-Vertrieb, restaurieren zu lassen. Die einfache Konvertierung der finalen Schnittfassungen war nicht möglich, weil sie auf Video in Standardauflösung gespeichert worden waren. Deshalb wurden die originalen Filmnegative mittels HD-Abtastung neu eingescannt. Dazu mussten zunächst die insgesamt über 25.000 Filmrollen mit den Originalnegativen aus den Paramount-Archiven ausgehoben und gereinigt werden. Auch, weil die originalen visuellen Effekte für das Format 4:3 aufbereitet worden waren, entstanden die HD-Schnittfassungen in 4:3. Manche visuelle Effekte wie Phaserschüsse oder Beamvorgänge wurden neu erstellt, statt sie zu konvertieren. Zudem wurden perspektivische Fehler im Weltraum und fehlgeleitete Schatten korrigiert. Auch manche Matte Paintings erstellte man neu. Die finale englischsprachige Schnittfassung erhielt eine Tonspur in DTS-HD 7.1. Der Restaurierungsprozess beanspruchte pro Episode zwischen vier und sechs Wochen und wurde von Michael Okuda überwacht. Die Restaurierung allein der ersten Staffel kostete 9 Millionen US-Dollar. Die Verantwortung für die Restaurierung hatte die Firma CBS Digital. Zur Beschleunigung der Arbeit war ursprünglich vorgesehen, die Restaurierung der Staffeln 2, 4 und 6 an einen Subunternehmer abzugeben. Aufgrund der Reaktionen von Blu-ray-Konsumenten, die manchen visuellen Effekten in der von HTV-Illuminate restaurierten, zweiten Staffel Qualitätsmängel bescheinigten, beauftragte CBS Digital für die vierte Staffel das Unternehmen Modern VideoFilm; die sechste Staffel übernahm CBS Digital selbst. Besetzung und deutsche Synchronfassung Um die Schauspieler-Gagen zugunsten des restlichen Budgets möglichst gering zu halten, wählte Paramount weitgehend unbekannte Schauspieler aus. Dazu gehörte auch der Bühnenschauspieler Patrick Stewart, der Produzent Robert Justman auffiel, als er bei einer Shakespeare-Aufführung mitspielte. Stewart erhielt für die Rolle des Captain Picard schließlich den Vorzug vor Stephen Macht. Alle Hauptdarsteller unterzeichneten Verträge für die Dauer von zunächst sechs Jahren. Für die Rolle des Riker war ursprünglich Billy Campbell vorgesehen. Auch war zunächst geplant, die Figur Troi mit Denise Crosby zu besetzen und die Figur Yar mit Marina Sirtis; erst bei den Dreharbeiten zum Pilotfilm wurden beide Schauspielerinnen miteinander vertauscht. Crosby verließ die Serie am Ende der ersten Staffel, weil sie mit der Entwicklung ihrer Rolle unzufrieden war. Die Kinoschauspielerin Whoopi Goldberg bat selbst bei den Produzenten um eine Rolle in der Serie. Vor allem auf Roddenberrys Bestreben hin wurde Gates McFadden nach der ersten Staffel entlassen, jedoch zur dritten Staffel zurück in ihre ursprüngliche Rolle geholt. In der zweiten Staffel wurde sie durch Diana Muldaur ersetzt, deren Name – im Gegensatz zu den anderen Hauptdarstellern – nicht in den Opening Credits des Vorspanns, sondern danach als „Special Guest Star“ geführt wurde. Wil Wheaton verließ die Besetzung 1990, da er sich schauspielerisch unterfordert fühlte. Die ersten 14 Episoden der ersten Staffel wurden für die von CIC vertriebenen Videokassetten durch die Alster Studios in Hamburg synchronisiert. Dialogregie führte Dieter B. Gerlach, der auch Dialogbuchautor war (siehe Hauptartikel: Staffel 1). Für die Ausstrahlung im Fernsehen wurde diese Fassung verworfen. Die vom ZDF ausgestrahlten Episoden 1 bis 83 wurden von Arena Synchron in Berlin synchronisiert. Verantwortlicher Dialogbuchautor und Dialogregisseur war bis Episode 75 Michael Erdmann. Für die Ausstrahlung bei Sat.1 erfolgte die Synchronisation ab der 84. Episode zwar weiterhin durch Arena Synchron, nunmehr aber unter der Verantwortung von Ulrich Johannson, der bereits ab der 76. Episode als Dialogbuchautor und Dialogregisseur fungierte. Im Zuge des Wechsels des ausstrahlenden Senders wurden auch die Synchronsprecher der Darsteller Patrick Stewart, Marina Sirtis, Gates McFadden und Whoopi Goldberg ausgetauscht. In der Episode Angriff der Borg – Teil 1 (Staffel 6) hat der populäre britische Wissenschaftler und Star-Trek-Fan Stephen Hawking einen Cameoauftritt, um den er selbst bat und in dem er sich selbst spielt. Seinetwegen wurde der Episode bei ihrer US-Erstausstrahlung eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit zuteil. Die Tabelle nennt die Schauspieler, ihre Rollennamen, ihre Zugehörigkeit zur Hauptbesetzung (●) bzw. zu den Neben- und Gastdarstellern (•) je Staffel und die Gesamtanzahl der Episoden mit Auftritten. Angegeben sind zudem die deutschen Synchronsprecher sowohl in der Fernsehserie als auch in den Kinofilmen. Veröffentlichung Fernsehausstrahlung 1991 wurde die Serie in mindestens 40 Ländern ausgestrahlt, bis 1994 von mehr als 200 Fernsehanstalten weltweit. Vereinigte Staaten Basierend auf dem großen Erfolg der Wiederholungen von Raumschiff Enterprise in syndizierter Ausstrahlung entschied Paramount, die neue Serie nicht durch ein Network, sondern ebenfalls syndiziert erstauszustrahlen. Damit stieß das Studio in eine Marktnische; Erstausstrahlungen fiktionaler Sendungen in syndizierter Form waren damals unüblich. Paramounts Geschäfts- und Ausstrahlungsmodell für die Serie beinhaltete mehrere innovative Marketing-Entscheidungen, unter anderem bezüglich der Werbeerlöse. Zudem zielte das Studio mit dem Modell auf die werberelevante Zielgruppe der 18–49-jährigen, männlichen Zuschauer ab. Das Studio machte es den Fernsehstationen, die die klassische Serie kaufen wollten, zur Bedingung, dass sie auch The Next Generation kaufen. Die neue Serie war die erste fiktionale Fernsehserie, deren Geschäftsmodell die neue Finanzierungsmethode “barter syndication” beinhaltete. Durch diese Variante wurde die Serie für das Studio wesentlich früher profitabel als mit einem Standard-Finanzierungsmodell. Die erste Staffel hatte eine wöchentliche durchschnittliche Reichweite von etwa 9,4 Millionen Haushalten. Bereits in dieser Staffel erzielte Paramount etwa 1 Million Dollar an Werbeeinnahmen pro Episode, das waren etwa 200.000 Dollar mehr als Networks gewöhnlich für einstündige Sendungen der Hauptsendezeit bezahlten. Mehrfach im Erstausstrahlungsverlauf setzte die Serie einen neuen Rekord unter allen Fernsehserien hinsichtlich des Preises, den Paramount pro 30-sekündiger Werbezeit verlangte. Im abschließenden Zweiteiler 1994 betrug dieser Preis 700.000 Dollar. Im Herbst 1992 war die Serie vier Wochen in Folge die meistgesehene, syndiziert ausgestrahlte Sendung – das hatte seit 1987 kein Programm außer Wheel of Fortune erreicht. Die finale Doppelepisode sahen bei ihrer Erstausstrahlung 1994 etwa 31 Millionen Zuschauer. Paramount beendete die Serie einerseits, um sie für Kinofilme zu adaptieren und die Picard-Crew auf die ins Rentenalter gekommene Crew um Captain Kirk folgen zu lassen. Andererseits wären die Produktionskosten nach der siebten Staffel zu sehr gestiegen und mit sieben Staffeln waren bereits genügend Episoden für die lukrativen täglichen Wiederholungen vorhanden. Das Budget betrug für die erste Staffel etwa 1,2 Millionen Dollar pro Episode und stieg bis zur siebten Staffel unterschiedlichen Angaben zufolge auf bis zu 2 Millionen Dollar – das entspricht etwa dem Doppelten des 1992 üblichen Budgets für Network-Fernsehserien. Für Paramount-Television-Chef McCluggage stand fest, dass es die teuerste Fernsehserie ist. 1992 betrug der Return on Investment der Serie 40 Prozent. Paramount erzielte mit der Erstausstrahlung der Serie bis 1994 Einnahmen von 511 Millionen Dollar und einen Gewinn von 293 Millionen Dollar; durch den Verkauf von Wiederholungsrechten kamen zusätzliche 161 Millionen Dollar an Einnahmen hinzu. Die Werbeeinnahmen berücksichtigt, war The Next Generation eine der lukrativsten Serien des US-amerikanischen Fernsehens. Bis heute ist sie die erfolgreichste syndiziert erstausgestrahlte Drama-Fernsehserie. Die Serie wurde im Fernsehen oft wiederholt und erreichte auch dabei außergewöhnlich hohe Zuschauerzahlen, so etwa 2001 beim Kabelsender TNN. Deutschsprachige Länder Am 7. September 1990 begann das ZDF mit der deutschsprachigen Erstausstrahlung. Die Episoden liefen im Nachmittagsprogramm in wöchentlichem Rhythmus. Der in zwei Einzelepisoden geteilte Pilotfilm erreichte 3,7 (Teil 1) beziehungsweise 2,8 (Teil 2) Millionen Zuschauer. Nach zwölf Episoden wechselte die Serie von Freitag auf Samstag. Bis zum Juni 1991 wurden 33 Episoden gesendet, wobei die Episode Die Verschwörung (Staffel 1) in einer geschnittenen Fassung lief und die vorerst letzte Episode Der Austauschoffizier (Staffel 2) nach gesunkenen Reichweiten in der zweiten Staffel nur noch etwa 1,9 Millionen Zuschauer erreichte. Von Februar bis November 1992 liefen die restlichen Episoden der zweiten Staffel und die ersten 19 der dritten Staffel wieder freitags, wobei die Reichweite teilweise auf deutlich unter eine Million Zuschauer sank. Beginnend im März 1993 und viermal pro Woche (Montag bis Donnerstag, nachmittags) wiederholte das ZDF alle bereits ausgestrahlten Episoden, ehe es im August desselben Jahres die restlichen der dritten Staffel und die ersten neun der vierten Staffel erstmals zeigte. 1993 übernahm der Privatsender Sat.1 die Erstausstrahlungsrechte und wiederholte ab Oktober 1993 im arbeitstäglichen Rhythmus zunächst alle vom ZDF bereits ausgestrahlten Episoden. Daran schloss sich im März 1994 die Erstausstrahlung der restlichen Episoden der vierten Staffel sowie die der kompletten Staffeln 5, 6 und 7 an. Dabei wurde die siebte Staffel mit zum Schluss nur zwei Monaten Abstand ungewöhnlich zeitnah zur US-amerikanischen Erstausstrahlung gezeigt. Die durchschnittliche Reichweite aller sieben, von Sat.1 erstmals gezeigten Staffeln lag bei 1,5 Millionen, vorwiegend jungen Zuschauern, eine von dem Sender als hochzufriedenstellend beurteilte Resonanz. Von 1995 bis 1999 wiederholte Sat.1 die komplette Serie 4-mal auf dem gleichen Sendeplatz. Als erster deutscher Fernsehsender begann der Pay-TV-Sender Syfy im September 2012 mit der deutschsprachigen Erstausstrahlung der HD-restaurierten Fassung; sie dauerte bis März 2015. Von Juli 2014 bis Januar 2015 sendete Tele 5 diese Fassung erstmals im Free-TV. Sowohl die ursprüngliche als auch die restaurierte Fassung wurden von Sat.1, Kabel 1 und Tele 5 als STAR TREK: Das nächste Jahrhundert angekündigt, jedoch stets mit dem Titel Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert im Vorspann ausgestrahlt. Heimkino-Veröffentlichung Paramount beschränkte die Fernsehausstrahlung der Serie anfänglich auf die Vereinigten Staaten und Kanada, um sie in anderen Ländern auf Videokassetten zu vermarkten. Auf VHS erschienen Episoden der ersten Staffel bis Frühjahr 1988 in acht europäischen und asiatischen Ländern; der Verdienst aus den Verkäufen betrug 2 Millionen Dollar. In den USA veröffentlichte Paramount von 1991 bis 1999 alle Episoden sowohl auf Videokassetten als auch auf Laserdisc. Für den deutschsprachigen Raum erschienen die durch die Alster Studios synchronisierten 14 ersten Episoden 1987 und 1988 im Verleih CIC auf VHS. 1995 begann der Nachfolgeverleih Paramount Home Entertainment mit der VHS-Veröffentlichung der durch Arena Synchron erstellten Synchronfassung, bis 1998 erschienen paarweise in mehrwöchigen Abständen alle Episoden der ersten fünf Staffeln und ein Teil der sechsten Staffel; 2002 folgten die übrigen Episoden. Pioneer veröffentlichte in den 1990er Jahren mindestens zwei deutsche LaserDisc-Ausgaben mit Episoden der Serie. Der Pilotfilm erschien als Teil der Ausgabe Star Trek: Die Pilot Filme. Unter dem Titel Star Trek: The Next Generation Angriffsziel Erde wurde der Borg-Zweiteiler als ein Film vertrieben. 2002 erschienen sowohl in den USA als auch in Deutschland alle sieben Staffeln auf DVDs im Regionalcode 2. Diese sowie alle folgenden Ausgaben sind von der FSK ab 12 Jahren freigegeben. Im Jahr 2009 wurden für den deutschsprachigen Markt alle sieben Staffeln erneut auf DVD veröffentlicht, diesmal in insgesamt 14 Boxen mit jeweils einer Staffelhälfte. Alle sieben Staffeln erschienen als Komplettausgabe mit der synchronisierten unrestaurierten Fassung im Dezember 2012 (Untertitel: The Full Journey) und im Februar 2015 (Untertitel: Die komplette Serie). Am 31. Januar 2012 erschienen der Pilotfilm und die Episoden Die Sünden des Vaters und Das zweite Leben als Vorabveröffentlichung für die HD-restaurierte Fassung auf der Blu-ray-Ausgabe The Next Level, auf Deutsch untertitelt mit Einblick in die nächste Generation. Die sieben restaurierten Staffeln erschienen als Blu-ray-Boxen von Juli 2012 bis Dezember 2014. Die in der ersten Woche nach Erscheinen in den USA verkauften 95.000 Boxen der ersten Staffel erzielten mit 5,73 Millionen Dollar die höchsten Einnahmen der Woche. Die Blu-ray-Ausgaben behalten das 4:3-Bildformat der unrestaurierten Fassung bei. Im April 2015 erschien eine mit The Full Journey untertitelte Komplettausgabe mit der Deutsch synchronisierten, restaurierten Fassung aller sieben Staffeln. Die deutschsprachigen DVD-Ausgaben der Staffeln 6 und 7 beinhalten statt der ursprünglichen Stereo-Tonspur eine Tonspur in Dolby Surround 5.1. Wegen dessen qualitativer Unterlegenheit gegenüber dem originalen Stereo-Ton gab es bei Change.org eine an CBS Home Entertainment gerichtete Petition, über die bis 2013 abgestimmt wurde und die den Verleih dazu bewog, die Blu-ray-Boxen dieser Staffeln mit der ursprünglichen Stereo-Tonspur auszustatten. Sowohl auf VHS als auch auf Laserdisc, DVD und Blu-ray erschienen zusätzlich zu den regulären Ausgaben auch Ausgaben mit thematisch zusammengefassten Episoden, etwa die VHS-Ausgaben Data Box und Captains Box. Gleiches gilt für zweiteilige Episoden, die – als ein Film offeriert – oft schon vor ihrer regulären Veröffentlichung erschienen. Kinovorführungen Hauptsächlich um die Erstveröffentlichungen der Blu-ray-Boxen der Staffeln 1 bis 3 zu bewerben, ließ die mit Eventagenturen kooperierende Firma CBS Home Entertainment je Staffelbox zwei populäre Episoden der Serie in ihren restaurierten Fassungen in Kinos vorführen, und zwar nur in einer Vorstellung am Abend vor dem Erscheinungstag und ergänzt durch eine Auswahl an Bonusmaterial. Anlässlich des Erscheinens der ersten Staffelbox kündigten die Unternehmen die Vorführung der Episoden Der Reisende und Das Duplikat in circa 500 US-amerikanischen, 55 kanadischen und etwa zwei Dutzend australischen Kinos an. Die zweite Staffelbox bewarb CBS mit der Vorführung der Episode Zeitsprung mit Q und der Langfassung der Folge Wem gehört Data? in etwa 550 ausschließlich US-amerikanischen Kinos. In Bezug auf die dritte Staffelbox kündigte das Unternehmen die Vorführung des Zweiteilers In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde in erneut 550 US-Kinos sowie etwa 60 kanadischen Kinos an. Video-on-Demand In den Vereinigten Staaten ist die Serie als Video-on-Demand bei Netflix, Amazon Instant Video, Hulu und iTunes verfügbar, zumindest bei Netflix seit 2015 in der restaurierten Fassung. Seit Ende 2016 ist die Serie bei Netflix weltweit verfügbar. Hörspiele und Soundtrack Das Label Karussell gab die ersten 10 Episoden auf Deutsch in Form von Hörspielen auf Musikkassetten heraus. Beim Musiklabel GNP Crescendo Records erschienen die folgenden Soundtrack-CDs (ST: TNG steht stellvertretend für Star Trek: The Next Generation): ST: TNG (1988 erschienen) enthält Musik aus dem Pilotfilm und eine andere, verworfene Version der im Vorspann verwendeten Titelmelodie. ST: TNG Vol. Two (1992) und ST: TNG Expanded Collector's Edition (2013) enthalten Musik aus dem Zweiteiler In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde. ST: TNG Vol. Three (1993) enthält Musik aus den Episoden Die alte Enterprise, Wiedervereinigung (Teile 1 und 2) und Der schüchterne Reginald. ST: TNG Collector's Set (1993) ist eine Zusammenstellung der ersten drei Ausgaben und erschien im deutschen Raum bei ZYX Music unter dem Titel The Original Star Trek Box: The Next Generation. ST: TNG Encounter at Farpoint / The Arsenal of Freedom (2014) enthält Musik aus dem Pilotfilm und der Episode Der Waffenhändler. Bei anderen Labels erschienen folgende Soundtrack-Ausgaben: ST: TNG The Ron Jones Project ist eine Sammlung der von Ron Jones für 40 Episoden der Serie komponierten Musik. Sie wurde 2010 von dem Label Film Score Monthly veröffentlicht, ist auf 5000 Exemplare limitiert und besteht aus 14 CDs mit über 16 Stunden Laufzeit. Beim Label La-La Land Records erschienen bislang zwei CD-Boxen, die je drei CDs beinhalten und auf 3000 Exemplare limitiert sind. Neben der Titelmelodie enthalten sie eine Auswahl an episodenspezifischen Kompositionen von Dennis McCarthy und Jay Chattaway sowie von den nachfolgend genannten Komponisten: ST: TNG Collection – Volume One erschien 2012 und enthält außerdem Musik von Fred Steiner, Don Davis, John Debney ST: TNG Collection – Volume Two erschien 2016 und enthält außerdem Musik von George Romanis Kritik Einige Kritikerstimmen Bezüglich der gegenüber Raumschiff Enterprise völlig neuen Raumschiffsbesatzung warfen Serienanhänger Gene Roddenberry Verrat vor. Auch von den Schauspielern der klassischen Serie kam Kritik. Scott-Darsteller James Doohan etwa fand, dass Star Trek so sehr mit den Charakteren synonym sei, dass niemand ersetzt werden könne. Nach der Erstausstrahlung des Pilotfilms lobte das Fernsehmagazin TV Guide die Serie als „würdigen Nachfolger“ der Originalserie und befand, dass Roddenberry nichts von seinem Einfallsreichtum und seinem Geschmack bei der Auswahl von Geschichten verloren habe. Die New York Times dagegen erhoffte sich mehr Lebendigkeit. Die ersten beiden Staffeln wurden gemeinhin als schwächer als die folgenden Staffeln beurteilt. So bemängelte Chris Gregory, Autor des Buches Star Trek: Parallel Narratives (2000), den von Roddenberry anfangs verfolgten Erzählstil als vorhersehbar und oberflächlich. Mit Beginn der dritten Staffel dagegen erkannten etliche Kritiker eine Verbesserung der Serie. Die Los Angeles Times zum Beispiel stellte es 1991 als das Verdienst Bermans und Pillers heraus, das Star-Trek-Universum in der dritten und vierten Staffel detaillierter, vielschichtiger und furchterfüllter gemacht zu haben. Gregory sah es ähnlich und erklärte die Zunahme von Resonanz und Tiefe in den Geschichten damit, dass die für die Roddenberry-Ära typischen, netten Auflösungen und moralischen Sicherheiten durch nunmehr oft vorkommende, mehrdeutige Enden abgelöst werden. Das US-Technologiemagazin Wired stellte die Qualität der Episoden als von der dritten bis zur siebten Staffel bemerkenswert und gleichbleibend hoch heraus. Der langjährige Herausgeber des offiziellen, englischsprachigen Star-Trek-Magazins, Brian J. Robb, lobte die Serie 2012 dafür, dass sie die Lebenswirklichkeit der 1990er Jahre in großartiger Weise mit den Visionen Roddenberrys zur Zukunft der Menschheit verbunden habe. Jedoch vermisste er bei Paramount die Einsicht dafür, dass sich die in der Serie dargestellten Probleme und Figuren tiefgründig viel effektiver in episodenübergreifender, fortgesetzter Handlung hätten erforschen lassen als in spielfilmähnlichen Episoden mit abgeschlossener Handlung. Im Vergleich mit den anderen Star-Trek-Fernsehserien befand die Online-Ausgabe der Time die Serie 2012 als nicht zu den besten gehörend; sie sei manchmal nicht weit genug davon entfernt gewesen, „abgedroschen oder gar langweilig“ zu sein. Die US-Tageszeitung The Christian Science Monitor beurteilte die Serie dagegen hinsichtlich des Reizes, den ihre Figuren mit Mut, Intelligenz, Einfühlungsvermögen und Toleranz auf die Zuschauer hätten, als die verglichen mit Deep Space Nine attraktivere. Allerdings kritisierte das Blatt es als „etwas zu nett“, dass der größte Teil der Raumschiffsbesatzung unverheiratet ist und dass jeder in seinem eigenen Quartier wohnt. Zwischenmenschliche Beziehungen mit „der typisch menschlichen Unordnung“ würden nur selten auftreten und – falls doch – durch die rasche Anwendung von “reason”, deutsch etwa „Rationalität“, oder durch eine Trennung aufgelöst. Melinda Snodgrass, Drehbuchautorin während der zweiten und dritten Staffel, kritisierte die Serie in der US-Zeitschrift Omni 1991 negativ. Sie sei bei weitem nicht so verwegen und unterhaltsam wie Raumschiff Enterprise und reflektiere die „schwerfällige, selbstgerechte neue Weltordnung der Ära Reagan und Bush“. Berman begegnete der Kritik 1992 in der Cinefantastique und bezeichnete Snodgrass' Meinung dabei als „Unsinn“. Die klassische Serie beschäftige sich mit dem Temperament und den Werten der 1960er Jahre, The Next Generation hingegen mit jenen der 1980er und 1990er; Amerika sei nun ein anderer Ort und „zynischer als die Kennedy-Jahre“. Weithin gelobt wurden die ersten drei, mitunter auch vier, Episoden, in denen die Borg auftreten. Zum Beispiel nach der Meinung von Thomas Richards, Autor des Buches The Meaning of Star Trek (1997), gehören die vier Episoden zu den größten Leistungen der Science-Fiction. Er – wie auch andere Kritiker – übte aber scharfe negative Kritik am späteren Auftritt der Borg in dem Zweiteiler Angriff der Borg (Staffeln 6 und 7), in denen ihre tragische Bedrohung allmählich zur komödiantischen Farce verkomme und sie „wie aufgezogene Spielzeugfiguren“ über den Bildschirm taumelten. Unter den Schauspielern wurden vor allem Patrick Stewart und Brent Spiner für ihre Leistungen gewürdigt. Richards zum Beispiel pries Brent Spiner für seine Fähigkeit als Imitator; er verleihe Data eine unerschütterliche, ruhige und an Buster Keaton erinnernde Komik. In seinem 1995 herausgegebenen Buch The Physics of Star Trek würdigte der Physiker Lawrence Krauss zum Beispiel die Thematisierung von kosmischen Fäden, wohingegen er die Säuberung der Enterprise von Baryonen in der Episode In der Hand von Terroristen (Staffel 6) als unglaubhaft kritisierte. Die visuellen Effekte der unrestaurierten Fassung fanden gemischte Resonanz. Die Los Angeles Times beurteilte sie schon nach der ersten Staffel als zu den “most sophisticated” (Deutsch etwa: „ausgeklügeltsten“) der Fernsehgeschichte zählend. Die Online-Ausgabe der Cinefantastique war 2009 weniger überzeugt; sie hätten zwischen akzeptabel und riskant geschwankt. Die HD-restaurierte Fassung fand weithin große Anerkennung für Schärfe und Detailreichtum von Bild und Ton. Der deutsche Filmdienst beurteilte die 1988/89 synchronisiert auf VHS erschienenen 14 Episoden weitgehend negativ (siehe Staffel 1). Das Magazin kritisierte den Pilotfilm als eine „eher enttäuschende“ Neubelebung von Raumschiff Enterprise und sprach dabei von einem „naiven Märchen“. Auch retrospektiv, 1996, gab sich das Magazin wenig überzeugt und sprach, auch auf fehlenden Humor in der Handlung anspielend, von einer „eher steifen Art“ und einer „aseptischen Ästhetik“ der erzählten Geschichten. Die Zeit beurteilte die Serie bei ihrem ZDF-Ausstrahlungsbeginn 1990 als „zwar gut gemachte Unterhaltung, aber eben nicht mehr als irgendeine Science-fiction-Serie mit vielen Spezialeffekten“. Die weiblichen Charaktere seien etwas farblos geraten und die Anwesenheit der Familien auf dem Schiff sei „ärgerlich“, vor allem in Anbetracht des „altklugen“ – und deshalb auch unter Fans negativ kritisierten – Wesley Crusher. Etliche Fernsehzeitschriften hoben das Fehlen von Kirk und Spock hervor. Kritik an der deutschen Synchronfassung Mike Hillenbrand und Thomas Höhl, Autoren verschiedener Bücher zum Thema Star Trek, kritisierten den ZDF-Fernsehtitel Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert als missverständlich, weil so der Irrtum entstehen könne, die Serie spiele in dem von der Erstausstrahlungszeit aus betrachteten nächsten, also dem 21. Jahrhundert. Sie lobten die für das ZDF angefertigte Übersetzung als sprachlich sehr gelungen und die ausgewählten Sprecher als generell sehr gut. Sie bemängelten aber beim deutschen Ton, dass dieser in den betreffenden Staffeln nicht in Stereo vorliege und dass Geräusche und Musik teilweise viel zu leise wiedergegeben würden. Von der Sat.1-Synchronfassung zeigten sich die beiden gänzlich enttäuscht; sie sei fehlerreich, enthalte „unsinnigste Fremd- und Phantasiewörter“ und lasse Sprechpausen vermissen. Sie beanstandeten die Übersetzung als zu wörtlich und viele falsche Freunde beinhaltend und vermissten bei Cliffhanger-Episoden die „Fortsetzung folgt“-Einblendung. Dass Data in der Episode Die ungleichen Brüder (Staffel 4) fälschlicherweise mit der eigenen statt mit Picards Stimme spricht, bewerteten sie als „größten Fehler der Synchrongeschichte“ von Star Trek. Ehrungen Für einen Primetime Emmy Award wurde die Serie insgesamt 58-mal – je Staffel zwischen 5- und 10-mal – nominiert und insgesamt 18-mal – je Staffel mindestens 2-mal – prämiert. Eine Nominierung gab es für die siebte Staffel in der wichtigsten Kategorie Beste Dramaserie. Alle anderen Nominierungen gab es in technischen Kategorien, darunter Frisur, Kamera, Kostümdesign, künstlerische Leitung, Musikkomposition und Schnitt. Die meisten Nominierungen erhielt die Serie für das Make-up (9-mal nominiert, 2-mal prämiert) und für die visuellen Spezialeffekte (8-mal nominiert, 3-mal prämiert). Die meisten Prämierungen gab es – bei jeweils einer Nominierung pro Staffel – für die Tonmischung (5-mal prämiert) und den Tonschnitt (4-mal prämiert). In Kategorien, die etwa Schauspielleistungen, Drehbuch oder Regie würdigen, wurde die Serie nicht berücksichtigt. Außerdem wurde die Serie von 1990 bis 1995 sechsmal in Folge als Beste Network-Fernsehserie für einen Saturn Award nominiert und damit 1990 und 1991 prämiert. Die Episode Der große Abschied (Staffel 1) wurde mit dem renommierten Fernsehpreis Peabody Award ausgezeichnet. Die Episode Das zweite Leben (Staffel 5) und der Abschlusszweiteiler wurden mit dem Science-Fiction-Preis Hugo geehrt, beim Pilotfilm blieb es für selbigen Preis bei einer Nominierung. Patrick Stewart wurde für den von der US-amerikanischen Schauspielergewerkschaft Screen Actors Guild vergebenen SAG Award 1995 nominiert. Wil Wheaton erhielt – bei drei konsekutiven Nominierungen – eine Prämierung für den Young Artist Award als bester Jungschauspieler. Unter anderem die American Society of Composers, Authors and Publishers und die Cinema Audio Society ehrten die Musik und die Vertonung der Serie. Das US-Branchenmagazin TV Guide nahm die Serie 2002 auf dem 46. Platz seiner Liste der 50 unterhaltsamsten oder einflussreichsten Fernsehserien der amerikanischen Popkultur auf, darin ist sie eine von nur zwei für die Syndication produzierten Serien. In der 2008 erschienenen Liste der 50 besten Fernsehserien aller Zeiten des britischen Filmmagazins Empire belegt die Serie den 37. Platz. Die Writers Guild of America nahm Das nächste Jahrhundert 2013 in ihre Liste der 101 Best Written TV Series auf, in der sie sich den 79. Platz mit drei anderen Serien teilt. Analyse und Interpretation Einige Themen Unter den von der Serie aufgegriffenen Themen befinden sich auch einige, die in Raumschiff Enterprise noch nicht behandelt worden waren. Ein Beispiel ist Terrorismus, um den es in Terror auf Rutia-Vier (Staffel 3) und In der Hand von Terroristen (Staffel 6) geht. Die erstgenannte Episode ist eine Allegorie auf den Nordirlandkonflikt, weswegen sie bei der Erstausstrahlung der Serie im Vereinigten Königreich und in Irland ausgelassen wurde. Drogenmissbrauch wird in der Episode Die Seuche (Staffel 1) thematisiert. Die Episode Die Raumkatastrophe (Staffel 7) handelt von den negativen Folgen von Warp-Flügen für eine bestimmte Gegend im All und reflektiert damit Umweltzerstörung durch Abgase und Straßenverkehr. Die Waffenhändler (Staffel 1) und Die Raumkatastrophe lassen sich auch unter dem Themengebiet Technikfolgenabschätzung zusammenfassen. Gentechnik, Genmanipulation und Klonen werden in den Episoden Die jungen Greise, Der Planet der Klone (beide Staffel 2) und Das künstliche Paradies (Staffel 5) thematisiert. In Die Operation (Staffel 5) geht es um Medizinethik und die von Dr. Crusher letztlich verneinte Frage, ob es verantwortbar sei, Forschungsbelange über das Leben der Patienten zu stellen. Mehrere Episoden, darunter Die Macht der Naniten (Staffel 3) und Traumanalyse (Staffel 7), befassen sich mit Invasionen im weitesten Sinne, darunter solchen durch Viren, Computerviren und Außerirdische. In ihnen wurden Einflüsse des verstärkten Einsatzes von Heim- und Arbeitsplatzcomputern und der aufkommenden Angst vor AIDS erkannt. Ein wiederholt aufgegriffenes Thema ist der Missbrauch von Technik. Zum Beispiel lässt sich die Episode Der schüchterne Reginald (Staffel 3), in der sich der sozial unsichere Barclay im Holodeck eine Ersatzwelt schafft, um seinen Vorgesetzten auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, als Reflexion der Gefahr von exzessiver Mediennutzung im Allgemeinen und Computerspielen im Speziellen verstehen. In Die Auflösung (Staffel 4) wird das Thema Sterbehilfe aufgegriffen. Um eine Frau, die einem Mann als Ehefrau versprochen wurde, und damit um das Thema Arrangierte Heirat geht es in Eine hoffnungslose Romanze (Staffel 5). Die Episode Das Gesetz der Edo, in der Wesley Crusher beim Besuch einer fremden Kultur wegen einer versehentlichen Handlung zum Tode verurteilt wird, wurde als Kommentar zur Todesstrafe in der Regierungszeit von Ronald Reagan aufgefasst. Das Standgericht (Staffel 4) handelt von einer Hexenjagd durch eine Sternenflottenoffizierin und diente als Anklageschrift gegen die McCarthy-Ära. Ein Thema, das auch schon in Raumschiff Enterprise aufgegriffen wurde, ist der Umgang mit den nordamerikanischen Indianern. Die Episode Am Ende der Reise (Staffel 7) stellt bezüglich dieses Themas die Frage nach der Schuld für die Vertreibung der Indianer von ihrem Land. Unter Pillers Einfluss endeten viele Geschichten ab der dritten Staffel mit einer – verglichen mit den ersten beiden Staffeln – moralisch mehrdeutigeren Auflösung. Zum Beispiel lässt Picard in der Episode Die Überlebenden auf Rana–Vier (Staffel 3) den Mann, der für den Mord an vielen Tausend Individuen verantwortlich ist, allein auf dem Planeten zurück, weil es kein Gericht gibt, vor dem sich der Mann verantworten könnte. Vor allem ab der vierten Staffel widmeten sich viele Episoden dem privaten bzw. familiären Hintergrund der Hauptfiguren. Eine Geschichte wurde dann oft im Rahmen der Parallelmontage in einem zweiten Handlungsstrang erzählt und floss schließlich mit der Haupthandlung zusammen. Deutungen und Kontroversen Soziale und technologische Utopie Bei der Produktion von Raumschiff Enterprise wurde Roddenberry durch Paramount oft dazu gedrängt, Drehbücher so zu überarbeiten, dass sie mehr Action beinhalten als ursprünglich vorgesehen. Dadurch konnte Roddenberry seine Vorstellungen einer eher diplomatisch als kämpferisch agierenden Föderation nicht in dem von ihm vorgesehenen Umfang verwirklichen; Captain Kirks Verhalten ähnelt deshalb dem eines Draufgängers. Eine derartige Einschränkung gab es bei Das nächste Jahrhundert nicht, weshalb die Darstellung der Föderation hier seiner Utopie am nächsten kommt. Zu dieser Utopie gehört, dass auf der Enterprise Schwarze und Weiße, Frauen und Männer, Menschen und Menschenähnliche friedvoll miteinander leben, arbeiten und einander helfen. Die Sternenflotte wird in der Serie wie eine große Familie dargestellt. In der Föderation gibt es keine sozialen und militärischen Konflikte mehr, die durch Geld oder Hungersnöte ausgelöst werden. Zum idealisierten Bild gehört auch, dass Picards Befehle abgewogen und selten unvernünftig sind. Berman betonte nach Roddenberrys Tod, mit der Serie weiterhin dessen Vision von einer Zukunft umzusetzen, die viel besser als die Gegenwart ist. In Kritiken wurden die von der Serie vermittelten sozialen Interaktionen als ethisch und moralisch vorzugswürdig und als wünschenswert gegenüber den zeitgenössischen Verhältnissen verstanden. Drehbuchautor Braga charakterisierte das 24. Jahrhundert als einen perfekten Ort, „wo Menschen die Kleinlichkeit überwunden haben, die zu abscheulichen Taten führt, dass sie aber ihre schattigen, dunklen Seiten nicht verloren haben“ und sich derer bewusst sind. Als beispielhaft und typisch für die Absicht von Star Trek, Werte wie Toleranz und Respekt vor anderen Kulturen zu vermitteln, hoben etliche Kritiker die Episode Darmok (Staffel 5) hervor, in der es Picard mit dem Mittel der Kommunikation schafft, einen Krieg zu verhindern. Zur technologischen Utopie der Serie wie auch ihrer im selben Jahrhundert spielenden Nachfolgeserien gehört auch die ganz selbstverständliche Kommunikation über ein System ähnlich dem Internet, welches in der Realität zur Entstehungszeit noch kein verbreitetes Kommunikationsmedium war. Die technologische Utopie schließt zudem das Holodeck ein. Die Idee für das Holodeck basiert auf einem für die klassische Serie aufgestellten, aber dort nicht realisierten Konzept namens “rec room”, einem holografischen Unterhaltungszentrum. Es kam bereits in der Episode Das lachende Ungeheuer der Zeichentrickserie Die Enterprise zum Einsatz und wurde für Das nächste Jahrhundert weiterentwickelt. Die Theorie, mit der die Drehbuchautoren das Beamen in Raumschiff Enterprise erklärten, ignorierte quantenmechanische Grundlagen wie etwa die Heisenbergsche Unschärferelation. Deshalb ergänzten Rick Sternbach und Michael Okuda die Funktionsweise des Transporters auf der Enterprise-D um den fiktiven „Heisenberg-Kompensator“ (Siehe auch: Star-Trek-Technologie). Religion, Wissenschaft und Rationalismus Verglichen mit Raumschiff Enterprise wurde die Darstellung von Religion in Das nächste Jahrhundert einerseits als fortgeschrittener, subtiler und komplexer gedeutet. Der Glaube sei nun auch ein Teil höher entwickelter Kulturen, etwa der Klingonen, die an die Rückkehr des toten Kriegerkönigs Kahless und an die Totenreiche für die Ehrbaren und Entehrten glauben. Andererseits wurde aber eine in der Serienutopie geringgeschätzte Rolle des religiösen Glaubens erkannt, lautet eine Meinung in Bezug auf Picards Aussage in der Episode Der Gott der Mintakaner (Staffel 3), der zufolge die Föderationsmitglieder „diese Art von Glauben seit Jahrhunderten überwunden“ haben. Auf diese Episode als Beispiel verweisend, deutete das Autorenduo Michèle und Duncan Barrett die Serie als “militantly secular”, als „militant säkular“. Die Serie impliziere, dass Humanismus die Ablösung Gottes und die Erhebung der Menschheit an die moralische Spitze bedeute. Zudem glaubten beide in mehreren Episoden, darunter Der Pakt mit dem Teufel (Staffel 4), ein Muster zu erkennen, dementsprechend die Enterprise-Crew Wissenschaft wiederholt dazu benutze, die Falschheit religiöser Grundsätze zu beweisen. Weiterhin kamen sie zum Schluss, dass die Serie wegen der Geringschätzung von Religion einerseits und der hohen Bedeutung von Wissenschaft und Technologie andererseits den Rationalismus innerhalb Star Treks am stärksten repräsentiere. Borg Die Borg lassen sich als sozialistische Gesellschaft verstehen, unter anderem weil sie als Kollektiv funktionieren und weil zwischen ihren Vertretern keine Konkurrenz, sondern Kooperation herrscht. Die Bedrohung, die sie für die Föderation darstellen, reflektiert die Angst der westlichen Welt vor dem Kommunismus. Indem sie sich über die Individualität des Einzelnen erheben, verkörpern die Borg die völlige Verneinung des Individuums und sind insofern ein Gegenmodell, eine Antithese, zur Föderation. Die Absicht der Borg, sich durch Assimilation selbst zu verbessern, ähnelt der Menschheitsgeschichte, in der sich Kulturen für ihre eigene Expansion andere Kulturen einverleibt haben bzw. durch Imperialismus untergebene Völker geschaffen haben. Unter dem Einfluss von Lore, der die Borg zu einer Herrenrasse machen will, ändert sich die Ideologie der Borg in ein faschistisches System; Lore lässt sich insofern als „kybernetischer Mengele“ verstehen. Klingonische Kultur Ronald D. Moore orientierte sich bei der Ausarbeitung der klingonischen Kultur, beginnend mit der Episode Die Sünden des Vaters (Staffel 3), an den Samurai und den Wikingern, die sich hinsichtlich ihres Ehrenkodex ähneln. Wurden die Klingonen in Raumschiff Enterprise noch als stereotype, piratenähnliche Schurken dargestellt, so ist ihre Rolle in Das nächste Jahrhundert deutlich umfangreicher und differenzierter, was unter anderem an der Thematisierung der Innen- und Außenpolitik des klingonischen Imperiums deutlich wird. Die US-Kommunikationswissenschaftlerin Leah Vande Berg deutete die Klingonen als eine Kultur, die von der Föderationskultur assimiliert wird. Exemplarisch dafür sei Worf und seine Liminalität, das heißt seine Position zwischen den beiden Kulturen. Dass er menschliche und moralisch überlegene Werte und Verhaltensweisen wie etwa Mitgefühl, Großmut und Vergebung adaptiere und dabei klingonische Werte wie Gerechtigkeit und unbefleckte Familienehre als primitiv dargestellt würden, zeige sich in Der Kampf um das klingonische Reich, Teil 1 (Staffel 4) und an seiner Entscheidung, den verräterischen Toral entgegen den klingonischen Traditionen nicht zu töten. Vande Berg schloss daraus, dass die Serie statt des selbstproklamierten Multikulturalismus eine kulturimperialistische Haltung vermittle. Der deutsche Filmwissenschaftler Andreas Rauscher hält die Auffassung von Assimilation für zu kurz gegriffen und meint, dass die Episode weniger von Unterordnung zeuge als vielmehr einen weiteren Schritt darstelle in Worfs Suche nach einer eigenen Identität zwischen zwei gegensätzlichen Kulturen, die in der Serie noch nicht abgeschlossen wird. Ost-West-Verhältnis Das in Raumschiff Enterprise dargestellte kriegerische Verhältnis zwischen der Föderation und den Klingonen reflektierte die Vorbehalte der Vereinigten Staaten gegenüber dem Ostblock während der Zeit des Kalten Kriegs. Die Klingonen und die Romulaner in Das nächste Jahrhundert lassen sich dagegen nicht uneingeschränkt mit der Sowjetunion und China gleichsetzen: Für eine vertraglich geregelte Allianz wie zwischen der Föderation und dem klingonischen Imperium gibt es in der Realität keine Entsprechung, zudem befanden sich Russland und China nicht im Kriegszustand. Dennoch gibt es Parallelen zwischen der Föderation und der weltpolitischen Rolle der Vereinigten Staaten in der Zeit nach dem Kalten Krieg. Gregory hob hervor, dass Episoden, die sich mit Terrorismus und Geiselnahmen befassen, eine verglichen mit Raumschiff Enterprise realistischere Sicht auf Interventionismus böten, etwa weil Picard trotz gelungener Geiselbefreiung wenig gegen die internen politischen Konflikte auf den Planeten tun könne. Dass mit Worf nun ein Vertreter der Klingonen zur Sternenflotte und zur Brückenbesatzung gehört, wurde als Botschaft verstanden, dass im Kontext des Kalten Kriegs aus Feinden Freunde werden können. Kontroverse um Rassismus und Einflüsse des Neokonservatismus Der US-Medienwissenschaftler Daniel L. Bernardi glaubte in seiner Monografie Star Trek and History (1998) in der Darstellung und Charakterisierung der verschiedenen Spezies durch die Serie Einflüsse des Neokonservatismus zu erkennen, einer politischen Strömung, die in den Vereinigten Staaten zur Entstehungszeit der Serie dominierte und die gemeinsam mit der Neuen Rechten unter dem vorgeblichen Eintreten für demokratische Ideale Rassismus vermittelt hätte. Eine ähnliche Haltung wie Bernardi vertrat der deutsche Autor Holger Götz 1999/2000 in einem Beitrag für Faszinierend! Star Trek und die Wissenschaften. Götz' Auffassung, die Serie sei von Speziesismus und Biologismus geprägt, begründete er damit, dass die Kultur einer Spezies wiederholt mit ihren biologischen bzw. genetischen Voraussetzungen zu erklärt würden. Indem etwa der Entwicklungsstand der Mintakaner in Der Gott der Mintakaner (Staffel 3) als „protovulkanisch“ bezeichnet wird, impliziere die Serie, dass die mintakanische Kultur auf der genetischen Ausstattung ihrer Mitglieder basiere. In der Episode Rikers Vater (Staffel 2) erklärt Data, dass alle Klingonen hinsichtlich Feindschaftlichkeit genetisch prädisponiert seien. Auch damit lege die Serie den Schluss nahe, dass Worfs prägnante Affinität zur klingonischen Kultur, die unter anderem an seinen guten Kenntnissen über klingonischen Riten und Gebräuchen deutlich werde, durch die genetischen Voraussetzungen aller Klingonen bedingt sei. Die Serie selbst lasse offen, durch welche kulturelle Prägung Worf diese Affinität erlangt hat, da er doch den größten Teil seiner Kindheit und Jugend unter Menschen lebte. Neben dem Verhalten Worfs interpretierte Denise A. Hurd auch das seiner Partnerin K’Ehleyr und des gemeinsamen Sohnes Alexander als genetisch geprägt. In Bezug auf K’Ehleyr und Alexander, die nur zu einem Teil klingonisch sind, wurde gedeutet, dass sie dem rassistischen Stereotyp des „tragischen Mulatten“ entsprächen, weil ihre Persönlichkeit durch ihre rassische Zusammensetzung bestimmt werde. Alexander etwa beabsichtigt in Ritus des Aufsteigens (Staffel 7) als sein erwachsenes Alter Ego, sich im Kindesalter zu töten, um so zu verhindern, dass er kein vollwertiger Klingone wird, was er als Schande begreift. Götz stellte außerdem fest, dass es den Föderationsvertretern bzw. den Menschen in der Regel gelänge, sich an andere Kulturen anzupassen. Picard zum Beispiel spräche fließend Klingonisch und besteht im Kampf gegen Klingonen (Die Sünden des Vaters, Staffel 3). Zudem gelingt es ihm, die Sheliak mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, indem er eine Klausel in deren umfangreichem Vertragswerk findet und sie zum Nutzen der Föderation anwendet (Die Macht der Paragraphen, Staffel 3). Demgegenüber misslänge es Vertretern anderer Kulturen, sich in die menschliche bzw. Föderationskultur einzugliedern. Beispiele dafür seien K’Ehleyr, Sela und Worfs Bruder Kurn. Letzterer etwa beherrscht als Austauschoffizier an Bord der Enterprise die Verhaltensregeln nicht – im Gegensatz zum gleichzeitig auf Kurns Raumschiff dienenden Riker (Der Austauschoffizier, Staffel 2). Aus diesen Gründen schreibt Götz der Serie zu, eine Hierarchie der Kulturen zu konstruieren, bei der die Föderationskultur die Spitzenposition einnimmt. Damit reflektiere die Serie die hegemonialen Strukturen der US-amerikanischen Gesellschaft. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler George A. Gonzalez widersprach in seinem Buch The Politics of Star Trek (2015) der Einschätzung Bernardis, wonach die Serie Rassismus transportiere. The Next Generation sei nicht per se rassistisch, sondern tendiere vielmehr dazu, die unterentwickelte Welt als bewohnt von korrupten, gewalttätigen Regimen darzustellen. Gonzalez vergleicht in diesem Zusammenhang die Klingonen mit Arabern bzw. das Klingonische Imperium mit dem Nahen Osten, die Cardassianer mit Lateinamerikanern und die Romulaner mit Ostasiaten. Dass die Serie die Politik dieser Entwicklungsregionen in ein negatives Licht rücke, missverstehe Bernardi als generell anti-schwarze Haltung. Auf Bernardis Deutung hinsichtlich möglicher Einflüsse des Neokonservatismus entgegnete der französische Wissenschaftler Mehdi Achouche 2018 im Rahmen eines Essays über Multikulturalismus, dass die Borg in der Serie mit einem noch größeren konservativen Ideal gleichgesetzt würden. Nützlicher sei die Ansicht, dass TNG eine Mitte zwischen nicht gegensätzlichen Modellen von Integration anbiete, dass Anpassung zwar notwendig sei, aber nicht unbedingt das Verschwinden von allen kulturellen und individuellen Eigenheiten und Unterschieden zur Folge habe. Mit Blick auf den Zweiteiler Gefangen im 19. Jahrhundert (Staffeln 5 und 6) wurde hervorgehoben, dass die dunkelhäutige Guinan im von Rassentrennung geprägten Amerika des späten 19. Jahrhunderts wie eine Weiße behandelt wird, weil sie bei der Teilnahme an einem literarischen Salon wegen ihrer Hautfarbe nicht diskriminiert wird. Bei den in der Serie vorkommenden, nichtmenschlichen Spezies, die kulturell weiter als die Menschen entwickelt sind, handele es sich laut Götz stets um Weiße. Nicht-weiße Figuren seien unterrepräsentiert: Die asiatischstämmigen Figuren Keiko Ishikawa und Alyssa Ogawa treten nur in verhältnismäßig wenigen Episoden auf, Hispanics kommen gar nicht vor. Die Serie widerspräche somit ihrem Anspruch, die Zukunft der gesamten Menschheit zu zeigen. Götz spricht der Serie die von der Originalserie Raumschiff Enterprise beabsichtigte, emanzipatorische Haltung gegenüber den hegemonialen Strukturen der US-Gesellschaft ab; und charakterisiert sie als ein Dokument zeitgemäßer US-Ideologie. Buchautor Michael C. Pounds interpretierte, dass nicht-weiße Figuren im Gegensatz zu den weißen auf das Niveau von Dienern reduziert und wiederholt in eine nur schmale Bandbreite an Aktivitäten verwickelt seien. Ähnlich, wie auch andere Kritiker, vertrat er die Meinung, La Forge sei ein „glorifizierter Mechaniker“, ein Typ von Arbeiter, der eher mit körperlicher als geistiger Arbeit assoziiert werde. Buchrezensentin McMullen widersprach und wies in dem Zusammenhang auf die zahlreichen entscheidenden Situationen hin, in denen La Forge mit seinen Einfällen glänze. Unter Verweis auf den freundschaftlichen Respekt, der ihm von anderen Crew-Mitgliedern entgegengebracht wird, stellte sie zudem Pounds’ Meinung in Abrede, wonach La Forge eine „bemitleidenswerte Figur“ sei, weil mit Data nur ein Android sein bester Freund sei. Data Data war ursprünglich als „wandelnde Bibliothek“ konzipiert und als ein nach seinem Erschaffer suchender Androide. Roddenberrys Idee von Data basierte auf dem Androiden „Questor“ in dem von ihm ersonnenen Pilotfilm The Questor Tapes. Dieser wurde 1974 erstausgestrahlt, ohne dass die geplante gleichnamige Fernsehserie gefilmt wurde. Zu den Absichten der Drehbuchautoren gehörte es, Data zum Erforschen der Bedeutung von Menschlichkeit einzusetzen. Melinda Snodgrass, Drehbuchautorin in der zweiten und dritten Staffel, verwendete Data als Kind und damit als Person, der es erlaubt ist, aus ihren Fehlern zu lernen. Snodgrass beschrieb die von Data gespielte Holodeck-Figur Sherlock Holmes als Katalysator für seine Suche nach der Bedeutung von Menschlichkeit. Hinsichtlich seiner Bemühungen, sich den Menschen anzugleichen, ähnelt Data der Holzpuppe Pinocchio. Dieser Vergleich gilt vor allem für die frühen Staffeln, in denen er eine ungefährliche, unschuldige Figur darstellt, die oft als Comic Relief eingesetzt wird. In späteren Staffeln entfernt er sich von dieser Charakterisierung und ist verstärkt Teil von düstereren und mehrdeutigeren Geschichten, darunter der Episode Radioaktiv (Staffel 7), in der er ein Dorf einer vorindustriellen Gesellschaft unbeabsichtigt radioaktiv verstrahlt. In anderen Deutungen wurde Data mit Frankenstein, Tin Man, C-3PO und Charlie Chaplin verglichen. Wissenschaftliche Untersuchungen gingen der Frage nach den Gründen für Datas, in statistischen Erhebungen ermittelte, hohe Beliebtheit unter den Zuschauern nach. Als ein möglicher Grund wurde genannt, dass der Zuschauer wegen des Ausbleibens einer emotionalen Reaktion nicht mit Data, sondern anstelle Datas fühlen solle, wodurch der Zuschauer in besonderer Form involviert werde. Mehrere Wissenschaftler, darunter Robert Alexy (Siehe auch: Wem gehört Data?) und Henry Jenkins, befassten sich mit den Fragen, inwieweit Data über Emotionen verfügt und ob ihm Menschenrechte zustehen. Sexualität In der frühen Produktionsphase der Serie entwickelten die Drehbuchautoren David Gerrold und Herbert Wright das Drehbuch Blood and Fire, das als Allegorie auf AIDS und die Rechte homosexueller Männer diente. Unter anderem wegen Bermans Meinung, die darin enthaltenen homosexuellen Figuren im Nachmittagsprogramm nicht zeigen zu wollen, und nach mehreren Überarbeitungen wurde der Plan verworfen, es als Episode der Serie zu verfilmen. Dafür fand es später Verwendung in der Fan-Fiction-Serie Star Trek: Phase II. Die Episode Odan, der Sonderbotschafter (Staffel 4) griff das Thema Sexuelle Orientierung wieder auf. Angelegt als Geschichte über die Natur der Liebe, wurde sie als Botschaft verstanden, die Rechte Homosexueller zu akzeptieren. Nach der Erstausstrahlung der Episode erhielt der Produktionsstab postalisch zahlreiche Forderungen von Homosexuellenaktivisten, eine gleichgeschlechtlich orientierte Figur in die Handlung aufzunehmen. Auch unter dem Eindruck dieser Reaktionen entstand die Episode Verbotene Liebe (Staffel 5), die als Metapher für Intoleranz dient, der Homosexuelle ausgesetzt sind, und in der Riker ein Liebesverhältnis mit einem Individuum einer androgynen Spezies aufbaut. Beide Episoden wurden auch in wissenschaftlichen Publikationen rege diskutiert. Lee E. Heller etwa kam in ihrem oft zitierten Aufsatz zu dem Schluss, dass sie die Aussage vermittelten, traditionellen heterosexuellen Beziehungen neue Geltung zu verschaffen. Andere Aspekte Das Verhältnis zwischen Picard und Q wurde, etwa wegen Qs Erscheinen in Picards Bett in Gefangen in der Vergangenheit (Staffel 4), auch als homoerotisch gedeutet und deshalb zu einem Thema der Slash-Fiction. Unabhängig von dieser Deutung wurde Q in einem mythologischen Kontext interpretiert: Angesichts seiner fast unbegrenzten Fähigkeiten zur Veränderung der Realität und seines dennoch sehr menschlichen Erscheinungsbildes weise er Ähnlichkeiten zu den olympischen Göttern auf. Wirtschaftliche und popkulturelle Wirkung Die enorm hohen Einschaltquoten der Serie bewiesen, dass syndiziert erstausgestrahlte Fernsehserien konkurrenzfähig mit Network-Serien sein können, und führten dazu, dass in der Hoffnung auf ähnlich großen Erfolg etliche andere Fernsehserien für die syndizierte Erstausstrahlung produziert wurden. Dazu gehören neben Deep Space Nine die Serien Krieg der Welten (1988–1990), Baywatch – Die Rettungsschwimmer von Malibu (1989–2001, syndiziert ab 1991), Die Unbestechlichen (1993–1994), Time Trax – Zurück in die Zukunft (1992–1994), Babylon 5 (1993–1998), RoboCop (1994–1995), Hercules (1995–1999) und Xena – Die Kriegerprinzessin (1995–2001). Das von Paramount für die Fernseh-Vermarktung von The Next Generation verwendete Geschäftsmodell entwickelte sich zu einem Standard in der US-Fernsehlandschaft und trug zur Schwächung der etablierten Networks bei. Der kommerzielle Erfolg war mit ausschlaggebend für die Entstehung des Paramount-eigenen Networks United Paramount Network, das im Januar 1995 mit dem Pilotfilm von Star Trek: Raumschiff Voyager in Betrieb ging. Die New York Times beurteilte Paramounts Strategie, die Serie zugunsten ihrer Adaptionen in Form von Kinofilmen und anderen Fernsehserien einzustellen, 1994 als repräsentativ dafür, wie Populärkultur durch die Unterhaltungsbranche „heutzutage“ “sliced, diced, packaged and sold” (Deutsch etwa: „aufgeschnitten, aufgeteilt, abgepackt und verkauft“) wird. Die Online-Ausgabe des Time Magazine bescheinigte der Serie 2012, vor allem wegen der hohen Zuschauerzahlen „Nerd-Kultur zum ersten Mal zum Mainstream“ gemacht zu haben. Einen maßgeblichen Anteil an der Popularitätssteigerung der Serie in den Vereinigten Staaten hatte die Borg-Doppelepisode The Best of Both Worlds (1990 erstausgestrahlt) bzw. der Cliffhanger am Ende des ersten Teils, der das Schicksal Picards und der Enterprise den Sommer über offen ließ. Die Aufforderung der Borg an die Enterprise-Crew, keinen Widerstand zu leisten, wurde sowohl im Englischen (“Resistance is futile.”) als auch im Deutschen („Widerstand ist zwecklos.“) zu einem geflügelten Wort im Sprachgebrauch. Mit dem Beginn der Fernsehausstrahlung der Serie 1990 kam es im deutschsprachigen Raum zu einem Star-Trek-Boom, durch den sich das Fandom deutlich vergrößerte und in dessen Rahmen Star Trek mit dem Vertrieb unzähliger Merchandising-Produkte kommerzialisiert wurde. Die Übernahme der Ausstrahlung durch den selbsternannten „Star-Trek-Sender“ Sat.1 forcierte diese Begeisterung noch. Eine um das Jahr 2000 unter etwa 800 Mitgliedern des offiziellen Star-Trek-Fanclubs durchgeführte Umfrage ergab, dass 62 Prozent der Befragten erst durch Das nächste Jahrhundert ein tiefergehendes Interesse an Star Trek entdeckt hätten und dass die Serie für sie die beliebteste der Star-Trek-Fernsehserien sei. Sinnlos im Weltraum ist eine von Fans aus Siegen erschaffene, 12-teilige Filmserie, die sich hauptsächlich im Internet verbreitete und von der elf Teile Das nächste Jahrhundert parodieren. Bei der von 1994 bis 1996 entstandenen Serie handelt es sich um einen Fandub, das heißt, es wurde bestehendes Filmmaterial – in diesem Falle aus der Fernsehserie – mit einer neuen Tonspur versehen. Die Synchronstimmen sind im Siegerländer Dialekt gesprochen. In den stark von Vulgärsprache geprägten Unterhaltungen geht es hauptsächlich um Gewalt, Sex, Trunkenheit und Drogen, womit die politische Korrektheit der Fernsehserie und ihrer Figuren persifliert wird (siehe Hauptartikel: Sinnlos im Weltraum, Siehe auch: Star-Trek-Fan-Fiction, Star-Trek-Parodien und -Persiflagen). Das 180 Zentimeter lange Modell der Enterprise-D wurde 2006 bei Christie’s für 576.000 Dollar versteigert. Nachdem die Brücke der Enterprise bei den Dreharbeiten zum Kinofilm Treffen der Generationen plangemäß zerstört worden war, ließ Paramount für eine Wanderausstellung, die 1998 auch in Deutschland Station machte, eine originalgetreue Replik errichten. Ein Kalifornier erwarb das langjährig eingelagerte und dabei heruntergekommene Exemplar 2012 kostenlos und veranstaltete eine Crowdfunding-Kampagne, um die Brücke zu restaurieren und sie anschließend zu Unterhaltungs- und Bildungszwecken für Besucher zugänglich zu machen; die Kampagne erbrachte über 68.000 Dollar. Die chinesische Spieleentwickler-Firma Netdragon Websoft ließ das Gebäude ihrer Konzernzentrale nach dem Vorbild der Form der Enterprise-E errichten. Das sechsstöckige, etwa 260 Meter lange Gebäude befindet sich in der Stadt Changle, kostete 97 Mio. US$ und wurde 2014 nach vier Jahren Bauzeit eröffnet. In der Popkultur der 1980er Jahre erlangte Captain Picard, vor allem wegen seiner Stärke beim Lösen schwieriger Entscheidungen, einen großen Vorbildcharakter. Im Hauptquartier des Sicherheitshauptkommandos der US Army in Virginia entstand ein nach dem Vorbild der Schiffsbrücke gestaltetes Informationszentrum, in dem General Keith B. Alexander Abgeordnete und andere offizielle Gäste empfing. Ein für Führungen solcher Besucher zuständiger Offizier wurde damit zitiert, dass „jeder“ in dem ledernen Captain-Sessel Platz nehmen wollte, um sich mindestens einmal als Jean-Luc Picard ausgegeben zu haben. Patrick Stewarts Bekanntheitsgrad erhöhte sich durch seine Rolle als Picard in erheblichem Maße. In einer Umfrage unter Lesern des Branchenblattes TV Guide 1992 wurde Stewart zum „begehrenswertesten Mann im Fernsehen“ gewählt. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre platzierte er sich in weiteren Attraktivitätsranglisten, 1995 etwa in jenen der US-Zeitschriften Playgirl und People. Stewart spielte in international erfolgreichen Kinoproduktionen wie etwa X-Men mit und erhielt mehrere Filmpreise. 1996 wurde er mit einem Stern auf dem Hollywood Walk of Fame geehrt, 2001 mit der Adelung zum Officer of the Order of the British Empire durch Elisabeth II. Seine Bekanntheit als Star-Trek-Protagonist stellte für ihn aber auch mindestens einmal ein Hindernis dar, als ihn ein Hollywood-Regisseur für die Besetzung einer Rolle aus diesem Grund ablehnte. In der Episode Noch einmal Q (Staffel 3) reagiert Picard in einer für ihn schwierigen Situation, indem er mit seiner offenen Hand einen Großteil seines Gesichts verdeckt. Auf dieser Szene basiert der englische Begriff “Facepalm”, mit dem im Internetjargon Gefühle wie Fremdscham und Ärger über andere Personen zum Ausdruck gebracht werden. Um die Geste schriftlich mitzuteilen, wird zum Beispiel das Emoticon „m(“ verwendet. Auch andere Mitglieder von Besetzung und Stab wirkten nach dem Ende der Serie außerhalb Star Treks in erfolgreichen Produktionen mit. Dazu gehört Ronald D. Moore, der bei der Produktion der Fernsehserie Battlestar Galactica in maßgeblicher kreativer Verantwortung stand. Die Serie galt, etwa in einem 1990 erschienenen Artikel der New York Times, als führend bei der Produktion von Spezial- und visuellen Effekten für das Fernsehen. Das Holodeck wurde für Forscher in den Bereichen Virtuelle Realität und Computergrafik zu einem Leitbild. Als solches diskutierten sie es auch auf SIGGRAPH-Konferenzen. Der computergesteuerte Abruf von Musik inspirierte den leitenden Apple-Entwickler Steve Perlman zu der Idee für die Software QuickTime. Adaptionen für Star-Trek-Fernsehserien und -Kinofilme Fernsehserien Star Trek: Deep Space Nine wurde von 1992 bis 1999 in sieben Staffeln mit 176 Episoden produziert und ist ein Spin-off von Das nächste Jahrhundert. Einen Ausgangspunkt der Serie bildet das Ende der cardassianischen Besatzung über die bajoranische Bevölkerung. Die Raumstation Deep Space Nine wird, auch zur Sicherung politischer Stabilität, von Sternenflotte und Bajoranern gemeinsam geführt. In wesentlichen Teilen handelt die Serie von einem Konflikt zwischen der Föderation und dem von Formwandlern geführten Dominion-Imperium, in dessen Verlauf es zu einem interstellaren Krieg kommt. Von Anfang an als düsterer und konfliktreicher als Das nächste Jahrhundert konzipiert, lagen die thematischen Schwerpunkte der Serie im Gegensatz zu den vorherigen Star-Trek-Produktionen auf Religion, Krieg und – meist im Kontext der hier noch stärker im Mittelpunkt stehenden Ferengi – Geld. Dazu trug Ira Steven Behr als Showrunner bei, der sich mit seiner Arbeit als Drehbuchautor und Produzent bei der dritten Staffel von Das nächste Jahrhundert unzufrieden zeigte, unter anderem wegen zu konfliktarmer Handlung. Zu den Hauptdarstellern gehören Colm Meaney als Chief O’Brien und – ab der vierten Staffel – Michael Dorn als Worf, die beide bereits in Das nächste Jahrhundert dieselben Charaktere verkörpert haben. Die Serie Star Trek: Raumschiff Voyager ist ein Sequel von Das nächste Jahrhundert und wurde von 1994 bis 2001 in ebenfalls sieben Staffeln mit 172 Episoden produziert. Sie spielt auf dem namensgebenden, gegenüber der Enterprise deutlich kleineren Raumschiff, das zu Serienbeginn in eine 70.000 Lichtjahre von der Erde entfernte Gegend der Milchstraße verschlagen wird und auf ihrem Rückflug mit zahlreichen Gefahren und fremden, aber auch altbekannten Spezies konfrontiert wird. Die Handlung adaptiert verschiedene, in Das nächste Jahrhundert eingeführte Elemente. Dazu zählen Begegnungen mit den Borg, die hier mit über 20 Episoden wesentlich öfter im Mittelpunkt stehen. In maßgeblicher kreativer Verantwortung standen die zuvor für Das nächste Jahrhundert tätigen Jeri Taylor und Brannon Braga. Ronald D. Moore, der für Deep Space Nine etliche, auf die Klingonen zentrierte Episoden konzipiert hatte, verließ das Drehbuchautorenteam schon nach wenigen Wochen wieder und kritisierte Raumschiff Voyager scharf als „sehr oberflächlich“ und eine „sehr inhaltsleere Serie, die die Zuschauer nicht wirklich anspricht“. Star Trek: Enterprise wurde im Anschluss an Voyager von 2001 bis 2005 produziert. Die Serie spielt auf dem prototypischen Raumschiff Enterprise NX-01 und im 22. Jahrhundert, also etwa 100 Jahre vor Raumschiff Enterprise, womit sie ein Prequel zu den vorher produzierten Star-Trek-Fernsehserien bildet. Sie handelt neben der Erforschung des Weltalls auch von der Gründung der Föderation. Nach vier Staffeln wurde die Serie hauptsächlich wegen zu schwacher Einschaltquoten eingestellt. Die finale Episode Dies sind die Abenteuer spielt im Rahmen der Handlung der TNG-Episode Das Pegasus-Projekt (Staffel 7): Auf der Enterprise-D nutzt Riker ein Holodeck-Programm von Ereignissen, die sich bei der letzten Reise der Enterprise NX-01 zutrugen, zur Entscheidungsfindung, ob er Picard über den von Pressman einst mitverursachten Tod von 71 Crew-Mitgliedern informieren sollte. In den drei Serien nahmen einige der Darsteller von Das nächste Jahrhundert ihre Rollen als Gast- und Nebendarsteller wieder auf. Dazu gehören Patrick Stewart als Captain Picard im Pilotfilm von Deep Space Nine, John de Lancie als Q in Deep Space Nine und Voyager, Dwight Schultz als Lieutenant Reginald Barclay in Voyager sowie Jonathan Frakes als Thomas Riker in Deep Space Nine und als William T. Riker in Voyager und Enterprise. Die drei Fernsehserien erreichten im Durchschnitt nicht so hohe Zuschauerzahlen wie Das nächste Jahrhundert. Ihre Erstausstrahlungen begannen in den USA zwar mit etwa 12 Millionen (Deep Space Nine, Enterprise) bzw. 8 Millionen Zuschauern (Voyager); sie endeten aber alle im niedrigen einstelligen Millionenbereich. Berman, der den größten Teil der Zeit seit 1987 als kreativ-hauptverantwortlicher Star-Trek-Produzent tätig war, wurde 2005 von Paramount wegen des geschwundenen Erfolgs entlassen. In der Fernsehserie Star Trek: Picard, die von 2020 bis 2023 erschien und deren Handlung etwa zwei Jahrzehnte nach dem Film Nemesis einsetzt, nahm Patrick Stewart seine Rolle als Picard wieder auf. Leinwandadaptionen Es entstanden vier auf der Serie basierende Kinofilme. Darin setzten die sieben Hauptdarsteller der letzten drei Staffeln ihre Rollen – teils nur in Nebenrollen – fort; auch andere bereits eingeführte Figuren aus dem Star-Trek-Universum gehörten zur Handlung. Verschiedene Handlungsstränge der Serie wurden in den Filmen fortgesetzt, allen voran Datas Bestreben nach mehr Emotionalität. Star Trek: Treffen der Generationen ist der siebte Star-Trek-Film und handelt von dem Wissenschaftler Soran, der in den Nexus, einen Ort vollkommenen Glücks, gelangen möchte, zur Durchführung seiner Pläne aber die Vernichtung von Millionen Planetenbewohnern in Kauf nimmt. Bei den Bemühungen der Enterprise-Crew, Soran davon abzuhalten, wird das Schiff so schwer beschädigt, dass die Antriebssektion explodiert und die Untertassensektion zur Notlandung auf einem Planeten gezwungen ist. Data lässt sich den Chip zum Erleben von Emotionen einsetzen. Ein Motiv der Drehbuchautoren war es, mit dem Treffen Picards und Kirks im Nexus den Umgang mit dem Sterben zu thematisieren. Die Dreharbeiten zum Film begannen nur wenige Tage nach dem Ende der Dreharbeiten zur Fernsehserie. Die Resonanz des Publikums und der Kritiker war gemischt, letzteren zufolge sei es dem Film nicht gelungen, ein Star-Trek-unerfahrenes Publikum zu begeistern. In Deutschlands Kinos sahen den Film etwa 1,8 Millionen Zuschauer. Star Trek: Der erste Kontakt baut – auch mittels Rückblenden – auf Picards Assimilation in den Episoden In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde auf. Mit dem neu in Dienst gestellten Raumschiff Enterprise NCC-1701-E folgt die Crew einem Borg-Kubus auf dessen Zeitreise in das Jahr 2063, in dem die Borg beabsichtigen, den Wissenschaftler Zefram Cochrane davon abzuhalten, mit seinem Raumschiff ins All zu starten. Sie wollen ihn daran hindern, den ersten Kontakt der Menschheit mit Außerirdischen herzustellen, und ziehen deshalb den Widerstand der Enterprise-Crew auf sich. Der Film führt eine Borg-Königin in das Star-Trek-Universum ein, die Data auf ihre Seite zu ziehen versucht. Der erste Kontakt, von Jonathan Frakes inszeniert, ist die kommerziell erfolgreichste der vier Leinwandadaptionen, in Deutschland hatte der Film etwa 2,5 Millionen Kinobesucher. Star Trek: Der Aufstand, ebenfalls von Frakes inszeniert, handelt von dem Planeten Ba’ku, dessen strahlende Ringe eine heilende und verjüngende Wirkung auf seine Bewohner ausüben. Aus diesem Grund möchten die bislang unheilbar kranken Son’a, unterstützt von einem Sternenflottenadmiral, die Strahlung vor allem für sich nutzbar machen und dazu die Ba’ku gegen deren Willen umsiedeln. Das jedoch möchten Picard, die Prinzipien der Föderation schützend, und seine Führungsoffiziere verhindern, womit sie letztlich Erfolg haben. Von vielen Kritikern wurde beanstandet, dass der Film mehr wie eine überlange Fernsehepisode wirke als wie ein teurer Kinofilm. Der Film wurde in den deutschen Kinos von mindestens 2,3 Millionen Menschen gesehen. Star Trek: Nemesis handelt von Shinzon, einem Klon Picards, der von den Romulanern einst zu dem Zweck geschaffen worden war, Picard eines Tages zu ersetzen. Mit seinem Raumschiff, das mit einer tödlichen, übermächtigen Waffe ausgerüstet ist, möchte Shinzon die Erde angreifen, was die Enterprise-Besatzung zu verhindern versucht. Letztlich gelingt ihr dies auch, wobei sich allerdings Data, die Zerstörung der Enterprise verhindernd, selbst tötet. Mit einem Einspielergebnis von 43 Millionen US-Dollar in den USA war es der bis dahin finanziell am wenigsten erfolgreiche Star-Trek-Kinofilm. Troi-Darstellerin Marina Sirtis machte den Regisseur Stuart Baird für den Misserfolg verantwortlich, indem sie ihm mangelnde Berücksichtigung der Serienfiguren vorwarf. In Deutschland hatte der Film nur etwa 1,3 Millionen Kinobesucher und damit deutlich weniger als seine drei Vorgänger. Patrick Stewarts Gage stieg von 5 Mio. US-Dollar für Der erste Kontakt bis auf 14 Mio. US-Dollar für Nemesis. Andere von Paramount lizenzierte Adaptionen (Auswahl) Romane Überblick Der US-Verlag Pocket Books, ein Imprint von Simon & Schuster, adaptierte die Fernsehserie beginnend 1987 für Romane, die durch Paramount Pictures lizenziert sind. In der Reihe Star Trek: The Next Generation erschienen seitdem mindestens 120 Romane; das sind mindestens 50 weniger als in der Hauptreihe, in der Romane basierend auf der Crew um Kirk aus Raumschiff Enterprise erschienen. In den 1990er Jahren erschienen davon meist sieben Titel pro Jahr. Anfangs erschienen nur Romane mit abgeschlossener Handlung; ab der Mitte der 1990er Jahre kamen auch Mehrteiler hinzu. Bei fünf Romanen handelt es sich um Nacherzählungen von Episoden der Fernsehserie, zu denen der Pilotfilm und die finale Doppelepisode gehören. Einige der in den Romanen erzählten Geschichten gingen aus Vorschlägen für Drehbücher hervor. Von 1989 an – und damit noch vor dem deutschen Erstausstrahlungsbeginn – bis 2004 publizierte der Heyne Verlag die meisten deutschen Erstveröffentlichungen; bis 1995 unter dem Hauptreihentitel Star Trek: Die nächste Generation, ab 1996 unter dem englischen Originaltitel. In Deutschland erreichte Heyne eine Absatzmenge von teilweise 40.000 Exemplaren pro Band. Sechs Bände veröffentlichte der VGS Verlag 1995 bis 1997 erstmals. Von den bis 1995 auf Englisch erschienenen Bänden wurden alle auch auf Deutsch herausgegeben; unter den bis 2004 folgenden blieben mindestens 30 auf Deutsch unveröffentlicht. Der Verlag Cross Cult setzte die deutschen Erstveröffentlichungen 2009 fort. Bei Heyne erscheinen Nachdrucke und Neuauflagen. Bei Pocket Books erschienen 14 Romane, die sich an jugendliche Leser richten, einen geringeren Umfang haben und unter anderem auf Jugenderlebnisse der Hauptfiguren zentriert sind; auf Deutsch gab Heyne zehn davon unter dem Reihentitel Starfleet Kadetten (deutsche Erstveröffentlichung) bzw. Starfleet Academy (höhere Auflagen) heraus. Ebenfalls als Jugendromane erschienen – zusätzlich zu längeren, nicht altersspezifischen Romanen – die Romanfassungen der vier Kinofilme. Bei manchen Romanen und Roman-Miniserien handelt es sich um Crossover mit anderen Star-Trek-Roman-Hauptreihen. In der vierteiligen Miniserie Invasion! zum Beispiel geht es um die Konfrontation der Raumschiffs- bzw. Raumstationsbesatzungen aus den bis dahin erschienenen Star-Trek-Fernsehserien mit den bedrohlichen Furien. Die Crossover-Miniserie Der Dominion-Krieg erzählt auch von der Rolle der Enterprise-E im Konflikt zwischen Föderation und Dominion, der in Deep Space Nine eingeführt worden war. In der sechsteiligen Miniserie Doppelhelix geht es um eine unter Cardassianern, Romulanern und anderen Spezies auftretende, tödliche Seuche, als deren Ursache sich der Einsatz einer Biowaffe herausstellt. Die bislang mindestens siebenteilige, noch nicht auf Deutsch erschienene Roman-Miniserie The Lost Era verbindet Raumschiff Enterprise mit Das nächste Jahrhundert, indem sie von der Zeit zwischen dem Jahr 2293, in dem Treffen der Generationen beginnt, und dem Pilotfilm erzählt. Die sechsteilige Miniserie Slings and Arrows spielt in dem Zeitraum zwischen der Indienststellung der Enterprise-E und der 2373 angesiedelten Gegenwart des Films Der erste Kontakt. Sie blieb auf Deutsch bisher ebenso unveröffentlicht wie die 2004 veröffentlichte, neunteilige Miniserie A Time to …, die eine Chronik der Ereignisse um die Enterprise-E-Crew in dem einjährigen Zeitraum (2378/79) vor Beginn der Handlung von Nemesis darstellt. Star Trek: Stargazer ist eine sechsteilige Romanreihe, die von Picards Zeit als Kommandant der U.S.S. Stargazer erzählt und damit ein Prequel zur Fernsehserie bildet. Sie stammt von Michael Jan Friedman, wurde auf Englisch von 2002 bis 2004 veröffentlicht und ist noch nicht auf Deutsch erschienen. Dasselbe Thema griff Friedman zuvor bereits in den Romanen The Valiant und Reunion (Deutsch: Wieder vereint) auf, der – ebenso wie viele andere Star-Trek-Romane – 1991 in der Bestseller-Liste der New York Times platziert war. Star Trek: New Frontier, seit 1997 erscheinend, ist die erste, nicht im Fernsehen gestartete Star-Trek-Serie. Einige Figuren, die in Das nächste Jahrhundert in Gastrollen erschienen, wurden hierfür als Hauptfiguren adaptiert; dazu gehört auch Elizabeth Shelby aus dem Zweiteiler In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde. Romane, die nach Nemesis handeln Star Trek: Titan ist eine seit 2005 auf Englisch und seit 2008 auch auf Deutsch erscheinende Romanreihe, bei der es sich um einen Ableger von Das nächste Jahrhundert bzw. um ein Spin-off des Kinofilms Nemesis handelt. Die Romanreihe adaptiert das in Nemesis erstmals erwähnte Sternenflottenraumschiff U.S.S. Titan, über das Riker, nunmehr im Range eines Captains, das Kommando erhält, und schließt zeitlich an das Filmende an. Anfangs für Friedensverhandlungen zwischen Föderation und Romulanern eingesetzt, begibt sich die Crew unter Captain Riker hauptsächlich auf Forschungsmissionen. Mit zu der etwa 350-köpfigen Besatzung und den Hauptfiguren gehört auch Deanna Troi. Dem Herausgeber bei Pocket Books diente die Reihe zu dem Zweck, die von der Sternenflotte ursprünglich verfolgten Ziele – bestehend aus friedlicher Erforschung, Diplomatie und Wissenserweiterung – wieder stärker zu betonen. Ebenfalls unmittelbar auf den Film Nemesis folgend handelt der Roman Tod im Winter, der innerhalb der Reihe The Next Generation der erste von mehreren, die Serie über den Film hinaus weiter erzählenden Romanen ist, die zusammenfassend auch Relaunch, Sequel oder “Second Decade” (Deutsch etwa für „zweites Jahrzehnt“) genannt werden. Hauptschauplatz dieser Romane bleibt die Enterprise-E. Nach dem Ausscheiden von Data, Riker und Troi in Nemesis bzw. durch Titan verbleiben von den ursprünglichen Hauptfiguren Picard als Captain, La Forge als Chefingenieur und Dr. Crusher als leitende Medizinerin; Worf wird erster Offizier. Die übrigen Posten werden von neuen, teils wechselnden Figuren besetzt. Beginnend mit dem zweiten Roman Widerstand kommt es zur erneuten Konfrontation der Föderation mit den Borg. Bei dem Angriff eines Borg-Kubus auf das Sonnensystem, der in dem Roman Heldentod geschildert wird, wird Admiral Janeway, einst Kommandantin der Voyager, zunächst von den Borg assimiliert, ehe sie als Borg-Königin den Tod findet. In jenem Roman stellt sich zudem heraus, dass sich die Borg weiterentwickelt haben und nun auch absorbieren. Star Trek: Destiny ist eine von David Mack verfasste Roman-Trilogie (2008 auf Englisch erschienen, 2010 auf Deutsch), die ein Crossover von The Next Generation hauptsächlich mit den Romanreihen Deep Space Nine und Titan ist. Darin geht es um einen verheerenden Angriff der Borg auf die Föderation und zahlreiche, andere Welten im Alpha- und Beta-Quadranten im Jahr 2381. Die Borg töten über 60 Milliarden Individuen. Im Nachgang dieses Vernichtungsfeldzuges und zur Verteidigung gegen die Borg schließen sich die Romulaner und fünf andere Mächte der Quadranten zum sog. Typhon-Pakt zusammen, der auch eine Opposition zur Föderation darstellt. Von der Zeit, in der der Pakt existiert, erzählen die Crossover-Romanreihen Star Trek: Typhon Pact (8 Romane, Englisch 2010–2012, Deutsch 2013–2014) und Star Trek: The Fall (5 Romane, Englisch 2013, Deutsch ab 2015) sowie weitere Romane in der TNG-Reihe. Die Romantrilogie Kalte Berechnung beinhaltet die Wiederauferstehung von Data. Comics, Graphic Novels und Mangas Comics und Graphic Novels, die die Fernsehserie adaptieren, erschienen in den Vereinigten Staaten bei den Verlagen DC Comics, Marvel Comics, Wildstorm Comics, IDW Publishing. Verglichen mit Raumschiff-Enterprise-Adaptionen sind es bedeutend weniger. Im Unterschied zu den Romanen wurde nur ein verhältnismäßig kleiner Teil davon auf Deutsch veröffentlicht; oft fassten die deutschen Verlage die auf Englisch ursprünglich in Einzelheften erschienenen Teile von Miniserien zu einem Band zusammen. Der Verlag DC Comics veröffentlichte 1988 zunächst eine aus sechs Heften bestehende, von Mike Carlin verfasste, monatliche Heftreihe, ehe er 1989 mit einer neuen, überwiegend von Michael Jan Friedman geschriebenen, monatlichen Heftreihe begann, die seit ihrer Einstellung 1996 80 Hefte umfasst. Die ersten acht der 86 Hefte erschienen in den Jahren 1990/91, paarweise zusammengefasst, in vier Ausgaben auf Deutsch – die ZDF-Erstausstrahlung begleitend – unter dem Reihentitel Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert im Norbert Hethke Verlag. Weitere sechs Hefte gab der Condor Verlag 1996 auf Deutsch heraus. Der Carlsen Verlag veröffentlichte die ursprünglich in vier DC-Heften erschienene, übersetzte Geschichte Das Universum der Borg, die die Episoden In den Händen der Borg und Angriffsziel Erde weitererzählt. Überdies publizierte DC Comics mindestens sechs Annuals und einige Miniserien, von denen je eine 1995 auf Deutsch bei Carlsen (Die Rückkehr nach Modala) bzw. Feest Comics (Shadowheart) erschien. Feest gab 1996 auch den als Crossover mit Raumschiff Enterprise angelegten Band Annäherungen heraus. Bei Marvel erschien 1996 bis 1998 die Comicreihe Star Trek: Unlimited, die in zehn Heften Geschichten über die Crews um Kirk und Picard enthält. Zu einem der von Marvel herausgegebenen One Shots gehört auch Second Contact (1998), das ein Crossover von The Next Generation mit Marvels Comicserie X-Men darstellt; eine Überschneidung zwischen beiden Serien erschien im selben Jahr auch bei Pocket Books mit dem Roman Planet X. Eine weitere Verknüpfung zwischen The Next Generation und einem fiktiven Universum außerhalb Star Treks gab es mit der achtteiligen, bei IDW Publishing 2012 erschienenen Graphic-Novel-Miniserie Assimilation², in der Picard an der Seite des elften Doktors aus der britischen Science-Fiction-Fernsehserie Doctor Who gegen ein Bündnis aus Cybermen und Borg kämpft. Die von Wildstorm 2000/01 veröffentlichten Comics und Graphic Novels erschienen in denselben Jahren auch auf Deutsch bei Dino Comics; bei den deutschen Bänden handelt es sich um Vielleicht auch träumen, Im Bann des Wolfs, Mörderische Schatten, Die Gorn Krise, Vergebung und – als Crossover mit anderen Star-Trek-Serien – Missionen. Der Verlag Tokyopop veröffentlichte 2009 einen von US-Autoren geschriebenen Manga-Band mit vier Geschichten. Bei dem deutschen Verlag Cross Cult, der seit 2009 von IDW Publishing herausgegebene Star-Trek-Comics publiziert, erschienen von den auf Das nächste Jahrhundert zentrierten Comics bislang nur der Band Tor zur Apokalypse und der als Prequel zum elften Star-Trek-Kinofilm angelegte Comic Countdown (Stand: 17. April 2015). Andere literarische Adaptionen Pocket Books verlegte auch einige Anthologie-Bände, die Kurzgeschichten enthalten. Die nachfolgend genannten Anthologien sind noch nicht auf Deutsch erschienen. The Sky’s the Limit erschien 2007 mit 14, überwiegend vor Nemesis spielenden Kurzgeschichten. In der zehnbändigen Anthologie-Reihe Strange New Worlds, die 209 Star-Trek-bezogene Kurzgeschichten enthält, befinden sich mindestens 51, auf Das nächste Jahrhundert zentrierte. Weitere Anthologien mit auf die Picard-Crew fokussierten Kurzgeschichten sind Enterprise Logs (1999 erschienen), The Amazing Stories (2002) und Tales of the Dominion War (2004). Als Ableger des Science-Fiction-Magazins Starlog erschien in den USA von 1987 bis 1994 in 30 Ausgaben die Zeitschrift The Official Star Trek: The Next Generation Magazine, die Interviews, Produktionsberichte und Handlungszusammenfassungen enthält. Von 1991 bis 1995 erschien im Vereinigten Königreich in 93 Ausgaben überwiegend zweimal pro Monat ein Poster-Magazin zur Serie mit je einem DIN-A1-Poster. Zur Serie erschien eine große Anzahl sachliterarischer Bücher. Zu den auf Deutsch übersetzten gehören die folgenden: Star Trek: Die Technik der U.S.S. Enterprise. Das offizielle Handbuch (Heel Verlag, 1994) ist die deutschsprachige Ausgabe des 1991 von Pocket Books publizierten Buchs Star Trek: The Next Generation Technical Manual. Auch mit Diagrammen, schematischen Zeichnungen und Grundrissplänen erklärt es die Konstruktion der Enterprise-D, ihres Warp-Antriebs und der anderen Teilsysteme. Das Buch stammt von den beiden wissenschaftlich-technischen Beratern der Serie, Rick Sternbach und Michael Okuda, und ging, motiviert durch Zuschaueranfragen, aus ihrer internen, für die Drehbuchautoren bestimmten Referenz zur Technik der Enterprise hervor. Star Trek: The Next Generation – Blueprints (Heel 2000) von Rick Sternbach ist die deutsche Ausgabe des gleichnamigen englischen Buchs von 1996 und bietet großformatige Konstruktionszeichnungen der Enterprise-D. Star Trek: The Next Generation: Picards Prinzip – Management by Trek (Heyne Verlag, 1996) ist die deutschsprachige Ausgabe des Buchs Make It So – Leadership Lessons from Star Trek: The Next Generation (Gallery Books, 1996) und gibt Anweisungen für Management- und Führungsaufgaben am Beispiel von Captain Picard. Von Phil Farrand stammen zwei Bände namens Cap’n Beckmessers Führer durch Star Trek: The Next Generation (Heyne 1995 und 1998), die eine Vielzahl von Fehlern in der Serie darlegen, zum Beispiel Ungereimtheiten in der Handlung. Star Trek: The Next Generation 365 ist ein 2012 erschienener Band von Paula M. Block mit Erklärungen und Fotos über die Entstehungsgeschichte der Serie. Computerspiele Folgende Star-Trek-Computerspiele basieren in erster Linie auf Das nächste Jahrhundert: The Transinium Challenge ist ein Videospiel für Macintosh des Publishers Simon & Schuster Interactive von 1989, das zwischen den ersten beiden Staffeln spielt und in dem die Enterprise ein Planetensystem und die Verbindungen des Minerals Transinium zu einem Terroranschlag untersucht. Future’s Past ist ein Adventure-Strategiespiel für Super Nintendo von 1994, das – mit geringen Unterschieden – unter dem Titel Echoes from the Past auch für Sega Genesis erschien. Darin geht es um die Suche der Enterprise nach einem Artefakt und um die Beziehungen der Romulaner und der Spezies Chordak zu dem Gegenstand. A Final Unity ist ein Adventure-Spiel für DOS von 1995, in dem die Enterprise garidianischen Flüchtlingen zu helfen versucht, die von deren Regierung verfolgt werden. Es erschien sowohl bei Spectrum HoloByte als auch – als Teil der sog. Fun Compilation No. 1 – bei Software 2000. Klingon Honor Guard ist ein Ego-Shooter-Spiel von MicroProse für Windows 95 von 1998, in dem der Spieler, sich in der Rolle eines Klingonen befindend, Attentatspläne am klingonischen Kanzler Gowron zu verhindern hat. Birth of the Federation ist ein rundenbasiertes Globalstrategiespiel des Publishers Hasbro Interactive für Windows von 1999. Sein Ziel besteht darin, zum Beispiel mit dem Klingonischen Reich oder den Ferengi das mächtigste Imperium der Galaxie zu schaffen. Conquest Online ist ein Online-Strategiespiel von Activision aus dem Jahr 2000 für Windows 95 und 98, in dem der Spieler die Rolle eines Mitglieds des Q-Kontinuums übernimmt und um die Macht über Planeten kämpft. Darüber hinaus wurde die Fernsehserie zusammen mit den anderen, im 24. Jahrhundert handelnden Ablegern Deep Space Nine und Voyager für Computerspiele adaptiert. Etliche von ihnen, darunter Armada, Armada 2 und Invasion, beinhalten die Borg als wesentliches Handlungselement bzw. wichtigen Gegner. In vielen Spielen liehen die Schauspieler der Fernsehserienfiguren auch den Spielfiguren ihre Stimme. Literatur Monografien Englischsprachig Jeff Ayers: Voyages of Imagination. The Star Trek Fiction Companion. Pocket Books, New York 2006, ISBN 978-1-4165-0349-1. Michèle und Duncan Barrett: Star Trek. The Human Frontier. Polity Press, Cambridge 2001, ISBN 0-7456-2491-X. Daniel Leonard Bernardi: Star Trek and History – Race-ing Toward a White Future. 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August 2014 – Dokumentation über die Entstehung der Staffeln 1 bis 3 Weblinks Offizielle Seiten bei StarTrek.de (deutsch) und StarTrek.com (englisch) Episodenführer beim Deutschen StarTrek-Index Treknews.de – Informationen über Star Trek The Next Generation Transcripts – Episode Listings – Transkripte aller Episoden (englisch) Einzelnachweise Star-Trek-Serie Fernsehserie (Vereinigte Staaten) Fernsehserie der 1980er Jahre Fernsehserie der 1990er Jahre Künstliche Intelligenz im Film
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https://de.wikipedia.org/wiki/William%20Henry%20Harrison
William Henry Harrison
William Henry Harrison (* 9. Februar 1773 im Charles City County, Kolonie Virginia; † 4. April 1841 in Washington, D.C.) war ein amerikanischer Generalmajor und Politiker. Im Jahr 1841 war er der neunte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der erste, der im Amt verstarb. Harrison entstammte einer prominenten Familie Virginias. Nach dem Tode des Vaters, der zu den Gründervätern der Vereinigten Staaten zählt, trat er mit Unterstützung von Gouverneur Richard Henry Lee mit einem Offizierspatent in die neu gegründete United States Army ein. Wegen der Indianerkriege in Fort Washington im Nordwestterritorium stationiert, wurde er Aide-de-camp von General Anthony Wayne. Im August 1794 kämpfte Harrison in der Schlacht von Fallen Timbers gegen ein Bündnis unterschiedlicher Indianervölker. Gegen erhebliche Widerstände des Schwiegervaters heiratete er 1795 Anna Symmes. Aus der Ehe gingen zehn Kinder und in der folgenden Generation der spätere Präsident Benjamin Harrison hervor. Nach dem Austritt aus der Armee war Harrison Sekretär von Territorialgouverneur Arthur St. Clair und Delegierter für das Nordwestterritorium im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten, bis er 1800 von Präsident John Adams zum Gouverneur des Indiana-Territoriums ernannt wurde. Harrisons wichtigste Aufgabe als Gouverneur war die Indianerpolitik im Sinne Washingtons, deren Ziel Gebietsgewinne für die weiße Besiedlung und die Verdrängung der östlich des Mississippi River lebenden Indianer nach Westen war. Dazu kaufte er mit sehr vorteilhaften Verträgen den unterschiedlichen Indianervölkern mehrere Millionen Hektar Land ab. Die Shawnee-Führer Tecumseh und sein Bruder Tenskwatawa lehnten die Landabtretungen ab und gründeten eine Konföderation unterschiedlicher Indianervölker mit Sitz in Prophetstown. Zunehmende Spannungen führten 1811 zur Schlacht bei Tippecanoe, bei der reguläre Streitkräfte und Milizen unter dem Kommando von Harrison siegten und Prophetstown zerstörten. Kurz danach begann der Britisch-Amerikanische Krieg und Harrison trat wieder in die Armee ein. Er führte die Nordwest-Armee gegen ein von Oberkanada aus operierendes Bündnis von Tecumseh und Briten. Harrison siegte im Oktober 1813 in der Schlacht am Thames River, in deren Verlauf Tecumseh fiel, und ging neben Andrew Jackson als Nationalheld des Krieges von 1812 in die amerikanische Geschichte ein. Im Anschluss wurde Harrison mehrfach in den Bundes- und Staatssenat sowie das Repräsentantenhaus gewählt; bei vier Wahlen blieb er ohne Erfolg. Von immer drückenderen Geldsorgen geplagt, weil seine geschäftlichen Unternehmungen regelmäßig scheiterten, drängte er ab den 1820er Jahren auf eine einträglichen Anstellung, bis ihn schließlich Präsident John Quincy Adams 1828 zum Botschafter in Großkolumbien ernannte. Bereits im folgenden Jahr verfügte Adams’ Nachfolger Jackson die Entlassung von Harrison, der wegen eines Konfliktes mit der Staatsführung um Simón Bolívar Großkolumbien in Eile verlassen musste. Zurück auf seiner Farm in North Bend in Ohio vergrößerten sich in den nächsten Jahren Harrisons Geldnöte. Gegen 1834 wurde die United States Whig Party, die sich als wesentliche Opposition gegen den Jacksonianismus der Demokraten etabliert hatte, auf ihn aufmerksam, weil er sich mit seinem militärischen Ruhm als Gegenmodell zu Jackson eignete und politisch noch nicht exponiert hatte. Bei der Präsidentschaftswahl 1836 wurde er einer von mehreren Whig-Kandidaten gegen den am Ende erfolgreichen Martin Van Buren. Durch die verheerende Wirtschaftskrise von 1837, die Van Buren nicht in den Griff bekam, verbesserten sich die Siegeschancen der Whigs für die Präsidentschaftswahl 1840 signifikant. Im Dezember 1839 bestimmte der Nominierungsparteitag Harrison zum Präsidentschaftskandidaten, womit er den Vorzug vor der Führungsfigur der Whigs Henry Clay erhielt, und John Tyler zu seinem Running Mate. Der anschließende Wahlkampf ging als log cabin campaign („Blockhütten-Kampagne“) in die amerikanische Politikgeschichte ein. Um Harrison wurde die Legende eines ruhmreichen Generals aus vergangenen Tagen gestrickt, der als Farmer in einer einfachen Blockhütte im Frontier lebte und nicht wie Van Buren zum wohlhabenden politischen Establishment gehörte. Massenkundgebungen in Form von Volksfesten hoben den populären Kampagnencharakter der Präsidentschaftswahlkämpfe auf ein neues Niveau. Ein Novum in Präsidentengeschichte war, dass Harrison selbst aktiv in den Wahlkampf eingriff und auf Kundgebungen Reden hielt. Am Ende siegte er beim Popular Vote mit absoluter Mehrheit. Sein früher Tod nur einen Monat nach der Amtseinführung warf verfassungsrechtliche Fragen über die Rechte und Kompetenzen des ihm nachfolgenden Vizepräsidenten auf und machte ihn zum Präsident mit der bislang kürzesten Amtszeit. Die Überlieferung, Harrison habe sich in der Winterkälte bei der bisher längsten Antrittsrede der amerikanischen Geschichte eine tödliche Lungenentzündung zugezogen, konnte nie bestätigt werden. Leben Erziehung und Ausbildung (1773–1791) William Henry Harrison, der auf der Berkeley Plantation im Charles City County in der damaligen Colony of Virginia als jüngstes von sieben Kindern geboren wurde, entstammte der angesehenen Pflanzer- und Politikerfamilie der Harrisons. Diese ging auf Benjamin Harrison I zurück, der 1633 nach Jamestown ausgewandert war. Harrisons Vater, der Plantagenbesitzer Benjamin Harrison V, gehörte im Jahr 1776 zu den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung und war zwischen 1781 und 1784 Gouverneur von Virginia. Der Großvater von Harrison V war mütterlicherseits Robert „King“ Carter, einer der reichsten Männer in den Dreizehn Kolonien. Harrisons Mutter, Elizabeth Bassett, war eine Verwandte von Martha Washington. Aufgrund des damaligen Anerbenrechts in den Kolonien blickte er als jüngster von drei Brüdern einer ungewissen Zukunft entgegen. Anders als bei den älteren Brüdern betrieben die Eltern mit Harrisons Ausbildung wenig Aufwand und bis zum Alter von 14 Jahren wurde er zuhause unterrichtet. Möglicherweise durch die Freundschaft zu Benjamin Rush inspiriert, planten Harrison V und seine Frau für ihren jüngsten Sohn eine medizinische Laufbahn, wobei unklar ist, ob er jemals eine Neigung in diese Richtung verspürte. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs eroberten britische Truppen unter dem Überläufer Benedict Arnold 1781 das Anwesen der Familie, stahlen das Vieh und zerstörten die Inneneinrichtung. Daneben führte die in ganz Virginia verbreitete Bodenerosion auf der Berkeley Plantation dazu, dass die Ernteerträge stetig zurückgingen während sich die Harrison-Familie immer weiter vergrößerte. Anders als in der Harrison-Familie gewöhnlich der Fall schickten ihn die Eltern nicht auf das angesehene College of William & Mary, sondern ab 1787 auf das kleine und ländlich geprägte Hampden-Sydney College im Prince Edward County. Typisch für die Zeit umfasste Harrisons Lehrplan neben englischer Grammatik die Klassiker des antiken Roms wie Cäsar, Sallust, Vergil und Cicero. Möglicherweise durch Berichte beunruhigt, dass unter den Studenten in Hampden-Sydney die Erweckungsbewegung zunehmend Anhänger fand, schickten ihn die stramm episkopalistischen Eltern 1790 nach Richmond. Hier setzte Harrison, der bei seinem älteren Bruder Benjamin Harrison VI. lebte, bei dem Mediziner Andrew Leiper sein Studium fort und kam in Kontakt mit Abolitionisten, die sich um den Quäker Robert Pleasants in der Humane Society organisierten. Bald darauf versetzten ihn die Eltern an die University of Pennsylvania, um dort, wie viele andere später geborene Söhne wohlhabender Pflanzer auch, Medizin zu studieren. Zur herrschenden Klasse Virginias gehörend gingen die Harrisons davon aus, dass William Henry eines Tages wegen des Ehrenkodexes, der die sozialen Beziehungen in der Pflanzeraristokratie bestimmte, mit entsprechender politischer Unterstützung für eine Wahl in die Virginia General Assembly oder in ein anderes politisches Amt rechnen durfte. Als Harrison im Frühjahr 1791 per Boot in Philadelphia anlandete, erfuhr er von einem Boten, dass sein Vater gestorben war. Bald danach signalisierten ihm seine Brüder, dass die Familie nicht länger in der Lage sei, seine akademische Ausbildung zu finanzieren. Harrison beendete sein Studium und verließ den Bereich der Medizin insgesamt, obwohl Ärzte dieser Zeit nur wenig formale Bildung brauchten, um praktizieren zu können. Nachdem er sich vergeblich um eine Stelle im Staatsdienst beworben hatte, fragte er den Gouverneur von Virginia, Richard Henry Lee, um Rat, der momentan in Philadelphia weilte. Als Harrison sich bereit erklärte, in die United States Army einzutreten, verschaffte ihm Lee ein Offizierspatent, das von George Washington, der mit Harrisons Vater befreundet gewesen war, genehmigt wurde. Am 16. August 1791 trat Harrison in den Militärdienst ein. Frühe militärische Laufbahn (1791–1794) Der Dienst in den Streitkräften genoss zu dieser Zeit ein geringes Ansehen und war schlecht bezahlt. Nach dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg war die United States Army in Indianerkriege verwickelt, die für den einzelnen Soldaten mit hoher Mortalität sowie großen Entbehrungen verbunden waren und in den höheren Gesellschaftskreisen als unehrenhaft galten. Harrisons erste Verwendung war als Werbeoffizier beim 1st Infantry Regiment in Philadelphia, wo er knapp 80 Freiwillige rekrutierte. Anschließend wurde er nach Fort Washington versetzt, das er im November 1791 erreichte. Dieses Fort lag auf dem Gebiet des heutigen Cincinnati im Nordwestterritorium und schützte damals eine der westlichsten Siedlungen der Vereinigten Staaten, die aus nicht mehr als 30 Hütten bestand. Der Stützpunkt war von der Außenwelt nahezu abgeschnitten und nur über Indianerpfade zu erreichen. Kurz vor Harrisons Ankunft in Fort Washington hatten die Überlebenden der Schlacht am Wabash River, die im November 1791 in einer desaströsen Niederlage der Amerikaner geendet hatte, dort Schutz gesucht. Im zum großen Teil aus Veteranen des Unabhängigkeitskriegs bestehenden Offizierskorps des Territoriums stieß Harrison als Offizier ohne militärische Vorerfahrung auf große Vorbehalte. Die Bedingungen im Lager waren prekär: Die Unterkünfte der Soldaten bestanden aus undichten Zelten, Waffen und Munition wiesen häufig Defekte auf und die Pferde wurden regelmäßig von Indianern gestohlen. Dies und die eintönige Routine verleiteten die meisten der Soldaten zu ausuferndem Alkoholkonsum, was Harrison mit Widerwillen zur Kenntnis nahm. Als der Kommandeur anordnete, jeden Soldaten, der außerhalb des Forts betrunken angetroffen werde, umgehend mit Peitschenhieben zu bestrafen, kam dem Harrison erfreut nach. In einem Fall inhaftierten ihn aufgebrachte Bewohner der Siedlung, als er einen Betrunkenen derart züchtigte, und er kam erst nach Intervention des Kommandeurs wieder frei. Im Winter nahm Harrison an Märschen außerhalb des Forts teil, wovon einer der Bergung von Ausrüstung diente, die General Arthur St. Clair und seine Truppen nach der Flucht vom Wabash River zurückgelassen hatten. Im Juni 1792 wurde Harrison als Eskorte für die Familie des Kommandanten nach Philadelphia beordert. Dort trat er in die neu aufgestellte Legion of the United States ein und diente als Lieutenant unter General Anthony Wayne, einer Berühmtheit aus dem Unabhängigkeitskrieg. Als Harrisons nächsthöherer Vorgesetzter wegen einer Affäre auf einen anderen Dienstposten versetzt wurde, ernannte ihn Wayne im Juni 1793 zu seinem Aide-de-camp, womit ein deutlich höherer Sold verbunden war. Zu dieser Zeit waren seine Eltern verstorben. Seinen Erbteil in Virginia tauschte er gegen Landtitel in Kentucky ein, die der Harrison-Familie gehörten. Vermessungsprobleme im „Frontier“ sorgten dafür, dass diese Ländereien wie viele andere Investitionen Harrisons auch nie Geld abwarfen. Im Herbst 1793 hatte die Legion Fort Washington erreicht und marschierte nordwärts gegen die Indianer. Ursächlich für den Konflikt waren die zwischen diesen und weißen Siedlern geschlossenen Verträge. Letztere gingen davon aus, dass wenn ein Stamm Land abtrat, es alle Indianer verlassen mussten, auch wenn sie nicht zu dieser Gruppe gehörten. Mit Beschwerden von derart entrechteten Ureinwohnern hatte es Harrison während seines beruflichen Werdegangs häufiger zu tun; später initiierte er selbst regelmäßig solche Vertragsabschlüsse zuungunsten der Indianer. Mit Unterstützung der Briten, die sich noch immer in Teilen des Nordwestterritoriums aufhielten, hatten die Indianer St. Clair besiegen können, der die Beschwerden von vertriebenen Gruppen ignoriert hatte. Mit der Legion stand ihnen nun aber eine wesentlich besser organisierte und diszipliniertere Streitmacht gegenüber als 1791 in der Schlacht am Wabash River. Schlacht von Fallen Timbers Bis zum August 1794 hatte die 3500 Mann umfassende Streitmacht Waynes eine Stellung nahe Toledo im heutigen Ohio erreicht. Aufgrund ihrer Lage inmitten von umgestürzten Bäumen, die ein Tornado gefällt hatte, erhielt das spätere Schlachtfeld den Namen Fallen Timbers („umgestürzte Hölzer“). Die sich aus unterschiedlichen Völkern zusammensetzende indianische Konföderation wurden von dieser Truppenbewegung überrascht, so dass viele Kämpfer zu diesem Zeitpunkt abwesend waren, weil sie gerade Proviant besorgten. Am Ende konnte Kriegshäuptling Blue Jacket, ein Angehöriger der Shawnee, am 20. August lediglich 500 Männer in die Schlacht von Fallen Timbers führen. Obwohl sie tapfer kämpften und nicht mehr Verluste erlitten als die Legion, erkannten sie bald die Überlegenheit des Gegners und zogen sich zu einem nahegelegenen britischen Fort zurück, das ihnen aber nicht die Tore öffnete. Harrison ritt während der Schlacht das Gefechtsfeld weit ausgreifend ab, um die Linien aufrechtzuerhalten. Als sich die Lage zuspitzte, war er darum bemüht, Wayne aus der Feuerlinie zu bringen. Insgesamt erhielt er für seine Leistung bei dieser Schlacht große Anerkennung durch seine Vorgesetzten. Nach dem Sieg brannte die Legion die umliegenden Indianersiedlungen ab und marschierte gen Süden in das Zentrum der bezwungenen Konföderation, wo sie ein Fort errichteten. Im Dezember 1794 kamen fast alle Häuptlinge nach Fort Greenville, um dort Wayne um einen Friedensschluss zu bitten. Eine Ausnahme bildete Tecumseh, der sich weigerte zu kapitulieren und die Verhandlungen deswegen boykottierte. Aus den Gesprächen entstand im August 1795 der Vertrag von Greenville, der einen Großteil des Nordwestterritoriums den Vereinigten Staaten zusprach. Harrison gehörte wie alle Offiziere der Schlacht von Fallen Timbers zu den Unterzeichnern des Vertrags. Der Vertrag räumte den Indianervölkern Jahreszahlungen aus Washington in Form von Gütern ein. Hochzeit und Familiengründung (1794–1797) Im Anschluss kehrte Harrison nach Fort Washington zurück und wurde bald dessen Kommandant. Davor war er für mehrere Monate in der Nähe von Cincinnati in North Bend stationiert. In dieser Zeit traf er Anna Symmes, die 20-jährige Tochter des Siedlerführers Oberst John Cleves Symmes. Anna Symmes war einerseits an das Leben im Frontier angepasst, andererseits hatte sie ein Mädcheninternat besucht und war belesen sowie politisch interessiert. Später wurde sie die erste First Lady, die eine Schulbildung außerhalb des Elternhauses genossen hatte. Sie und Harrison begegneten sich erstmals im Hause ihrer Schwester in Lexington und beschrieben es später als Liebe auf den ersten Blick. Als er um ihre Hand anhielt, untersagte Symmes die Verbindung, weil er nicht wollte, dass seine Tochter einen Soldaten mit beschränkten finanziellen Mitteln heiratete. Wayne unterstützte jedoch das junge Paar. Am 25. November 1795 heirateten sie trotz der Weigerung des Brautvaters. Zu diesem Zweck warteten sie laut dem Historiker Robert Martin Owens, bis Oberst Symmes auf einer Geschäftsreise war, und ließen sich von Stephen Wood, dem Schatzmeister des Territoriums und örtlichen Friedensrichter, in dessen Haus trauen. Gail Collins gibt in ihrer Biographie eine alternative Version des Geschehens an, nach der die Hochzeit im Haus der Braut stattfand und Oberst Symmes mitten in der Zeremonie die Räumlichkeiten verlassen habe. Wayne ließ Harrison nach der Heirat in Fort Washington stationiert, so dass er bei seiner Frau bleiben konnte. Aus der Ehe gingen zwischen 1796 und 1814 sechs Söhne und vier Töchter hervor. Sein Sohn John Scott Harrison war zwischen 1853 und 1857 Abgeordneter im Repräsentantenhaus und dessen Sohn Benjamin Harrison von 1889 bis 1893 der 23. Präsident Amerikas. Es dauerte jedoch nicht lange und es kam zu einer Versöhnung zwischen Oberst Symmes und dem Brautpaar. Möglicherweise wurde dies dadurch befördert, dass Harrison das Militär verließ und einen einträglicheren Lebensunterhalt anstrebte. Zu diesem Zweck erwies sich sein Schwiegervater als nützlich, da er über ihn Kontakte mit örtlichen Bodenspekulanten knüpfen konnte. Noch im aktiven Dienst ließ er eine Getreidemühle und ein Sägewerk im späteren Indiana-Territorium errichten. Außerdem erwarb er trotz seiner Aversion gegen Alkohol Anteile an einer Whisky-Brennerei. Keines dieser Unternehmen hatte jedoch Erfolg. Er stand mit dieser misslichen Erfahrung in seiner Generation bei weitem nicht alleine da, weil diese Phase der amerikanischen Geschichte wegen ihres instabilen Finanzsystems eine besonders riskante für Geschäftsgründer war. Nach der Hochzeit bezog Harrison mit seiner Frau eine knapp 65 Hektar große Farm nahe North Bends, die er mit einem dazugehörigen Blockhaus von seinem Schwiegervater erworben hatte. Ausscheiden aus dem Militärdienst (1797–1800) Des ereignisarmen Diensts nach Vorschrift in Fort Washington überdrüssig beantragte Harrison im Juli 1797 seine Entlassung. Mit Wirkung zum 1. Juni 1798 verließ Harrison mit dem Dienstgrad Captain die United States Army. Danach wirkte Harrison als Grundbuchführer und Friedensrichter. Als der Posten des Sekretärs für das Nordwestterritorium frei wurde, hatte er typischerweise keine Gewissensbisse, seine familiären Beziehungen als ein Harrison auszunutzen. In diesem Fall schrieb er an den einflussreichen föderalistischen Kongressabgeordneten Robert Goodloe Harper, ließ einige seiner Familie verbundene prominente Namen fallen und machte auf seine angespannte finanzielle Situation aufmerksam. Seine Taktik trug Früchte und Harrison erhielt im Juni 1798 diesen einträglichen Dienstposten von Präsident John Adams zugesprochen. Als Sekretär von Territorialgouverneur Arthur St. Clair war Harrison mit dem Schriftverkehr betraut, den er gewissenhaft erledigte und sich dabei den blumigen sprachlichen Ausdruck aneignete, der später seine politischen Reden auszeichnete. Von der Gesetzesversammlung des Nordwestterritoriums wurde er im Oktober 1799 nach einem scharf geführten Wahlkampf gegen den Sohn des föderalistischen Gouverneurs mit 11:10 als Delegierter in das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten gewählt. Wenn Harrison in späteren Wahlkämpfen seine aristokratische Herkunft vorgehalten wurde, wies er auf seine Kandidatur gegen Föderalisten als Partei der besitzenden Klassen hin. Als nicht stimmberechtigtes Mitglied war er im 6. Kongress der Vereinigten Staaten vor allem in die gesetzliche Ausgestaltung der öffentlichen Landverkäufe des Bundes involviert. Harrison war Vorsitzender des Kongressausschusses zu öffentlichen Ländereien (Committee on Public Lands). Im Jahr 1800 erreichte er die Verabschiedung des Harrison Land Act, der die Parzellengröße der verkauften Landstücke auf 130 Hektar halbierte und in einem gewissen Rahme den Ankauf auf Kredit gestattete. Dies erweiterte zwar den Käuferkreis für Farmland im Nordwestterritorium, führte aber in der Folge zu einem Anstieg von Zwangsvollstreckungen bei ausfallenden Kreditzahlungen. Später wurden die Kreditmöglichkeiten zwar wieder eingeschränkt, aber der Harrison Land Act zur Unterstützung von einfachen Siedlern verschaffte ihm ein politisches Ansehen, von dem er lange zehrte. Harrison nutzte die Gelegenheit, um in der damaligen Hauptstadt Philadelphia an die Kontakte seines Vaters anzuknüpfen und sich ein Netzwerk aufzubauen. Präsident Adams zeigte sich an dem jungen Sekretär besonders interessiert und lud ihn zu Abendempfängen in das frisch errichtete Weiße Haus ein. Im Frühjahr 1800 hatte er außerdem ein persönliches Treffen mit Vizepräsident Thomas Jefferson. Als 1800 das Nordwestterritorium Harrisons Vorschlag weitgehend folgend aufgeteilt wurde, entstand als westlicher Ausschnitt das Indiana-Territorium, das den Großteil vom heutigen Illinois, Indiana, Michigan und Wisconsin umfasste. Mit Zustimmung des Kongresses ernannte der Präsident im März 1800 Harrison zum Gouverneur des neuen Territoriums. In späteren Wahlkämpfen behauptete Harrison zwar, dass Adams ihn als Anti-Föderalisten loswerden wollte und daher in das Grenzland abschob, aber die Biographin Collins hält das für unwahrscheinlich. Zum einen habe Harrison ein gutes Verhältnis zu Adams gehabt, zum anderen habe er sich zu dieser Zeit mit programmatischen Schwerpunkten der Föderalisten identifiziert. Collins nimmt daher finanzielle Motive als Beweggrund für Harrisons Amtsantritt an. Reginald Horsman (2000) macht geltend, dass Harrison bei der Aufteilung des Nordwestterritoriums gemeinsame Sache mit den Anti-Föderalisten gemacht habe, denn dadurch sei neben dem Indiana-Territorium der Bundesstaat Ohio entstanden, und nicht, wie von St. Clair durch eine entsprechende Grenzziehung beabsichtigt, zugunsten föderalistischer Kontrolle weiter hinaus verzögert worden. Harrison akzeptierte das Angebot von Adams nicht sofort, sondern wartete die Präsidentschaftswahl von 1800 ab, um sich vom neuen Amtsinhaber Jefferson die Ernennung bestätigen zu lassen. Hierbei half ihm seine Zugehörigkeit zur virginischen Pflanzeraristokratie. Gouverneur des Indiana-Territoriums (1800–1812) Weil es damals keine befestigten Wege von Cincinnati in die Hauptstadt des Indiana-Territoriums Vincennes gab, musste Harrison mit seiner Familie eine fast 1000 Kilometer lange Bootsfahrt über mehrere Flüsse auf sich nehmen. Sein neuer Dienstort war eine Kleinstadt mit wenigen hundert Einwohnern, die meisten von ihnen ursprünglich aus Frankreich stammende französische Siedler, die sich über mehrere Generationen mit der indigenen Bevölkerung vermischt hatten. Die Regierung des Territoriums bestand lediglich aus Harrison selbst und drei Richtern. Judikative, Exekutive und Legislative des Territoriums lagen allein in Händen dieses Gremiums. Gesetze aus anderen Bundesstaaten konnten vom Territorialgouvernement einfach übernommen werden, wohingegen der Bund ihm eine unabhängige Gesetzgebung untersagte. Im Territorium regte sich zusehends Unmut über diese ganz und gar nicht republikanische Machtkonzentration, die der Bund den Gouverneuren einräumte. Ein Statuswechsel zum Bundesstaat mit einer State Legislature als Legislative war erst ab 60000 Einwohnern möglich. Besonders kritisiert wurde er von Siedlern aus den Nordstaaten, die in ihm einen aristokratischen Sklavenhalter sahen. Von ihrer Seite kam immer wiederkehrend der Vorwurf, dass sich Harrison als Gouverneur persönlich bereicherte, wofür aber nie Beweise erbracht werden konnten. Anfangs hatte Harrison die Unterstützung der Mehrheit, aber später geriet er vor allem wegen seiner Haltung in der Sklavenfrage in die Defensive. Im Jahr 1805 tagte in Vincennes die erste Gesetzgebende Versammlung des Indiana-Territoriums. In der territorial legislature gewann bald die Anti-Harrison-Fraktion unter Jonathan Jennings die Oberhand und bei den Wahlen für den Delegierten zum Kongress in den Jahren 1809 und 1811 setzten sie ihren Kandidaten gegen den des Gouverneurs durch. Harrison ließ in Vincennes eine Residenz im Stile eines Plantagenhauses errichten, die er von 1804 bis 1812 bewohnte und auf den Namen Grouseland taufte. Das zweistöckige Steinhaus stach durch Bauweise und Größe deutlich aus den bescheidenen lokaltypischen Fachwerkhäusern und Blockhütten heraus. Die Handwerker und Arbeiter für den Bau ließ Harrison aus Ohio und Pennsylvania anreisen, das Fensterglas extra in London einkaufen. Anliegend bewirtschaftete er eine Farm, die seine Familie mit Lebensmitteln versorgte. Zum Ende seiner Amtszeit hin erhöhte sich die Bevölkerungsanzahl im Indiana-Territorium erheblich und landwirtschaftliche Industrien wie Gerbereien, Mühlen und Destillerien konnten sich etablieren. Bemerkenswerte Errungenschaften während seiner zwölfjährigen Regierungszeit waren die Einrichtung einer mobilen Bibliothek, die Gründung einer landwirtschaftlichen Gesellschaft und die Einführung einer öffentlichen Lotterie, um den Betrieb einer provisorischen Universität in Vincennes zu finanzieren. Außerdem entsendete die katholische Kirche auf Harrisons Bitte hin einen Geistlichen zur Betreuung der Bewohner in die Hauptstadt des Territoriums. Ferner gelang es ihm, einen Drucker aus Kentucky als Siedler zu gewinnen, der mit der Indiana Gazette die erste Zeitung in dieser Region herausgab. Die oberste Priorität für die Nation als Ganzes hatte jedoch die Indianerpolitik des Territorialgouverneurs. Um die Grenzen zu den konkurrierenden Kolonialmächten Frankreich, Spanien und dem Vereinigten Königreich in Nordamerika zu sichern, war aus Sicht Washingtons ein Siedlungsgürtel notwendig, dem die Indianer im Wege standen. Von Präsident Jefferson und Kriegsminister Henry Dearborn hatte er die unmissverständliche Order erhalten und ohne Skrupel ausgeführt, den Indianervölkern schnell und mit allen notwendigen Mitteln Land für die weitere Besiedlung abzugewinnen. Die weiße Bevölkerung sah in der Verdrängung der sich der „Zivilisierung“ verschließenden Indianer nach Westen außerdem eine Operation, die der Urbevölkerung zupass käme, denn in den Great Plains könnte sie ungestört ihrer tradierten Lebensweise nachgehen. Hinzu kamen materielle Interessen der Elite, denn die wohlhabende Bevölkerungsschicht war seit der Zeit der Gründerväter stark in Landspekulationen involviert. So hatte Harrisons Schwiegervater den Grundstock für seinen Reichtum gelegt, als er vom Kongress mehr als 130.000 Hektar Land am Ohio River erstanden und später gewinnbringend weiterverkauft hatte. Indianerpolitik In Grouseland fanden einige wichtige Konferenzen mit Führern der Indianer Nordamerikas statt, wobei sich die Interaktion mit diesen als heikel darstellte. Einerseits sollte der Gouverneur freundschaftliche Beziehungen zu den Indianern aufbauen, deren Vertrauen gewinnen und sie gegen weiße Landräuber beschützen, auf der anderen Seite sollte er im Auftrag der Bundesregierung möglichst viel Land von den Indianern erwerben und weißen Siedlern zur Verfügung stellen. Das war ein unlösbarer Widerspruch, der bald zu neuen Streitigkeiten mit der Urbevölkerung führte, für die Eigentum an Land ein fremdes Konzept war. Harrison handelte als Gouverneur mit den örtlichen lokalen Indianervölker insgesamt sieben Kaufverträge für Land aus. Zwischen 1802 und 1805 erwarb er so eine Fläche, die das heutige Süd-Indiana sowie große Teile von Illinois, Wisconsin und Missouri ausmacht. Später schätzte er selbst, dass er der indigenen Bevölkerung insgesamt um die 20 Millionen Hektar abgekauft hatte. Am Ende seiner Amtszeit hatte er das vorgegebene Ziel der Bundesregierung, nämlich die Verdrängung der Indianer in die Gebiete westlich des Mississippi, weitgehend erreicht. Der Historiker William Freehling macht geltend, dass Harrison beim Landerwerb die Korruption führender Indianer sowie ihre Armut und Alkoholprobleme ausnutzte. Dieser Instrumentarien habe sich Harrison 1805 in einem Landgewinn von 51 Millionen Acres bedient. Hierbei lud Harrison fünf weniger bedeutende Stammesführer der Sauk ein, die sich unter dem Einfluss von Alkohol dazu bereit erklärten, Ländereien für einen Penny pro 200 Acres zu verkaufen. Im Jahr 1809 handelte Harrison mit ausgewählten indianischen Führern den Vertrag von Fort Wayne aus. Feindlich gesinnte Stämme waren zu der Konferenz nicht geladen worden. Als Ergebnis erstanden die Vereinigten Staaten weitere 3 Millionen Acres an Land. Für Tecumseh, der an der Konferenz nicht teilgenommen hatte, war dieser weitere Gebietsverlust ein ausschlaggebendes Moment, die Indianervölker für den Kampf gegen die Vereinigten Staaten zu einen und das Vereinigte Königreich um militärische Unterstützung zu bitten. Harrison zeigte Geschick bei diesen Verhandlungen, wobei er sich an den Mitteln und Wegen orientierte, mit denen seine damaligen Vorgesetzten den Vertrag von Greenville erreicht hatten. So war er mit den interkulturellen Details vertraut, die Unterredungen mit den Indianern kennzeichneten, zu denen unter anderem ausgedehnte Rauchzeremonien, Gastgeschenke, blumige Ansprachen und langwierige informelle Gespräche vor der eigentlichen Verhandlung gehörten. Zu diesen Gesprächen lud er misstrauische als auch freundlich gesonnene Indianerführer ein, selbst wenn letztere nur über wenig Landansprüche verfügten. Kooperative Völker belohnte er großzügig mit Geschenken, während er bei widerstrebenden Gruppen die jährlichen Zahlungen aus Washington kappte. Vor allem bei den Verhandlungen in Fort Wayne im September 1809 stieß er auf große Widerstände bei den Indianern, aber konnte ihnen weitere Landübertragungen abpressen. Üblicherweise ließ er laut Collins keinen Alkohol ausschenken, obwohl dies von weißen Zeitgenossen häufig angewandt wurde, um die Indianer zu übervorteilen. Der mit Harrison in regelmäßiger Korrespondenz stehende Präsident Jefferson hatte ihm in diesem Zusammenhang empfohlen, den Indianern Alkohol und andere Waren auf Kredit zu verkaufen, um sie so in die Schuldabhängigkeit zu treiben. Gestärkt wurde die Verhandlungsposition der Vereinigten Staaten durch die prekäre Lage der indigenen Bevölkerung. Diese wurde in immer neuen Schüben von aus Europa eingeschleppten Krankheiten heimgesucht, während ihre Jagdreviere zunehmend durch weiße Siedler besetzt wurden. Überdies hatten die Indianer wegen des lukrativen Pelzhandels viele Regionen so bejagt, dass die lokalen Wildbestände ausgerottet wurden. Kleinere Völker waren von Unterstützungsleistungen Washingtons mittlerweile so abhängig geworden, dass sie dafür große Ländereien zu Schleuderpreisen verkauften. Collins führt aus, dass Harrison die Notlage der Indianer mit Mitleid betrachtet habe. So sei ihm der Rassismus im Justizsystem bewusst gewesen, wo weiße Jurys zumeist die Verurteilung von weißen Gewaltverbrechen an Indianern verhinderten. Als Gouverneur verbot er reisenden Händlern den Tausch von Alkohol gegen Pelze mit indianischen Trappern. Harrison gewann zudem die Mehrheit der Territorial Legislature („Gesetzgebende Versammlung des Bundesterritoriums“) für ein generelles Verkaufsverbot von Alkohol an die indigene Bevölkerung, aber weil das Gesetz an die ausbleibende Zustimmung der State Legislatures („Gesetzgebende Versammlung des Bundesstaats“) von Kentucky, Louisiana und Ohio gebunden wurde, trat es nie in Kraft. Wie sehr auch immer Harrison das Schicksal der indigenen Bevölkerung bedauert haben mag, zweifelte er nie an der Legitimität der ausgehandelten Landverkäufe. Als Harrison bei der Durchsetzung der Indianerpolitik Jeffersons bei den indigenen Völkern auf immer mehr Widerstand stieß, machte er dafür britische Agenten verantwortlich. Haltung in der Sklavenfrage Harrison selbst war Sklavenhalter. Er verschleppte mindestens einen Sklaven nach Vincennes, das er im Januar 1801 erreichte. Aufgrund seiner Herkunft aus der Pflanzeraristokratie der Südstaaten verstand er ihre Gründe für das Festhalten an der auf umfangreicher Sklavenhaltung basierenden Plantagenökonomie. Abgesehen von seinem kurzzeitigen jugendlichen Interesse an der Humane Society hatte er kein Verständnis für die Forderungen der Abolitionisten. Er selbst kaufte Sklaven und vermietete sie als Vertragsknechte mit der Aussicht, sie vielleicht nach Ablauf ihrer Vertragszeit in die Freiheit zu entlassen, wie er bei Wahlkämpfen in den Nordstaaten betonte. Tatsächlich lief diese Regelung aus Virginia, die Harrison im Jahr 1803 im Indiana-Territorium in Kraft setzte, auf Sklaverei hinaus. Während seiner Zeit im Kongress hatte er jede Initiative bekämpft, um die Ausbreitung der Sklaverei in die Bundesterritorien zu unterbinden. Eine seiner ersten Maßnahmen als Gouverneur des Indiana-Territoriums war die Sicherstellung von Sklavennachschub. Dabei interpretierte er, wie schon St. Clair, den Artikel VI der Northwest Ordinance („Verordnung für das Nordwestterritorium“) von 1789 sehr eigenwillig. Dieser Artikel untersagte die Sklaverei nordwestlich des Ohio, wurde aber von Harrison dahingehend ausgelegt, dass damit nur der Sklavenhandel gemeint sei. Wenn Siedler aus dem Süden ihre Sklaven in das Territorium verschleppten, war dies nach seiner Lesart des Artikels VI nicht zu beanstanden. Im Indiana-Territorium gehörte Harrison zur Gruppe der „Virginia aristocrats“, die Sklaverei als notwendig für die wirtschaftliche Entwicklung der Region erachteten und um Zuwanderung von Pflanzern aus dem Süden warben. Im Jahr 1803 sandte er eine Petition nach Washington, die eine Abschaffung des Sklavereiverbots aus Artikel VI in den Territorien forderte, sie hatte aber keinen Erfolg. Als 1805 die territorial legislature zusammenkam, unternahm Harrison sofort Schritte, um mit Gesetzesvorschlägen die faktische Sklaverei der mehr als 600 Afroamerikanern im Territorium zu legitimieren. In den Jahren danach wurde die Stimmung im Territorium mehrheitlich abolitionistisch. Als Reaktion auf die Absage verabschiedete er mit den drei die Regierung und Legislative bildenden Richtern mehrere Gesetze zum rechtlichen Status von freien Afroamerikanern. Ihnen wurden die vollen Bürgerrechte vorenthalten; vor Gericht durften sie nicht gegen Weiße aussagen und sie durften keine weißen Vertragsknechte beschäftigen. Als „Negroe“ wurde jeder definiert, der auch nur ein „schwarzes“ Großelternteil gehabt hatte. Im Jahr 1805 erlaubte die in der Zwischenzeit geschaffene Territorial Legislature die Verschleppung von Sklaven in das Territorium und ihre Registrierung als Vertragsknechte. Anders als weiße Vertragsknechte erhielten sie keinen Lohn und ihre Dienstzeit war unbeschränkt, was de facto Sklaverei bedeutete. Ihre im Territorium geborenen Kinder sollten beim Erreichen des Erwachsenenalters freigelassen werden, das auf die Zeit zwischen dem 29. und 36. Lebensjahr festgesetzt wurde. Obwohl dieses System eine Fortführung der Sklaverei unter anderem Namen war, sah Harrison dies anders. So setzte er sich in einem Fall für zwei in das Territorium verschleppte Sklaven ein, die nach dem Tod ihrer Besitzer außerhalb des Indiana-Territorium verkauft werden sollten. Er stoppte den Verkauf und einer der beiden Afroamerikaner arbeitete elf Jahre als sein Vertragsknecht, bis er freigelassen wurde. Trotz der Bedrohung im Territorium verbot Harrison 1807 Afroamerikanern, den lokalen Milizen beizutreten. Insgesamt blieb Harrison also den Zielen der „Virginia aristocrats“ verbunden. Als die Stimmung im Indiana-Territorium zunehmend abolitionistisch wurde, trat er noch entschiedener zugunsten der Sklaverei ein. Im Jahr 1808 verbot die Territorial Legislature die Verschleppung von Sklaven in das Indiana-Territorium. Dies scheiterte im Senat des Territoriums, der aus handverlesenen Anhängern des Gouverneurs bestand. Kurz danach kam es zu einer eigentümlichen Allianz von Abolitionisten aus dem heutigen Indiana und Sklavereianhängern aus dem heutigen Illinois. Gemeinsam setzten sie einen Delegierten an den Kongress der Vereinigten Staaten durch, der dort 1809 die Abspaltung Illinois-Territoriums erreichte. Im Rest des Indiana-Territoriums musste sich Harrison nun mit einer mehrheitlich abolitionistisch gesinnten Bevölkerung auseinandersetzen. Aus dem Süden zuwandernde Pflanzer ließen von da an das Indiana-Territorium links liegen und wandten sich nach Illinois und später Missouri und Arkansas. Durch die Verkleinerung war die Einwohnerzahl von den für die Anerkennung als Bundesstaat geforderten 60000 Einwohnern weit entfernt. Im Jahr 1810 hob die mehrheitlich abolitionistische territorial legislature die aus Virginia übernommenen Sklavereigesetze auf; die bereits in der Sklaverei gefangenen Afroamerikaner des Territoriums blieben jedoch von diesem Auslaufen der Sklaverei unberührt und weiter in Vertragsknechtschaft. Schlacht bei Tippecanoe Als ständige Gefahr schwebte über dem Territorium die Bedrohung durch Indianer und Briten von Oberkanada aus; vor allem ein Bündnis zwischen den beiden Gruppen wurde in Vincennes befürchtet. Harrison hatte wenig Vertrauen in die militärische Leistungsfähigkeit der lokalen Milizen und setzte sich für ihre Stärkung ein. Im Jahr 1807 gab ihm die Territorial Legislature volle Unterstützung für eine Professionalisierung der Ausbildung der Milizionäre, mit der eine bessere Ausrüstung einherging. Das Führen der Milizen war die Tätigkeit, die Harrison als Gouverneur am meisten schätzte und die seinen Zeitgenossen am ehesten in Erinnerung blieb, zumal sie bei späteren Wahlkämpfen besonders betont wurde. Sein späterer großer Gegner war Tecumseh vom Volk der Shawnee. Diese hatten 1768 große Territorien im westlichen Pennsylvania und Kentucky an die Dreizehn Kolonien verloren, als die Irokesen dieses Land ohne ihre Zustimmung abgetreten hatten. In den folgenden Kämpfen gegen weiße Siedler verlor Tecumsehs Vater Pucksinwah sein Leben. Tecumsehs Bruder Tenskwatawa wurde nach einer Vision Medizinmann und Führer einer religiösen Erweckungsbewegung, die unter anderem Alkoholabstinenz und eine Rückkehr zur traditionellen Lebensweise forderte. Beide Brüder waren fest davon überzeugt, dass Nordamerika den Indianern gehörte und nicht als Land an die weißen Siedler verkauft werden konnte. Während Tenskwatawa predigte, sich eine Anhängerschaft aufbaute und als „Der Prophet“ bekannt wurde, besuchte Tecumseh andere Indianervölker, sprach sich gegen weitere Landverkäufe an Weiße aus und versuchte sie für eine gemeinsame Konföderation zu gewinnen. Im Jahr 1808 ließen sie sich im Indiana-Territorium nieder und gründeten die von Indianern unterschiedlicher Völker bewohnte Siedlung Prophetstown an der Mündung des Tippecanoe River in den Wabash River. Obwohl Tecumseh und Tenskwatawa in einem persönlichen Gespräch mit Harrison die friedvollen Absichten bekräftigten, stieß die Ansiedlung von Anfang an auf den Widerstand der weißen Bevölkerung, die von der politischen Führung des Territoriums ein Eingreifen forderte. Neben einigen Fällen von Pferdediebstahl durch jüngere Indianer kam erschwerend hinzu, dass die Shawnee sich in der Vergangenheit mit den Briten gegen die Vereinigten Staaten verbündet hatten. Dennoch war Harrison anfangs von der Friedfertigkeit Prophetstowns überzeugt. Gegner von Tecumseh unter den Indianern informierten Harrison über alle dessen Schritte. So erfuhr er zu seiner Beunruhigung, dass Tecumseh bei einem Treffen in Kanada die britischen Behörden um Waffenlieferungen gebeten hatte. Die Lage verschärfte sich, als um die 50 Winnebago in Prophetstown eintrafen und Unterstützung für Überfälle auf Forts und die Rückgewinnung ihres Landes einforderten. Derweil setzten sich die Pferdediebstähle fort und die beiden Brüder waren erfolgreich im Schmieden einer Koalition von Indianervölkern, die sich um ihr Land betrogen sahen. Im Jahr 1810 fragte Harrison schließlich bei Tenskwatawa an, ob dieser einen Krieg anstrebte, wobei er auf die numerische Überlegenheit der Milizen und Truppen der Vereinigten Staaten hinwies. Schließlich lud er den „Propheten“ zu einem Rat ein; statt seiner erschien aber Tecumseh mit einer großen Schar von Kriegern. Bei den Gesprächen schilderte Tecumseh über mehrere Tage seine Beschwerden und die Ansicht, dass das Land den Indianern insgesamt gehörte und dessen Abtretung an die Weißen widernatürlich sei. Harrison, der an unterwürfigere Verhandlungspartner gewöhnt war, ließ die Gespräche erst weiterlaufen, bis er Tecumsehs Argumentation verwarf. Unter anderem machte er geltend, dass die Indianer keine geeinte Nation darstellten, andernfalls hätte ihnen der Große Geist nicht unterschiedliche Sprachen gegeben. An dieser Stelle kam es zum Eklat, als sich Tecumseh erhob und einige Indianer zu ihren Waffen griffen. Harrison erklärte die Versammlung daraufhin für beendet. Nach einer späteren Entschuldigung Tecumsehs bei Harrison setzte der Rat die Tagung fort, ohne eine Einigung zu erreichen. Im folgenden Jahr trafen sich Harrison und Tecumseh zu einer erneuten Aussprache, die gleichfalls ohne Ergebnis blieb. Kurz darauf machte sich Tecumseh auf in den Süden, um dort mehr Völker für seine Konföderation zu gewinnen, während Harrison den Bewohnern von Prophetstown eine kriegerisch akzentuierte Warnung zukommen ließ, in der er diese zu Rückkehr in ihre vorherigen Siedlungsgebiete aufforderte. Jahrelang hatte Harrison auf eine passende Gelegenheit für eine militärische Machtdemonstration und eine klare Entscheidung wie in Fallen Timbers 1794 gehofft und sah den Moment nun gekommen. Im Herbst 1811 hob Harrison eine für den damaligen Frontier bemerkenswert große Streitkraft von 1000 Mann aus, von denen ein Drittel in der regulären Armee diente. Eine größere Gruppe von Freiwilligen stammte aus Kentucky und stand unter dem Kommando von Joseph Hamilton Daviess. Nach einem längeren Marsch erreichten sie das heutige Terre Haute, Indiana. Hier ließ Harrison ein Fort errichten, während kampfwillige Indianer sich in Prophetstown sammelten, letztendlich der Streitmacht des Gouverneurs jedoch deutlich unterlegen blieben und zudem knapp an Munition waren. Bevor Tecumseh zu einer seiner Reisen aufgebrochen war, hatte er seinen Bruder die Weisung gegeben, unter allen Umständen ein Gefecht mit Harrison zu vermeiden. Aus welchen Gründen auch immer entschied sich der „Prophet“ gegen diesen Rat und offenbarte als Medizinmann in einer Zeremonie, dass die Kugeln der Feinde ihnen nichts anhaben konnten. Als Harrison am 6. November in Sichtweite von Prophetstown eintraf, kam ihm eine Delegation von örtlichen Führern entgegen, schlug eine gemeinsame Ratsversammlung für den nächsten Tag sowie eine nahegelegene Lichtung als mögliches Feldlager für Harrisons Truppen vor. Weil dieser Ort tatsächlich der am besten geeignete für ein Lager schien, ließ er die Soldaten sich hier sammeln. Später wurde ihm nicht nur diese Order als das Tappen in eine Falle vorgeworfen, sondern vor allem sein so weit reichendes Vertrauen, dass er kein befestigtes Lager für die Nacht errichten ließ. Im frühesten Morgengrauen griffen die Indianer an, wobei die Silhouetten der Soldaten vor den Lagerfeuern gute Ziele abgaben. Die Attacke kam so überraschend, dass Harrison es nicht zu seinem Schimmel schaffte, sondern auf einem anderen Pferd zur Feuerlinie ritt. In der herkömmlichen Erzählung wird berichtet, dass dieser Pferdetausch sein Leben rettete, weil sein Aide-de-camp bei diesem Manöver auf einem weißen Pferd neben ihm reitend tödlich verwundet wurde. Im Morgenlicht konnte die Armee des Territoriums die Angreifer besser orten und siegte in der Schlacht bei Tippecanoe. Nach dem Rückzug der Indianer vom Schlachtfeld und aus ihrer Siedlung, machte Harrison Prophetstown dem Erdboden gleich. Nach der Schlacht, bei der es sich im eigentlichen Sinn eher um ein mäßig bedeutsames Scharmützel gegen einen klar unterlegenen Gegner gehandelt hatte, hatte Harrison mit 188 gefallenen und verwundeten Soldaten wesentlich größere Verluste zu verzeichnen als die Indianer und kaum Gefangene gemacht. Diese durchwachsene Bilanz war nicht der glorreiche Sieg, der im Präsidentschaftswahlkampf 1840 zelebriert wurde. In der Territorialversammlung wurde Ende des Jahres eine Resolution zu Ehren der regulären Soldaten der Schlacht bei Tippecanoe verabschiedet, die Milizionäre und Harrison bewusst aussparte. Seine Rückkehr nach Vincennes war daher keine im Triumph. Daher waren die ersten Reaktionen auf den Ausgang des Gefechts gemischter Natur. Hinzu kam, dass sich Tecumseh bald darauf mit den Briten in Oberkanada verbündete, womit genau das eintrat, was eigentlich hatte verhindert werden sollen. Der wenige Monate später beginnende Britisch-Amerikanische Krieg wurde daher mit dem Eingreifen dieser Koalition in das Geschehen im Westen der Vereinigten Staaten vor allem als eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit den Indianern erlebt, während an der Ostküste diese Wahrnehmung kaum eine Rolle spielte. Neben den Soldaten stand vor allem Präsident James Madison hinter Harrison und pries in der Öffentlichkeit dessen Sieg in der Schlacht bei Tippecanoe. So kam es, dass die Armee des Territoriums bei ihrer Rückkehr in die Heimat einen triumphalen Empfang erlebte, und die um sich greifende Legendenbildung hinsichtlich der Schlacht bei Tippecanoe Harrison immer mehr Bewunderer verschaffte, darunter mit Henry Clay der Sprecher des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten. Anders als die einfachen Soldaten sahen die Offiziere Harrison als militärischen Führer kritisch. Ihm wurde vorgeworfen, dass er zu vorsichtig agierte, nur nach langer Vorbereitung marschierte und bei Vorteil oder Sieg dem Gegner nicht nachsetzte. Im Britisch-Amerikanischen Krieg (1812–1814) Noch vor Ausbruch des Britisch-Amerikanischen Kriegs verließ Harrison das Indiana-Territorium und bemühte sich um Wiedereinstellung in die United States Army, wobei er sein Gehalt als Gouverneur bis 1813 weiter bezog. Zu seiner Enttäuschung wurden bei der Besetzung des Generalstabs Veteranen aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg wie William Hull, der das Kommando über die Nordwest-Armee erhielt, und James Winchester ihm vorgezogen. Über den Gouverneur von Kentucky Charles Scott und Clay bemühte er sich beim Weißen Haus um die Führung der Freiwilligenregimenter dieses Bundesstaats. Kriegsminister William Eustis versagte ihm jedoch diesen Dienstposten, vermutlich weil er Harrison generell in keiner maßgeblichen Position im Krieg mit Großbritannien sehen wollte. Am Ende profitierte er von Hulls desaströser Aufgabe von Detroit, das den Briten und Tecumseh in die Hände fiel. Die Koalition aus Indianern der Region um die Großen Seen und Briten bedrohte in der Folge weite Teile des Indiana-Territoriums und löste in der Bevölkerung Panik aus. Danach wuchs der Druck auf Scott, Harrison trotzdem dieser kein Bürger des Bundesstaats war, zum Generalmajor der Kentucky-Miliz zu ernennen und nach Detroit in Marsch zu setzen, obwohl dies seine formale Zuständigkeit überschritt. Derart ermutigt machte sich Harrison auf den Weg nach Cincinnati, wo General Winchester mit vier Regimentern kampierte. Dort angekommen, beanspruchte er zur Empörung Winchesters für sich das Kommando über die drei Miliz-Regimenter aus Kentucky. Die Situation löste sich, als Harrison im August offiziell zum Brigadegeneral ernannt und im folgenden Monat von Präsident Madison mit dem gewünschten Kommando über die Nordwest-Armee ausgestattet wurde. Weil er erst Ende September von seiner Ernennung und dem damit verbundenen Auftrag der Rückeroberung Detroits und Invasion Kanadas erfuhr, verzögerte sich der geplante Winterfeldzug. Zum Jahresende trat Harrison als Gouverneur des Indiana-Territoriums offiziell zurück. Schlacht bei Frenchtown (1813) Harrison teilte sein Heer für den Marsch Richtung Detroit in drei Gruppen auf. Die Nachschublinien schützte er, indem er unterwegs sämtliche Siedlungen der Miami zerstören ließ, auch wenn es sich bei diesem Indianervolk um einen traditionellen Verbündeten der Vereinigten Staaten handelte. Das Gelände und die zunehmende Winterwitterung gestalteten die Versorgung der nordwärts strebenden Truppen immer schwieriger, so dass Proviant und wetterfeste Ausrüstung bald Mangelware wurden. Harrison wurde spätestens jetzt klar, dass die gesamte Operation vom Zeitraum her eine schlechte Idee gewesen war. Den Fehlschlag, zu dem sie sich entwickelte, hatte schließlich jedoch Winchester zu verantworten. Als dieser im Januar 1813 am mit Harrison vereinbarten Treffpunkt am Sandusky River eintraf, bestand er auf einen Weitermarsch nach Frenchtown, Michigan. Winchester wollte die Einwohner dieser am River Raisin gelegenen Ortschaft evakuieren, weil der Fluss unter britischer Kontrolle stand. Er nahm mit 300 Männern die Siedlung ein und wartete dort auf Verstärkung durch Harrisons Truppen, die jedoch im winterlichen Morast steckenblieben. Aus diesem Grund erreichte der britische Oberst Henry Procter den Ort vor Harrison und eröffnete am 22. Januar 1813 die Schlacht bei Frenchtown. Diese resultierte in der Niederlage und Gefangennahme Winchesters. Als die Briten sich vor dem annähernden Harrisons zurückzogen, kam es zu einem Massaker an 30 amerikanischen Kriegsgefangenen durch Indianer, das erst der eintreffende Tecumseh beenden konnte. Die Öffentlichkeit in den Vereinigten Staaten honorierte diesen Einsatz jedoch nicht, sondern konzentrierte sich auf die Tötungen zuvor und erhob Remember the Raisin! („Erinnert euch an den Raisin!“) zu ihrem Schlachtruf. Schlacht am Thames River (1813–1814) Nach dem Rückzug aus Frenchtown trennte sich Harrison in Fort Meigs im Landesinneren von Ohio von seiner Armee und begann mit der Aushebung neuer Regimenter sowie der besseren Absicherung der Nachschublinien. In der Nachbereitung der Schlacht von Frenchtown wurden stellenweise Vorwürfe gegen Harrison laut, er habe den Entsatz Winchesters mit Absicht verzögert, um ihn als Konkurrenten für seine weitere Karriere auszuschalten. Weil Proctor unentschlossen manövrierte und den Angriff auf Fort Meigs langwierig vorbereitete, kehrte Harrison rechtzeitig mit ausreichend Proviant und Ausrüstung für seine Armee zurück. Den kurz darauf folgenden Angriff der Briten wehrte er mit großen Verlusten ab. Durch den Sieg von Oliver Hazard Perry im September 1813 in der Schlacht auf dem Eriesee wurde die Koalition aus Briten und Indianern von Nachschub und Verstärkung abgeschnitten. Harrison marschierte daher mit der Nordwest-Armee Richtung Detroit River. Anschließend nahm die Nordwest-Armee Detroit ein und verfolgte die fliehenden Briten. Bei dieser Operation stieß eine Freiwilligen-Kavallerie unter Richard Mentor Johnson zu ihm. Am Ufer des kanadischen Thames River stellten sie am 5. Oktober Proctor und Tecumseh. In der Schlacht am Thames River standen den 3500 Soldaten der Nordwest-Armee 800 Briten und 500 verbündete Indianer gegenüber. Harrison befahl nicht wie damals üblich einen Angriff mit langgezogenen Schützenlinien, sondern eine breite Kavallerieattacke. Die Soldaten des Vereinigten Königreichs traten schnell den Rückzug an, während Tecumseh und seine Krieger weiterkämpften, um ihren Frauen und Kindern Zeit für die Flucht zu verschaffen. Bei einer von Johnson geführten Attacke fiel Tecumseh. Wer genau ihn tödlich verwundete, konnte niemals geklärt werden. Obwohl Johnson diese Tat nie für sich in Anspruch nahm, bildete sich um ihn eine Legende als den Bezwinger Tecumsehs, was sich in seiner späteren politischen Karriere als vorteilhaft erwies. Harrison selbst war im Verlauf der siegreichen Schlacht an keiner Stelle in der Nähe Tecumsehs gewesen. Obwohl die Schlacht eine klarere Angelegenheit gewesen war als Tippecanoe, wurden Harrisons Leistungen als Befehlshaber in Zweifel gezogen, weil er dem zurückziehenden Feind nicht bis nach Kanada hinein nachgesetzt hatte. In den folgenden Jahren wurde Harrisons Schlachtführung in Tippecanoe und am Thames River in der Öffentlichkeit immer wieder debattiert, insbesondere bei Wahlkämpfen. Die mutmaßlichen Überreste Tecumsehs wurden von Soldaten aus Kentucky so stark verstümmelt, dass Harrison eine Identifizierung durch gegnerische Kriegsgefangene verwarf und in der Meldung nach Washington lediglich vom Sieg in der Schlacht am Thames River berichtete, aber kein Wort über Tecumsehs Schicksal verlor. Die Nordwest-Armee brannte nach dem Gefecht noch ein nahegelegenes Dorf der als friedfertig geltenden und am Krieg völlig unbeteiligten christlichen Munsee nieder. Mit Tecumseh fiel das Symbol für den Widerstand der Indianer gegen die weiße Besiedlung Nordamerikas und die letzte Hoffnung auf eine Konföderation der indigenen Völker. Aus diesen Gründen löste sein Tod bei der weißen Bevölkerung euphorische Reaktionen hervor und förderte die Popularität Harrisons. Als nationaler Kriegsheld wurde er in der öffentlichen Wahrnehmung kurze Zeit später nur von Andrew Jackson und dessen Sieg in der Schlacht von New Orleans übertroffen. Daher erwartete Harrison nach der Rückkehr vom Feldzug eine landesweite Tour durch mehrere größere Städte, die ihn mit feierlichen Banketten und Empfängen ehrten. Im Kriegsministerium wendete sich derweil das Blatt gegen ihn, denn der neue Ressortleiter John Armstrong junior wollte Harrison ausbooten, wahrscheinlich um einen eigenen Kandidaten zum Befehlshaber der Nordwest-Armee zu machen. Armstrong unterzog daher die Buchführung Harrisons einer genauen Überprüfung und versuchte diesen generell an allen möglichen Stellen in Misskredit zu bringen. In der Zwischenzeit musste Harrison sich mit den Problemen beschäftigen, die das Erbe seines verstorbenen Schwiegervaters mit sich brachte. Zwar erhielt Harrison selbst aus dem Erbe 1200 Hektar Land am Ohio River in North Bend, aber Symmes’ weiterer Landbesitz war nicht vermessen, insbesondere nicht der beträchtliche, den Vereinigten Staaten abgekaufte Anteil. Erschwert wurde dies durch die lückenhaften Aufzeichnungen Symmes’ über seine Landspekulationen. Im Mai 1814 bat Harrison den Präsidenten um Entlassung aus der Armee, möglicherweise in der Annahme, dass Madison dieses Ansinnen ablehnen werde. Armstrong fing den Brief jedoch ab und akzeptierte in Vertretung Madisons den Rücktritt. Als der Präsident von dem Vorfall Wind bekam, intervenierte er nicht, sondern bat Harrison um das Aushandeln von Friedensverträgen mit den Indianervölkern im westlichen Frontier. Dieser folgte der Bitte und kehrte nach Abschluss des Auftrags zu seiner Familie nach North Bend in Ohio zurück. Der Bundesstaat war mittlerweile über die im Bau befindlichen National Road und den Eriekanal besser an den Rest der Vereinigten Staaten angebunden und wies eine hohe Bevölkerungszahl auf. Repräsentantenhaus, State Legislature und Senat (1814–1828) Nach der Rückkehr ins Privatleben widmete sich Harrison dem Betrieb seiner etwas über 1200 Hektar großen Farm. Das Wohnhaus, bis dahin eine zweistöckige Blockhütte, ließ er zu einer mit Residenz mit 16 Zimmern und einer Verkleidung aus Stülpschalung erweitern. Daneben kümmerte er sich um Veteranen, für deren Belange er in Briefen um Unterstützung bat. Die landwirtschaftlichen Erträge wurden größtenteils für die Versorgung der Familie und der vielen Gäste verbraucht. Weil außerdem Harrisons Geschäftsprojekte wie unter anderem eine Gießerei sämtlich ohne Erfolg blieben, musste er seinen Landbesitz mit Hypotheken belasten. Als der prominenteste Bürger Süd-Ohios wurde er regelmäßig zu öffentlichen Veranstaltungen und Empfängen als Ehrengast eingeladen. Wenn sich politisch eine entsprechende Gelegenheit ergab, nominierten die Bewohner dieser Region Harrison für ein Amt, so im Jahr 1816 für einen freiwerdenden Sitz im Repräsentantenhaus und anschließend für den 15. Kongress der Vereinigten Staaten. Weil North Bend in der Grenzregion zu Indiana lag, konnte er bei letztgenannter Wahl für diesen Bundesstaat antreten. Harrison war sehr an einem längeren Aufenthalt in der Hauptstadt gelegen, denn er wollte dort den Vorwürfen entgegentreten, er habe sich während des Britisch-Amerikanischen Kriegs persönlich bei der Versorgung der Nordwest-Armee bereichert. Ein Kongressausschuss unter Leitung von Johnson, dem vermeintlichen Bezwinger von Tecumseh, untersuchte diese Vorwürfe. Außerdem waren in Washington weiterhin Gerüchte im Umlauf, die Harrisons Leistungen als militärische Führer im Gefecht infrage stellten. Aus diesem Grund hatte der Senat der Vereinigten Staaten eine Resolution auf Eis gelegt, die ihm als nationale Anerkennung eine Goldmedaille verleihen wollte. Im Jahr 1818 hatte er Erfolg und bekam die Ehrung zuerkannt. Im Repräsentantenhaus engagierte er sich vor allem bei militärischen Themen, ohne im Kongress jemals eine wichtige Rolle zu spielen. So setzte er sich erfolgreich für Witwen- und Waisenrenten für die Angehörigen von im Krieg gefallenen Milizsoldaten ein. Des Weiteren machte er sich für Siedler stark, die die Schuldzahlungen auf ihr Land nicht mehr begleichen konnten. Zwar sprach er sich in einer Debatte ganz im Sinne seiner überwiegend abolitionistisch gesinnten Wähler gegen Sklaverei im neuen Bundesstaat Illinois aus, aber ansonsten stimmte er bei diesem Thema immer mit den Sklavenstaaten des Südens. Im Jahr 1819 trat er nicht zu einer Wiederwahl für das Repräsentantenhaus an. Er blieb der Politik jedoch nicht fern, sondern seine Anhänger nominierten ihn noch im gleichen Jahr für den Senat von Ohio. Anders als bei den vergangenen Wahlen hatte er es dieses Mal mit einer konkurrierenden Liste zu tun, die sich aus Gegnern der Second Bank of the United States („Zweite Bank der Vereinigten Staaten“) zusammensetzte. Nach einem dem Krieg von 1812 folgenden Landboom, der auf der westlichen Expansion der Vereinigten Staaten basierte, war eine Spekulationsblase entstanden und geplatzt mit besonders schweren Auswirkungen in Ohio. Die Anti-Bank-Liste machte für die Krise die Zentralbank verantwortlich und warf Harrison vor, dass er in der Vergangenheit Ortsdirektor der Second Bank in Cincinnati gewesen war. Jedoch hatte Harrison im Kongress für eine Abschaffung der Zentralbank gestimmt und auch im Wahlkampf für den Senat von Ohio positionierte er sich als Gegner von Banken. Die State Legislature selbst hatte im gleichen Jahr extrem hohe Bankensteuern gegen die United States Bank of Ohio eingeführt, die 1824 vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Nach seiner Wahl in den Staatssenat verfolgte er, wie angekündigt, eine Anti-Banken-Politik. Dennoch stellte er stets klar, dass er die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Frage der Bankensteuern akzeptieren werde, und stimmte gegen populistische, noch extremere Maßnahmen gegen die United States Bank of Ohio. Hinsichtlich der Sklavenfrage votierte er im Sinne der Südstaaten und gegen die Mehrheitsmeinung seines Wahlbezirk für die Aufnahme von Missouri als Sklavenstaat in die Union. Wie zuvor im Kongress setzte er sich für die Belange der Milizen ein und brachte einen Gesetzesvorschlag zur Einführung von öffentlichen Schulen ein. Nach einer Amtsperiode trat er nicht zur Wiederwahl. In den kommenden Jahren schien Harrison im politischen Aus angelangt zu sein. Eine Kandidatur für den Bundessenat im Januar 1821 scheiterte an Benjamin Ruggles; im Wahlkampf wurde Harrison vor allem seine Haltung in der Missouri-Frage angekreidet. Genau ein Jahr später trat er bei einer Nachfolgewahl für den verstorbenen William A. Trimble an und erzielte von allen Kandidaten die wenigsten Stimmen. Im Herbst 1822 ließ er sich zu einer Bewerbung für das Repräsentantenhaus überreden, verlor hier aber in einer hart geführten Kampagne gegen James W. Gazlay. Im Wahlkampf wurden erneut seine militärischen Fähigkeiten bezweifelt und ihm illegale Landzuweisungen durch seinen Schwiegervater vorgeworfen. Harrison selbst sah seine Haltung in der Sklavenfrage als ursächlich für die Niederlagen an. In den folgenden zwei Jahren bedrängte er aus finanziellen Nöten heraus Präsident James Monroe auf den einträglichen Botschafterposten in Mexiko und obwohl ihm Clay beiseite sprang, ignorierte ihn das Weiße Haus. Ab dem Jahr 1824 ist Harrison politisch dem Lager von Clay zuzurechnen; er unterstützte ihn bei der Präsidentschaftswahl 1824 und 1832 und trat in kommenden Wahlen in Anti-Jackson-Listen an. Im Januar 1825 endete die Durststrecke als ihn, wie damals noch üblich, die State Legislature Ohios in den Senat der Vereinigten Staaten wählte. Im 19. Kongress stand er auf Seiten von Präsident John Quincy Adams gegen dessen Konkurrenten Andrew Jackson, ein Konflikt, der zur Aufspaltung der Demokratisch-Republikanischen Partei in National Republicans und die Demokraten führte. So sprach er sich im Gegensatz zu den Jacksonians für nationale Infrastrukturprojekte aus. Im Mai 1828 verließ Harrison den 20. Kongress. Noch im gleichen Jahr schlug sein Versuch fehl, Vizepräsidentschaftskandidat bei Adams’ am Ende scheiternder Wiederwahl zu werden. Statt seiner wurde Richard Rush der Running Mate von Adams. Botschafter in Großkolumbien (1828–1829) Noch unter der Adams-Administration bemühte er sich um einen Botschafterposten, erst in Mexiko, dann in Großkolumbien. Harrison erhoffte sich von dieser lukrativen Position Hilfe gegen die immer drückendere Schuldenlast. Der Präsident stieß sich an dem hartnäckigen Werben Harrisons, zumal er keine hohe Meinung von ihm hatte, sondern als „politischen Abenteurer“ mit „lebhaften und aktivem, aber flachen Intellekt“ beurteilte. Bei der Kabinettsitzung überstimmten die Minister jedoch Adams, der nachgab und Harrison zum Botschafter in Botschafter in Großkolumbien ernannte, das aus dem heutigen Kolumbien, Venezuela, Panama und Ecuador bestand. Auf der inklusive Vorbereitung knapp einjährigen Reise zur Botschaft nach Bogotá begleitete ihn sein 18-jähriger Sohn Carter als Attaché. Höhepunkt der Strapazen war eine 40-tägige Bergtour durch die Anden. Am 5. Februar 1829 erreichte Harrison Bogotá. Hier bezog er eine repräsentative Residenz, deren Gartenbewirtschaftung einen großen Teil seiner Zeit einnahm. Dank seiner jovialen Art baute er sich schnell einen Freundeskreis auf. Währenddessen hatte Jackson die Präsidentschaftswahl gewonnen und zog in das Weiße Haus ein. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Entlassung von Harrison als Botschafter, den er durch Thomas Patrick Moore ersetzte. Die Anhänger Harrisons sahen darin die Bestätigung, dass der Präsident keinen weiteren Kriegshelden neben sich duldete. Möglicherweise lag der Grund für diese Handlung im Abstimmverhalten Harrisons während seiner Zeit im Repräsentantenhaus. Damals hatte der Kongress über Jacksons Hinrichtung von zwei Briten bei der Invasion von Spanisch-Florida im ersten Seminolenkrieg im Jahr 1818 debattiert und einen Tadel gegen diesen erwogen. Bei der Abstimmung hatte Harrison gegen die große Mehrheit für einen Tadel Jacksons votiert. Nach der Ernennung Moores am 11. März 1829 bedeutete Jackson Außenminister Martin Van Buren, Harrison erst im Herbst über seine Abberufung zu informieren. Harrison beobachtete derweil die gespannte politische Lage in der jungen Republik Großkolumbien. Präsident Simón Bolívar, der die südamerikanischen Unabhängigkeitskriege gegen das spanische Kolonialreich geführt hatte, griff bei der Regierung immer mehr auf diktatorische Mittel zurück, so dass einige verschwörerische Zellen seinen Umsturz planten. Außerdem drohte ein Krieg mit Peru. Wie aus den Berichten Harrisons an das Außenministerium hervorgeht, stand er in vertrauensvollem Verhältnis zu etlichen der Gegner Bolívars. Angesichts seiner festen Überzeugung von der universellen Gültigkeit des politischen Systems der Vereinigten Staaten ist davon auszugehen, dass er mit den oppositionellen Kräften in Bogotá sympathisierte. Als im September 1829 Moore eintraf und ihn als Botschafter ablöste, schrieb Harrison einen in späteren Wahlkämpfen verwendeten Abschiedsbrief an Bolívar, in dem er ihn aufrief, an den freiheitlichen republikanischen Prinzipien festzuhalten und sich in dieser Beziehung George Washington zum Vorbild zu nehmen. Diese Belehrung stieß auf wenig Verständnis und als Harrison durch das Land reiste, um sich von Freunden zu verabschieden, bereiteten die großkolumbianischen Behörden Klagen gegen ihn und seinen Sohn vor. Diesen beiden sowie weiteren Diplomaten warfen sie die Mitverschwörung zum Sturz Bolívars vor. Zwar brachten die Ermittlungen kein Ergebnis, aber Harrison und Carter beeilten sich, das Land zu verlassen. Mitte November erreichten sie die Hafenstadt Cartagena, wo sie einige Wochen feststeckten, bis sie ein Händler aus New York mitnahm. Am 5. Februar 1830 erreichten sie schließlich New York City und im April kehrte Harrison nach North Bend zurück. Im Abseits (1829–1836) In der Heimat sah er sich wegen der Insolvenz seiner Eisengießerei mit einer Schuldenlast von 20000 US-Dollar größeren finanziellen Nöten ausgesetzt als jemals zuvor. Im November 1830 wuchs nach dem Tod seines Sohnes John Cleve an Typhus der Haushalt um dessen Witwe und ihre sechs Kinder. Durch Mitgiften an seine Töchter und Landschenkungen an seine Söhne schwand zudem der Landbesitz von Harrison. Im Januar 1831 verlor er die Wahlen für den Bundessenat gegen Thomas Ewing. Das Jahr 1832 brachte wegen einer Flut des Ohio im April und einer Dürre im Sommer starke Ernteausfälle mit sich. Harrison plante schon ernsthaft in das damals noch mexikanische Texas auszuwandern, als er im Oktober 1834 eine Anstellung als Gerichtssekretär erhielt und zu diesem Zweck ein Büro in Cincinnati eröffnete. Diese Tätigkeit war mit keinem Gehalt verbunden, sondern das Einkommen bildeten die eingenommenen Gebühren. Zum Jubiläum der Schlacht am Thames River im Jahr 1834 wurde Harrison von den Veranstaltern lediglich als „Ko-Held“ neben Johnson eingeladen, woraufhin er in einem öffentlichen Brief die Einladung ablehnte. Dieser Brief fand Beachtung in Zeitungen, die der United States Whig Party, die sich in Nachfolge der National Republican Party unter wesentlicher Mitwirkung von Clay als Hauptopposition gegen die Jacksonian Democracy etabliert hatte, nahe standen. Zu dieser Zeit begannen mit Blick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen Whigs in Ohio und einigen Oststaaten, Harrison als politisches Gegenmodell zum demokratischen Kriegshelden und scheidenden Präsidenten Jackson aufzubauen. In Konkurrenz zu Jackson, Old Hickory, erhielt Harrison den Spitznamen Old Buckeye. Außer der prinzipiellen Gegnerschaft zu den Demokraten Jacksonscher Prägung war ein grundsätzliches Parteiziel der Whigs die Stärkung der Bundesgewalt gegenüber den Rechten der Einzelstaaten, wobei sie das Machtzentrum im Kapitol und nicht im Weißen Haus sahen. Ferner traten sie für die Einrichtung öffentlicher Schulen, die Finanzierung nationaler Infrastrukturprojekte und eine bankenfreundliche Politik ein. In der Praxis war die Einheit der Whigs im Sinne einer nationalen Partei wenig gegeben. Dies zeigte sich insbesondere bei der Sklavenfrage, denn in den Nordstaaten warben die Whigs um abolitionistische Wähler, jedoch im Süden um Sklavenhalter, die für die Rechte der Bundesstaaten eintraten. Die Wahlaussichten gegen Jacksons auserkorenen Nachfolger Vizepräsident Martin Van Buren standen für die Whigs äußerst schlecht, weshalb ihre Leitfigur Clay kein Interesse an einer Kandidatur für 1836 hatte. Daraus resultierte, dass die Whigs mit mehreren Kandidaten aus unterschiedlichen Regionen ins Rennen gingen. Was das Weiße Haus angeht, war dies das Eingeständnis eine Niederlage, aber durch lokal prominente Kandidaten hofften sie, Stimmen bei den jeweiligen Kongress- und State-Legislature-Wahlen zu gewinnen. Präsidentschaftskandidatur 1836 An dieser Stelle kam nun Harrison ins Spiel und im Januar 1835 schlug ihn in Harrisburg, Pennsylvania, eine erste Whig-Versammlung als Präsidentschaftskandidaten vor. Nachdem in Neuengland Daniel Webster, in den Südstaaten Hugh Lawson White als Kandidaten auserkoren wurden und Ohios Favorit der oberste Bundesrichter John McLean passiv blieb, streuten Harrisons Anhänger Anfang 1835 seinen militärisch ruhmvollen Namen als Kandidaten für den Nordwesten und eines Tages die Nation insgesamt. Neben seiner verblassten Prominenz aus vergangenen Tagen und der hohen Anhängerschaft unter den zahlreichen Veteranen gereichte ihm zum Vorteil, dass er als Politiker kaum einen bleibenden Eindruck jenseits von Indiana-Territorium und Ohio hinterlassen hatte, vor allem nicht in der brisanten, Clay zum Nachteil gereichenden Sklavenfrage, sondern fast ausschließlich als General im Krieg von 1812 in der Erinnerung präsent war. Er war daher als politisch weitgehend unbeschriebenes Blatt für bedeutende Wählergruppen wie zum Beispiel die Pflanzer und den einflussreichen Anti-Freimaurer-Flügel eine akzeptable Alternative zu polarisierenden Figuren wie Webster und dem Freimaurer Clay. Dessen Verhältnis zu Harrison hatte sich merklich abgekühlt, aber er unterstützte ihn als Kandidaten mit dem größten Potenzial, die Partei zu einigen. Im Dezember 1835 wählte ihn in Pennsylvania der erste Parteitag zum Whig-Kandidaten für ihren Einzelstaat. Harrison führte den Wahlkampf zuerst in der damals üblichen Manier, die keine öffentlichen Reden vorsah. Er wurde zu feierlichen Empfängen eingeladen, stand in ständigem Schriftverkehr mit seinen Anhängern und setzte sich in einem öffentlichen Brief vor allem für die Finanzierung nationaler Infrastrukturprojekte ein, während er bei anderen von Clays Prinzipien nur lauwarme Zustimmung offenbarte. Davon abgesehen war insbesondere die scharfe Verurteilung von Jacksons Präsidentschaft als Diktatur eine zentrale Botschaft. Ab Juli 1836 startete Harrison einen Wahlkampf mit bis dahin unerreichtem Aufwand. Von seinem Geburtsort ausgehend bereiste er bis zum Wahltag weite Landesteile. Ein Grund für diese damals ungewöhnlich aktive Kampagnenführung war Harrisons Wunsch, damit Gerüchten über sein Alter und um seinen Gesundheitszustand entgegenzutreten. Auf der demokratischen Gegenseite stand mit Johnson als Running Mate von Van Buren ein weiterer Held aus dem Britisch-Amerikanischen Krieg; er war aus ähnlichen Motiven ausgesucht worden wie Harrison, jedoch nicht als Gegenmodell zu Jackson, sondern zum behäbigen New Yorker Parteipolitiker Van Buren. Van Buren gewann am Ende die Präsidentschaftswahl mit absoluter Mehrheit, während auf Harrison die zweitmeisten Stimmen und 73 von 294 Wahlmänner entfielen. Die sieben Bundesstaaten, die an ihn gingen, lagen mehrheitlich im Norden, deren größter Ohio. Präsidentschaftskandidatur 1840 Nicht lange nach Van Burens Amtseinführung stiegen die Aussichten für die Whigs bei der Präsidentschaftswahl 1840, denn die Wirtschaftskrise von 1837, eine der schwersten ihrer Art in der Geschichte der Vereinigten Staaten, nahm ihren Anfang. Für eine kurze Phase konnte Van Buren eine Erholung erreichen, aber dann verschlimmerte sich die Lage wieder bis zum Ende seiner Amtszeit hin. Das Weiße Haus in Griffweite wuchs die Konkurrenz in der Whig Party um eine Nominierung und dieses Mal bewarb sich auch Clay um dieses Amt. Im Juli 1837 hatten bereits die Ohio-Whigs Harrison als Präsidentschaftskandidaten vorgeschlagen. Im Jahr 1838 kristallisierten sich Harrison und Clay als die zwei Konkurrenten um die Nominierung heraus, wobei der Anti-Freimaurer-Flügel ersteren favorisierte. In einem öffentlichen Brief an Harmar Denny (Politiker), einen Politiker dieser Fraktion, versprach Harrison ein Programm, das die Machtbalance zwischen Weißem Haus und Kapitol deutlich zum Kongress verschoben hätte. Unter anderem befürwortete er eine Begrenzung des präsidialen Vetorechts und die alleinige Hoheit über den Bundeshaushalt durch Senat und Repräsentantenhaus. Der Anti-Freimaurer-Führer Thaddeus Stevens, einer von Harrisons wichtigsten Unterstützern, organisierte im Mai 1839 eine Parteiversammlung mit Delegierten aus fünf Bundesstaaten, die Harrison als Präsidentschaftskandidaten nominierten. In Harrisons Karten spielte 1839 der Schwenk des einflussreichen Zeitungsherausgebers Thurlow Weed, der vorher mit Winfield Scott einen anderen General als Kandidaten aufbauen wollte, in seine Richtung. Auch Abraham Lincoln wechselte vom Clay- ins Harrison-Lager. Im Dezember gleichen Jahres konferierten die Whigs erstmals auf einem nationalen Nominierungsparteitag, um dort den Spitzenkandidaten zu wählen. Von den maßgeblichen Bewerbern um diese Position war keiner auf der National Convention anwesend. Als im zweiten Wahlgang durch Weeds Manöver ein Teil der Delegierten von Scott zu Harrison wechselte, war die Kandidatur gegen Van Buren gesichert. Dazu hatte Stevens einen fingierten Brief Scotts an New Yorker Abolitionisten den Delegierten Virginias zugespielt, woraufhin diese zu Harrison überliefen. Harrison hatte somit trotz seiner wenig eindrucksvollen politischen Vita mit Clay und Webster die zwei führenden Staatsmänner im damaligen Amerika ausgebootet. Weil zur Ausbalancierung des Kandidatengespanns weder Clay, noch einer seiner Gefolgsleute bereit war, wurde der politische Außenseiter John Tyler aus Virginia Harrisons Running Mate. Das Amt des Vizepräsidenten wurde damals als nahezu bedeutungslos angesehen; bis dahin war noch kein Präsident im Amt gestorben. Der Wahlkampfschlager des Tickets („Wahlliste“) lautete: Tippecanoe and Tyler too. Wie damals noch üblich gingen die Whigs ohne ein Wahlprogramm im heutigen Sinne in den Wahlkampf; dieser ist als log cabin campaign („Blockhütten-Kampagne“) in der amerikanischen Politikgeschichte bekannt. Mit dem nationalen Presseecho des Nominierungsparteitags landesweit beginnend, wurde Harrison völlig überzeichnet als ein bescheiden in einer Blockhütte im Frontier lebender Farmer mit ruhmreicher militärischer Vergangenheit dargestellt und in Gegensatz zu Van Buren als dem Luxus zugewandten Angehörigen des politischen Establishments gesetzt. Harrison schlüpfte mit großem Enthusiasmus in diese Rolle. Die Demokraten im Gegenzug versuchten, Harrison als einen pensionierten Niemand lächerlich zu machen, und wiesen auf Harrisons Herkunft aus der Pflanzeraristokratie Virginias sowie seine geräumige Residenz und großen Landbesitz hin. Nach einem entsprechenden Zeitungskommentar, der Harrisons vermeintliche Frugalität feierte, indem er die Legende streute, Harrison habe Webster bei einem Besuch in North Bend statt Wein nur Apfelschaumwein anbieten können. Hard cider spielte im Straßenwahlkampf daher eine wichtige Rolle. Hierzu zogen feierliche Paraden von Wagen mit aufgesetzten Blockhütten durch die Ortschaften und zu jahrmarktähnlichen Massenkundgebungen außerhalb der Städte, auf denen neben Essen allerlei Werbegeschenke wie Liederbücher, Harrison-Biografien und andere Texte, aber auch Rasierseife und Tippecanoe Tobacco verteilt wurden. Das Ganze hatte noch stärkeren Volksfestcharakter als bei den Jackson-Demokraten, die nach den Wahlrechtsreformen diese populären Politikveranstaltungen für die nun stimmberechtigten Bevölkerungsschichten eingeführt hatten. Die Blockhütten-Legende gewann so eine Faszination, dass viele Whig-Politiker in ihrer Biographie nach einer log cabin suchten. Selbst eine Parteigröße wie Webster übernachtete auf der Wahlkampftour nicht in Hotels, sondern kampierte oft in der freien Natur und hielt seine Reden dort. Die Whigs hatten einen landesweite Organisation auf die Beine gestellt; insgesamt waren nach Schätzungen 5000 politische Redner im Wahlkampf unterwegs. Eine Folge der log cabin campaign mit dem massenhaften Ausschank von hard cider waren in einigen Städten Ausschreitungen und Auseinandersetzungen mit Demokraten. Die Demokraten versuchten Harrisons Popularität mit dem Ruhm ihres Vizepräsidentschaftskandidaten als Bezwinger Tecumsehs zu kontern. Johnson jedoch sah sich vor allem im Süden persönlichen Angriffen ausgesetzt, weil er offen mit einer Sklavin zusammenlebte und die Kinder aus dieser Beziehung legitimierte. Möglicherweise als Reaktion darauf kamen Gerüchte in Umlauf, Harrison habe mit mehreren Indianerinnen uneheliche Kinder. Außerdem wurde ihm Feigheit vorgeworfen, weil er die Armee vor dem Ende des Britisch-Amerikanischen Kriegs verlassen hatte. Wie schon früher unterzogen die Gegner Harrisons Verhalten bei der Schlacht von Tippecanoe einer kritischen Betrachtung und Jackson gab aus dem Ruhestand zu Protokoll, dass er Harrison als militärischen Führer nie für voll genommen habe. Der Tradition folgend blieb Harrison nach der Nominierung erst zu Hause und empfing einen niemals nachlassenden Besucherstrom, statt aktiv in den Wahlkampf einzugreifen. Die Kampagnenorganisation lag weniger in seinen Händen als in denen von Clay, Weed und anderen. In Ohio und Indiana ging Harrison einen Schritt, den selbst Jackson nicht getan hatte, indem er als erster Präsident bei öffentlichen Kundgebungen mit teilweise mehr als 10000 Teilnehmern insgesamt 23 Wahlkampfreden hielt, wohl auch wegen der Gerüchte um seine Gesundheit. In diesem Kontext war er gleichfalls der erste Präsident, der einen ärztlichen Befund über sich veröffentlichen ließ. Im Juni pausierte er nach dem Tod eines seiner Söhne für einen Monat. Seine Reden hielt Harrison aus dem Stegreif, wobei er die Kernbotschaft am Publikum ausrichtete. War dieses nativistisch gestimmt, äußerte er sich abfällig über Einwanderer, während er in Ortschaften mit einem großen Anteil von Deutsch- und Irischamerikanern seine Sympathien für Migranten bekundete. Im Norden strich er seine prinzipielle Ablehnung der Sklaverei heraus und betonte im Süden im Gegensatz dazu sein Engagement für die Ausbreitung der Sklaverei in die Territorien. Mit dem Vermeiden einer klaren Position in wichtigen Fragen folgte er dem Muster vieler anderer Präsidentschaftskandidaten in dieser Epoche, in der die Parteipolitik sich weniger an Inhalten, sondern an Regionen orientierte. Collins gibt zu bedenken, dass die Unbestimmtheit Harrisons nicht stärker gewesen sei als die von vielen modernen Präsidentschaftskandidaten. Bei der Wahl, die in den damals 26 Bundesstaaten nicht an einem Tag, sondern im Zeitraum vom 30. Oktober bis 18. November abgehalten wurde, siegte Harrison mit absoluter Mehrheit im Popular Vote und 234 von 294 Wahlmännern. Für Harrison hatten sich fast 53 Prozent der Wähler ausgesprochen, Van Buren errang 46,8 Prozent. Gleichzeitig fielen beiden Kammern des 27. Kongresses der Vereinigten Staaten an die Whigs. Bis heute historisch einmalig in der amerikanischen Geschichte war der Anstieg der Wahlbeteiligung von 58 Prozent auf 80,2 Prozent, wobei ein Drittel der Abstimmenden Neuwähler waren. Horsman betont, dass für den Sieg Harrisons nicht allein Blockhütten-Kampagne ausschlaggebend war, sondern dass die Whigs bei der Reaktion auf die Wirtschaftskrise von 1837 auf Ebene der Einzelstaaten ihre Bereitschaft zu steuernden Eingriffen gezeigt hatten. Gewählter Präsident (1840–1841) Wichtigste Aufgabe des President-elect („gewählter Präsident“) bis zur Amtseinführung Anfang März war die Zusammenstellung eines Kabinetts. In North Bend fand er dazu kaum die nötige Muße, denn unablässig schlugen bei ihm Stellenbewerber im Rahmen des Spoils System („Beute-System“) auf. Auf der Suche nach Ruhe reiste Harrison nach Kentucky, wo ihn allerdings Clay zu einem Treffen nötigte. Danach war Clay fest davon überzeugt, dass der neue Präsident bei der Kabinettsauswahl seine Wünsche berücksichtigen werde. Am 9. Februar reiste Harrison in die Hauptstadt und war der erste Präsident, der sie in der Eisenbahn erreichte. Zur Überraschung seines Gefolges stattete er Van Buren einen Besuch im Weißen Haus ab. Der noch amtierende Präsident war von dem Treffen positiv überrascht und notierte später, Harrison habe geistig lebendig gewirkt und fühle sich von der Präsidentschaft so geschmeichelt „wie eine junge Frau von einer neuen Haube“. Wegen einer Erkrankung war Harrisons Frau vorerst in North Bend geblieben; die repräsentative Rolle der First Lady als Gastgeberin im Weißen Haus übernahm nach der Amtseinführung seine Schwiegertochter Jane Irwin Harrison. Bis dahin war Harrison im National Hotel abgestiegen. Er nahm sich die Zeit für Spaziergänge durch die Hauptstadt und mischte sich unter das Volk. Bei einer Gelegenheit besuchte er den Senat. Die größte Herausforderung für Harrison in dieser Phase lag im Umgang mit der Heerschar an Bewerbern für die Stellen im Spoilssystem. Weil die Whigs die Jackson-Demokraten nach zwölf Jahren aus dem Weißen Haus drängten, stand eine umfassende personelle Erneuerung der Bundesbehörden an. Viele, die sich in der Opposition gegen den Jacksonianismus engagiert hatten, erwarteten nun einen Dienstposten und wurden bei Harrison vorstellig. Seine bekannte Jovialität gab vielen der Bittstellern Anlass zur Hoffnung. Dabei hatte sich Harrison im Wahlkampf gegen das Spoilssystem unter Jackson ausgesprochen. Eine seiner wenigen Amtshandlungen bestand darin, dass er die Bundesbehörden anwies, von den Gehältern keine Parteiabgaben mehr einzubehalten. Auch wehrte er sich gegen Forderungen nach der Entlassung aller Demokraten aus dem Dienst. Bei der Kabinettsauswahl bot er Clay das Außenministerium an, was dieser ablehnte und stattdessen Webster vorschlug, der schließlich Secretary of State wurde. Abgesehen davon, konnte Clay nicht den erhofften Einfluss auf die Ministerbesetzungen nehmen und wurde von Harrison immer häufiger geschnitten. Als Clay vom Präsidenten eine Sondersitzung des Kongresses verlangte, um die Whig-Politik sofort umzusetzen, erteilte ihm dieser eine kühle Absage. Clay verließ daraufhin Washington und kehrte nach Kentucky zurück. Webster hatte bei Harrison mehr Erfolg für seine Kandidaten in Spoilssystem und Kabinett, möglicherweise war ihm dabei der Unternehmer und frühere Kongressabgeordnete Abbott Lawrence behilflich, der ein Gläubiger Harrisons war. Stevens, dessen Unterstützung von essenzieller Bedeutung für die Nominierung gewesen war und der sich Hoffnungen auf das Postministerium gemacht hatte, ging leer aus. Präsident für einen Monat (1841) Auf seinem Lieblingspferd Whitey ritt Harrison am 4. März zur Amtseinführung vor dem Kapitol, wo sich 50000 Zuschauer versammelt hatten. Ihm folgten lange Reihen von Kriegsveteranen in militärischer Formation, jüngere Anhänger und ein langer Trek von Blockhütten. Trotz der Kälte und einer äußerst langen, von Webster überarbeiteten, Antrittsrede im Gepäck trug Harrison keinen Mantel, wohl auch, um ein weiteres Mal seine Gesundheit zu demonstrieren. Harrison war bei seinem Amtsantritt bis Ronald Reagan der älteste Präsident. Nach seiner Vereidigung durch den obersten Bundesrichter Roger B. Taney hielt er die mit zwei Stunden und 8578 Worten bis heute längste Antrittsrede. Wegen seines baldigen Todes stellt diese Rede im Prinzip die einzige politische Handlung von Präsident Harrison dar. Trotz der Länge der Ansprache blieb Harrison in entscheidenden Punkten vage. Ein großer Redeanteil thematisierte die präsidialen Amtsbefugnisse, ihren Missbrauch durch Jackson und Harrisons Versprechen, dem Kongress mehr Macht einzuräumen. Im Detail ging er auf das Vetorecht ein, das laut ihm nur dann rechtens sein sollte, wenn der Kongress bei der Gesetzgebung die amerikanische Verfassung verletzte, zu eilig und nachlässig arbeitete oder die Rechte von Minderheiten missachtete, wobei er hier sicher nicht an Sklaven, sondern an Sklavenhalter dachte. Des Weiteren gab er das Versprechen ab, im Jahr 1844 nicht für eine zweite Amtszeit zu kandidieren. Wie es nicht ausbleiben konnte, war die Rede gespickt mit Zitaten und idealistischen Bildern aus der klassischen Antike. Webster gab später an, bei der Redaktion des Textes „17 römische Prokonsuln getötet“ zu haben. In der Sklavenfrage pochte Harrison auf die Rechte der Bundesstaaten; im konkreten Fall sprach er sich gegen ein Verbot der Sklaverei im District of Columbia durch den Kongress aus. Die zweistündige Antrittsrede ohne Mantel im Schneefall ging nicht nur wegen ihrer Länge in die Geschichte ein, sondern weil sie der konventionellen Überlieferung nach ursächlich für Harrisons Tod vier Wochen später war. Die Amtseinführung habe ihn so geschwächt, dass sich bei ihm eine Lungenentzündung entwickelt habe. Laut der Biographin Collins ist dies zwar eine logische Erklärung, aber nur eine von vielen möglichen Ursachen. So hielt sich Harrison in seiner kurzen Zeit in der Hauptstadt generell viel außen auf und erledigte anfallende Einkäufe, wie zum Beispiel für die Küche, selbst. So war er am Tage seiner Erkrankung längere Zeit durch Regen gelaufen, um einem Freund persönlich mitzuteilen, dass er ihm einen Posten im diplomatischen Dienst verschafft habe. Zu einem anderen Urteil kommt Freehling, der neben der langen Rede die darauf folgenden Empfänge als Ursache für die Lungenentzündung angibt, zu denen Harrison sich nicht umzog, sondern in der nassen Kleidung der Einführungszeremonie erschien. Gesichert ist, dass Harrison in den Tagen danach an einer Erkältung litt. Am 26. März kehrte Harrison nass von einem Besuch bei John Tayloe, dem er einen Botschafterposten präsentiert hatte, in das Weiße Haus zurück, entwickelte Symptome einer schweren Erkältung sowie Lungenentzündung und erlitt einen Kollaps. Die Ärzte diagnostizierten am nächsten Tag eine Lungenentzündung, die jedoch „nicht gefährlich“ sei. Von da an wurde Harrison einer gründlichen medizinischen Behandlung unterzogen. Damals bedeutete das Aderlass und Schröpfen sowie Kuren mit Laudanum, Opium, Campher und Rizinusöl. Auch Brandy und Wein fehlten nicht als Medizin. Collins fragt in ihrer Biographie, ob möglicherweise nicht diese Pflege den Tod verursacht habe. Am 3. April erklärten ihn vier Ärzte als nicht mehr zu retten. Kurz danach versank Harrison in ein Delirium und anschließenden Stupor. Am 4. April gegen 0:30 Uhr starb der Präsident im Alter von 68 Jahren. Harrisons Präsidentschaft ist mit einer Dauer von einem Monat die kürzeste in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der erstmalige Tod eines amtierenden Präsidenten schockierte die Nation; teilweise wurde die Anteilnahme mit der Trauer nach Washingtons Tod verglichen. Der Leichnam wurde in der Rotunde des Kapitols in einem Sarg mit Sichtfenster aufgebahrt. Am 7. April brachte ein Trauerzug die Überreste Harrisons zum Friedhof des Kongresses. Sein Pferd Whitey trottete in der Prozession reiterlos mit, das traditionelle Symbol für einen gefallenen Führer. Insgesamt gab die Zeremonie die Blaupause für spätere Anlässe dieser Art wie die Beerdigung von Zachary Taylor oder Lincoln vor. Die immer noch in North Bend weilende Anna Harrison bereitete dort eine Begräbnisstätte, das heutige William Henry Harrison Tomb State Memorial, für ihren Mann nahe dem Grab ihres Vaters vor. Im Jahr 1858 brannte das als log cabin in die Geschichte der Präsidentschaftswahlen eingegangene Harrison-Anwesen nieder. Nachleben Historische Bewertung Reginald Horsman (2000) weist darauf hin, dass die Monografien über Harrison sämtlich veraltet seien und einem traditionellen Geschichtsbild folgten. Die Person hinter öffentlicher Karriere und log cabin campaign bleibe daher schwer fassbar. Einzelne Facetten Harrisons in moderner Literatur finden sich in historischen Studien wie beispielsweise zur Geschichte des Indiana-Territoriums, wobei selbst hier die Bedeutung Harrisons als Gouverneur wie auch die als General umstritten sind. Horsman streicht die Widersprüche in Harrisons Biographie heraus und stellt sie in Zusammenhang mit der Entwicklung der postrevolutionären Republik insgesamt. Harrison stammte aus der Pflanzeraristokratie Virginias, die die ersten Jahrzehnte der Vereinigten Staaten politisch dominierte. Als deren Vorherrschaft durch den Jacksonianismus schon lang beendet und Harrison für die damalige Zeit ein sehr alter Mann war, wurde er in das Weiße Haus gewählt. Während der Wahlkampagne wurde seine Abstammung jedoch kaum thematisiert, sondern Harrison als ein einfacher Farmer aus dem Frontier dargestellt und in Gegensatz zu Van Buren als Angehörigen der wohlhabenden Ostküstenelite gestellt. Nach Horsman versinnbildlicht diese Wandlung vom virginischen Pflanzer zum einfachen Mann des amerikanischen Westens die Tatsache, dass das politische Zentrum der Nation seit der Unabhängigkeit Richtung Westen gewandert war. Harrison selbst sei zwar ein Anhänger der republikanischen Ideale aus der Gründungszeit der Vereinigten Staaten gewesen, habe aber opportunistisch seine politischen Karriereziele verfolgt. Die ersten zeitgenössischen Biographien über Harrison wurden von seinen Anhängern verfasst, so die von Moses Dawson (1825). Häufig entstanden diese Werke als Teil seiner Wahlkampagnen, weswegen sie wenig über seine Person, sondern vielmehr über die politische Landschaft in Amerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aussagen. Laut Owens zeichneten sich auch im 20. Jahrhundert die Biographien über Harrison tendenziell durch eine große emotionale Hinwendung zum Untersuchungsgegenstand aus. Er nennt die Dissertation von Dorothy Burne Goebel (1926) als eine für die damalige Zeit beachtenswerte Biographie. Die detaillierteste Biographie stammt von Freeman Cleave (1939). Sie weist gemäß Owens jedoch stark hagiographische Züge und mit Blick auf die Indianer eine stellenweise rassistische Sichtweise auf. Die Werke von Robert Gray Gunderson (1957) und Andrew Crayton (1996) beleuchten mit der Präsidentschaftswahl von 1840 beziehungsweise der Gouverneurszeit im Indiana-Territorium unterschiedliche Phasen in Harrisons Leben. Weitere Studien, die Aspekte oder Phasen von Harrisons Biographie auszugsweise thematisieren, sind von Eugene Berwanger (1967), Reginald Horsman (1967), Bernard Sheehan (1973), Francis Paul Prucha (1984), Richard White (1991), Nicole Etcheson (1996), Anthony F. C. Wallace (1999) und Peter S. Onuf (2000). In einem Aufsatz aus dem Jahr 1983 im Journal of American Studies stellte der Historiker Richard Carwardine die These auf, dass im Präsidentschaftswahlkampf von 1840 häufig religiöse Motive der Kampagnenführung zugrunde lagen. Um sich vom Jacksonianismus abzuheben, der auf die Trennung von Kirche und Staat pochte und aus Sicht vieler Evangelikalen das Streben nach Wohlstand zu sehr in den Mittelpunkt stellte, betonten die Whigs moralische Aspekte im Wahlkampf und stilisierten Harrison als frommen und bescheidenen Lucius Quinctius Cincinnatus. Außerdem half ihnen die Tatsache, dass Harrison ein regelmäßiger episkopaler Kirchgänger war und an der Gründung einer Gemeinde in Cincinnati beteiligt gewesen war. Insbesondere sein Einsatz für die in der Ära des „zweiten Erwachens“ starke Sabbatianer-Bewegung machte ihn für evangelikale Wähler attraktiv. Entsprechend stellte die Kampagnenführung heraus, dass sich Harrison an Sonntagen jeglicher Diskussion über politische Themen enthielt. Somit verknüpften etliche Methodisten, Presbyterianer, Kongregationalisten und Baptisten mit Harrison die Hoffnung auf eine „Christianisierung Amerikas“; sie verklärten ihn zu einem religiösen Symbol und nach seinem Tod zu einem Märtyrer. Allerdings räumte Cawardine ein, nur wenig statistisches Material zur Hand zu haben, dass seine Hypothese stützte, sondern sich hauptsächlich auf zeitgenössische Dokumente zu stützen. Harrison wollte laut Horst Dippel (2013) die Prägung, die das Präsidentenamt durch Jackson erfahren hatte, auf einen kleineren Machtanspruch zurückführen und zum Kongress wieder ein harmonischeres Verhältnis herbeiführen. Andererseits sah er im Präsidenten in seiner Beziehung zum Kabinett mehr als einen Primus inter pares, wie dies noch bei den republikanischen Präsidenten Anfang des Jahrhunderts der Fall gewesen war. Wegen seiner äußerst kurzen Amtszeit konnte Harrison so gut wie nichts davon umsetzen. Der Journalist und Pulitzer-Preisträger von 1995 David Marks Shribman (2020) streicht heraus, dass Harrison als einer der am wenigsten bekannten Präsidenten ein „unwahrscheinliches amerikanisches Symbol für rustikale Einfachheit und ländliche Rechtschaffenheit“ darstellte und den ersten Wahlkampf in der Geschichte der Vereinigten Staaten geführt habe, in dem Medien eine Schlüsselrolle spielten. Weil er häufig auf die Vetorechte des Präsidenten zu sprechen kam, insbesondere in seiner Antrittsrede, setzte Harrison sich bei den Demokraten dem Verdacht aus, dass er die unter Jackson erfolgte Ausweitung der Exekutivgewalt zurücknehmen wollte, zumal im Kabinett seine Stimme nicht mehr zählte als die seiner Minister. Neben Washington und Jackson sei er aufgrund seines militärischen Ruhms wahrscheinlich der „lebhafteste und strahlendste“ Präsidentschaftskandidat in der frühen Republik gewesen. In diesem Sinne war er prototypisch für eine bestimmte Kategorie amerikanischer Politiker. Harrison, der letzte als Bürger der Dreizehn Kolonien geborene Präsident, ist in der amerikanischen Politikgeschichte vor allem durch seinen Tod im Amt von Bedeutung, weil dadurch und das Agieren Tylers ein Präzedenzfall in der Amtsnachfolge geschaffen wurde, an dem sich 1850 Millard Fillmore und spätere, nachrückende Vizepräsidenten orientierten. Ehrungen und Denkmäler Vier Countys in den Vereinigten Staaten sind nach Präsident Harrison benannt. Die 2007 gestartete Serie der Präsidentendollar prägte im Jahr 2009 Münzen mit den Porträts von Harrison, John Tyler, James K. Polk und Zachary Taylor. Seine Residenz Grouseland, in der er als Gouverneur des Indiana-Territoriums lebte, ist seit Dezember 1960 ein National Historic Landmark. Literatur Sachbücher David Marks Shribman: William Henry Harrison. In Ken Gormley (Hrsg.): The Presidents and the Constitution. Volume 1 (= From the Founding Fathers to the Progressive Era). New York State University Press, New York 2020, ISBN 978-1-4798-2323-9, S. 126–135. Horst Dippel: William H. Harrison (1841): Präsident für einen Monat. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 136–138. Michael J. Gerhardt: The Forgotten Presidents: Their Untold Constitutional Legacy. Oxford University Press, New York 2013, ISBN 978-0-19-938998-8, S. 25–36 (= 2. William Henry Harrison). Hendrik Booraem V: A Child of the Revolution: William Henry Harrison and His World, 1773–1798. Kent State University Press, Kent 2012, ISBN 978-1-60635-115-4. Gail Collins: William Henry Harrison. (= The American Presidents Series.). Times Books, New York 2012, ISBN 978-0-8050-9118-2. Robert M. Owens: Mr. Jefferson’s Hammer: William Henry Harrison and the Origins of American Indian Policy. University Press of Oklahoma, Norman 2007, ISBN 978-0-8061-3842-8. Reginald Horsman: William Henry Harrison: Virginia Gentleman in the Old Northwest. In: Indiana Magazine of History. Vol. 96, No. 2, Juni 2000, , S. 125–149. Norma Lois Peterson: The Presidencies of William Henry Harrison and John Tyler. University Press of Kansas, Lawrence 1989, ISBN 978-0-7006-0400-5. Cleaves Freeman: Old Tippecanoe: William Henry Harrison and his time. C. Scribner’s Sons, New York 1939, . Belletristik James A. Huston: A novel: Tecumseh vs. William Henry Harrison. Brunswick, Lawrenceville 1987, . Filme Life Portrait of William Henry Harrison auf C-SPAN, 10. Mai 1999, 142 Min (Dokumentation und Diskussion mit Doug Clanin und James Huston). Weblinks American President: William Harrison (1773–1841). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: William Freehling) Harrison bei den Gouverneuren von Indiana The American Presidency Project: William Henry Harrison. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Einzelnachweise Präsident der Vereinigten Staaten Gouverneur (Indiana) Senator der Vereinigten Staaten aus Ohio Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten für Ohio Delegierter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten Mitglied des Senats von Ohio Mitglied der United States Whig Party Generalmajor (United States Army) Person im Britisch-Amerikanischen Krieg Botschafter der Vereinigten Staaten in Kolumbien Träger der Goldenen Ehrenmedaille des Kongresses Politiker (19. Jahrhundert) William Henry Sklavenhalter (Neuzeit) Plantagenbesitzer US-Amerikaner Geboren 1773 Gestorben 1841 Mann
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Charles M. Schulz
Charles Monroe Schulz (* 26. November 1922 in Minneapolis, Minnesota; † 12. Februar 2000 in Santa Rosa, Kalifornien) war ein US-amerikanischer Comiczeichner und der Erfinder der Comicserie Die Peanuts. Schulz zeichnete im Laufe seines Lebens über 17.800 Comicstrips und schrieb die Drehbücher für die Fernseh- und Kinoauftritte der Peanuts. Für sein Lebenswerk wurde er unter anderem in die Cartoonist Hall of Fame aufgenommen und erhielt die höchste zivile Auszeichnung des US-amerikanischen Kongresses, die Congressional Gold Medal. Leben Kindheit und Jugend Schulz wuchs in Saint Paul im Mittleren Westen der USA als einziges Kind des aus Stendal in der Altmark stammenden Carl Fred Schulz und seiner norwegischen Frau Dena Bertina (geb. Halverson) auf. Die Familie hatte väterlicherseits ihre Wurzeln in der Altmark, in Eichstedt und Baben. Sein Vater war – ebenso wie später der Vater der Comicfigur Charlie Brown – Friseur und besaß einen eigenen Salon. Schulz las als Kind gerne die Comics in Zeitungen, zu seinen Favoriten gehörten unter anderem „Krazy Kat“ von George Herriman, „Popeye“ von Elzie Crisler Segar, Milton Caniff, Roy Crane und J. R. Williams. Schon in der ersten Klasse erbrachte Schulz gute Leistungen, so dass ihn der Rektor der Grundschule in St. Paul die vierte Klasse überspringen ließ. 1934 bekam der Zwölfjährige einen Hund geschenkt – eine schwarz-weiße Promenadenmischung –, der auf den Namen Spike getauft und später die Vorlage für Snoopy wurde. 1937 gelang Schulz seine erste Veröffentlichung in der Comicbeilage Ripley’s Believe It or Not! – das Thema war eine Episode aus dem Leben von Spike. Dieser hatte einen kleinen Ball verschluckt und ihn am Abend, nachdem er eine Portion Spaghetti gegessen hatte, wieder hervorgewürgt. Ripley’s Believe It or Not! druckte Schulz’ Zeichnung des Hundes und einen kurzen Text. Neben der High School absolvierte Schulz einen Fernkurs in „Komischem Zeichnen“ an der in Minneapolis ansässigen Art Instruction Schools, Inc. Erste Berufsjahre 1943 wurde er zur Armee eingezogen. Während der Grundausbildung verstarb seine Mutter im Februar 1943 an Krebs. Schulz wurde mit der 20. US-Panzerdivision nach Frankreich, Deutschland und Österreich geschickt und nahm an der Befreiung Dachaus teil. Zurück aus dem Krieg nahm er eine Stelle bei einem katholischen Verlagshaus in St. Paul an. Er schrieb für das christliche Comic-Heft Timeless Topix die Texte in die Sprechblasen. Kurz nachdem Schulz diese Stellung angetreten hatte, bot ihm auch die Fernschule eine Stelle an. Daraufhin arbeitete er tagsüber für die Art Instruction Schools, Inc., wo er die Arbeiten der Anfängerkurse korrigierte, abends machte er das Lettering für Timeless Topix. Zwischen 1948 und 1950 begann Schulz seine Comics an die Saturday Evening Post zu schicken und konnte immerhin 15 Stück verkaufen. Mittlerweile füllte Schulz nicht nur die Sprechblasen der englischen Timeless Topix, sondern bekam zusätzlich noch die französischen und spanischen Ausgaben zum Lettering. Roman Baltes, der Art-Director der Timeless Topix, kaufte Schulz kurze Zeit später eine kleine Serie Comic-Strips ab, die – unter dem Titel „Just keep laughing“ – eine kleine Gruppe von Kindern zum Thema hatten. Frank Wing, ein Kollege Schulz’ an der Kunstschule, den Schulz als Freund und Mentor bezeichnete, riet ihm, mehr von den Comics mit den kleinen Kindern zu zeichnen. Er gab den Zeichnungen den Titel Li’l Folks und konnte seine Cartoons – noch mit seinem Spitznamen „Sparky“ signiert – bald darauf als wöchentliche Serie an die St. Paul Pioneers Press verkaufen. 1950 schickte Schulz eine Auswahl seiner Arbeiten an die United Feature Syndicate in New York und unterschrieb im selben Jahr einen Vertrag bei der United Media. Am 2. Oktober 1950 erschien dann die erste Folge der Peanuts, ein Name, über den Schulz immer sehr unglücklich war. Er hätte „Charlie Brown“ oder „Guter alter Charlie Brown“ bevorzugt. Die United Feature Syndicate entschied über Schulz’ Kopf hinweg, dass der Strip „Die Peanuts“ heißen sollte, und Schulz stimmte, nachdem seine Bedenken ignoriert worden waren, schließlich zu. Der Comicstrip wurde in sieben Zeitungen veröffentlicht; die Agentur zahlte Schulz dafür 90 US-Dollar im ersten Monat. Die ersten Erfolgsjahre 1951 heiratete Schulz Joyce Halverson, aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Im Jahr darauf erschien der erste Sonntagsstrip der Peanuts, die zu diesem Zeitpunkt in über 40 Zeitungen in den USA abgedruckt wurden. Außerdem erschien 1952 der erste Sammelband. Im Jahr 1958 zog die Familie nach Sebastopol, Kalifornien, und Schulz erhielt von der Yale University die Auszeichnung „Cartoonist of the Year“. In den 1960ern wandte sich Schulz in seinen Geschichten immer öfter dem aktuellen Tagesgeschehen zu. So beschäftigten sich seine Protagonisten unter anderem mit Rachel Carson, dem Vietnamkrieg, dem Einsatz von Tränengas bei Studentenunruhen, dem Schulgebet und den Rechten ungeborener Kinder. Dabei warf Schulz nur Fragen auf, bezog jedoch nie eindeutig Stellung zu den angesprochenen Themen und überließ die Interpretation dem Leser. Das Merchandising startete erfolgreich 1960 mit der Herstellung der ersten Grußkarten mit Peanuts-Motiven durch die amerikanische Firma Hallmark. Der Merchandising-Umsatz betrug 1969 über 50 Millionen Dollar, 1971 wuchs er auf 150 Millionen Dollar. 1962 erhielt Schulz die Auszeichnung „Best Humor Strip of the Year“ von der National Cartoonists Society, drei Jahre später gelangten die Peanuts auf die Titelseite des Time-Magazins, als der erste Trickfilm für das Fernsehen produziert wurde. Die Popularität von Charlie Brown und seinen Freunden wuchs in diesen Jahren unaufhörlich. Soldaten in Vietnam malten sich Snoopy auf die Helme, die Astronauten von Apollo 10 nannten ihre Kommandokapsel Charlie Brown und ihre Mond-Landefähre Snoopy. 1966 starb Schulz’ Vater Carl. 1967 wurde am Off-Broadway das Musical You’re A Good Man, Charlie Brown uraufgeführt, zwei Jahre später erreichte die Ausstrahlung des Weihnachtsspecials A Charlie Brown Christmas eine Einschaltquote von fast 50 Prozent. Die Karriere auf dem Höhepunkt Schulz ließ sich 1972 von Joyce Halverson scheiden und heiratete im Jahr darauf Jean Forsyth Clyde. Er erhielt einen Emmy-Award für das TV-Special A Charlie Brown Thanksgiving. 1975, zum 25-jährigen Jubiläum der Peanuts, erreichte Schulz in über 1600 Zeitungen bereits mehr als 90 Millionen Leser und erhielt einen weiteren Emmy für You're A Good Sport, Charlie Brown. 1978 ernannte der International Pavilion of Humor in Montreal Schulz zum „Cartoonist of the Year“. In den 1980ern musste Schulz seine Geschichten kompakter erzählen: Um Herstellungskosten zu sparen, waren die Zeitungscartoonisten gezwungen, ihre Geschichten jetzt in drei statt in vier Bildern unterzubringen. Schulz empfand diesen Umstand als Herausforderung, auf dem begrenzten Raum noch eine richtige Geschichte zu entwickeln. Anfang der 1980er Jahre ging es Schulz gesundheitlich schlecht, und er musste sich schließlich einer schwierigen Bypass-Operation unterziehen. Wieder vollständig genesen, brachte Schulz 1983 zusammen mit Bill Melendez den preisgekrönten Zeichentrickfilm Was haben wir gelernt, Charlie Brown? (What Have We Learned, Charlie Brown?) heraus. In diesem Film ist die Kindergruppe in Frankreich und erklärt kindgerecht aufgearbeitet die Ereignisse im Juni 1944, so auch die Omaha-Beach-Invasion. Der halbstündige Fernsehfilm bekam den Untertitel „A tribute“ und war in der amerikanischen Fernsehgeschichte eine bisher noch nie da gewesene Art, jungen Zuschauern geschichtliches Wissen zu vermitteln. Der Film war ein großer Erfolg und wurde mit dem Peabody Award ausgezeichnet. Ein Jahr später wurden Die Peanuts in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen, nachdem sie weltweit in 2000 Zeitungen abgedruckt wurden. 1986 wurde Schulz dann in die „Cartoonist Hall of Fame“ des Museum of Cartoon Art aufgenommen. 1989 erschien die von Schulz autorisierte Biografie von Retha Grimsley Johnson: Good Grief: The Story Of Charles M. Schulz. Ein Jahr später widmete der Louvre in Paris den Peanuts die Ausstellung Snoopy in Fashion. Die französische Regierung ernannte Schulz zum Commandeur des Arts et Lettres. 1992 wurde Schulz von der italienischen Regierung mit dem Order of Merit geehrt. Das Montreal Museum of Fine Art eröffnete die Ausstellung Snoopy, The Masterpiece. Im Jahr 1993 zeichnete Schulz für den 6. Juni eine wortlose Bildfolge, in der man auf dem letzten Bild Snoopy im Wasser vor dem Strandabschnitt Omaha Beach schwimmen sieht. Der Strip wurde anlässlich des von den Amerikanern begangenen D-Days veröffentlicht und löste ein überwältigendes, positives Echo aus. Daraufhin zeichnete Schulz jedes Jahr einen besonderen Strip für den 6. Juni. So malte er 1998 Snoopy im Kampfanzug in ein Foto von Dwight D. Eisenhower und einer Gruppe Soldaten der 101. US-Luftlandedivision, es gab keine Geschichte, wieder nur ein wortloses Bild. Zum 45. Geburtstag der „Peanuts“ eröffnete das Lyndon B. Johnson Space Center in Houston (Texas) 1995 die Ausstellung Around the Moon and Home Again: A Tribute to the Art of Charles M. Schulz. Zwei Jahre später, am 16. Oktober 1997, wurde in der Carnegie Hall das Musikstück Peanuts Gallery, komponiert von Ellen Taaffe Zwilich, uraufgeführt. Am 14. September 1999 verkündete Schulz das Ende seiner Tätigkeit. Nur wenige Monate später, am 12. Februar 2000, verstarb Schulz infolge einer Darmkrebserkrankung im Alter von 77 Jahren. Einen Tag später wurde der letzte seiner Comicstrips veröffentlicht. Schulz verfügte testamentarisch, dass sein Werk von keinem anderen Zeichner weitergeführt werden darf. Die Ausnahme bildet hierbei der Maler Tom Everhart, der seit 1990 großformatige und sehr bunte Einzelbilder der Peanuts auf die Leinwand bringt. Etwas mehr als zwei Jahre nach seinem Tod eröffnete am 17. August 2002 in Santa Rosa das Charles M. Schulz Museum, in dem man in der ständigen Ausstellung unter anderem Schulz’ Atelier und eine von Christo und Jeanne-Claude verpackte Hundehütte besichtigen kann. Laut einer Liste des Magazins Forbes verdienten die Erben Schulz’ an den Rechten der Serie im Zeitraum von Oktober 2006 bis Oktober 2007 insgesamt rund 35 Millionen US-Dollar. Nur zwei weitere bereits verstorbene Personen, John Lennon und Elvis Presley, waren noch „erfolgreicher“. Die Peanuts Der Zeichenstil Schulz zeichnete seinen Comic einfach und prägnant, mit wenigen klaren Strichen. Er konzentrierte sich ganz auf die Figuren, die Hintergründe waren – bis auf wenige Ausnahmen – sehr schlicht und meist skizzenhaft gehalten. Die Bilder sind nicht perspektivisch angelegt, man kann die Figuren nicht von allen Seiten betrachten. Nur die für die Handlung unabdingbaren Accessoires fanden Eingang in die Bildfolgen. Bis auf wenige Ausnahmen lässt Schulz die Erwachsenen außen vor. Einzig Anfang der 1950er Jahre lässt er in einigen Geschichten die Mutter von Lucy und Linus ins Bild hineinsprechen. In einer Serie von Sonntagsstrips, in der Lucy und Charlie an einem Golfturnier teilnehmen, sind einmalig auch Erwachsene zu sehen, aus der Kinderperspektive, nur bis zur Hüfte oder aus großer Entfernung. Schulz war in späteren Jahren über diesen Einbruch der Erwachsenenwelt sehr unzufrieden und bedauerte diesen Entschluss. Eine besondere Vorliebe hatte Charles M. Schulz für die Noten, die Schroeder auf seinem Kinderklavier spielt. Schulz mochte die Muster, die durch die Noten auf den Seiten entstanden. Er versuchte stets, bei den Partituren so genau wie möglich zu arbeiten, da er sicher war, dass es Leser gab, die Schroeders Noten nachspielen wollten. Bis zum letzten Bild arbeitete Schulz alleine an seinem Werk. Jeder der über 17.000 Strips war von ihm gezeichnet und gelettert. Die Entwicklung der Peanuts In den ersten Monaten waren die Protagonisten der Serie Charlie Brown, Snoopy, Shermy und Patty (nicht zu verwechseln mit der Figur Peppermint Patty). Shermy und Patty wurden nach und nach unwichtiger und verschwanden schließlich ganz aus dem Cartoon. Im Jahr 1951 wurde Schroeder in die Truppe eingeführt, ein Jahr später Lucy und ihr kleiner Bruder Linus. 1954 machten die Kinder Bekanntschaft mit Pigpen, dem ewig dreckigen Jungen. 1959 bekam Charlie Brown eine kleine Schwester namens Sally. 1960 wurde der Beagle Snoopy zunehmend menschlicher und begann auf den Hinterbeinen zu laufen und zu denken. Seit diesem Zeitpunkt ist Snoopys Hundehütte nur noch in der berühmten Seitenansicht zu sehen. 1966 lernte Charlie Brown die an Narkolepsie leidende Peppermint Patty kennen. 1968 führte Schulz den afroamerikanischen Jungen Franklin in seinen Cartoon ein, zwei Jahre später den Vogel Woodstock. 1971 wurde die Kindergruppe um die ernsthafte Marcie ergänzt, ein Jahr später bekamen Lucy und Linus weiteren Familienzuwachs, ihren Bruder Rerun. Im Jahr 1975 tauchte Snoopys Bruder Spike auf, der seither als regelmäßiger „Gaststar“ an den Geschichten beteiligt war. Anfangs durfte auch Charlie Brown noch gemein sein. Im Laufe der Jahre entwickelte sich Charlie Brown allerdings eher zur Zielscheibe des Spottes der anderen, ein Schicksal, das er gelassen ertrug. Er ist immer irgendwie in die Unglücke seiner Freunde verwickelt, er leidet und leidet mit, da Charlie Brown eine Karikatur des Durchschnittsbürgers ist. Wiederkehrende Themen Im Jahr 1952 zog Lucy Charlie Brown zum ersten Mal den Ball vor den Füßen weg, als Charlie Brown ihn wegschießen wollte. In den nächsten 46 Jahren zeichnete Schulz zu diesem Thema jährlich einen Comicstrip. Das erste Gespräch zwischen seinen Protagonisten, bei dem die Gesprächspartner an einer Mauer stehen und auf etwas blicken, das dem Leser verborgen bleibt, zeichnete Schulz 1954. Die Gespräche (meist zwischen Charlie und Linus) waren oft philosophischer Natur und nicht selten sentimental. 1958 brachte Schulz seine erfolglosen Versuche, einen Drachen steigen zu lassen, in den Cartoon ein: Zum ersten Mal fraß ein Baum Charlie Browns Drachen. Mit dem von Lucy 1959 eröffneten Psychotherapiestand parodierte Schulz die zu dieser Zeit häufig von Kindern betriebenen Limonadenstände. Anfangs bot Lucy ihre psychotherapeutischen Ratschläge noch für fünf Cent an, später erhöhte sich der Preis auf zehn Cent. Im gleichen Jahr wartete Linus erstmals auf den „Großen Kürbis“ („The Great Pumpkin“), da er Halloween und Weihnachten verwechselte. Im November 1961 verliebte sich Charlie in das kleine, rothaarige Mädchen und schwärmte von diesem Zeitpunkt an für seine für ihn unerreichbare Liebe (die der Leser des Strips nie zu sehen bekommt). Auch Lucy und Sally waren unglücklich verliebt, Lucy in Schröder und Sally in Linus, den sie liebevoll „mein Bambusbärchen“ nannte. Im Juli 1965 erhielt Snoopy seine Schreibmaschine und versuchte sich seitdem als Schriftsteller. Im Oktober des gleichen Jahres jagte er, mit Fliegerbrille und Schal auf dem Dach der Hundehütte sitzend, erstmals den Roten Baron. Weitere Themen rund um Snoopy waren unter anderen die Pfadfinder, Snoopy als Rechtsanwalt und als Fremdenlegionär Sgt. Lejaune, der Woodstock und seine Freunde über die Sandbahn des Golfplatzes führt. Der Beagle lag außerdem jahrzehntelang im Streit mit der Katze von nebenan, die er mehr als alles andere fürchtete. Auch das Baseball-Team um den Werfer Charlie Brown, der einsam auf seinem Wurfhügel stand, war ein immer wiederkehrendes Thema. Das Team der Kindergruppe verlor jedes Spiel, gegen Mannschaften, die nicht einmal zu sehen waren. Als Teammanager führte Charlie Brown seine Mannschaft einmal zum Sieg – der ihnen wieder aberkannt wurde. Schulz schuf mit den Peanuts viele Szenen und Ausdrücke, die heute feste Begriffe sind. So ging zum Beispiel der von Schulz erfundene Ausdruck „security blanket“ (dt. „Sicherheitsdecke“, in den deutschen Übersetzungen Schmusedecke) in den amerikanischen Sprachgebrauch ein. Kino, Fernsehen und Bühne Kino 1969 schafften es die Peanuts im Film Charlie Brown und seine Freunde (A Boy Named Charlie Brown) erstmals auf die Kinoleinwand. Charlie Brown gewann den Buchstabierwettbewerb seiner Schule und durfte, begleitet von Linus und Snoopy, zu den nationalen Ausscheidungen nach New York fahren. Er schlug sich tapfer und kam in die Endrunde – wo ihm ausgerechnet das Wort „Beagle“ zum Verhängnis wurde. Das Drehbuch zu dem 70-minütigen Film schrieb Charles M. Schulz, Regie führte Bill Melendez. 1971 wurde der Film in der Sparte „Musik (Original Song Score)“ für den Oscar nominiert. Drei Jahre später erhielt Snoopy im Film Snoopy (Snoopy Come Home) einen Brief seiner ehemaligen Besitzerin, die er daraufhin im Krankenhaus besuchte. Regie führte wiederum Bill Melendez, der auch Snoopy und Woodstock seine Stimme lieh, Schulz lieferte das Drehbuch. 1977 kam mit Lauf um Dein Leben, Charlie Brown! (Race For Your Life, Charlie Brown) das dritte Abenteuer der Kindertruppe ins Kino. Der 76-minütige Film handelte von den Abenteuern im Ferienlager, die Charlie und seine Freunde erlebten. Regie führten Bill Melendez und Phil Roman, das Drehbuch schrieb Schulz. Gute Reise, Charlie Brown (Bon Voyage, Charlie Brown (And Don’t Come Back!)) hieß 1980 das letzte Kinoabenteuer der Peanuts. Charlie, Linus, Peppermint Patty und Marcie fuhren, begleitet von Snoopy und Woodstock, als Austauschstudenten nach Frankreich. Dort sorgt ein geheimnisvoller Brief für Aufregung. Regie führten Bill Melendez und Phil Roman, verantwortlich für das Drehbuch war Charles M. Schulz. Fernsehen (Auswahl) Die berühmt gewordene Filmmusik für zahlreiche TV-Episoden hat der amerikanische Jazz-Pianist Vince Guaraldi komponiert und mit seinem Trio eingespielt. Für die Synchronisation wurden hauptsächlich Kinder engagiert, Erwachsene wurden durch die Sprachmelodie einer Posaune dargestellt. 1965: Die Peanuts – Fröhliche Weihnachten (A Charlie Brown Christmas) 1966: Der große Kürbis (It's The Great Pumpkin, Charlie Brown) 1969: Der Sommer war sehr kurz (It Was A Short Summer, Charlie Brown) 1973: Erntedankfest (A Charlie Brown Thanksgiving) 1974: Es ist doch der Osterbeagle (It's The Easter Beagle, Charlie Brown) 1975: Du bist ein prima Sportsmann (You're A Good Sport, Charlie Brown) 1977: Dein allererster Kuss (It's Your First Kiss, Charlie Brown) 1978: Snoopys Albtraum (What A Nightmare, Charlie Brown) 1980: Sie ist eine Sportskanone (She's A Good Skate, Charlie Brown) 1990: Der große Kampf der kleinen Janice (Why, Charlie Brown, Why?) Bühne Am 7. März 1967 wurde am New Yorker Off-Broadway das Musical You’re A Good Man, Charlie Brown uraufgeführt. Die Inszenierung lief fünf Jahre lang und war sehr erfolgreich. Am 4. Februar 1999 wurde eine leicht veränderte und ergänzte Fassung im Longacre Theater am Broadway aufgeführt. Weitere nachfolgende Bühnenstücke sind das Musical Snoopy! sowie die Adaption des TV-Specials A Charlie Brown Christmas, die Dialoge und Musik dieser Kultsendung getreu wiedergibt. Charles M. Schulz als Eishockeyfunktionär Eine große Leidenschaft von Schulz, die aus seinen Kindheitstagen in Minnesota herrührt, waren verschiedene Eissportarten, allen voran das Eishockey und das Eiskunstlaufen. Nachdem die Eishalle in Santa Rosa geschlossen worden war, setzte er sich 1969 maßgeblich für den Neubau der Redwood Empire Ice Arena in der Nähe seines Studios ein. Die Halle, die sich bis zu seinem Tode im Besitz des Comiczeichners befand, erinnert noch heute mit Snoopy-Statuen und -Figuren sowie einem Peanuts-Shop an ihren Erbauer und trägt zudem noch immer den Beinamen Snoopy’s Home Ice. Seit Anfang der 1970er Jahre organisierte Schulz in der Redwood Empire Ice Arena ein Seniorenturnier, das sich im Laufe der Jahre zum größten Turnier seiner Art in den Vereinigten Staaten entwickelte. Am sogenannten Snoopy’s Senior World Hockey Tournament nehmen noch heute jährlich 64 Teams aus der ganzen Welt teil, hauptsächlich aus den USA, Kanada, Europa und Japan, in verschiedenen Altersklassen von 40 bis 75 Jahren. Schulz selbst stand bis zu seinem Tod im Jahr 2000 als aktiver Spieler bei „seinem“ Turnier auf dem Eis. Im Laufe der Jahre gewann der Wettbewerb so große Popularität, dass selbst ehemalige NHL-Spieler wie Red Berenson, Ernie Hicke, Terry Harper oder Mel Bridgman als Mitspieler teilnahmen. 1998 trug Schulz zudem das in dieser Form erste Über-75-Eishockey-Turnier der Welt aus. Für seine Leidenschaft und seinen Einsatz erhielt er 1981 die Lester Patrick Trophy, eine Auszeichnung, die seit 1966 von der NHL und USA Hockey, dem US-amerikanischen Eishockeyverband, für besondere Verdienste rund um den Eishockeysport verliehen wird. 1993 wurde Schulz zudem die Ehre zuteil, in die United States Hockey Hall of Fame aufgenommen zu werden, ohne jemals Profi-Spieler gewesen zu sein. Im Jahr 2001 benannte die Stadt Saint Paul die Highland Park Ice Arena zu seinen Ehren in Charles Schulz Arena um. Auszeichnungen und Ehrungen Charles M. Schulz und seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet. Die Ehrungen umfassten sowohl sein Werk als Comiczeichner und -autor als auch die Kino- und Fernsehfilme. 1955: Schulz wurde mit dem Reuben Award der National Cartoonists Society ausgezeichnet. 1962: Die Peanuts wurden von der National Cartoonists Society zum Best Humor Strip of the Year ernannt. 1964: Schulz erhielt als erster Cartoonist den zweiten Reuben Award. 1965: A Charlie Brown Christmas gewann sowohl den Emmy als auch den Peabody Award. 1971: Der Kinofilm A Boy named Charlie Brown wurde in der Sparte „Musik (Original Song Score)“ für den Oscar nominiert. 1975: You’re A Good Sport, Charlie Brown gewann den Emmy. 1978: Der International Pavilion of Humor in Montreal ernannte Schulz zum Cartoonist of the Year. 1980: Life Is A Circus, Charlie Brown gewann den Emmy. 1980: Schulz gewann den Elzie Segar Award der National Cartoonists Society 1981: Schulz erhielt die Lester Patrick Trophy für seine besonderen Verdienste um das Eishockey. 1983: What have we learned, Charlie Brown? gewann den Peabody Award. 1986: Schulz wurde in die Cartoonist Hall of Fame aufgenommen. 1996: Schulz erhielt einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. 1997: Schulz wurde in die Eisner Award Hall of Fame aufgenommen. 2000: Postum wurde Schulz mit dem Milton Caniff Lifetime Achievement Award der National Cartoonists Society ausgezeichnet. 2000: Ebenfalls postum wurde Schulz mit der Congressional Gold Medal ausgezeichnet, der höchsten zivilen Auszeichnung, die der Kongress der Vereinigten Staaten vergibt. Zu Thanksgiving am 25. November 2009 wurde von der Suchmaschine Google ein Doodle veröffentlicht, in welchem Snoopy mit Woodstock verewigt worden sind. Literatur Charles M. Schulz: 50 Jahre Peanuts. Das große Jubiläumsbuch. Hrsg. von David Larkin. Baumhaus, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-8339-4001-8 Rheta Grimsley Johnson: Good Grief: The Story Of Charles M. Schulz. Pharos Books, 1989. M. Thomas Inge (Hrsg.): Charles M. Schulz. Conversations. University Press of Mississippi, 2000. Chip Kidd: Charles M. Schulz. Pantheon Books, 2001. Derrick Bang: 50 years of happiness. A tribute to Charles M. Schulz. Peanuts Collector Club, 1999. Derrick Bang: Charles M. Schulz: Li'l beginnings. Charles M. Schulz Museum, 2004. David Michaelis: Schulz and Peanuts – A Biography. HarperCollins, New York 2007 Weblinks Offizielle Webseite der Peanuts Genealogie von Schulz unter rootsweb.com Patrick Bahners: Kindertheater der Grausamkeit: Peanuts auf den Seiten der FAZ Artikel in der taz Einzelnachweise Comic-Zeichner (Vereinigte Staaten) Comic-Szenarist Eishockeyfunktionär (Vereinigte Staaten) Person im Zweiten Weltkrieg (Vereinigte Staaten) Träger des Ordre des Arts et des Lettres (Komtur) Träger der Goldenen Ehrenmedaille des Kongresses Mitglied der United States Hockey Hall of Fame Person als Namensgeber für einen Asteroiden US-Amerikaner Geboren 1922 Gestorben 2000 Mann Die Peanuts
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Robert Hooke
Robert Hooke (* in Freshwater, Isle of Wight; † in London) war ein englischer Universalgelehrter, der hauptsächlich durch das nach ihm benannte Elastizitätsgesetz bekannt ist. Hookes Wirken ist eng mit den ersten Jahrzehnten des Bestehens der Royal Society verbunden. Am Gresham College lehrte er als Professor für Geometrie und hielt die Cutler-Vorlesungen. Nach dem Londoner Großbrand von 1666 war Hooke als Vermesser und Architekt maßgeblich am Wiederaufbau Londons beteiligt. Das an den Brand erinnernde Monument wurde von ihm entworfen. Nach dem Tod seines Vaters wurde Hooke an der Westminster School in London ausgebildet. Bald zeigte sich Hookes praktische Begabung, insbesondere als Zeichner und Konstrukteur. Auf Vermittlung seines Lehrers Richard Busby erhielt er eine Anstellung an der Christ Church in Oxford. In Oxford stand Hooke in den Diensten einer Gruppe von Naturforschern um John Wilkins, die sich der experimentellen Naturbeobachtung verschrieben hatte und deren Mitglieder 1660 zum Personenkreis gehörten, der die Royal Society gründete. 1662 ernannte die Royal Society Hooke zu ihrem Kurator für Experimente. Mit Hilfe optischer Instrumente, an deren Verbesserung er fortwährend arbeitete, beobachtete er sowohl die Erscheinungen am Nachthimmel als auch die nur mit dem Mikroskop zugängliche Welt. So entdeckte er zum einen den Großen Roten Fleck auf dem Jupiter, zum anderen prägte er den Begriff „Zelle“. Mit den für sein Hauptwerk Micrographia angefertigten Zeichnungen eröffnete er Einblicke in den bis dahin weitgehend unbekannten Mikrokosmos. Im Auftrag der Royal Society begann Hooke mit regelmäßigen Wetterbeobachtungen. Er entwickelte die für die Beobachtung notwendigen meteorologischen Messgeräte weiter und konstruierte den ersten Vorläufer einer automatischen Wetterstation. Anders als seine Zeitgenossen betrachtete Hooke Fossilien nicht als bloße Laune der Natur, sondern sah in ihnen Zeugnisse ausgestorbener Lebewesen. Hookes Beitrag für die Herausbildung der modernen Naturwissenschaft war lange Zeit von Kontroversen über die Priorität einiger seiner Erfindungen und Entdeckungen überschattet. Mit Christiaan Huygens stritt er, wer von ihnen die erste federgetriebene Uhr baute. Isaac Newton verweigerte Hooke jegliche Anerkennung für die Ideen, die ihn zur mathematischen Formulierung seines Gravitationsgesetzes führten. Von Hooke ist kein zeitgenössisches Porträt bekannt. Er wurde ursprünglich auf dem Friedhof der St Helen's Church, Bishopsgate beigesetzt. Seine sterblichen Überreste befinden sich seit 1891 in einem Massengrab auf dem Friedhof der Stadt London in Manor Park. Kindheit auf der Isle of Wight Robert Hooke wurde am 18. Juli 1635 im Küstenort Freshwater auf der Isle of Wight geboren. Er war das vierte und letzte Kind von Reverend John Hooke († 1648) und Cecily Gyles († 1665). Sein Vater studierte vermutlich an der University of Oxford und wurde dort ordiniert. Um 1615 trat er in die Dienste von Sir John Oglander (1585–1655), dem Gouverneur der Isle of Wight, um in Brading dessen Sohn George zu unterrichten. Dort heiratete John Hooke 1622 in zweiter Ehe Cecily Gyles. Neben Robert hatte er mit ihr noch drei weitere Kinder: Anne († 1661), Katherine (* 1628) und John (1630–1678). Um 1625 wurde sein Vater Kurat der anglikanischen All-Saints-Kirche in Freshwater. Das wenige Bekannte über Hookes Kindheit entstammt seiner am 10. April 1697 begonnenen fragmentarischen Autobiografie, die seinem ersten Biografen Richard Waller vorlag. Hooke erinnerte sich darin an eine unbeschwerte Kindheit, die durch gelegentliche Anfälle von Magenbeschwerden und Kopfschmerzen getrübt war. Er bastelte mechanisches Spielzeug, zerlegte eine alte Kupferuhr in ihre Bestandteile und bildete die Einzelteile aus Holz nach. Außerdem fertigte er ein knapp ein Meter langes, schwimmfähiges Segelschiffmodell an, dessen Kanonen sogar in der Lage gewesen sein sollen, zu schießen. Bei einem Besuch des Miniaturmalers John Hoskins (um 1590–1664/5) offenbarte sich Hookes zeichnerisches Talent. Bis November 1647 hatte der 1642 begonnene Englische Bürgerkrieg kaum Auswirkungen auf das Leben der meist royalistisch eingestellten Einwohner der Isle of Wight. Am 11. November 1647 entkam König Karl I. seinen Bewachern in London und floh auf die Insel, wo er zwei Tage später anlangte. In Newport begannen bald darauf die Kapitulationsverhandlungen zwischen den Royalisten und Parlamentsvertretern. Am 23. September 1648 setzte Hookes Vater sein Testament auf und bestimmte seine Freunde Nicholas Hockley, Robert Urrey und Cardell Goodman (um 1608–1654) zu seinen Nachlassverwaltern. Kurz nach Karls Kapitulation am 8. Oktober 1648 starb Hookes Vater. Seine Beerdigung fand am 17. Oktober 1648 statt. Er hinterließ seinem Sohn Robert 40 Pfund, seine beste Truhe und alle seine Bücher. Hinzu kamen noch 10 Pfund aus dem Nachlass von Robert Hookes Großmutter Ann Giles. Ausbildung in London und Oxford Im Alter von 13 Jahren kam Robert Hooke nach London. Wie er dorthin gelangte, ist nicht bekannt. Möglicherweise reiste er in Begleitung von Cardell Goodman oder in der des Miniaturmalers John Hoskins. In London war er zunächst für kurze Zeit Schüler des Malers Peter Lely. Ebenso soll ihn Samuel Cowper unterrichtet haben, ein Neffe Hoskins. Ende Januar 1649 befand sich Hooke in der Obhut von Richard Busby (1606–1695), in dessen Haushalt er lebte und der ihn unterrichtete. Busby war seit 1638 Leiter (Headmaster) der Westminster School. Während seiner Zeit in Westminster erlernte Hooke fließend Latein, erwarb gute Griechischkenntnisse und konnte sich etwas Hebräisch aneignen. Er zeigte Talent für Mathematik und besondere Fähigkeiten als Zeichner. Ebenso erlernte er den Umgang mit der Drehbank und das Spielen der Orgel. 1653 verließ Hooke die Westminster School in London, um seine Ausbildung an der Christ Church in Oxford fortzusetzen. Die Westminster School hatte eine enge Beziehung zur Christ Church, und so traf er dort einige seiner Mitschüler wieder. Richard Lower studierte seit 1649 dort, und John Locke hatte sich ein Jahr zuvor eingeschrieben. In Oxford war Hooke zunächst Stipendiat (Servitor) eines „Mr. Goodman“ und sollte als Chorschüler Orgel spielen. Vermittelt durch Busby, lebte er ab 1654 im Haushalt von Thomas Willis und assistierte ihm bei dessen chemischen Experimenten in der Beam Hall in der Oxforder St. John’s Street. Willis war Mitglied einer Gruppe von Naturforschern um den Leiter (Warden) des Wadham College, John Wilkins. Diese Gruppe hatte sich der experimentellen Naturbeobachtung verschrieben, wie sie 1620 durch Francis Bacon in Novum Organum angeregt worden war. Zu dieser Gruppe gehörten unter anderem Jonathan Goddard, John Wallis, William Petty, Christopher Wren und Seth Ward. Wilkins hatte 1648 mit Mathematical Magick ein weit beachtetes Werk geschrieben, das sich mit den Prinzipien von Hebeln, Rollen, Zahnrädern und Schnecken beschäftigte und in dem er über fliegende Automaten und eine mögliche Reise zum Mond spekulierte. In dieser Zeit konstruierte Hooke einen Flugapparat und verbesserte für Seth Ward die Ganggenauigkeit der Pendeluhren, die dieser bei seinen astronomischen Beobachtungen einsetzte. Bereits 1653 hatte Wilkins Robert Boyle nach Oxford eingeladen, der in Dublin mit seinen chemischen Experimenten nicht vorankam. Boyle ließ sich im Herbst 1655 schließlich in Oxford nieder, und ab dem folgenden Jahr gehörte Hooke als Assistent zu Boyles Haushalt. Boyle wollte, angeregt durch Otto von Guerickes Arbeit, eine eigene verbesserte „Luftpumpe“ konstruieren. Unter Hookes maßgeblicher Beteiligung gelang das schwierige Unterfangen um 1659 schließlich. Gemeinsam führten Boyle und Hooke Untersuchungen der Eigenschaften der Luft durch. Die Ergebnisse dieser im Dezember 1659 abgeschlossenen Experimente veröffentlichte Boyle in dem 1660 erschienenen Werk The Spring of the Air, in dem er 43 Experimente über die Konstruktion und Anwendung der neuen Luftpumpe beschrieb und in dessen Vorwort er Hookes Verdienst ausdrücklich würdigte. Am 31. Juli 1658 wurde Hooke an der Universität Oxford immatrikuliert. Er erwarb jedoch während seiner Zeit in Oxford keinen akademischen Grad. Nach 1659 siedelten die Mitglieder der Oxford-Gruppe um Wilkins allmählich nach London über. Kurator der Royal Society Als am 28. November 1660 die Royal Society gegründet wurde, befanden sich unter den zwölf Gründungsmitgliedern mit Robert Boyle, William Petty, John Wilkins und Christopher Wren vier Mitglieder der Oxford-Gruppe. Boyles in Oxford konstruierte neuartige „Pneumatic Engine“ wurde in der Anfangszeit der Royal Society bei etlichen Experimenten eingesetzt. Als Assistent von Boyle war Hooke für die Durchführung dieser Experimente verantwortlich. In den Akten der Royal Society wird sein Name erstmals am 10. April 1661 im Zusammenhang mit seiner 1661 entstandenen, ersten wissenschaftlichen Arbeit An Attempt for the Explication of the Phaenomena, observable in an Experiment published by the Honourable Robert Boyle erwähnt. Hooke versuchte darin, die in Boyles The Spring of the Air als 35. Experiment beschriebenen Phänomene zur Kapillarwirkung von Wasser in dünnen Röhren zu erklären. Mit seinen praktischen Fähigkeiten verschaffte sich Hooke schnell die Anerkennung der Mitglieder der Royal Society. Am 12. November 1662 schlug Robert Moray vor, Hooke als „Curator of Experiments“ der Royal Society zu beschäftigen. Hooke wurde einmütig von den Mitgliedern der Gesellschaft in diese Position gewählt. Seine Aufgabe als Kurator bestand darin, für die wöchentlichen Treffen der Gesellschaft drei bis vier Experimente vorzubereiten und durchzuführen sowie andere Mitglieder bei der Durchführung von Experimenten zu unterstützen. Am 3. Juni 1663 wurde Hooke in die Royal Society aufgenommen und vom Beitrag befreit, den ein Mitglied der Gesellschaft normalerweise entrichten musste. Die Mitglieder der Royal Society waren bestrebt, Hooke ein gesichertes Einkommen zu verschaffen. In Betracht zogen sie dafür eine Professur am Gresham College. Hinderlich war, dass Hooke keinen akademischen Abschluss erworben hatte. Durch die Vermittlung des Kanzlers der Universität Oxford Edward Hyde wurde ihm im September 1663 der Titel eines Magister Artium zugesprochen. Bei zwei Professuren am Gresham College deutete sich zu dieser Zeit die Notwendigkeit der Neubesetzung an. Als der Astronomieprofessor Walter Pope (um 1627–1714) im April 1663 für zwei Jahre ins Ausland ging, übernahm der Professor für Geometrie Isaac Barrow zunächst Popes Lehraufgaben. Barrow wurde schließlich Ende 1663 auf den neu gestifteten Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik berufen. Bei der Neubesetzung von Barrows Lehrstuhls am 20. Mai 1664 unterlag Hooke trotz der Unterstützung durch die Royal Society dem Arzt Arthur Dacres (1624–1678). Nach dieser Niederlage traten John Graunt und William Petty an John Cutler mit der Bitte heran, für Hooke eine Vorlesung zu stiften. Im Juni 1664 kam Cutler dieser Bitte nach und stiftete für Hooke auf Lebenszeit die mit 50 Pfund pro Jahr dotierte Cutler-Vorlesung. Am 27. Juli 1664 regelte die Royal Society offiziell Hookes finanzielle Bezüge als Kurator und sicherte ihm zusätzlich Unterkunft im oder in der Nähe des Gresham College zu. Im September zog Hooke aus dem Haus von Boyles Schwester Lady Ranelagh (1614–1691) aus und bezog seine Zimmer am Gresham College, die er bis zu seinem Tod bewohnte. Im Sommer 1664 erfuhr die Royal Society, dass die Wahl Dacres zum Geometrieprofessor durch den Londoner Bürgermeister Anthony Bateman manipuliert worden war. Die Royal Society drängte Dacres zum Rücktritt. Am 20. März 1665 wurde Hooke schließlich Professor für Geometrie am Gresham College. Zuvor hatte er im Semester 1664/1665 in Vertretung von Walter Pope dort bereits die astronomischen Vorlesungen abgehalten. Mit seinen drei Tätigkeiten als Kurator der Royal Society sowie als Professor für Geometrie und Cutler-Professor am Gresham College war Hooke finanziell abgesichert. Nach dem Tod von Henry Oldenburg wurde Hooke am 25. Oktober 1677 zu einem der beiden Sekretäre der Royal Society gewählt. Diese Funktion übte er zusätzlich zu seinen Verpflichtungen als Kurator bis 1682 aus. Beobachter, Experimentator und Erfinder Micrographia Am 1. April 1663 erhielt Hooke von der Royal Society die Aufforderung, zu jedem ihrer wöchentlichen Treffen eine mit seinem zusammengesetzten Auflichtmikroskop angefertigte Beobachtung beizusteuern. Im Laufe des Jahres präsentierte er den Mitgliedern zahlreiche Zeichnungen von Objekten der belebten und unbelebten Welt. Unter den beobachteten Objekten befanden sich unter anderem eine Nadelspitze, die Schneide einer Klinge, venezianisches Papier, versteinertes Holz, ein Schimmelpilz und die Eier des Seidenspinners. Als besonders außergewöhnlich empfanden seine Zeitgenossen die Darstellungen des Facettenauges einer Fliege, einer Spinne und einer Milbe. Unter den von Hooke untersuchten Materialien befand sich auch Kork. Für die von ihm unter dem Mikroskop in Kork beobachteten Hohlräume prägte er den Begriff cell für „Zelle“. Im Sommer des nächsten Jahres beschloss die Royal Society, Hookes Beobachtungen in ihrem Auftrag drucken zu lassen. Sein Werk erhielt den Titel Micrographia und war nach John Evelyns Sylva, or Discourse on Forest Trees das zweite Werk mit der Druckerlaubnis der Royal Society. Unter den sechzig von Hookes „Beobachtungen“ befanden sich einige Spekulationen, von denen sich die Royal Society distanzierte und Hooke aufforderte, dies in einem Vorwort klarzustellen. Zu diesen Spekulationen gehörte unter anderem Hookes Theorie der Materie. Er mutmaßte, dass die Materie aus unsichtbar kleinen, schwingenden Teilchen aufgebaut sei. Seine These beruhte auf einer Analogie zu dem von Marin Mersenne gefundenen Zusammenhang zwischen der Frequenz und der Tonhöhe einer schwingenden Saite. Wie die von einer Saite erzeugte Frequenz von ihrer Länge, Dicke und Spannung abhängig sei, hinge die Schwingungsfrequenz der Materieteilchen in gleicher Weise von Material, Form und Menge ab. Die unterschiedliche Erscheinungsform fester, flüssiger und gasförmiger Körper erkläre sich aus den unterschiedlichen Schwingungsfrequenzen ihrer Teilchen. Astronomie Hooke war ein aktiver beobachtender Astronom, der zugleich an der Verbesserung der ihm zur Verfügung stehenden Beobachtungsinstrumente, insbesondere der Fernrohre und Geräte zur Winkelmessung, interessiert war. Bereits eine seiner mutmaßlich ersten Schriften, der Discourse of a new Instrument to make more accurate Observations in Astronomy, than ever were yet made aus dem Jahr 1661, die bisher nicht wieder aufgefunden werden konnte, beschäftigte sich mit dieser Thematik. Im April 1663 beschloss die Royal Society, die Positionen der Sterne des Zodiak genauer zu bestimmen. Hooke war gemeinsam mit Wren für die Vermessung der Sterne im Sternbild Stier verantwortlich. Eine dabei entstandene Zeichnung der Plejaden fand Eingang in sein Werk Micrographia. Er entdeckte einen fünften Trapezstern im Sternbild Orion und untersuchte mit dem Stern Mesarthim im Sternbild Widder einen der ersten je beobachteten Doppelsterne. Am 9. Mai 1664 entdeckte Hooke den Großen Roten Fleck auf dem Jupiter. Er beobachtete dessen Bewegung und schloss, dass der Jupiter wie die Erde um seine Achse rotieren müsse. Giovanni Domenico Cassini konnte kurz darauf die Rotationsdauer des Jupiters abschätzen. Gemeinsam mit Wren untersuchte Hooke in dieser Zeit auch die Bahn des im Dezember 1664 erschienenen Kometen C/1664 W1. Im März 1666 stellte er fest, dass sich die Position einiger Objekte auf dem Mars etwas verschoben hatte. Ihm gelang es damit, bei einem zweiten Planeten dessen Eigenrotation nachzuweisen. Erneut war es Cassini, der kurz darauf die Rotationsperiode abschätzte. Die von Hooke angefertigten Zeichnungen und seine Beobachtungsdaten nutzte Richard Anthony Proctor mehr als zweihundert Jahre später bei seiner neuen Ermittlung der Dauer des Marstages. In der sechzigsten und letzten „Beobachtung“ der Micrographia mit dem Titel Of the Moon (Über den Mond) schrieb Hooke seine Gedanken zur Entstehung der mit Kratern bedeckten Mondoberfläche nieder. Er entwickelte dazu zwei Thesen und versuchte, diese mit Laborexperimenten zu bestätigen. Seine erste These führte die beobachtbare Gestalt der Mondoberfläche auf vulkanische Aktivität zurück, die zweite erklärte sie mit Einschlägen von Objekten auf dem Mond. Die von Hooke durchgeführten Experimente ließen beide Erklärungen gleichermaßen zu. Da er sich jedoch nicht erklären konnte, woher auf den Mond einschlagende Objekte stammen könnten, verwarf er die zweite These. Er spekulierte in diesem Zusammenhang ebenfalls darüber, ob die Erdoberfläche ähnlich geformt sein könnte. Hookes Bemühungen, die Sternparallaxe nachzuweisen und damit einen experimentellen Beweis für die Bewegung der Erde um die Sonne zu liefern, reichen bis in den Sommer 1666 zurück. Am 22. Oktober 1668 berichtete er der Royal Society, dass er im Gresham College zu diesem Zweck ein Zenitteleskop errichtet habe. Hooke bezeichnete dieses Teleskop in Anspielung auf Archimedes’ Ausspruch, dass er mit einem Hebel die Erde bewegen könne, als „Archimedean Engine“. Für seine Beobachtungen wählte er den in London im Zenit stehenden Stern γ Draconis aus. Aus vier vom Juli 1669 bis Oktober 1670 vorgenommenen Messungen leitete er in seinem An attempt to prove the motion of the earth from observations eine Parallaxe von 30 Bogensekunden ab – ein Wert, der, wie sich viele Jahre später herausstellte, viel zu groß war, aber lange Zeit als Nachweis der Sternparallaxe anerkannt wurde. Hooke konstruierte ein Helioskop, ein Teleskop zur Sonnenbeobachtung, in welchem Glasscheiben und -prismen das Sonnenlicht dämpfen. Eine seiner nicht umgesetzten Ideen sah vor, ein äquatorial montiertes Teleskop durch eine Pendeluhr steuern zu lassen, um so bei Beobachtungen die Rotation der Erde auszugleichen. Wetterkunde Am 2. September 1663 beauftragte die Royal Society Hooke, täglich Wetteraufzeichnungen vorzunehmen. Die Mitglieder der Royal Society erhofften sich, auf deren Grundlage Methoden für eine Wettervorhersage entwickeln zu können. Bereits einen Monat später stellte Hooke seine Methode zur Wetterbeobachtung vor, die alle Grundzüge der modernen Meteorologie beinhaltet. Hooke verbesserte oder erfand zahlreiche meteorologische Instrumente. In seinem Werk Micrographia hatte er ein Verfahren für eine Temperaturskala vorgeschlagen, bei dem der Nullpunkt auf den Gefrierpunkt von Wasser festgelegt wurde. Nach einer erfolgreichen Demonstration des Verfahrens Anfang 1665, legte die Royal Society Hookes Verfahren als Standard bei ihren Temperaturmessungen zugrunde. Das von Hooke entwickelte Radbarometer übertrug Luftdruckänderungen mit Hilfe eines auf einer Quecksilbersäule schwimmenden Gewichtes auf einen Zeiger und ermöglichte so ein leichtes Ablesen des Wertes. In seiner Micrographia beschrieb er außerdem ein Hygrometer, das gleichfalls ein Zeigerinstrument war und zur Messung die hygroskopisch bedingte Längenänderung der Grannen des Wilden Hafers verwendete. Es funktionierte damit ähnlich wie die später verbreiteten Haarhygrometer. Ein durch Hooke verbesserter Windmesser, der die Auslenkung einer Windplatte nutzte, war fast 200 Jahre lang das am weitesten verbreitete Gerät zur Bestimmung der Windgeschwindigkeit. Seit Ende 1663 arbeiteten Wren und Hooke gemeinsam an einer „Wetteruhr“, die von einer Pendeluhr gesteuert meteorologische Daten aufzeichnen sollte und deren Entwicklung sich über viele Jahre hinzog. Erst am 29. Mai 1679 konnte Hooke der Royal Society ein von ihm konstruiertes Exemplar vorstellen. Diese erste automatische Wetterstation zeichnete Windrichtung, Windgeschwindigkeit, Niederschlagsmenge, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Luftdruck auf Papierstreifen auf. Geologie Bereits in seiner Kindheit war Hooke an der durch Erosion geprägten Küste der Isle of Wight herumgestreift und hatte sich für die in die Kalksteinfelsen eingelagerten Fossilien interessiert. Um nach dem Tod seiner Mutter im Juni 1665 einige Familienangelegenheiten zu klären, hielt er sich von Anfang Oktober 1665 bis Januar 1666 nach längerer Abwesenheit wieder auf der Insel auf. Diese Zeit nutzte er, um die geologische Beschaffenheit der Insel zu studieren und Fossilien zu sammeln. 1667 begann er vor der Royal Society mit einer Vortragsreihe über Geologie, die sich mit Unterbrechungen über mehr als dreißig Jahre erstreckte und die als Discourses of Earthquakes (Reden über Erdbeben) 1705 in seinen nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurden. Anders als für fast alle seine Zeitgenossen waren für Hooke Fossilien keine Laune der Natur, sondern versteinerte Lebewesen. Da einige der von ihm untersuchten Fossilien keinem der existierenden Lebewesen ähnelten, zog er es in Betracht, dass es sich um ausgestorbene Lebewesen handeln müsse. Er spekulierte darüber, ob Veränderungen von Klima, Erdreich und Ernährung zur Bildung neuer Arten führen könnten. Hooke wurde durch seine Beobachtungen klar, dass die Erde älter sein müsse als das vom Theologen James Ussher abgeleitete Alter von etwa 6000 Jahren und dass die Dauer der biblischen Sintflut viel zu kurz war, um die geologische Gestalt der Erde zu erklären. Da Fossilien nach seinem Verständnis durch Sedimentationsprozesse im Meer entstanden, suchte er nach Prozessen, die das Anheben dieser Schichten erklären könnten, und hielt Erdbeben für eine mögliche Erklärung. Hooke mutmaßte weiterhin, dass es einen zyklischen Austausch von Land und Meergebieten gäbe. Er nahm an, dass die mit Polwanderung der Erdachse verbundene Änderung der Polfluchtkraft für diesen Gebietsaustausch sorgen würde. Ellen T. Drake, die Hookes geologische Vorstellungen untersuchte, geht davon aus, dass seine Überlegungen Einfluss auf Nicolaus Steno und James Hutton hatten, die beide als „Vater der Geologie“ bezeichnet werden. Arthur Percival Rossiter nannte ihn 1935 gar den „ersten englischen Geologen“. Stadtvermesser und Architekt Anfang September 1666 wurden bei einem dreitägigen Großbrand 80 Prozent der City of London zerstört. Bereits am 19. September 1666 stellte Hooke ein „Modell“ für den Wiederaufbau der Stadt vor. Sein Plan wurde wie fünf weitere jedoch aus Kosten- und Zeitgründen verworfen. Die Stadt London berief ihn am 4. Oktober 1666 in eine sechsköpfige Kommission für den Wiederaufbau. Deren erste Aufgabe war es, Empfehlungen für die schon seit 1662 diskutierte Verbreiterung der Straßen und die Beseitigung von Gassen auszusprechen. Ab dem 31. Oktober 1666 begann die Kommission, Bauvorschriften zu erarbeiten, und widmete sich den mit dem Wiederaufbau verbundenen Regularien. Es folgten zahlreiche Beratungen der Kommission mit der City und dem Privy Council. Hooke untersuchte in dieser Zeit im Auftrag der Royal Society die Belastbarkeit der aus verschiedenen Lehmerden angefertigten Ziegel, aus denen die neuen Häuser errichtet werden sollten. Am 8. Februar 1667 gab König Karl II. seine Zustimmung zum ersten Wiederaufbaugesetz (Rebuilding Act) und bestätigte die auch von Hooke ausgearbeiteten neuen Bauvorschriften, behielt sich aber seine Zustimmung zu den geplanten Straßenverbreiterungen vor. Die entsprechenden Gesetze über die Straßenverbreiterungen legte der Court of Common Council am 13. März 1667 vor und beschloss am gleichen Tag mit Peter Mills (1598–1670), Edward Jerman (um 1605–1668), Hooke und John Oliver (1616/1617–1701) vier Landvermesser zu bestellen. Am nächsten Tag wurden Hooke und Mills vor dem Court of Aldermen vereidigt. Jerman übte die Tätigkeit des Landvermessers nie aus. Die Vereidigung von Oliver fand erst am 28. Januar 1668 statt. Hooke und Mills begannen am 27. März 1667 in der Fleet Street mit dem Abstecken neuer Straßen. Mit dieser Arbeit wurden sie innerhalb der folgenden neun Wochen größtenteils fertig. Ein am 29. April 1667 verabschiedetes Gesetz des Common Council legte schließlich die Pflichten aller Bewohner fest, die ihre Häuser wiedererrichten wollten. Hooke und Mills waren für die Vermessung des Baugrundes verantwortlich und nahmen die vom Common Council auferlegten, für den Wiederaufbau fälligen Gebühren entgegen. Diese Gebühren wurden in Tagesbüchern (day books) verzeichnet, deren Einträge sich über den Zeitraum vom 13. Mai 1667 bis zum 28. Juli 1696 erstrecken und 8394 Neugründungen dokumentieren. Der Großteil der Vermessungstätigkeit war Ende 1671 abgeschlossen, als 95 Prozent des Baugrunds vermessen waren. Eine weitere Verpflichtung Hookes und der anderen Vermesser bestand darin, einen angemessenen Geldbetrag für durch Straßenverbreiterungen oder andere Wiederaufbaumaßnahmen erlittene Landverluste der Eigentümer festzulegen und zu beurkunden. Ab dem 31. März 1669 mussten Hooke und Mills daher an den wöchentlichen Treffen des in Streitfragen zuständigen City Lands Committee teilnehmen. 1670 wurde der City Churches Rebuilding Act verabschiedet, in dem die Wiedererrichtung von 51 Parish-Kirchen festgelegt wurde. Christopher Wren, der für die Durchführung verantwortlich war, beschäftigte Hooke daher zusätzlich zu dessen bereits bestehenden Verpflichtungen als „First Officer“ seines Architekturbüros. Hooke überwachte gemeinsam mit Wren den Baufortschritt und begann selbst erste Bauten zu entwerfen. Dazu zählen unter anderem das Monument to the Great Fire of London, das Royal College of Physicians, das Bethlem Royal Hospital sowie zahlreiche Privathäuser. Kontroversen Über die Ursache der Farben Anfang 1672 lenkte Isaac Barrow die Aufmerksamkeit der Royal Society auf seinen Schützling Isaac Newton und stellte dessen neuartiges Spiegelteleskop vor. Einen knappen Monat später erhielt Henry Oldenburg einen Brief von Newton, in dem dieser seine Ideen über die Natur des Lichtes, die Brechung und die Farben darstellte. Newton führte darin aus, dass weißes Licht eine Mischung aus allen Regenbogenfarben ist, das beim Durchgang durch ein optisches Prisma infolge der unterschiedlich starken Brechung der einzelnen Anteile in Farben aufgespalten wird. Außerdem war Newton der Auffassung, dass Licht aus kleinen Teilchen bestünde und sich nicht als Welle ausbreitete. Hooke und andere wurden aufgefordert, ihren Kommentar zu Newtons Brief abzugeben, allerdings kam nur Hooke eine Woche später dieser Aufforderung nach. In seinem Werk Micrographia beschrieb Hooke Farberscheinungen und farbige Ringe, die er beim Mineral Muskovit, an Austernschalen und weiteren dünnen Schichten beobachtete hatte, und die ebenfalls entstanden, wenn er zwei Glasstücke aneinanderpresste. Er führte dort auch aus, wie die dabei beobachteten Farben entstehen. In seiner Kritik wiederholte Hooke die schon in der Micrographia angeführte These, dass Newtons Brief wurde in den Philosophical Transactions veröffentlicht, Hookes Kommentar jedoch nicht. Der von der harschen Kritik überraschte und erregte Newton schickte nach mehreren Entwürfen und auf Drängen Oldenburgs seine Entgegnung, in der er Hooke scharf zurechtwies und ihm mangelndes Verständnis vorwarf, schließlich drei Monate später an die Royal Society. Der am 12. Juni 1672 vor der Royal Society verlesene und anschließend in den Philosophical Transactions veröffentlichte Brief Newtons war der Ausgangspunkt einer viele Jahre anhaltenden Spannung zwischen Hooke und Newton. 1675 erbat sich Newton bei der Durchführung eines kritischen Experimentes, dessen Ergebnis einer seiner weiteren Kritiker, der Jesuit Francis Linus (1595–1675), in Frage stellte, die Unterstützung der Royal Society. Falls gewünscht würde er der Gesellschaft eine weitere Arbeit über seine Farbentheorie übersenden. Anfang Dezember 1675 schickte Newton eine Abhandlungen mit dem Titel Eine Hypothese zur Erklärung der Eigenschaften des Lichtes, wie sie in meinen verschiedenen Aufsätzen diskutiert wurde an Oldenburg. Diese wurde am 9. und 16. Dezember 1675 verlesen. Gegen Ende der Abhandlung nahm Newton auf ein von Hooke im Frühjahr beobachtetes neuartiges Lichtphänomen Bezug, das Hooke als „Inflexion“ – also Beugung – bezeichnete. Newton sah darin nur eine andere Form der Brechung und zweifelte überdies die Neuigkeit der Beobachtung an, da das Phänomen schon zehn Jahre früher von Francesco Maria Grimaldi beschrieben worden sei. Hooke, der sich erneut von Newton angegriffen fühlte, tat der versammelten Gesellschaft kund, dass alles Wichtige bereits in seiner Micrographia stünde und Newton nur ein paar Einzelheiten weiter ausgearbeitet habe. Oldenburg berichtete umgehend Newton davon und verlas dessen Reaktion auf Hookes Bemerkung am 20. Januar 1676 vor der Royal Society. Hooke, so Newton, habe nur René Descartes’ Lichttheorie etwas ausgeschmückt. Seine Theorie sei hingegen völlig eigenständig und er Der von Newtons scharfem Ton überraschte Hooke vermutete, dass Oldenburg seine Reaktion falsch dargestellt hatte, und wandte sich noch am gleichen Tag in einem Brief an Newton. Er würdigte darin ausdrücklich Newtons Verdienste und bat ihn um einen direkten, privaten Austausch ihrer naturphilosophischen Gedanken. Newton antwortete höflich, würdigte seinerseits Hookes Beiträge zur Optik, betonte jedoch seine eigene Leistung: Über die Erfindung der federgetriebenen Uhr Am 18. Februar 1675 verlas Oldenburg vor der Royal Society einen Ausschnitt aus einem Brief von Christiaan Huygens, der sogleich für die Veröffentlichung in den Philosophical Transactions bestimmt wurde. Huygens kündigte darin an, dass er eine neuartige, kompakte Uhr mit einer Federunruh erfunden habe, die eine bisher unerreichte Ganggenauigkeit aufweise. Hooke, der bereits am Vortag von diesem Brief erfahren hatte, reagierte heftig und reklamierte die Priorität dieser Erfindung für sich. Er habe bereits in den 1660er Jahren den Mitgliedern der Gesellschaft einige von einer Spiralfeder angetriebene Uhren vorgestellt. Die Entwicklung genauer, gegen äußere Einflüsse unempfindlicher Uhren war ein wichtiger Schritt, um das Problem der Bestimmung der geografischen Länge von Schiffen auf den Ozeanen zu lösen. Hooke hatte nach eigenen Angaben bereits 1658 eine verbesserte Pendeluhr entwickelt, von der er der Meinung war, dass sie zur Lösung dieses Problems beitragen würde. Ende 1663 oder Anfang 1664 kam es zu einem von Boyle arrangierten Treffen mit Moray und Brouncker, bei dem die Konditionen für ein Patent für Hookes Pendeluhr ausgehandelt werden sollte. Hooke sagten jedoch die vorgeschlagenen Bedingungen nicht zu, da nicht das von ihm entwickelte Grundprinzip geschützt werden sollte, sondern jede weitere Verbesserung gleichfalls Patentanspruch genießen würde. Huygens ließ sich 1657 eine Pendeluhr patentieren, die gegenüber herkömmlichen Uhren eine deutlich verbesserte Ganggenauigkeit aufwies. Als Huygens 1661 in London weilte, interessierte sich die Royal Navy für seine Erfindung und experimentierte vier Jahre lang mit dessen Pendeluhr. Einer verbesserten Version von Huygens Pendeluhr wurde 1665 ein durch Robert Moray ausgehandeltes Patent zugesprochen. Die daraus erwachsenen Einkünfte teilte sich Huygens mit der Royal Society. Henry Oldenburg, Sekretär der Royal Society und langjähriger Korrespondent Huygens, setzte sich vehement dafür ein, dass Huygens ein englisches Patent für seine neuartige Uhr erteilt würde. Hooke hatte, unmittelbar nachdem ihm Huygens Brief bekannt war, gemeinsam mit dem Londoner Uhrmacher Thomas Tompion begonnen, eine nach seinen Ideen arbeitende Uhr mit Federunruh herzustellen. Im April 1675 vermittelte Jonas Moore (1617–1679), der als Surveyor-General of the Ordnance die Verantwortung für die englische Militärforschung und -entwicklung trug, Hooke und Tompion eine Audienz beim englischen König, bei der sie ihm den Prototyp der Uhr vorstellten. Die dem König vorgestellte Uhr trug die Inschrift , erfunden durch R. Hooke 1658 und hergestellt durch T. Tompion 1675. Oldenburg drängte Huygens daraufhin, eine funktionsfähige Musteruhr nach England zu entsenden. Das von Huygens im Juni an Brounker geschickte Exemplar erwies sich als unzuverlässig, aber auch Hooke und Tompion mussten immer wieder Korrekturen an der vom König getesteten Uhr vornehmen. Um seinen Prioritätsanspruch nachzuweisen, nahm Hooke Einsicht in die Akten der Royal Society, konnte aber darin die von ihm durchgeführten Demonstrationen seiner federgetriebenen Uhr nicht finden. Er verdächtigte Oldenburg der Manipulation und des Verrats und tat dies in seinen Cutler-Vorlesungen Helioscopes und Lampas öffentlich kund. Der Council der Royal Society, der durch die Patentstreitigkeit ihren Ruf gefährdet sah, unterstützte Oldenburg und rügte sowohl Hooke als auch John Martyn, den Drucker der Royal Society. Als Hooke nach Oldenburgs Tod im Herbst 1677 zum Sekretär der Royal Society gewählt wurde, konnte er Einsicht in Oldenburgs Korrespondenz nehmen. Er fand darin zwei Briefe aus dem Jahr 1665, einen von Huygens an Oldenburg sowie einen von Moray an Huygens, aus denen hervorging, dass Huygens von beiden wichtige Informationen über Hookes Uhrenexperimente erhielt. Über die Beschreibung der Planetenbewegung Für Hooke verkörperte die Schwerkraft eines der universellsten Prinzipien. Bereits bei einem seiner ersten als Kurator der Royal Society Ende 1662 durchgeführten Experimente untersuchte er, ob bei einem in unterschiedlichen Höhen befindlichen Körper ein Gewichtsunterschied messbar sei, konnte jedoch keinen nachweisen. Etwas mehr als drei Jahre später wiederholte er ähnliche Experimente in einem tiefen Brunnen bei Banstead in der Grafschaft Sussex, erneut ergebnislos. Eine ebenfalls 1666 entstandene Idee Hookes, mit Hilfe der Schwingungsdauer eines Pendels eine Höhenabhängigkeit der Schwerkraft nachzuweisen, führte zu keinem messbaren Resultat. Als Astronom interessierte Hooke, wie sich die beobachtbaren Bewegungen der Himmelskörper erklären lassen. Am 23. Mai 1666 schlug er den versammelten Mitgliedern eine Deutung für die von Johannes Kepler beschriebenen Planetenbahnen vor. Die Bewegung der Planeten könne man sich als Überlagerung einer trägen geradlinigen Bewegung mit einer zum Zentrum der Sonne gerichteten Krümmung infolge der Anziehungskraft der Sonne vorstellen. In seiner Cutler-Vorlesung von 1674 konkretisierte Hooke seine Vorstellung über das Wirken der Gravitation weiter. Die Wirkung zwischen den Himmelskörpern erfolge unmittelbar und sie sei umso stärker, je näher sie einander seien. Ende November 1679 nahm Hooke in seiner Eigenschaft als neuer Sekretär der Royal Society erneut Kontakt mit Newton auf und ersuchte ihn, die frühere Korrespondenz mit der Gesellschaft wiederaufzunehmen. Beiläufig fragte Hooke Newton, was dieser von seiner These, der Zusammensetzung der Planetenbewegung aus einer Tangentialbewegung und Anziehungsbewegung zum Zentralkörper, halte. Newton antwortete, er hätte von Hookes These keinerlei Kenntnis und sei momentan an keinem naturphilosophischen Gedankenaustausch interessiert. Trotz Newtons anfänglich ablehnender Haltung entwickelte sich zwischen dem 24. November 1679 und dem 3. Dezember 1680 ein sieben Briefe umfassender Gedankenaustausch, der zu den einflussreichsten in der Geschichte der Physik zählt und in dessen Verlauf Hooke Newton am 6. Januar 1680 mitteilte „Meine Annahme ist jedoch, daß sich die Anziehung reziprok quadratisch zur Entfernung vom Zentrum verhält […]“. Im Januar 1684 trafen sich Hooke, Wren und Halley im Anschluss an ein Treffen der Royal Society in einem Londoner Kaffeehaus und diskutierten die Frage, ob die elliptische Form der Planetenbahnen durch eine Kraft bewirkt werden könne, die mit dem Quadrat des Abstands von der Sonne abnimmt. Hooke behauptete beiden gegenüber, dass er dies beweisen könne. Als Halley ein halbes Jahr später bei Newton in Cambridge zu Gast war, stellte er ihm die Frage, welche Form die Planetenbahnen unter der Wirkung einer solchen Kraft habe. Newton antwortete unverzüglich „eine Ellipse“ und teilte Halley mit, dass er eine diesbezügliche Berechnung durchgeführt habe. Er versprach Halley, ihm diese zuzusenden. Im November erhielt Halley Newtons neunseitige Abhandlung De motu corporum in gyrum (Über die Bewegung von Körpern auf einer Bahn), die ein Vorläufer von Newtons im Sommer 1687 erschienenem Hauptwerk Principia Mathematica ist. Halley, der den Druck von Newtons Principia finanzierte und die Drucklegung überwachte, teilte ihm im Mai 1686 mit, dass Hooke eine angemessene Erwähnung für seine Entdeckung erwarte. In seinen Briefen an Halley nannte Newton mehrere Argumente, um zu begründen, warum er Hooke die gewünschte Anerkennung versage, und aus seinem Manuskript tilgte er alle Stellen, in denen er noch mit Hochachtung auf Hooke Bezug genommen hatte. Über die Genauigkeit teleskopischer Beobachtungen Ende 1685 kulminierte mit dem Rücktritt der für die Philosophical Transactions verantwortlichen ehrenamtliche Sekretäre Francis Aston (1644–1715) und Tancred Robinson (um 1657–1748) der seit Jahren schwelende Streit zwischen Hooke und Johannes Hevelius um den Nutzen freiäugiger astronomischer Beobachtungen. Nachdem Hooke 1668 ein Exemplar von Hevelius’ Cometographia erhalten hatte, standen beide miteinander in Kontakt. Im Gegenzug schickte ihm Hooke eine Beschreibung seines Fernrohres. Er versuchte Hevelius, der ausschließlich mit dem bloßen Auge beobachtete, davon zu überzeugen, dass die Genauigkeit teleskopischer Beobachtungen um ein Vielfaches höher ist. 1673 veröffentlichte Hevelius sein Werk Machina Celestis, in welchem er seine Beobachtungsinstrumente beschrieb und das einen Teil seiner jahrzehntelangen Beobachtungsergebnisse enthielt. Sein Werk wurde von vielen Mitgliedern der Royal Society, darunter Edmond Halley, mit Bewunderung aufgenommen. Hooke hingegen übte in seiner Cutler-Vorlesung Animadversions on the First Part of the Machina Coelestis des folgenden Jahres scharfe Kritik an Hevelius’ Werk. Am 17. Januar 1674 demonstrierte er den Mitgliedern der Royal Society, dass das menschliche Auge nur Winkelabstände von etwa einer Winkelminute auflösen kann. Hevelius hingegen behauptete, seine mit bloßen Augen gemachten Beobachtungen würden eine Genauigkeit von einigen Winkelsekunden aufweisen. Im Herbst 1685 erschien in den Philosophical Transactions eine anonyme, wahrscheinlich von John Wallis verfasste, Besprechung von Hevelius letztem Werk Annus Climactericus. Die Besprechung enthielt Auszüge aus zahlreichen Briefen Hevelius, in denen dieser Hookes Kompetenz als Astronom offen in Frage stellte. Die persönlichen Angriffe auf Hooke und deren Veröffentlichungen in den Philosophical Transactions führten schließlich zum Eklat, in dessen Folge Edmond Halley als bezahlter Clerk der Royal Society angestellt und mit der Herausgabe der Philosophical Transactions betraut wurde. Letzte Jahre Die Prioritätsstreitigkeiten ließen Hooke vorsichtiger werden. So verschlüsselte er beispielsweise die einzige heute noch mit seinem Namen verbundene Entdeckung 1676 am Ende seiner Abhandlung A Description of Helioscopes als folgendes Anagramm „ceiiinosssttuu“. Erst zwei Jahre später legte er in Lectures de Potentia Restitutiva den Wortlaut des hookeschen Gesetzes offen: „ut tensio sic vis“ – wie die Dehnung, so die Kraft. Ende 1682 ließ sich Hooke von seinen Pflichten als Sekretär der Royal Society entbinden, war aber bis 1699 noch mehrfach Mitglied des Councils. 1681 erfand er die Irisblende und erdachte 1684 ein System zur optischen Übermittlung von Nachrichten. 1687 starb Hookes Nichte Grace, die ihm seit fast 15 Jahren den Haushalt geführt hatte und seine Geliebte war. Ihr Tod bewirkte einen tiefgreifenden Wandel seiner Persönlichkeit. Der gepflegte, umgängliche und weltoffene Hooke wurde melancholisch und zynisch. Nach der Glorious Revolution von 1688/1689 musste er außerdem mit ansehen, wie seine Widersacher Newton und Huygens immer mehr an Einfluss gewannen. Für seine Mitwirkung an der Errichtung des Almshouses Aske’s Hospital in Hoxton wurde Hooke vom Erzbischof von Canterbury John Tillotson (1630–1694) der Titel eines Doktors der Medizin zuerkannt. Den dafür notwendigen Eid legte er am 7. Dezember 1691 vor Charles Hedges (1650–1714) in Doctors’ Commons ab. Bis zuletzt setzte er seine Vorlesungstätigkeit sporadisch fort. Die Inhalte seiner Diskurse wurden jedoch zunehmend metaphysischer. 1692 referierte Hooke über den Turmbau zu Babel und im darauf folgenden Jahr über Ovids Metamorphosen. 1693 beendete er schließlich seine Tätigkeit für Wren, da er die Baugerüste nicht mehr erklettern konnte. In den letzten Monaten vor seinem Tod verschlechterte sich der Zustand von Hookes Gesundheit, die in den vergangenen Jahren durch seine lediglich aus Milch und Gemüse bestehende Ernährung und die fortlaufende Selbstmedikation ohnehin gelitten hatte, zusehends. Er verstarb am 3. März 1703 in seinen Räumen im Gresham College. Sein Freund Robert Knox und sein Assistent Harry Hunt (1635–1713) bahrten den Leichnam auf und versiegelten seine Räume, um Diebstahl zu verhindern. Hooke wurde in der St. Helens Church in der Bishopsgate Street beerdigt. Seine Überreste wurden 1891 gemeinsam mit denen von etwa 300 weiteren Personen in ein Massengrab auf dem Friedhof der Stadt London in Manor Park umgebettet, als der Fußboden der Kirche erneuert wurde. Rezeption und Nachwirkung Rehabilitation 1705 veröffentlichte Richard Waller, ein enger Freund Hookes, dessen wichtigste nachgelassene Schriften. Ihnen stellte er eine kurze Biografie voran, die teilweise auf Hookes fragmentarischer Autobiografie beruhte. William Derham versammelte 1726 zahlreiche kleine Beiträge von Hooke in einem weiteren Nachlassband. Die von John Aubrey, ebenfalls ein guter Freund Hookes, für den Antiquar Anthony Wood (1632–1695) zusammengetragenen biografischen Daten wurden in der ersten Auflage von Woods Athenae Oxonienses (1691–1694) nicht verwendet. Erst in der posthum erschienenen zweiten Auflage von 1721 gibt es einen kurzen Eintrag zu Hookes Leben. Eine vollständige Edition der in der Bodleian Library aufbewahrten Manuskripte Aubreys gab Andrew Clark 1898 unter dem Titel Brief Lives heraus. Bis in die 1930er Jahre geriet Hooke weitestgehend in Vergessenheit. Erst im Vorfeld des 300. Jahrestages seiner Geburt kam es zu einer ersten Aufarbeitung seiner Beiträge für die moderne Wissenschaft. Robert Gunther machte von 1930 bis 1938 in mehreren Bänden seiner Early Science in Oxford die schwer zugänglichen Schriften Hookes wieder für die Forschung verfügbar. Henry William Robinson und Walter Adams publizierten 1935 große Teile des 1891 in Harlow aufgefundenen und von der Corporation of the City of London angekauften Tagebuchs Hookes. Diese Tagebucheinträge umfassten den Zeitraum von 1672 bis 1680. Gunther ergänzte im gleichen Jahr diese Edition um die Veröffentlichung weiterer Einträge aus den Jahren 1688 bis 1690 und 1692 bis 1693. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch Edward Andrades eindringliche Wilkins-Vorlesung vom 15. Dezember 1949 vor der Royal Society das Interesse an Hooke neu belebt. Eine erste ausführliche, von Margaret Espinasse verfasste Biografie erschien 1956. Der Zugriff auf seine umfassende Arbeit für die Royal Society wurde 1968 durch den Nachdruck von Thomas Birchs vierbändigen Werk The history of the Royal Society of London for improving of natural knowledge, das detailliert die ersten Jahrzehnte der Arbeit der Royal Society protokolliert, erleichtert. In den 1960er und 1970er Jahren untersuchten Historiker die Frühgeschichte der Royal Society unter neuen, breiter gefächerten Gesichtspunkten. Michael Hunters verfasste ein Buch über die ersten Mitglieder der Royal Society, R. E. W. Maddison, Jim Bennett und Richard S. Westfall schrieben umfassende Biografien über Boyle, Wren und Newton, in denen auch Hookes Briefe an Boyle, Newton, Oldenburg, Flamsteed, Huygens und andere veröffentlicht wurden. Zahlreiche Einzelstudien untersuchten in diesen Jahren Hookes Beiträge zur Entwicklung wissenschaftlicher Instrumente (Barometer, Mikroskop, Teleskop, Zeitmesser), seine Leistungen als Architekt und Kartograph sowie als Forscher auf den Gebieten der Optik, des Magnetismus, der Mechanik, Chemie, Geologie und seinem naturphilosophischen Interesse an einer universellen Sprache, einer „Philosophischen Algebra“. Die British Society for the History of Science organisierte eine erste, ausschließlich Hooke gewidmete wissenschaftliche Konferenz, die vom 19. bis 21. Juli 1987 an der Royal Society in London abgehalten wurde. In den 1990er Jahren wuchs das Interesse an Hooke weiter. In einem 1996 erschienenen Buch untersuchte Ellen Tan Drake beispielsweise dessen Rolle bei der Begründung der Geologie. Michael Cooper beleuchtete in seiner 1999 beendeten Dissertation seine umfassende Tätigkeit als Landvermesser und Architekt beim Wiederaufbau Londons. Ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Leistungen Hookes und seine Würdigung als bedeutender Naturforscher seiner Zeit zu seinem 300. Todestag im Jahr 2003. Es erschienen zwei von Stephen Inwood und Lisa Jardine verfasste Biografien über ihn. Am Nachmittag des 3. März 2003 fand im einzigen vollständig erhaltenen, von Hooke konzipierten Gebäude, der Willen Parish Church in Milton Keynes, ein Gedenkgottesdienst statt. Vom 6. bis 9. Juli 2003 waren die Royal Society und das Gresham College Gastgeber einer Internationalen Konferenz mit dem Titel Restoring The Reputation Of Robert Hooke, die mit Unterstützung durch die Royal Academy of Engineering ausgerichtet wurde. Unter der Schirmherrschaft der Christ Church wurde am 2. Oktober 2003 ein Symposium Robert Hooke and the English Renaissance abgehalten, das sich ebenfalls mit neuen Erkenntnissen zu Hookes Wirken beschäftigte. Bildnis Bisher ist kein zeitgenössisches Bildnis von Robert Hooke aufgefunden worden. Am 5. Juli 1710 besuchte der Frankfurter Ratsherr und Jurist Zacharias Konrad von Uffenbach (1683–1734) im Gresham College die Räumlichkeiten der dort noch tagenden Royal Society und vermerkte in seinem Reisebericht: Dies ist einer der wenigen Hinweise darauf, dass es ein solches Bildnis tatsächlich gegeben haben muss. Es ging vermutlich beim von Newton überwachten Umzug der Royal Society nach Crane Court verloren. In ihrer Ausgabe vom 3. Juli 1939 druckte das US-amerikanische Magazin Time ein Porträt mit der Bildunterschrift Scientist Hooke ab. Nachforschungen durch Ashley Montagu zeigten jedoch, dass es sich hierbei nicht um ein Bildnis Hookes handelt. Die britische Historikerin Lisa Jardine stieß während ihrer Recherchen für ihr Buch The curious life of Robert Hooke im Bestand des Natural History Museum auf ein mit „John Ray“ betiteltes und der Malerin Mary Beale (1632/3–1699) zugeschriebenes Porträt, von dem sich herausstellte, dass es nicht den englischen Naturforscher darstellt. Aufgrund weiterer Indizien, beispielsweise gibt es in Hookes Tagebuch Hinweise darauf, dass sich Robert Boyle von Mary Beale porträtieren ließ, schloss Lisa Jardine, dass es sich um das verschollene Bildnis von Robert Hooke handeln müsse. Kurz nach Erscheinen ihres Buches, für das dieses Porträt als Bucheinband verwendet wurde, konnte William B. Jensen von der University of Cincinnati anhand zweier Kupferstiche das Bildnis dem Flamen Johan Baptista van Helmont zuordnen. Etwa 2003 wurde im County Record Office der Isle of Wight ein auf den 2. Februar 1684/5 datiertes Dokument Hookes entdeckt, das neben seiner Unterschrift auch einen Abdruck eines Siegels trägt, das einen Mann im Profil darstellt. Ob es sich hierbei um ein Porträt Hookes handeln könnte, ist ungeklärt. Anlässlich der Aktivitäten zum 300. Todestag von Robert Hooke wurde unter dem Titel Portraying Robert Hooke – Recreating the Hidden Genius ein Wettbewerb veranstaltet, bei dem ein neues, modernes Porträt Robert Hookes geschaffen werden sollte. Die Royal Institution of Chartered Surveyors und die Royal Society hatten zu diesem Zwecke ein Preisgeld in Höhe von 500 Pfund gestiftet. Sieger war das Hooke-Porträt von Guy Heyden. Nachlass Robert Hooke starb ohne ein unterzeichnetes Testament. In einem später aufgefundenen Testamentsentwurf plante er sein Vermögen unter vier Freunden aufzuteilen, setzte jedoch noch keine Namen ein. Der Antiquar und Topograf Thomas Kirke (1650–1706) mutmaßte in einem Brief an Godfrey Copley, dass dies Christopher Wren, John Hoskyns (1634–1705), Robert Knox und der Instrumentenbauer Reeve Williams (?–1703) seien. Hooke hinterließ ein beachtliches Vermögen von 9580 Pfund, davon 8000 Pfund, die er in bar in einer einfachen Holztruhe aufbewahrte. Sein Besitz ging an Verwandte von der Isle of Wight: seine Cousine Elizabeth Stephens, eine Tochter des Bruders von Hookes Vater, und deren Tochter Mary Dillon sowie Anne Hollis, eine Tochter des Bruders von Hookes Mutter. 1707 kam es zu Streitigkeiten um Hookes Erbe, als Anne Hollis Bruder, der nach Virginia ausgewanderte Thomas Gyles, von Hookes Nachlass erfuhr und vor Gericht klagte. Hookes Bibliothek bestand aus über 500 Foliobänden, 1310 Quartbänden, 845 Bänden im Oktavformat und 393 Bänden im Duodezformat. Sie gelangte am 29. April 1703 zur Versteigerung und erzielte einen Erlös von 250 Pfund. Hookes unveröffentlichte Schriften gingen in den Besitz von Richard Waller über, der im Dezember 1708 von Elizabeth Stephens auch dessen Tagebuch erhielt. William Derham erhielt nach Wallers Tod Papiere aus Hookes Nachlass von Wallers Schwager Jonas Blackwell (?–1754). Hookes Tagebuch wurde 1891 in Harlow aufgefunden und befindet sich heute in der Guildhall Library von London. Bei einer routinemäßigen Wertermittlung in einem Landhaus in Hampshire wurden im Januar 2006 Papiere entdeckt, die sich bald als verloren geglaubte Papiere aus dem Besitz von Robert Hooke herausstellten. Der sogenannte „Hooke Folio“ sollte am 28. März in der New Bond Street in London versteigert werden. Der Präsident der Royal Society, Martin Rees, bat öffentlich um Spenden, damit die Royal Society die Papiere für ihr Archiv erwerben könnte. Über 150 Spender, darunter eine Großspende des Wellcome Trust, ermöglichten kurz vor Auktionsbeginn den Ankauf des „Hooke Folio“ für 937.074 Pfund. Dem „Hooke Folio“ ist ein von William Derham angefertigter Index beigefügt. Er besteht aus zwei Teilen. Die ersten einhundert Seiten bestehen aus Notizen Hookes, die er nach dem Tode von Henry Oldenburg aus den Berichten der Royal Society exzerpierte, um seine Prioritätsansprüche beweisen zu können. Bei den übrigen etwa 400 Seiten handelt es sich um von Hooke von Januar 1678 bis November 1683 in seiner Tätigkeit als Sekretär während der wöchentlichen Treffen der Royal Society angefertigten Notizen. Der „Hooke Folio“ gilt als der bedeutendste Manuskriptfund der letzten 50 Jahre, der mit der Frühgeschichte der Royal Society in Verbindung steht. Eine 1996 von der Kunstsammlung Tate Britain erworbene und mit „R:Hook“ signierte Zeichnung Three Heads and Two Figure Studies wurde 2010 von Matthew C. Hunter Robert Hooke zugeschrieben. Würdigung Der Asteroid Hooke sowie der Mondkrater Hooke und der Marskrater Hooke wurden nach Robert Hooke benannt. Ebenso der Hooke Point, eine Landspitze an der Westküste der Antarktischen Halbinsel. Die Westminster School London gab ihrem 1986 eröffneten Wissenschaftszentrum den Namen Robert Hooke Science Center. Die Hooke Medal der British Society for Cell Biology erinnert an Hookes Beiträge zur Mikroskopie. Das Hooke-Element stellt in den rheologischen Modellen die ideale Elastizität dar. Schriften Bücher Zu Lebzeiten: An Attempt for the Explication of the Phaenomena, observable in an Experiment published by the Honourable Robert Boyle, Esq. London 1661. Micrographia: or, Some physiological descriptions of minute bodies made by magnifying glasses. London 1665, (online). Veröffentlichte Cutler-Vorlesungen: An Attempt To prove the Motion of the Earth from Observations. London 1674, (online). Animadversions on the first part of the Machina coelestis… London 1674. A Description of Helioscopes and some other Instruments. London 1676, (online). Lampas: or, Descriptions of some Mechanical Improvements of Lamps & Waterpoises. Together with some other Physical and Mechanical discoveries. London 1677. Lectures and collections. Cometa … Microscopium… London 1678. Lectures de potentia restitutiva, or, of Spring: explaining the power of springing bodies: to which are added some collections. London 1678. Lectiones Cutlerianae, or a Collection of Lectures: Physical, Mechanical, Geographical & Astronomical… John Martyn, London 1679, (). – Die sechs Cutler-Vorlesungen in einem Band Posthum: Richard Waller (Hrsg.): The posthumous works of Robert Hooke. London 1705, (online). William Derham (Hrsg.): Philosophical experiments and observations of the late eminent Dr. Robert Hooke… W. & J. Innys, London 1726 (). In Publikationen der Royal Society (Auswahl) A Spot in One of the Belts of Jupiter. In: Philosophical Transactions. Band 1, Nummer 1, 6. März 1665, S. 3, doi:10.1098/rstl.1665.0005. Mr. Hook’s Answer to Monsieur Auzout’s Considerations, in a Letter to the Publisher of These Transactions. In: Philosophical Transactions. Band 1, Nummer 4, 5. Juni 1665, S. 64–69, doi:10.1098/rstl.1665.0029. The Particulars. Of Those Observations of the Planet Mars, Formerly Intimated to Have Been Made at London in the Months of February and March A. 1665/6. In: Philosophical Transactions. Band 1, 1665, S. 239–242, doi:10.1098/rstl.1665.0101. Some New Observations about the Planet Mars, Communicated Since the Printing of the Former Sheets. In: Philosophical Transactions. Band 1, Nummer 11, 2. April 1666, S. 198, doi:10.1098/rstl.1665.0085. A New Contrivance of Wheel-Barometer, Much More Easy to be Prepared, Than That, Which is Described in the Micrography; Imparted by the Author of That Book. In: Philosophical Transactions. Band 1, Nummer 13, 4. Juni 1666, S. 218–219, doi:10.1098/rstl.1665.0095. Some Observations Lately Made at London Concerning the Planet Jupiter. In: Philosophical Transactions. Band 1, Nummer 14, 2. Juli 1666, S. 245–247, doi:10.1098/rstl.1665.0103. Observations Made in Several Places, of the Late Eclipse of the Sun, Which Hapned on the 22 of June, 1666. In: Philosophical Transactions. Band 1, Nummer 17, 9. September 1666, S. 295–297, doi:10.1098/rstl.1665.0111. More Wayes for the Same Purpose, Intimated by M. Hook. In: Philosophical Transactions. Band 2, Nummer 25, 6. Mai 1667, S. 459, doi:10.1098/rstl.1666.0018. An Account of an Experiment Made by Mr. Hook, of Preserving Animals Alive by Blowing through Their Lungs with Bellows. In: Philosophical Transactions. Band 2, Nummer 28, 21. Oktober 1667, S. 539–540, doi:10.1098/rstl.1666.0043. A Description of an Instrument for Dividing a Foot into Many Thousand Parts, and Thereby Measuring the Diameters of Planets to a Great Exactness, &c. as It Was Promised, Numb. 25. In: Philosophical Transactions. Band 2, Nummer 29, 11. November 1667, S. 541–556, doi:10.1098/rstl.1666.0044. A Contrivance to Make the Picture of Any Thing Appear on a Wall, Cub-Board, or within a Picture-Frame, &c. in the Midst of a Light Room in the Day-Time; Or in the Night-Time in Any Room That is Enlightned with a Considerable Number of Candles. In: Philosophical Transactions. Band 3, Nummer 38, 17. August 1668, S. 741–743, doi:10.1098/rstl.1668.0031. Some Communications, Confirming the Present Appearance of the Ring about Saturn, by M. Hugens de Zulechem and Mr. Hook. In: Philosophical Transactions. Band 5, Nummer 65, 14. November 1670, S. 2093, doi:10.1098/rstl.1670.0065. – mit Christiaan Huygens Observations Made by Mr. Hook, of Some Spots in the Sun, Return’d after they Had Passed Over the Upper Hemi Sphere of the Sun Which is Bid from Us; According as Was Predicted. In: Philosophical Transactions. Band 6, Nummer 77, 20. November 1671, S. 2295–3001, doi:10.1098/rstl.1671.0054. An Account of What Bath Been Observed Here in London and Derby, by Mr. Hook, Mr. Flamstead, and Others, Concerning the Late Eclipse of the Moon, of Jan. 1. 1674/5. Band 9, Nummer 111, 22. Februar 1675, S. 237–238, doi:10.1098/rstl.1674.0052. – mit John Flamsteed und Ismael Boulliau A Way of helping Short-sightedness. In: Philosophical Collections. Nummer 3, London 1681, S. 59 ff. (). Of the best Form of Horizontal Sails for a Mill, and of the inclined Sails of Ships. In: Philosophical Collections. Nummer 3, London 1681, S. 61 ff. (). Description of An Invention, Whereby the Divisions of the Barometer May be Enlarged in Any Given Proportions; Produced before the Royall Society By Mr. Robert Hook R. S. Soc. and Profess. Geom. Gresham. In: Philosophical Transactions. Band 16, 1686, S. 241–244, doi:10.1098/rstl.1686.0043. An Account of Dr Robert Hook’s Invention of the Marine Barometer, with Its Description and Uses, Published by Order of the R. Society, by E. Halley, R. S. S. In: Philosophical Transactions. Band 22, Nummer 269, 1700–1701, S. 791–794, doi:10.1098/rstl.1700.0074. – mit Edmond Halley Bauten (Auswahl) 1671–1676: The Monument to the Great Fire of London, Fish Street Hill, London 1672–1678: Royal College of Physicians, Warwick Lane, London 1675–1676: Bethlem Royal Hospital, London 1675–1679: Montague House, Bloomsbury, London 1679–1683: Ragley Hall, Warwickshire 1680: Willen Church, Buckinghamshire 1690–1693: Almshouses Aske’s Hospital, Hoxton, London Literatur Biografien Edward Andrade: Wilkins Lecture: Robert Hooke. In: Proceedings of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences. Band 137, Nummer 887, 1950, S. 153–187, JSTOR:82545. Andrew Clark (Hrsg.): ‘Brief Lives’ chiefly of contemporaries, set down by John Aubrey between the Years 1669 & 1696. Clarendon Press, Oxford 1898, S. 409–416, (online). Margaret 'Espinasse: Robert Hooke. William Heinemann, London 1956. Stephen Inwood: The man who knew too much. The strange and inventive life of Robert Hooke (1635–1703). Macmillan, London 2002, ISBN 0-333-78286-0. Lisa Jardine: The curious life of Robert Hooke: the man who measured London. HarperCollins, 2003, ISBN 0-00-714944-1. Robert D. Purrington: The First Professional Scientist: Robert Hooke and the Royal Society of London. Springer, Basel 2009, ISBN 978-3-0346-0036-1. Tagebücher Robert Theodore Gunther (Hrsg.): Later Diary. In: Early Science in Oxford. Band 10, S. 69–265, Oxford 1935. – 1. November 1688 bis 9. März 1690 und 6. Dezember 1692 bis 8. August 1693. Felicity Henderson: Unpublished Material from the Memorandum Book of Robert Hooke, Guildhall Library MS1758. In: Notes and Records of the Royal Society of London. Band 61, Nummer 2, 2007, S. 129–175, doi:10.1098/rsnr.2006.0173 – 10. März bis 31. Juli 1672 und Januar 1681 bis Mai 1683. Henry William Robinson, Walter Adams (Hrsg.): The diary of Robert Hooke, M.A., M.D., F.R.S., 1672–1680: transcribed from the original in the possession of the Corporation of the city of London. Taylor & Francis, London 1935. – März 1671/2 bis Mai 1683. Bibliografie Geoffrey Keynes: A Bibliography of Dr. Robert Hooke. Clarendon Press, 1960. Neudrucke Robert T. Gunther: Early Science in Oxford. Band 6: The life and work of Robert Hooke (Part 1). Oxford University Press, Oxford 1930. Band 7: The life and work of Robert Hooke (Part 2). Oxford University Press, Oxford 1930. Band 8: The Cutler lectures of Robert Hooke. Oxford University Press, Oxford 1931. Band 10: The life and work of Robert Hooke. (Part 4) Tract on capillary attraction, 1661; Diary, 1688–1693. Oxford University Press, Oxford 1935. Band 13: The life and work of Robert Hooke (Part 5) Micrographia, 1665. Oxford University Press, Oxford 1938. Zur Rezeption seines Werkes (Auswahl) Jim Bennett, Michael Cooper, Michael Hunter, Lisa Jardine: London’s Leonardo: the life and work of Robert Hooke. Oxford University Press, 2003, ISBN 0-19-852579-6. Allan Chapman: England’s Leonardo: Robert Hooke and the seventeenth-century scientific revolution. Institute of Physics, Bristol 2005, ISBN 0-7503-0987-3. Michael Cooper: ‘A more beautiful city.’ Robert Hooke and the rebuilding of London after the Great Fire. Sutton Publishing, Stroud 2003, ISBN 0-7509-2959-6. Michael Cooper, Michael Cyril William Hunter (Hrsg.): Robert Hooke: Tercentennial studies. Ashgate Publishing Ltd., 2006, ISBN 0-7546-5365-X. Ellen T. Drake: Restless genius: Robert Hooke and his earthly thoughts. Oxford University Press, 1996, ISBN 0-19-506695-2. Ofer Gal: Meanest foundations and nobler superstructures: Hooke, Newton and the compounding of the celestiall motions of the planetts. Springer, Dortrecht 2002, ISBN 1-4020-0732-9. Michael Hunter, Simon Schaffer: (Hrsg.): Robert Hooke: New Studies. Boydell Press, Woodbridge 1989, ISBN 0-85115-523-5. Paul Welberry Kent, Allan Chapman (Hrsg.): Robert Hooke and the English renaissance. Gracewing Publishing, 2005, ISBN 0-85244-587-3. Richard Nichols (Hrsg.): The diaries of Robert Hooke, the Leonardo of London, 1635–1703. Book Guild, 1994, ISBN 0-86332-930-6. Robert D. Purrington: The First Professional Scientist: Robert Hooke and the Royal Society of London. Birkhäuser Verlag AG, Basel/Boston/Berlin 2009, ISBN 978-3-0346-0036-1. Leona Rostenberg: The library of Robert Hooke: the scientific book trade of Restoration England. Modoc Press, Santa Monica 1989, ISBN 0-929246-01-2. Einzelnachweise Weblinks www.roberthooke.org.uk Michael Cooper: Now the dust has settled: A view of Robert Hooke post-2003. Gresham-Vorlesung vom 5. November 2008. The Hooke Folio Online Physiker (17. Jahrhundert) Persönlichkeit der Lichtmikroskopie Botaniker (17. Jahrhundert) Hochschullehrer (Gresham College, London) Mitglied der Royal Society Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person als Namensgeber für einen Marskrater Person als Namensgeber für einen Mondkrater Engländer Geboren 1635 Gestorben 1703 Mann
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Türkenbund
Der Türkenbund (Lilium martagon), oder auch Türkenbund-Lilie, ist eine Pflanzenart aus der Gattung der Lilien (Lilium) in der nach ihr benannten Martagon-Sektion. Durch ihre auffällig geformten Blüten und große Wuchshöhe gilt sie als eine der stattlichsten in Europa heimischen Lilien. Beschreibung Der Türkenbund ist eine ausdauernde, krautige Pflanze, die Wuchshöhen zwischen 30 und 150 Zentimetern, selten bis 200 Zentimeter, erreicht. Die ovale Zwiebel kann bis acht Zentimeter Durchmesser erreichen und besteht aus vielen gelben taillierten Schuppen. Sie zeichnet sich wie viele Geophyten durch Zugwurzeln aus, die dafür sorgen, dass die Zwiebel in ausreichender Bodentiefe bleibt. Der einfache, kräftige Stängel ist rund und meist rotfleckig. Der Stängel ist besonders unten dichter beblättert. In der Stängelmitte stehen die Blätter in vier bis acht Scheinquirlen aus acht bis vierzehn Blättern, die von unten nach oben kleiner werden, sonst sind diese wechselständig angeordnet. Die lanzettlichen Laubblätter werden etwa 15 Zentimeter lang und 5 Zentimeter breit. Sie sind glattrandig und kahl. Zwischen Juni und August erscheinen in einem rispigen Blütenstand bis zu sechzehn duftende, nickende Blüten. In freien Lagen, etwa auf sonnigen Bergwiesen, kann eine Pflanze jedoch auch bis zu zwanzig Blüten entwickeln. Die zwittrigen, dreizähligen Blüten haben sechs nach unten und außen gebogene, gleichgeformte Blütenhüllblätter (Tepalen). Die Tepalen sind dabei so stark nach außen und rückwärts gebogen, dass ihre Spitzen am Stiel aufeinander treffen, wodurch sich die typische Turbanform ergibt. Die Blüten sind meist fleischrosa, manchmal auch trübviolett bis hell braunrot. Nur sehr selten sind sie weiß. Die linearen bis länglich-runden Blütenhüllblätter sind 30 bis 45 Millimeter lang und 6 bis 10 Millimeter breit und haben eine in der Regel dunkle Punktierung in unterschiedlichen Größen von kleinsten Sprenkeln bis hin zu großen Flecken. Das Perigon als Ganzes hat einen Durchmesser von etwa drei bis sechs Zentimeter. Der stets von der Blütenstandsachse weggebogene, 18 bis 20 Millimeter lange Griffel und die sechs 18 bis 22 Millimeter langen Staubblätter mit roten, 6 bis 11 Millimeter langen Staubbeuteln ragen weit aus der Blüte hervor. Die Pollen sind rotorange. Die Früchte sind dreifächrige Kapseln, die etwa ab September reifen und pro Frucht bis zu 100 Samen enthalten können. Die Pflanze verbreitet die Samen als Schüttelstreuer (Windstreuer und Tierstreuer). Die flachen Samen sind geflügelt, wodurch sie sich zusätzlich als sogenannte Scheibenflieger ausbreiten können. Bei Nässe ist überdies eine Wasserhaftausbreitung möglich. Die Samen sind Dunkelkeimer und keimen verzögert-hypogäisch. Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 24. Blütenökologie Der Türkenbund verströmt besonders abends und auch nachts einen schweren, süßen Duft, der vor allem langrüsselige Schmetterlinge, wie zum Beispiel Schwärmer (Sphingidae) anlockt. Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum) und die Schwärmer der Gattung Sphinx zählen zu den Hauptbestäubern. Im unteren Abschnitt der Blütenhüllblätter befindet sich in der Mitte eine Nektarrinne, die von zwei Leisten gebildet wird. In dieser Rinne sammelt sich dann der Nektar, der von Zellen am Rand gebildet wird. Zusätzlich werden diese Rinnen von Haaren verdeckt, wodurch in Frage kommende Insekten ihren langen Rüssel in die 10 bis 15 Millimeter lange Rinne einführen müssen. Da die Blüten nach unten hängen und zusätzlich mit einem öligen Überzug das Festkrallen erschweren, fällt es vor allem Schwärmern leicht, an den Nektar zu gelangen, da sie freischwebend an Blüten saugen. Überdies können sich Eulenfalter (Noctuidae), unter anderen der Schatten-Mönch (Cucullia umbratica), mit den Vorderfüßen festhaken, zur Unterstützung mit den Flügeln schwirren und somit ebenfalls zur Bestäubung beitragen. Blüten, die seitlich abstehen, können auch von Tagfaltern bestäubt werden. Verwandte Arten des Türkenbunds werden in Kalifornien von Kolibris (Trochilidae) besucht. Beim Anflug wird zuerst Fremdpollen auf die Narbe übertragen. Während der Nektaraufnahme wird dann der Pollen der gerade besuchten Pflanze bei Berührung der Staubbeutel auf Kopf und Körper der Insekten übertragen. Durch den Bau der Blüte kann jederzeit Pollen auf die Narbe gelangen, wodurch eine Selbstbestäubung möglich ist. Die Selbstbefruchtung wird jedoch durch Selbststerilität verhindert. Die Pflanze kann durch die kräftigen und grünen Blätter auch im schattigen Wald gedeihen, es entwickeln sich dann aber oft nur wenige Blüten oder die Pflanzen gelangen überhaupt nicht zur Blüte. Natürliche Feinde Die Knospen werden gerne von Rehen (Capreolus capreolus) gefressen. Eine weitere Schädigung tritt durch das Lilienhähnchen (Lilioceris lilii) auf, einen Käfer, der selbst und dessen Larven die Blütenstände durchtrennen, aber auch bereits zuvor die Pflanzen so sehr schädigen können, dass sie nicht mehr zur Blüte gelangen. Verbreitung Der Türkenbund weist eine eurasiatische Verbreitung mit kontinentaler Tendenz auf. Das Gebiet umfasst große Teile Europas, es reicht von Portugal als westlichstem Standort bis in die sibirische Taiga, südlich über den Balkan bis zum Kaukasus, Ausnahmen sind das westliche Nordeuropa sowie Mittel- und Süditalien. Die nordöstliche Grenze seines Verbreitungsgebietes markiert der sibirische Fluss Jenissei, südlich davon findet er sich von der Mongolei über China bis nach Japan. In Skandinavien ist diese Pflanzenart nur eingebürgert. In Deutschland ist der Türkenbund von der Ebene bis ins Gebirge, vor allem in den Kalkgebieten, verbreitet, ferner auch im Südschwarzwald (bis 1450 Meter). Generell ist die Art im Norden und Westen selten und fehlt dort in weiten Bereichen. In den deutschen Alpen steigt sie bis auf 1950 Meter, in anderen Alpengebieten auf bis zu 2300 Meter, in den Allgäuer Alpen in Vorarlberg an der Höferspitze bis zu 2130 m über Meereshöhe auf. In Deutschland erreicht sie u. a. in Westfalen den Nordwestrand ihrer Gesamtverbreitung. Ein großes Vorkommen von mehreren hundert Exemplaren findet sich im Naturschutzgebiet Oberhagen bei Warstein. Dieses Vorkommen gilt als nordwestlichster Standort der Türkenbundlilie in Deutschland und ist derzeit akut von der Zerstörung bedroht (siehe Oberhagen). Ein auch sehr ansehnliches Gebiet ist bei Ballenstedt, unterhalb der Gegensteine zu finden. Im Naturschutzgebiet Zehling stehen mehrere hundert Pflanzen. In Österreich ist die Art häufig bis zerstreut in allen Bundesländern von der collinen bis subalpinen Höhenstufe. Standort Die Pflanze gedeiht in krautreichen Laub- oder Nadelwäldern auf Kalk- und Urgesteinsböden in halbschattiger, kühler Lage. Nur im Bergland wächst sie oberhalb des montanen Waldes in freien Lagen auf Wiesen und Matten, insbesondere in Hochstauden-Gesellschaften. Hier ist die Pflanze selten bis mäßig häufig, wächst jedoch oft gesellig. Nach den pflanzensoziologischen Einheiten nach Oberdorfer ist die Türkenbundlilie eine schwache Charakterart der mesophytischen Buchenwälder (Ordnung Fagetalia sylvaticae Pawl. 28) und kommt auch in hochmontanen bis subalpinen Hochstaudenfluren und Gebüschen (Klasse Betulo-Adenostyletea (Br.-Bl. et. Tx. 1943)) vor. Als Mullbodenpflanze bevorzugt sie sickerfrische, nährstoff- und basenreiche (aber auch mild-mäßig saure) Ton- und Lehmböden, die locker und mehr oder weniger tiefgründig sind. Die Zeigerwerte nach Ellenberg, die das ökologische Verhalten zusammenfassen, lauten: L-4, T-x, K-5, F-5, R-7, N-5. Sie weisen den Türkenbund als Schatten- bis Halbschattenpflanze, Frischezeiger, Schwachsäure- bis Schwachbasenzeiger und Mäßigstickstoffzeiger aus. Systematik Lilium martagon wurde 1753 von Carl von Linné in Species Plantarum, Band 1, S. 303, erstveröffentlicht. Synonyme sind Lilium caucasicum und Lilium versicolor (nom. superfl.). Wegen seines Formenreichtums, der sich durch die weite geografische Verbreitung ergibt, sind zahlreiche Untertaxa unterschieden worden, die heutzutage zumeist verworfen werden. Unklarheit besteht allerdings bezüglich der Frage, welche Untertaxa anerkennungswürdig sind, so akzeptiert die World Checklist of Selected Plant Families neben der Nominatform nur Lilium martagon var. pilosiusculum, das Germplasm Resources Information Network jedoch fünf weitere Varietäten (var. albiflorum, var. album, var. cattaniae, var. hirsutum, var. sanguineopurpureum). Eine endgültige Klärung der Frage steht aus. Nachfolgend finden sich daher nur die am häufigsten angeführten Varietäten kurz erläutert: Lilium martagon var. album : mit reinweißen Blüten, grüner Nektarrinne und hellgrünen Blättern. In allen Teilen kleiner und mit fast weißen Samen. Lilium martagon var. cattaniae : In allen Teilen größer (bis 200 cm), in Gebirgen Dalmatiens mit behaarten, äußerst dunkel-violetten Blüten und fast schwarzem Stängel. Lilium martagon var. pilosiusculum : Sibirien, Mongolei, China: Mit deutlich schmaleren Blättern, stark wollig behaarten Hochblättern und Knospen. In allen Teilen kleiner (bis 90 cm hoch). Gefährdung und Status Der Türkenbund gilt in Deutschland nicht als gefährdet, ist jedoch nach der Bundesartenschutzverordnung besonders geschützt. Rote Liste Bundesländer: Baden-Württemberg: vorkommend (indigen oder Archaeophyt) und ungefährdet Bayern: vorkommend (indigen oder Archaeophyt) und ungefährdet Berlin: stark gefährdet (2006: unbeständig, nicht fest eingebürgert) Brandenburg: stark gefährdet Bremen: gefährdet Hessen: Vorwarnliste (noch ungefährdet, verschiedene Faktoren könnten eine Gefährdung in den nächsten zehn Jahren herbeiführen) Mecklenburg-Vorpommern: vom Aussterben bedroht Niedersachsen: gefährdet Nordrhein-Westfalen: gefährdet Rheinland-Pfalz: gefährdet Sachsen: gefährdet Sachsen-Anhalt: vorkommend (indigen oder Archaeophyt) und ungefährdet Schleswig-Holstein: Gefährdung anzunehmen, Neophyt; neu eingebürgert Thüringen: vorkommend (indigen oder Archaeophyt) und ungefährdet In der Schweiz ist der Türkenbund landesweit geschützt. Namensherkunft Der Name Lilium Martagon montanum majus, floribus reflexis war schon vor Carl von Linné in Verwendung, zuerst belegt ist er im Englischen 1477. Die Herkunft des Epitheton martagon ist dabei umstritten. Zum einen wird die Bezeichnung vom türkischen martagan abgeleitet, das eine neuartige Form des Turbans bezeichnet, wie sie von Sultan Mehmed I. (1413–1421) eingeführt wurde, sie bezieht sich auf die Ähnlichkeit mit den zurückgeschlagenen Perigonblättern. Eine andere Ableitung bringt sie mit dem Kriegsgott Mars (Genitiv martis) in Verbindung, da Alchimisten glaubten, dieser stehe in Zusammenhang mit der Umwandlung von Metallen. Auch der volkstümliche Name Türkenbund ist ein Lehnwort, hergeleitet aus dem türkischen tülbent (Turban). Die Pflanze wird auch mit sehr vielen Volksnamen bedacht, die sich unter anderem auf die gold-gelbe Zwiebel beziehen: Goldapfel, Goldbölla, Goldknopf, Goldlilgen, Goldpfandl, Goldruabn, Goldwurzl, Goldzwifl, Poms d'or, Schlotterhose, Schmalzwurz, Sillingwuarz, Sillingrute, Türkisch-Huat. Ethnobotanik Die Alchimisten glaubten, mit Hilfe der Goldwurz unedles Metall in Gold umwandeln zu können. Der Türkenbund wird in der Volksheilkunde gegen Hämorrhoiden (goldene Ader) gebraucht und wurde im Mittelalter als Allzweckheilmittel angesehen. Auch glaubte man, dass die Zwiebeln als Futter für Kühe eine schöne gelbe Butter ergeben würden. Türkenbund als Gartenpflanze Der Türkenbund ist, neben der Feuer-Lilie und der Madonnen-Lilie, eine der drei „klassischen“, in Mitteleuropa vorkommenden Lilien. Wegen ihrer Farbvielfalt, Robustheit und Mehrjährigkeit (über 50 Jahre) ist sie auch heute noch eine beliebte Gartenpflanze. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche kommerzielle Hybriden produziert. Sie bilden die Handelsklasse „Division II – Martagon Hybriden“. Philatelistisches und Heraldik Zum Erstausgabetag 4. Dezember 2014 gab die Deutsche Post AG in der Serie Blumen ein Postwertzeichen im Wert von 440 Eurocent mit dem Bild einer Türkenbundblüte heraus. Der Entwurf stammt aus dem Designbüro Klein und Neumann in Iserlohn. Bei der DDR-Post erschien bereits 1969 ein Wert mit diesem Motiv aus der Serie Geschützte heimische Pflanzen. Der 1972 aufgelöste Landkreis Lauterbach hat zwei stilisierte rote, grünbestandene Türkenbundlilien im Wappen. Sie sind ebenfalls beim nachfolgenden Vogelsbergkreis abgebildet. Literatur Xaver Finkenzeller: Alpenblumen. München 2003, ISBN 3-576-11482-3. Dankwart Seidel: Blumen. Treffsicher bestimmen mit dem 3er-Check. 2., durchgesehene Auflage. blv, München/Wien/Zürich 2001, ISBN 3-405-15766-8. Michael Jefferson-Brown: Lilien. Christian-Verlag, München 2004, ISBN 3-88472-627-7. Edward A. McRae: Lilies. A Guide for Growers and Collectors. Timber Press, Portland Or 1998, ISBN 0-88192-410-5. Peter H. Davis: Flora of Turkey and the East Aegean Islands. University Press, Edinburgh. Einzelnachweise Weblinks Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Ethnobotanik Lilien Alpenflora
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https://de.wikipedia.org/wiki/Laokoon
Laokoon
Laokoon () war in der griechischen und römischen Mythologie ein trojanischer Priester des Apollon Thymbraios oder des Poseidon. Namentlich zuerst erwähnt wurde er bei Arktinos von Milet in der Iliu persis (7. Jahrhundert v. Chr.), dessen Werk aber größtenteils verloren ist. Spätere Autoren der griechischen und der lateinischen Literatur erwähnen bei ihren Darstellungen des Trojanischen Krieges Laokoons Handlungen, variieren ihre Darstellungen dabei jedoch stark. Zunächst erzählen griechische Autoren, deren Texte nur fragmentarisch oder in Zusammenfassungen überliefert sind, dass Laokoon und seine Frau im Tempel des Apollon Thymbraios einander liebten und sich damit den Zorn des Gottes zuzogen. Zwei Schlangen, die der Gott daraufhin aussandte, töteten dann entweder Laokoon mitsamt einem Sohn oder nur seine beiden Söhne am Altar des Apollon Thymbraios in der Stadt Troja. Die erste längere Darstellung des Mythos ist erst in Vergils Aeneis im 1. Jahrhundert v. Chr. überliefert. Darin wird die Geschichte Laokoons verlagert und mit der des Trojanischen Pferdes verknüpft: Die Griechen gaben vor, Troja zu verlassen und der Stadt zur Ehrung der Götter ein hölzernes Pferd schenken zu wollen, welches in Wirklichkeit jedoch mit griechischen Kämpfern gefüllt war. Laokoon erkannte als einziger den Betrug. Er stieß mit einem Speer auf das Pferd ein; dieser prallte jedoch ab. Daraufhin erschienen zwei von Athene geschickte Schlangen, die Laokoon zusammen mit seinen beiden Söhnen töteten. Die Trojaner meinten darin eine Strafe der Götter für die Entweihung des Geschenkes zu sehen, zogen das hölzerne Pferd in die Stadt und besiegelten damit ihren Untergang. Auch bildnerische Darstellungen von Laokoon sind aus der Antike nicht viele überliefert. Neben zwei Krateren sind zwei Wandmalereien aus Pompeji und wenige Kontorniat-Medaillons bekannt; ob auch eine spätetruskische Gemme Laokoon darstellt, ist umstritten. Bis zum Ende des lateinischen Mittelalters schwand die Kenntnis des Mythos, und auch die Bildnisse gingen verloren; zu den einzigen künstlerischen Belegen für die Kenntnis der Geschichte zählen Zeichnungen für Manuskripte der Vergilausgaben. Erst der Fund der Laokoon-Gruppe (1506), einer antiken römischen Marmorskulptur aus dem 1. Jahrhundert vor oder nach Chr., die Laokoon und dessen Söhne beim Kampf mit Schlangen zeigt, führte zu vermehrten Darstellungen der Sage. Anhand dieser Gruppe entwickelte sich vor allem im 17. und 18. Jahrhundert eine allgemeine Debatte über die griechische Kunst. Die Interpretation des Laokoonmythos in der Fachwissenschaft ist äußerst umstritten, der Fokus liegt dabei auf den Darstellungen bei Vergil, Petron und Quintus von Smyrna. Person Der Name Laokoon ist zusammengesetzt aus , und . Er bedeute demzufolge „der auf das Volk achtet“. Laokoon galt als Sohn des Antenor oder Kapys/Acoetes, Bruder des Anchises und Onkel des Aeneas. Damit ist er mit dem trojanischen Königshaus verwandt. Laut Hyginus Mythographus, Fabulae 135 hatte Apollon Laokoon untersagt, zu heiraten und Kinder zu bekommen; er ging dennoch eine Ehe mit Antiope ein und zeugte mit ihr Kinder. Über die Namen seiner Söhne waren sich antike Autoren allerdings uneinig: Der spätantike Kommentator Maurus Servius Honoratius gibt an, dass der sonst unbekannte Autor Thessandrus sie Ethron/Aethion und Melanthus nannte; Hyginus Mythographus hingegen gab ihnen die Namen Antiphates und Thymbraios/Thymbraeus. Im Laufe seines Lebens wurde Laokoon entweder zu einem Priester des Apollon Thymbraios (nach dem dann auch Laokoons Sohn genannt wurde) oder des Meeresgottes Poseidon/Neptun geweiht. Diese uneindeutige Zuordnung führt Servius auf die Darstellung des Mythos bei Euphorion zurück (siehe unten). Rahmenhandlung Der Mythos um die Eroberung der Stadt Ilios wurde von mehreren griechischen und lateinischen Autoren geprägt. Schon in der Homer zugeschriebenen Odyssee (7. Jahrhundert v. Chr.) wird der Mythos erwähnt, allerdings ohne eine Beteiligung des Laokoon zu erwähnen. Später sind es vor allem Autoren wie Quintus von Smyrna (3. Jahrhundert n. Chr.) mit den Posthomerica in griechischer und Vergil mit der Aeneis (1. Jahrhundert v. Chr.) in lateinischer Sprache, die dies ausbauen. Daraus ergibt sich für die Geschehnisse um Laokoons Handlungen ungefähr folgender Ablauf: Nachdem der Trojanische Krieg zehn Jahre lang erfolglos geführt worden war, ersannen laut Homer die Achaier – laut Quintus nach einer Weissagung des Sehers Kalchas ausschließlich Odysseus – eine List, um Ilios doch noch zu erobern: Der beste Baumeister der Achaier, Epeios, solle ein hölzernes Pferd entwerfen. Es ist wegen der Region um die Stadt Ilios („Troja“) als „Trojanisches Pferd“ bekannt. Die nötigen Anweisungen für den dreitägigen Bau soll ihm Quintus zufolge Athene in einem Traum vermittelt haben. Die Achaier müssten zunächst ihr Lager niederbrennen und das Verlassen des Kampffeldes vortäuschen. Die stärksten Krieger hingegen sollten im Bauch des Pferdes in die Stadt Ilios gelangen und nachts heimlich aus ihm herausklettern. Mittels eines Leuchtzeichens sollten sie den übrigen Achaiern das Signal zum Stürmen der Festung geben und ihnen schließlich dafür die Tore öffnen. Also fuhr die Mehrzahl der Achaier zur Insel Tenedos außerhalb der Sichtweite der Trojaner. Ein einziger Mann sollte zurückbleiben, um den Trojanern das Pferd als Ersatz für das gestohlene Athenebildnis (Palladion) zu übergeben. Nur Sinon war mutig genug, diesen Plan auszuführen. Er teilte den Trojanern den angeblichen Grund für das Ersatzgeschenk mit und gab vor, dass die Achaier ihn für eine gute Rückfahrt hätten opfern wollen, er aber geflohen sei, sich an die Füße des Pferdes geklammert und damit in den Schutz Athenes begeben habe. Die Trojaner waren zunächst – je nach Fassung vor oder nach Sinons Rede – unschlüssig, ob sie das hölzerne Pferd verbrennen, aufschlitzen, die Klippe hinunterwerfen oder als Weihgeschenk zur Besänftigung und Freude der Götter nach Ilios ziehen sollten. Nach mancher Darstellung der Laokoongeschichte hätten sich die Trojaner unabhängig von Laokoons Auftreten für letzteres entschieden. In anderen Fassungen folgt auf Sinons Rede die Geschichte Laokoons, die mit seiner Bestrafung durch die Tötung eines oder mehrerer seiner Kinder oder auch durch seinen eigenen Tod endet. Kassandra weissagte je nach Mythos entweder vor oder nach diesen Toden, dass nun Ilios’ Ende bevorstünde; die Trojaner aber ignorierten diese Warnung. Kassandra ergriff daraufhin laut Quintus eine Fackel und eine Doppelaxt, um den Betrug im Pferd aufzudecken, doch sie wurde von ihren Landsleuten daran gehindert und floh – zur stillen Freude der Achaier im Pferd. Nachts konnten die Achaier dieses verlassen und die Trojaner letztendlich wie geplant vernichten. Antiker Laokoonmythos Arktinos von Milet Zuerst wird Laokoon in dem frühgriechischen Epos Iliu persis erwähnt, das Arktinos von Milet (7. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben wird und nur fragmentarisch erhalten ist. Nach einer von dem spätantiken Gelehrten Proklos überlieferten Zusammenfassung des Epos entscheiden sich die Trojaner zunächst, das Pferd nicht von einer Klippe hinabzustürzen oder zu verbrennen, sondern Athene zu weihen. Während der Siegesfeier kommen zwei Schlangen und töten Laokoon und einen seiner beiden Söhne. Dies interpretiert der Trojaner Aineias als schlechtes Omen und flieht zum Berg Ida; Sinon öffnet währenddessen den Griechen, die nicht aus dem Rumpf des Pferdes, sondern aus Tenedos zum Kampf herbeikommen, die Tore. (Arktinos von Milet, Epicorum Graecorum Fragmenta 62,11 = Proklos, Chrestomatia 239–251 Severyns, .) Der Philologe Clemens Zintzen sieht im Schlangenangriff auf Laokoon eine Bestrafung für dessen Warnung vor dem Trojanischen Pferd. Vor Arktinos’ Darstellung hatte Kassandra diese ausgesprochen. Carl Robert erkennt in dem Tod nur eines der beiden Söhne Laokoons bei Arktinos einen Hinweis auf das trojanische Königsgeschlecht, da das Geschlecht des Priamos zwar ausgelöscht, das des Anchises aber durch Aineias’ Flucht gerettet wird. Dieser werde durch den Tod der beiden Personen vor dem Trojanischen Pferd gewarnt. Eine vorangegangene Schuld Laokoons, wie dies teilweise in späteren Fassungen thematisiert wird, sei für diese Deutung nicht nötig. Die Anzahl der Schlangen leitet Robert von den zwei Königsgeschlechtern ab; ganz anders die Wissenschaftler Bodoh, Knox, Putnam und Salanitro, die, einer Anmerkung des antiken Grammatikers Tiberius Claudius Donatus zu Vers 203 des zweiten Buches der Aeneis folgend, in den Schlangen die Atriden Agamemnon und Menelaos verkörpert sehen. Donatus hatte allerdings nur vorgeschlagen, die Zwillingsschlangen mit den Griechen bei Tenedos gleichzusetzen. Der Klassische Philologe Heinz-Günther Nesselrath schließlich vermutet, dass Pseudo-Apollodors Darstellung der Laokoonsage mit der des Arktinos verwandt sei, und postuliert damit auch für Arktinos’ Fassung einen Speerstoß von Laokoon gegen das Trojanische Pferd, also eine Verschuldung Laokoons. Bakchylides Maurus Servius Honoratius (4. Jahrhundert n. Chr.) erwähnt in seinem Kommentar zu Vergils Aeneis, dass der Dichter Bakchylides (5. Jahrhundert v. Chr.) wohl einen Dithyrambos über Laokoon und dessen Frau sowie über Schlangen, die aus Kalydna kamen und sich in Menschen verwandelten, gedichtet habe. Bakchylides scheine, so der Klassische Philologe Erich Bethe, damit die Laokoongeschichte von Arktinos’ Fassung losgelöst zu haben. Seine Kollegen Foerster und Zintzen vermuteten daraufhin, dass im Dithyrambos schon auf Laokoons Missachtung von Apollons Keuschheitsgebot angespielt worden sei. (Bakchylides, Fragment 9 Maehler) Sophokles Eine griechische Tragödie namens Laokoon, die Sophokles im 5. Jahrhundert v. Chr. schrieb, ist bis auf wenige Fragmente verloren. An einer der überlieferten Stellen der Tragödie brennt ein Apollonaltar, der Myrrhenrauch verströmt; an einer anderen wird Poseidon erwähnt, der die Klippen der Ägäis bewohnt und die blauen Meere beherrscht. Schließlich erwähnt eine Person die Ankunft von Aineias, was in der Forschung einem Boten zugeschrieben wird. (Sophokles, Fragment 370–377) Dionysios von Halikarnassos (1. Jahrhundert v. Chr.) sieht bei der Deutung der Stelle in seinen Antiquitates Romanae in den Geschehnissen um Laokoons Söhne mit ihrem oder ohne ihren Vater ein Zeichen für den Untergang Trojas, das Wort , lässt beide Interpretationen zu. Er erwähnt zudem, dass Aineias (zusammen mit seinem Hausstand und einer Menge Phryger [Trojaner]) wie schon bei Arktinos zum Berg Ida gegangen sei; allerdings habe bei Sophokles dessen Vater Anchises ihn dazu aufgefordert – Laokoons Tod war nur eine ergänzende Warnung. Anchises war von Zeus’ Blitz niedergestreckt worden und wurde nun von Aineias auf den Schultern weggetragen. In der Forschung des späten 19. Jahrhunderts gab es einen Streit zwischen Carl Robert, der den Begriff bei Dionysos als „die beiden Laokoonsöhne“ deutete und die Tragödie damit der Darstellung des Bakchylides anschloss, und Richard Foerster, der dieses Wort als „Laokoon und Söhne“ und damit als Weiterführung der Arktinos-Geschichte deutete. Zum gleichen Ergebnis wie Robert kommt Erika Simon bei der Interpretation im 20. Jahrhundert gefundener Vasen (siehe Abschnitt „Rezeption“). Verschiedene Wissenschaftler versuchten aus den späteren Laokoonepisoden bei Vergil, Euphorion und Hygin einen möglichen Handlungsablauf von Sophokles’ Tragödie zu rekonstruieren. Dies ist laut den Klassischen Philologen Hermann Kleinknecht und Heinz-Günther Nesselrath für die beiden letztgenannten Autoren allerdings nicht legitim, da der dort beschriebene Beischlaf Laokoons mit seiner Frau Antiope keine typisch tragische Verfehlung (Hamartie), sondern ein echtes religiöses Verbrechen sei. Maurus Servius Honoratius berichtet zudem, dass Sophokles die Namen der Schlangen angegeben habe – dies ist der erste Beleg für die Benennung der Schlangen. Friedrich Gottlieb Welcker und Horst Althaus sehen in der Benennung der Schlangen bei Sophokles einen Bezug zu Bakchylides, dem Robert, Engelmann/Höfer, Pearson und Foerster aufgrund der Darstellungen bei Pseudo-Apollodor beziehungsweise Johannes Tzetzes widersprechen. Engelmann/Höfer bezweifeln sogar, dass Sophokles wirklich die Namen genannt hat. Euphorion Der antike Autor Maurus Servius Honoratius gibt in seinem Kommentar zu Vergils Aeneis an, dass Euphorion (3. Jahrhundert v. Chr.) in seiner Tragödie über Laokoon geschrieben habe, ein Priester des Neptun sei gesteinigt worden, weil er die Ankunft der Griechen nicht durch Opfer verhindert hatte. Nach der Abfahrt der Griechen hätten die Trojaner dem Gott Neptun opfern wollen, damit er den Griechen die Heimfahrt erschwere. Weil jedoch der reguläre Priester fehlte, losten sie. Das Los fiel auf Laokoon, den Priester des Apollon Thymbraios, der im Apollontempel vor dessen Kultbild mit seiner Frau Antiope geschlafen hatte. Zur Strafe wurden dann er und seine Söhne getötet. Laut Servius wurde diese Geschichte aber von den Dichtern beschönigt, um Troja von einer Schuld freizusprechen. (Euphorion, Fragment 70 Powell = 75 von Groningen = 80 Scheidweiler) Da keine direkten Aussagen Euphorions überliefert sind, schwankt die Forschung in der Interpretation dieser Darstellung bei Servius. Carl Robert sieht aufgrund der von Servius erwähnten Verlagerung des Handlungsortes von der Stadt ans Meer einen für die antike griechische Tragödie untypischen kompositorischen Zwang und wirft dem Kommentator eine nachträgliche Verfälschung des Stoffes vor, um die Szenerie bei Vergil erklären zu können. Dem widersprechen Foerster, Adolf Furtwängler, Ehwald, Gerhard Schott, Horst Althaus und Nesselrath, da sonst Servius’ Kommentar nicht erklärt werden könne und Euphorion solche untypischen Veränderungen wohl häufiger vornahm. Euphorion könne damit Quelle für Vergil sein, seine eigenen Quellen seien aber ungewiss: Robert findet Argumente für und gegen einen Einfluss von Sophokles, Clemens Zintzen sieht Anspielungen auf Bakchylides. In Herbert Steinmeyers Interpretation hat nicht Euphorion, sondern erst Vergil den Ort der Handlung verlegt. Für Schott hingegen sind Euphorions und Hygins Texte miteinander in verschiedenen Punkten verwandt, so auch im Handlungsort, dem Strand. Nikandros aus Kolophon In einem Fragment der Oxyrhynchus-Papyri, das Nikandros aus Kolophon (2. Jahrhundert v. Chr.) zugeschrieben wird, entsendet Apollon von den Kalydnainseln zwar die beiden Seeschlangen, die Nikander mit den Namen Porkes und Chariboia bezeichnet, nachdem sie vom thymbräischen Meer genährt wurden. Diese verschlingen allerdings nur einen Sohn Laokoons, und dies über Altären. Da im Kontext auch Laomedons Vergehen an Poseidon und Apollon erwähnt wird, vermutet Nesselrath, dass dessen Halbgroßneffe Laokoon ebenfalls deswegen bestraft wurde. (Nikandros aus Kolophon, Fragment 562. In: Tragica Adespota Fragment 721) Vergil In der lateinischen Literatur wird der Mythos um Laokoon zum ersten Mal und zugleich am ausführlichsten im zweiten Buch von Vergils Aeneis (1. Jahrhundert v. Chr.) beschrieben. Vergils Fassung war prägend für darauffolgende Darstellungen. Seitdem dominiert in der lateinischen Literatur die Warnung Laokoons, die hier zum ersten Mal überhaupt in Form eines Speerstoßes thematisiert wird, über die vergeblichen Weissagungen Kassandras, der im Gegensatz zu Laokoon laut Mythos so oder so nicht geglaubt werden konnte; auch stirbt hier möglicherweise zum ersten Mal Laokoon mit beiden Söhnen. Quelle für Vergils zweites Aeneisbuch ist laut Macrobius Ambrosius Theodosius, Saturnalia 5,2,4 (5. Jahrhundert n. Chr.) ein verlorenes, nachhellenistisches Großepos von Peisandros von Laranda; wie die Laokoonsage darin gestaltet war, ist nicht bekannt. Die Philologen Alfred Chilton Pearson und Roland Gregory Austin hingegen führen Vergils Fassung auf einen ähnlichen Sophoklestext zurück, Richard Foerster folgt Servius und sieht Euphorion als Hauptquelle für die Laokoongeschichte an. Der Trojaner Aeneas erzählt der Königin Karthagos, Dido, auf ihren Wunsch hin vom Fall Trojas und seiner anschließenden Irrfahrt nach Karthago. Er beginnt mit dem Bau des Trojanischen Pferdes. Nachdem die Griechen es zurückgelassen haben, beraten die Trojaner, was zu tun sei. Die einen sind dafür, das Pferd in die Stadt zu ziehen, andere wollen es von der Klippe stürzen, verbrennen oder aufschlitzen und durchsuchen. Den entstandenen Tumult löst erst Laokoon auf, der hoch von der Burg kommend seine Mitbürger mit provokanten Fragen ermahnt, das Pferd nicht anzunehmen, da er von den Griechen keine Geschenke erwarte und solche – später sprichwörtlich gewordenen – Danaergeschenke fürchte. Er vermutet Griechen im Rumpf des Pferdes oder einen Spionageakt und erinnert an Odysseus’ Listen. Er bohrte mit voller Kraft eine Lanze in die Hinterseite des Pferdes, so dass dieses in Erschütterung geriet, was die Griechen beinahe enttarnt hätte. (Vergil, Aeneis 2,40–56) Das Schicksal aber lenkt die Trojaner von diesem Geschehen ab, indem es sie den zu deren Trug von den Griechen ausgesetzten Sinon finden lässt. Ihm gelingt es dann, die Trojaner davon zu überzeugen, dass der Krieg nun zu Ende sei. Als daraufhin Laokoon einen Stier an einem Tempel nahe am Meer opfert, nähern sich von Tenedos her zwei Schlangen dem trojanischen Strand. Erschrocken laufen die Trojaner auseinander, die Schlangen streben jedoch auf Laokoon zu, gelangen zuerst zu dessen Söhnen und vergiften sie oder verschlingen ihre Gliedmaßen. Laokoon nähert sich den Schlangen mit einem Speer, wird von diesen aber zweimal umschlungen und versucht sich zu befreien. Die Schlangen vergiften seine Priesterbinden und entweihen sie, woraufhin Laokoon selbst wie ein schlecht getroffener, fliehender Opferstier laut aufschreit. Ob er dann stirbt oder dieser Schrei seine Entehrung als Priester symbolisieren soll, ist in der Forschung umstritten. Die Schlangen ziehen sich daraufhin in den obersten Tempel und die Burg der Tritonis zurück. Die Trojaner waren überzeugt, dass Laokoon seinen Speerwurf auf das der Minerva geweihte Pferd büßen musste, und bringen das Pferd daraufhin in ihre Stadt. (Vergil, Aeneis 2,199–227) Forschung Die fachwissenschaftlichen Interpretationen zur Laokoonepisode bei Vergil sind zahlreich und sehr unterschiedlich. Den ersten einflussreichen modernen Interpretationen durch Gotthold Ephraim Lessing in dessen Werk Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766), Friedrich Schiller in Über das Pathetische (1793) und Johann Wolfgang von Goethe in „Über Laokoon“ (1798) setzte Hans Theodor Plüss im Jahre 1884 eine noch heute maßgebliche, ausführliche sprachlich-inhaltliche Erklärung entgegen, ohne dabei Laokoondarstellungen anderer Autoren zu berücksichtigen. Er sah in Vergils Text weder eine Schuld bei Laokoon, noch Erhabenheit in der Darstellung oder eine unverzeihliche Dummheit der Trojaner, sondern eher Besorgnis über den harten Willen der Götter zur Erschreckung des Publikums. Den Zweck sieht er in der einheitlichen Darstellung von Laokoons Schicksal mit dem Ziel der grausamen Durchsetzung des göttlichen Planes, Troja zu zerstören. Erich Bethe stört sich an einigen Formulierungen in Vergils Text, die nicht in den Kontext der Darstellung passen, so vor allem Sinons hier erstmals belegte, aber nicht zielführende Rede. Möglicherweise habe Vergil vor seinem Tod die Probleme nicht mehr beheben können oder beabsichtigt, die Trojaner nicht völlig auf Sinons Betrug hereinfallen zu lassen, und zugleich den Mythos konservieren wollen. Da Laokoons Handlungen vor Vergil nicht mit dem trojanischen Pferd verknüpft werden, athetiert (entfernt) er daher die Verse 40–56 und 199–233, um die ursprüngliche Geschichte zu rekonstruieren. Ihm folgen einige Interpreten wie Robert, Mackail und Malcolm Campbell. Richard Heinze wandte sich als erster gegen die Streichung der Verse mit dem Argument, dass eine göttliche Bestätigung des Untergangs zwingend notwendig sei, da in der Aeneis auch sonst nichts ohne eine solche vonstatten gehe und zudem nun die Trojaner auch von Göttern überzeugt wurden. Damit erklärten sich auch andere von Bethe beobachtete Schwierigkeiten wie die Zweiteilung der Laokoonepisode bei Vergil: Sinons Rede solle nicht gegenüber Laokoons Tod verblassen, sondern wird durch diesen umrahmt. Ähnlich Austin, der darauf hinweist, dass ohne dieses übernatürliche Zeichen die Trojaner möglicherweise trotz Sinons Überzeugungsarbeit endlos darüber debattiert hätten, was sie tun sollten. Die Götter hätten ihnen auf grausame Art und Weise die Entscheidung abgenommen. Dem widerspricht jedoch Malcolm Campbell. Heinzes unitarische Interpretation setzte sich gegenüber der analytischen Deutung Bethes in der Forschung durch, sie wurde durch Klassische Philologen wie Hermann Kleinknecht, Friedrich Klingner, Clemens Zintzen und Peter Krafft noch verstärkt. Krafft zum Beispiel vergleicht die Laokoonepisode mit anderen Darstellungen in Vergils Aeneis und verankert sowohl die Exposition als auch den Speerwurf im umliegenden Text. Die Episode sei ein Prodigium, ein göttliches, bekräftigendes Wunderzeichen. Die Figuren im Werk verstünden jedes Mal die Zeichen falsch, der Leser oder die rückblickende Figur könne dies aber relativieren und als Hinweis auf Trojas Untergang interpretieren. Laut Zintzen versucht Vergil, Aeneas von Schuld zu entlasten und die Trojaner als durch die Götter und Sinons psychagogische Trugrede verblendet zu zeigen: Sie interpretierten Laokoons Unglück als Strafe für sein Handeln am Trojanischen Pferd – und eben nicht, wie sonst, für den Beischlaf mit seiner Frau. Krafft will mit seiner Argumentation die analytische mit der unitarischen Position in Einklang bringen und eine Art „tragische Ironie“ der Szene etablieren. In ähnlicher Weise tun dies auch Schott, Steinmeyer, Zintzen, Gärtner und Erler. Otto Zwierlein wendet sich dagegen, die Blindheit der Trojaner als Mitursache anzuerkennen, da Vergil wie auch die spätantiken Kommentatoren Servius und Donatus ausschließlich das Schicksal und den Betrug durch die Griechen als Verursacher von Laokoons Tod nennen. Die göttliche Willkür zeige sich in der plötzlichen Ablenkung vom Trojanischen Pferd durch Sinons Rede und den Schlangenangriff auf Laokoon. Eine Schuld sei weder bei Aeneas noch bei den anderen Trojanern zu finden. Eine ausführliche Untersuchung zur Interpretation als Prodigium bietet Hermann Kleinknecht: Er zieht dabei unter anderem einen Vergleich zur Eroberung Vejis durch Marcus Furius Camillus im Jahre 396 v. Chr. und zum so genannten „Galliersturm“ wenige Jahre danach, der zur Eroberung Roms führte. Vergil lasse somit Aeneas als eine Art Geschichtsschreiber auftreten, der den Fall Trojas mit in der Geschichtsschreibung üblichen Prodigien erklärt. Für Steinmeyer ist dies aber kein ruhiges Prodigium, wie es in Geschichtswerken zu erwarten wäre, sondern die Szenerie ist durch Bewegung der Schlangen und die Gegenbewegung Laokoons geprägt. Severin Koster führt hingegen Bethes analytische Argumentation weiter. Die Ergänzungen gingen auf eine Beeinflussung durch die Laokoongruppe zurück: Diese solle Marcus Antonius und dessen Söhne darstellen, die von Octavian (später Augustus genannt) getötet worden seien. In der Augustus gewidmeten Aeneis habe Vergil dann die Bestrafung von Antonius in die Figur Laokoons übertragen. Sein Tod könne als Gründungsopfer Roms angesehen werden, da Aeneas daraufhin Troja verlässt und aufbricht, um Rom zu gründen. Ähnlich habe auch Augustus Rom neugegründet. Jörg Rüpke bringt die erstmalige Erwähnung des Speerstoßes gegen das Trojanische Pferd mit dem alten römischen Kult des Oktoberpferdes in Verbindung. Schon im 3. Jh. v. Chr. hatte der antike Historiker Timaios von Tauromenion diese Möglichkeit in Betracht gezogen. Er stützt seine Argumentation auf Informationen der Einwohner und trojanische Artefakte vor Ort. Dem widerspricht jedoch der Historiker Polybios (2. Jahrhundert v. Chr.) in seinem Geschichtswerk heftig (12,4b–c), da fast alle Nichtgriechen vor einem Krieg ein Pferd opferten und der Kult darauf zurückzuführen sei. Ganz anders Ernst Bickel, der im Trojanischen Pferd den Meeres- und Pferdegott Poseidon selbst symbolisiert sah. Dieser habe aufgrund einer nicht bezahlten Rechnung Trojas Mauern als stampfendes Pferd niedergerissen. Indem Laokoon aber die Lanze gegen das Pferd gestoßen habe, habe er, der Poseidonpriester, seinen Gott direkt angegriffen und sei daraufhin durch die Schlangen, die aus dem Poseidon zugewiesenen Meer ihn angegriffen haben, zusammen mit seinen Söhnen getötet worden. Dies entspricht laut Herbert Steinmeyer Laokoons frevelhaftem Beischlaf im Tempel des Apollon als dessen Priester. Bei Vergil sei Laokoon schließlich gar kein Priester mehr, sondern eher ein Redner und Agitator im Interesse seiner Polis. Er handele dabei gegen den göttlichen Plan. Die Klassische Archäologin Margot Schmidt bringt mit der Laokoongeschichte die Tötung des Priamossohnes Troilos durch Achilleus in Verbindung, der ebenso wie Laokoons Tod eine nötige Vorbedingung für den Untergang Trojas sei. Laut dem Klassischen Archäologen Bernard Andreae könne Laokoon als Gründungsopfer für die künftige Stadt Rom angesehen werden, obwohl Aeneas erst viel später Troja verlassen habe. Die lange Kette an Hinweisen, die eben mit Laokoons Tod beginne, sei zu beachten. Carl Robert hatte sich hingegen dafür ausgesprochen, dass mit der Verlegung der Laokoonepisode von der Stadt an den Strand der Charakter der Warnung für Aeneas verloren gegangen sei. Daraufhin habe Vergil das Motiv des Speerstoßes erfunden, um die Geschichte dennoch darstellen zu können. Ganz anders Steinmeyer und John Richard Thornhill Pollard, die den Laokoon-Mythos als Zeichen für den Untergang Trojas ablehnen, da Vergil dies nirgendwo anspricht. Zwierlein sieht ausschließlich in der feindlichen Gesinnung der Götter den Trojanern gegenüber deren Untergang begründet. Zudem sieht Andreae mehrere Anspielungen von Lykophrons Alexandra auf die Laokoongeschichte, die zugleich den Untergang Trojas bedeuten – so beispielsweise die Gleichsetzung der Schlangen mit den im Hinterhalt versteckten Griechen. Explizit gegen Laokoon als Opfer spricht sich der Klassische Philologe Gregor Maurach aus, der das Geschehen damit verbindet, dass Laokoon Apollons Verbot, dass seine Priester heiraten und Kinder bekommen dürften, ignoriert hat. Daher werde auch nicht explizit gesagt, dass Laokoon stirbt, sondern nur, dass seine Priesterinsignien mit Gift besudelt wurden, worauf schon Hans Theodor Plüss hingewiesen hatte. In eine ähnliche Richtung wie Maurach geht Stephen Tracy, der in Laokoon einen zweiten Paris sieht, der durch „sexuelles Fehlverhalten“ auffalle. Dieser „typisch vergilische menschliche Akt“ weise dann auf Trojas Zerstörung hin. Günter Engelhard behauptet darüber hinaus, dass Laokoons Frevel nicht, wie von den Trojanern interpretiert, im Speerstoß bestand, sondern als offizielle Version in Troja der Beischlaf mit seiner Frau Antiope verbreitet wurde. Zum gleichen Schluss wie Maurach kommt auch Gerald Petter: Nur die beiden Söhne werden getötet, nicht auch Laokoon selbst. Petter sieht in den von Vergil beschriebenen Schlangen keine Fabelwesen, sondern echte Tiere. Seine ausführlichen Erklärungen ihres Verhaltens stimmen allerdings in keinem Punkt mit dem Verhalten echter Giftschlangen überein. Petron Vergils Text nimmt sich Titus Petronius in seinem Werk Satyrica (1. Jahrhundert n. Chr.) zum Vorbild. Der junge Reisende Encolpius trifft in einer „Pinakothek“ mit Werken der Maler Zeuxis von Herakleia, Protogenes und Apelles den Dichter Eumolpus, der ihm ein Bild über den Fall Trojas, das sie gemeinsam betrachten, mit einem improvisierten Gedicht noch näher bringen will: Nach dem Bau des Trojanischen Pferdes und dem Abzug der Griechen wähnt sich das Volk in Frieden. Der Neptunpriester Laokoon kommt brüllend heran und kratzt zunächst vergeblich mit einer Lanze am Pferd, was die Trojaner darin bestätigt, den Frieden errungen zu haben. Erst als Laokoon mit einer Doppelaxt die Seite des Pferdes erschüttert und die Griechen darin mit gedämpfter Stimme sprechen, ahnen die Trojaner die Irreführung. Das Pferd gelangt in die Stadt, woraufhin von dem ausführlich beschriebenen Tenedos her zwei Meeresschlangen erscheinen. Diese umschlingen und fressen Laokoons in Opfertracht befindliche Zwillingssöhne, die einander in Bruderliebe noch helfen wollen. Laokoon versucht vergeblich, ihnen zu Hilfe zu kommen, wird selbst angegriffen, auf den Boden zwischen Altäre geworfen und wie ein Opfertier getötet. Damit hätten die Trojaner als erstes ihre Götter verloren, so Eumolpus. Daran seien sie schließlich auch selbst zugrunde gegangen. An dieser Stelle wird Eumolpus unterbrochen, da die Zuhörer ihn mit Steinen bewerfen. Er flüchtet sich mit Encolpius zum Strand, an dem er seinem Schüler erklärt, dass ihm selbst so etwas schon häufiger widerfahren sei. Daraufhin wird er beinahe auch noch von Encolpius mit Steinen beworfen. (Titus Petronius, Satyrica 89) Forschung Nach Erika Simon muss die Geschichte als Parodie auf oder Kritik an Autoren gemeint sein, die zu sehr die trojanische Sage mit Vergils Text interpretierten. Sie führt dabei explizit den Kaiser und Gönner Petrons, Nero, an, der laut Sueton (Nero 38) und Tacitus (Annales 15,39) die Eroberung Trojas beim Großen Brand Roms im Jahre 64 vom Turm des Gaius Maecenas besang. Kenneth F. C. Rose folgert daraus, dass Petrons Text im Jahre 65 verfasst sein müsse. Heinz Stubbe und John Patrick Sullivan bezweifeln aufgrund fehlender Überlieferung von Neros Werk, dass Petron diesem rivalisierend oder parodierend gegenübergestanden habe; auch einen Bezug zu Lucans Iliacon sei unwahrscheinlich. Für Edward James Barnes scheint es nicht notwendig, eine Kritik an Vergil oder gar eine Parodie auf Senecas Stil und Metrik anzunehmen, höchstens Ironie. Ob ein tatsächlich existierendes Bild für Petrons Erzählung Pate gestanden haben könne, wurde in der Forschung verschiedentlich diskutiert. Stubbe, Barnes und Simon sprechen sich für dessen Existenz aus, Peter Habermehl fehlt dafür unter anderem eine genauere Lokalisierung der Pinakothek. Catherine Connors merkt an, dass Eumolpus keine Bildbeschreibung gibt, sondern einfach die Geschichte in der ersten Person zu beschreiben scheint. In der Forschung wird das Gedicht fast ausschließlich als verfehlt interpretiert: Nach Erika Simon ist Eumolpus von den Hörern fast gesteinigt worden, da seine Dichtung von ihnen als misslungen angesehen wurde. John James Bodoh verweist auf verfehlte sprachliche Mittel wie unnötig-falsche und damit komische Alliterationen, metrische Ungenauigkeiten bei Petrons 65 Jamben langem Werk gegenüber Vergils „wohl geschliffenen“ Hexameter-Versen und einen ärmeren Wortschatz. Petrons Darstellung könne somit eine Parodie oder subtile Kritik an Vergils Art sein. Im Gegensatz zu Vergil, so Stubbe, werde bei Petron aber Laokoons Tod weder mit dem Einzug des Pferdes noch mit Trojas Untergang direkt verknüpft. Auch passe sein Stil laut Stubbe und Sullivan eher zu den dramatischen Botenberichten wie in Lykophrons Alexandra und Senecas Phoenissen oder auch zu dessen Werken Phaedra und Agamemnon. Ähnliches gelte für den übermäßigen Gebrauch von Stilfiguren, so Ciaffi und Salanitro. Dagegen sehen Roger Beck, Otto Schönberger, Gesine Manuwald und andere Petrons Text nicht als liederliche, sondern als reizvolle Verfremdung an. Für Victoria Rimell haben Eumolpus’ Zuhörer ihn nur falsch verstanden, so wie die Trojaner die Warnungen missinterpretiert haben. Habermehl sieht in Petrons Laokoon nicht mehr die Autorität des Charakters in der Aeneis, sondern einen stummen, geschwächten Menschen, der in der Stadt durch die Willkür der Götter am Altar geopfert wird. Daher liege der Fokus dieser Variante der Geschichte auch eher auf der Tötung der füreinander kämpfenden Zwillingssöhne Laokoons, wie dies schon vor Vergil der Fall war. Laokoons Tod sei für die Schlangen nur dadurch motiviert, dass er seinen Söhnen zu Hilfe eilt; eine Schuld ist weder bei ihm noch bei seinen Söhnen zu finden. Habermehls Interpretation, dass die Trojaner in ihrer Verblendung das Trojanische Pferd in die Stadt gezogen hätten, widerspricht Zwierlein: Mit der Entweihung des Palladion hätten sich die Götter von den Trojanern abgewandt und zur Strafe zunächst ihren Priester Laokoon getötet. Damit werde Vergils Laokoon-Darstellung auf die eigentliche Ursache für die Willkür der Götter zurückgeführt. Im Gegensatz zur Mehrzahl der Interpreten seit Lessing sehen Stubbe und Schönberger allerdings nicht Vergil als direkten Vorgänger, sondern ein mythographisches Handbuch. Barnes jedoch hat in einer bisher nicht rezipierten Monografie ausführlich Parallelen zu Vergil zusammengestellt. Auch beim Vergleich von Petrons Laokoondarstellung mit der des Vergil ließen sich neben Motiven, die Petron direkt von Vergil adaptiere, Stellen finden, an denen er dessen Bilder weiterführe. Zudem entwickle er eigene Motive und verwende auch Inhalte, die Vergil und andere Autoren vor ihm dargestellt hätten. Folge dieser Änderungen sei ein noch grausamerer und willkürlicherer Tod, als ihn Vergil beschrieben habe. Pseudo-Apollodor In der Bibliotheke des Apollodor (1. Jahrhundert n. Chr.) wird in einer Epitome berichtet, dass das hölzerne Pferd zunächst in die Stadt gezogen worden sei und erst danach Laokoon neben Kassandra wie bei Vergil vor dem mit bewaffneten Männern besetzten Pferd gewarnt habe. Ein Teil der Trojaner habe daraufhin überlegt, das Pferd zu verbrennen oder von einer Klippe zu stürzen, die Mehrheit aber entschieden, es als Weihgeschenk in der Stadt aufzustellen – also dieselben drei Alternativen wie bei Arktinos, nur in anderer Reihenfolge. Dann hätten die Trojaner, wie bei Arktinos, ein Opfermahl begangen. Daraufhin habe Apollon den Trojanern von einer nahen Insel über das Meer hinaus zwei Schlangen als göttliches Zeichen geschickt, die dann die Söhne Laokoons verschlangen. Über den Verbleib des Vaters ist nichts ausgesagt. Im Anschluss daran habe Sinon den Griechen ein Feuerzeichen zum Erobern der Stadt gegeben. (Bibliotheke des Apollodor Epitome 5,17f.) Der Neufund dieses Stücks am Ende des 19. Jahrhunderts führte zu diversen Neuinterpretationen dieser und anderer Laokoondarstellungen in der Literatur. Für Engelmann/Höfer, Zintzen und Nesselrath könnte Pseudo-Apollodor sich hier auf Sophokles und nicht auf Vergils Darstellung beziehen; Paul Dräger lehnt dies ab. Aber auch Bezüge zu Arktinos’ Fassung sind vorhanden. Umstritten ist auch, ob das erwähnte göttliche Zeichen sich auf den hier nicht erwähnten Speerstoß oder eine andere Tat des Priesters bezieht (so Becker gegen Heinze). Ganz anders Stubbe und Gärtner, die das göttliche Zeichen darin sehen, dass Apollon sich zurückzieht und damit Troja den Griechen preisgibt, was er durch den Tod der Söhne Laokoons exemplifiziert. Für Foerster ist der Untergang der Söhne ein Hinweis auf den kommenden Untergang Trojas; als Quelle für die Darstellung sieht er Lesches’ Kleine Ilias an. Die Laokoon betreffenden Epitomen sind laut Clemens Zintzen möglicherweise von Johannes Tzetzes verfasst worden (siehe unten). Laut dem Archäologen Karl Schefold mussten die Warnungen von Kassandra und Laokoon scheitern, weil sie sich nicht Apollon hingeben wollte und Laokoon sich gegen dessen Willen vermählt beziehungsweise in seinem Tempel mit seiner Frau geschlafen hatte. Hyginus Mythographus Hyginus Mythographus (2. Jahrhundert n. Chr.) folgt in seiner Zusammenfassung der Sage eher den Autoren vor Vergil, ohne sie allerdings in den mythischen Kontext zu setzen: Laokoon hat bei ihm gegen den Willen Apollons geheiratet und Kinder gezeugt. Als Laokoon zuteilwird, Poseidon an der Küste ein Opfer darzubringen, sendet der Gott ihm zur Strafe zwei Schlangen aus Tenedos. Sie haben die Absicht, seine Söhne zu töten. Als Laokoon diesen helfen will, bringen sie auch ihn durch Erwürgen um. Nur die Phryger (Trojaner) glauben, dass dies wegen des Speerstoßes gegen das hölzerne Pferd geschehen sei. (Hyginus Mythographus, Fabulae 135) Die Aussage über die Phryger muss sich, so Jörg Rüpke, eindeutig auf Vergils Fassung der Geschichte beziehen, da Laokoon in früheren Darstellungen das Pferd nie angegriffen habe. Carl Robert sieht in der Erwähnung Poseidons und des Speerstoßes noch weitere Beziehungen zu Vergil, die er einem späteren Interpolator zuschreibt und aus seiner Interpretation herauslöst. Eine Abhängigkeit von Sophokles, wie von Christian Gottlob Heyne vorgeschlagen, sei ihm zufolge aber nicht zwingend notwendig. Foerster, Schott und Althaus argumentieren gegen Roberts Vorwurf der Interpolation durch einen späteren Autor und Moritz Schmidts Vorwurf der kompletten Unechtheit. Foerster arbeitet außerdem durch Ausscheidung der anderen Vorgänger Sophokles als einzig mögliche Quelle heraus. Quintus von Smyrna Laut Quintus von Smyrna (3. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) finden die Trojaner Sinon am hölzernen Pferd, worauf sie ihn misshandeln, um herauszufinden, wozu es gedacht ist. Sinon selbst gibt an, dass die Griechen ihn opfern wollten, er sich aber unter das Pferd habe retten können, das in Troja der Athene zu widmen sei. Die Trojaner beraten sich, was nun zu tun sei, und Laokoon spricht sich dafür aus, das Pferd zu verbrennen. Dagegen interveniert Athene: Sie lässt die Erde unter Laokoons Füßen erbeben, ihn zunächst alles doppelt sehen und blendet ihn schließlich. Die Trojaner glauben daraufhin, dass dies eine Bestrafung für seine Worte gegen Sinons vorangegangene Rede gewesen sei, und fürchten sich davor, ebenfalls bestraft zu werden. Sie ziehen den Schluss, Sinons Worten zu folgen und das Pferd auf den von Epeius konstruierten Rollen in die Stadt zu ziehen. Im Anschluss feiern sie ein Fest. Wiederum drängt Laokoon seine Landsleute, das Pferd zu verbrennen, um die Stadt zu retten, woraufhin Athene ein zweites Mal interveniert und unter erneuten Erdstößen Zwillingsschlangen aus einer Höhle der Insel Kalydna entsendet. Als sich diese Ilios nähern, fliehen aus Angst alle Trojaner, nur Laokoon und seinen Söhnen machen die nahende Todesgöttin Ker und ein weiterer Gott die Beine schwer. Die Schlangen vollenden Athenes Plan, reißen Laokoons Söhne mit den Mäulern in die Höhe, wobei ihr Vater nur zusehen und nicht helfen kann. Anschließend ziehen sich die Schlangen unter die Erde bis zum Apollontempel in Troja zurück. Den Kindern wird ein leeres Grabmal (Kenotaph) gewidmet, vor dem kurz Laokoon und dann ausgiebig seine Frau ihre Kinder und ihr eigenes Leid beweinen. Die Trojaner selbst reagieren auf diese zweite Bestrafung nicht. (Quintus von Smyrna, Posthomerica 12,389–417; 12,444–499) Forschung Aufgrund der inhaltlichen Parallelen von Quintus’ 12. Buch zu Vergils Aeneis wird die Frage nach dessen Quellen besonders an dieser Stelle kontrovers diskutiert. Ein Großteil der Interpreten sieht eine direkte Abhängigkeit von Vergil beziehungsweise Sophokles, andere Autoren argumentieren aufgrund von größeren Abweichungen dagegen. Heinze führt die Abweichungen auf eine lokale Tradition und die Kompilation zweier Fassungen zurück, Bassett geht noch weiter und argumentiert dafür, dass Quintus Vergils Aeneis gar nicht gekannt haben könne und sich eher auf Pseudo-Apollodors Fassung sowie Bakchylides und Sophokles zurückführen lasse. Auch eine mögliche Beziehung zur Laokoon-Gruppe oder zu ähnlichen Darstellungen kann laut Alan W. James nicht restlos geklärt werden. Die erstmals bei Quintus erwähnte Blendung Laokoons führen Malcolm Campbell, Silvio Bär und andere auf eine Glaukomerkrankung zurück, die laut Basset Quintus entweder selbst als Patient oder Arzt erlebt haben muss. Für Alan W. James steht sie für die Blindheit der Trojaner gegenüber ihrer eigenen baldigen Vernichtung und findet eine Entsprechung in dem blinden Seher Teiresias. Bassett sieht zudem die Laokoonszene im Kontext weiterer Stellen bei Quintus und im Vergleich zu Euripides’ Troerinnen als Anlass, um die Trauer von Laokoons Frau und damit das Mitleid für Laokoon zu steigern. Kleinknecht versucht beide Positionen miteinander in Einklang zu bringen, spricht sich aber deutlich dafür aus, dass Quintus von Vergil abhängt. Er habe mehrere Motive Vergils mit einer vorvergilianisch-griechischen Vorlage kontaminiert, fehlinterpretiert und vereinfacht. Ähnlich Clemens Zintzen, der viele Motive, die Quintus laut anderen Forschern von Vergil kopiert haben soll, auch schon in früheren Werken wie den Troerinnen des Euripides (Vers 511–567) erwähnt findet. Einen ausführlichen Vergleich von Quintus’ Laokoon mit anderen Darstellungen und besonders Vergils Text bietet Gärtner: Quintus habe durch die mehrfache Bestrafung und die Verlagerung des Fokus vom Schlangenangriff zur Blendung seine Vorbilder übertreffen wollen und habe dazu beide Hauptstränge der Laokoonsage kontaminiert. Daraus ergebe sich, dass die zweite Strafe bei Quintus, der Schlangenangriff nach der Blendung, keine direkten Folgen habe. Anthologia Latina Wohl aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammt ein Epigramm der Anthologia Latina, einer Sammlung meist kleiner lateinischer Gedichte aus antiker Zeit – hier gefunden im Codex Salmasianus. Laut dem Epigramm sei Laokoon zusammen mit seinen beiden Söhnen von zwei Zwillingsschlangen angegriffen worden. Weil er sich an einem hölzernen Pferd vergangen habe, sei der Mensch Laokoon dafür mit Vergiftung bestraft worden. Schlimmer wäre nur eine direkte Verletzung eines Gottes gewesen, so das Epigramm weiter. Laut Roswitha Simons ist der Text klar von Vergil abhängig. Excidium Troiae Das anonyme Prosawerk Excidium Troiae (4.–6. Jahrhundert n. Chr.) zitiert in seiner gerafften Version des Trojanischen Krieges des Öfteren Vergilverse und kommentiert sie. An der hier relevanten Stelle wird Sinon von den Griechen vor dem Bau des Pferdes ausgesetzt. Die Trojaner finden ihn, woraufhin er ihnen vorlügt, dass die Griechen ihn bald Apollon opfern wollten und planten, ein Pferd als Geschenk für Minerva zu bauen, das die Trojaner vor ihrem Neptuntempel in der Stadt aufstellen sollten. Dieses steht am nächsten Tag auch am Strand nahe dem Tempel der Minerva, woraufhin die Trojaner, um sich mit Apollon und Minerva gutzustellen, sowohl Sinon als auch das Pferd in die Stadt befördern wollen. Der Neptunpriester Laokoon warnt in Vergilzitaten vor dem Pferde und stößt es mit einer Lanze. Diese Stelle wird vom Verfasser so kommentiert, dass Laokoon die Griechen im Pferd enttarnt hätte, wenn der Verstand der Trojaner nicht durch die Götter und das Schicksal getrübt gewesen wäre. Sie fordern nämlich Laokoon auf, zur Bestätigung dem Gott Neptun zu opfern. Während des Opfers wird Laokoon mit seinen Söhnen von zwei Meeresschlangen, die von Tenedos kommen, angegriffen. Zunächst beißen sie seine Söhne, bevor sie den zu Hilfe eilenden Laokoon zusammen mit seinen Söhnen beißen oder verschlingen. Dies wird von den Trojanern konsequenterweise als Strafe für dessen Taten gegen das Trojanische Pferd gedeutet. Hier zeige sich die Perfidität der Götter, so Roswitha Simons. Rezeption Antike Kunst In der Antike wurde die Laokoonepisode nur selten künstlerisch umgesetzt. Die ersten Abbildungen von Laokoon befinden sich auf einem früh-lukanischen Glockenkrater (430/425 v. Chr.) des so genannten Pisticci-Malers und auf mehreren um 380–370 v. Chr. datierten Fragmenten eines wohl mittel-apulischen Kraters, der sich im Nationalmuseums in Ruvo di Puglia befindet. Auf dem zuerst bekannten Fragment aus Ruvo sind Apollon und Artemis, ein Apollonstandbild, das von Schlangen umwunden ist, eine herbeieilende Frau und Überreste eines teilweise gefressenen und zerstückelten Kindes zu sehen. Vor dem Fund des intakten Glockenkraters war unklar, ob die dargestellte Szene sich auf den Laokoonmythos bezogen werden kann und somit eine hinter der Frau (dann Antiope) noch zu erkennende Figur als Laokoon zu deuten wäre. Der vollständige Glockenkrater zeigt eine ähnliche Szenerie: Auf der linken Seite ist eine von Schlangen umwundene Apollonstatue zu erkennen, vor der sich Überreste eines Jungen befinden. Auf die Statue stürmt eine Frau mit Axt ein, hinter der sich ein bärtiger Mann befindet. Der Statue gegenüber befindet sich Apollon – Artemis ist hier nicht abgebildet. Konrad Schauenburg und spätere Interpreten deuten die weibliche Figur als Laokoons Frau Antiope und den bärtigen Mann als Laokoon. Postriot sieht in der Frau hingegen Kassandra; Erika Simon widerspricht jedoch dieser Deutung. Gemäß Foerster und Adolf Furtwängler darf eine so zentrale Figur wie Laokoon nicht hinter einer Frau stehen, sondern hätte dann schon durch die Schlangen getötet sein müssen. Da auch die Söhne getötet sind, lässt sich laut Furtwängler somit die bei Euphorion und Vergil erst spät belegte Fassung, in der alle drei Personen tot sind, auf den Vasen früh belegen. Margot Schmidt hingegen glaubt nicht, dass Laokoon auf dem Krater aus Ruvo angegriffen wird, sondern dass er überleben wird. Weil sich die Schlangen schon auf das Kultbild zurückgezogen haben, ist dann auch der Bezug zu Arktinos’ Fassung der Geschichte nicht zwingend. Da sowohl die Statue als auch die Haltung der Frau denen der Abbildung auf dem Fragment des mittel-apulischen Kraters gleichen, postulierten Schauenburg und Schmidt auch für diese Scherbe einen Bezug zum Laokoonmythos. Laut Furtwängler besteht damit ein Bezug zu der Variante des Mythos, in der Laokoon mit seiner Frau verbotenerweise Kinder zeugt. Schmidt, Steinmeyer und Herwig Maehler führen die Motive noch genauer auf Sophokles’ Tragödie zurück, in der aber laut dem antiken Autor Dionysios von Halikarnassos beide Söhne sterben und nicht nur (wie bei Arktinos) einer. Furtwängler denkt eher an eine nachsophokleische Tragödie als Vorbild. Umstritten ist in der Forschung, ob die Darstellung eines bärtigen Mannes auf einem attischen Kantharos, der auf einem Altar von Schlangen angegriffen wird, mit Laokoon in Verbindung gebracht werden kann. Außerdem ist dort ein Mann mit Zepter und Steinschleuder zu sehen, der ebenfalls als Laokoon interpretiert wurde. Schmidt sieht in allen Geschichten Apollon und Aeneas als verknüpfende Elemente; sie vermutet, dass der Laokoonmythos gerade wegen des römischen Aeneas in Unteritalien so oft auf Vasen dargestellt wurde. Eine ähnliche Situation stellen zwei römische Wandmalereien dar, die im Haus des Menander und in der Casa di Laocoonte in Pompeji (beide Mitte 1. Jahrhundert n. Chr.; dritter beziehungsweise vespasianischer vierter Stil) um 1875 gefunden wurden: Das zum Teil zerstörte räumliche Bild in der Casa di Laocoonte zeigt den mit einem Chiton bekleideten, bekränzten Laokoon. Er sucht auf den Stufen eines Altars Schutz vor einer Schlange, die ihn angreift. Auch einer seiner Söhne wird von einer Schlange angegriffen, der zweite liegt getötet auf dem Boden – ob allerdings, wie bei Arktinos, nur ein Sohn getötet wird, ist laut dem Klassischen Archäologen Georg Lippold umstritten. Im Hintergrund sind ein Stier und vier Zuschauer dargestellt. Aufgrund des schlechter gemalten zweiten Sohnes sowie der vier Zuschauer vermutet Gerhart Rodenwaldt, dass diese eine spätere Erfindung des Malers seien, während die anderen Figuren einer Vorlage folgten. Foerster führt die Darstellung auf Laokoons Frevel im Apollontempel zurück, da auf dem Bild ein Temenos gezeigt wird. Das Wandbild befindet sich heute im Archäologischen Nationalmuseum Neapel (Inventarnummer 111210). Ein Bezug zu Vergils Laokoondarstellung im zweiten Buch der Aeneis wurde in der Forschung zunächst abgelehnt. Rudolf Ehwald sah eher in Euphorions Werk eine Vorlage und den Altar als Teil eines Tempels, vermutlich des Apollon Thymbraios, an. Für Foerster, Simon und andere scheint auch eine Abhängigkeit von der Laokoon-Gruppe wahrscheinlich; laut Rodenwaldt wäre dies einzigartig in der pompejanischen Wandmalerei und daher unwahrscheinlich. Er vermutet als Vorlage ein unbekanntes Tafelbild, das dann auch Vorbild für die Gruppe hätte sein können. Neuerdings geht die Forschung von einem Bezug zu Vergil aus, da auch bei diesem – vermutlich zum ersten Mal – alle drei Personen sterben. Zudem wird vermutet, dass das Werk nur eine Kopie ist. Gegenstück zum Wandgemälde mit Laokoon im benachbarten Triclinium ist ein Wandbild von Polyphem und Aeneas mit seinen Gefährten, zu denen möglicherweise auch Odysseus gehört (heute in Neapel, Archäologisches Nationalmuseum, Inventarnummer 111211). Das Gegenstück zum Laokoonbildnis im Haus des Menander zeigt hingegen Kassandra. Auf dem besser erhaltenen Wandbild werden Laokoon und sein Sohn von jeweils einer Schlange angegriffen, der zweite Sohn ist schon tot. Anstelle eines Altares ist ein Tisch abgebildet, dafür beobachten auch auf diesem Bild mehrere Zuschauer die Szenerie, und ein Stier entflieht dem Unheil. Georg Lippold diskutiert mehrere antike Kunstwerke als mögliche Vorbilder für die Darstellung und sieht schließlich den Maler Zeuxis von Herakleia als Ideengeber an. Für den Klassischen Archäologen Arnold von Salis kommt allerdings ebenso wenig wie Vergils Text oder die Laokoon-Gruppe eine griechische, sondern eher eine römische Vorlage dafür in Frage. Der einflussreichste Fund einer Darstellung Laokoons war der einer 2,42 m hohen Marmorgruppe am 13./14. Januar 1506 in der Nähe der Kirche San Pietro in Vincoli durch Felice de Fredis: der Laokoon-Gruppe. Als Papst Julius II. den Architekten Giuliano da Sangallo das Werk begutachten ließ, verknüpfte dieser es sofort mit Plinius des Älteren Beschreibung einer im Palast des Titus aufgestellten Statue (Naturalis historia 36,37): Diese sei allen (gemalten) Bildern oder Werken der Bildniskunst (Bildhauerei oder Bronzegüssen) vorzuziehen und auf Beschluss eines kaiserlichen Rates von drei rhodischen Künstlern – Hagesandros, Polydoros und Athenodoros – (wie) aus einem einzigen Stein durch die besten Künstler geschaffen worden. Sie stellt Laokoon zentral auf einem Altar stehend dar, zu seinen Seiten seine beiden Söhne. Die Dreiergruppe wird von Schlangen angegriffen, und laut Simon (gegen Robert) hat der ältere Sohn die Möglichkeit, sich zu befreien. Damit ist die Darstellung nicht zwingend von Vergils Fassung abhängig, da dort beide Söhne getötet werden, und laut Erika Simon eher Arktinos’ Fassung zuzuschreiben, in der nur der Vater und ein Sohn sterben. Weil aber eine Beziehung zu Vergils Werk nicht ausgeschlossen ist und sich damit der terminus post quem (Zeitpunkt, nach dem das Werk geschaffen wurde) nach hinten verschöbe, ist sich die Forschung auch über die Datierung der Laokoon-Gruppe uneinig. Die Mehrzahl plädiert für die neronisch-flavische Zeit (1. Jahrhundert n. Chr.), einzelne Autoren aber auch für eine frühkaiserzeitliche Marmorkopie (1. Jahrhundert v. Chr.) einer hellenistischen Bronzeskulptur (2. Jahrhundert v. Chr.), die laut Bernard Andreae durch Phyromachos und den vielleicht von ihm geschaffenen Pergamonaltar sowie andere Kunstwerke beeinflusst sein kann. Die Laokoon-Gruppe wurde nach ihrem Auffinden oft kopiert; für die Antike ist dies nicht belegt. Ausgangspunkt für viele Diskussionen über diese Marmorgruppe war Gotthold Ephraim Lessings Werk Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie aus dem Jahre 1766. Zu erneuten kontroversen Diskussionen kam es nach dem Auffinden eines einstmals verschollenen Armes durch den Archäologen und Kunsthändler Ludwig Pollak 1905. Erst 1960 fügte ihn Filippo Magi an das Original an. Mehrere spätantike Kontorniat-Medaillons (356–394 n. Chr.), die wohl als Neujahrsgeschenke gedacht waren, zeigen auf der einen Seite einen römischen Kaiser des frühen Prinzipats (in der Reihenfolge der Prägung: Vespasian und Nero) und auf der anderen Seite eine (laut Simon) Vergils Aeneis nahestehende Darstellung des Übergriffs der Schlangen auf Laokoon und seine Söhne. Richard Foerster, der Numismatiker Andreas Alföldi und der Historiker Leopold Ettlinger sehen hingegen eine Abhängigkeit der Kontorniaten von der Laokoon-Gruppe – für Alföldi ist die Ausführung dabei „kläglich schlecht“. Foerster unterscheidet zwei verschiedene Typen, die unterschiedlich stark von der Laokoon-Gruppe abhängen und zwei beziehungsweise vier attackierende Schlangen, Laokoon und dessen beide Söhne darstellen. Alföldi hingegen sieht drei von der Laokoon-Gruppe abhängige, aber schlecht gearbeitete Varianten. Für Ettlinger scheinen die Kontorniaten eine Art Kunstpropagandamittel zu sein, das auf den Niedergang des römischen Reiches hinweist. Eine spät-etruskische Gemme vermutlich aus dem 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. zeigt einen Mann mit zwei Kindern, die von drei Schlangen umschlungen, aber nicht gebissen sind und flüchten. Lange war sich die Forschung uneinig, ob sie echt sei und ob sie Laokoon und dessen Söhne darstelle und damit Vorbild für die Laokoon-Gruppe sein könne. So sprach sich der Klassische Archäologe Adolf Furtwängler dafür aus, dass die seiner Meinung unzweifelhaft echte, wenn auch wenig kunstvolle Gemme die sich im 4. Jahrhundert v. Chr. langsam etablierende Gründungssage Roms darstelle. Sie zeige „ohne Zweifel“ Laokoon und seine Söhne, habe aber keine griechischen Vorbilder und stehe auch sonst nicht in Beziehung zur Laokoon-Gruppe, was wiederum Bernard Andreae später vorschlug. Die Gemme könne laut Furtwängler in Verbindung mit Euphorions Laokoondarstellung stehen, da erstmals bei diesem wie eben auch auf der Gemme Laokoon und seine Söhne von den Schlangen angegriffen würden. Die Archäologin Gemma Sena Chiesa sprach sich 2007 gegen die These aus, die Gemme sei in der Antike hergestellt worden. Eine Illustration des 5. Jahrhunderts n. Chr. zeigt zwei verschiedene Szenen des Werkes als Ergänzung zur Aeneis-Handschrift in der Vatikanischen Bibliothek – in beiden Fällen wird Laokoon namentlich erwähnt: Auf der linken Seite der Miniatur opfert der Priester den Stier am Altar, rechts werden er und seine Söhne von Schlangen umfasst, woraufhin Laokoon die Arme in die Luft reißt und aufschreit; sie befinden sich dabei zwischen einem Neptun- und vermutlich einem Athenetempel. Da der Schlangenangriff nicht genau Vergils Darstellung wiedergibt, könnte die Illustration gemäß der Ansicht von Erika Simon und Leopold Ettlinger trotz einiger Unterschiede durch die Laokoon-Gruppe beeinflusst sein. Die Handschrift mit der Illustration wurde jahrhundertelang in einer Bibliothek vor der Öffentlichkeit verborgen aufbewahrt. Kunst des Mittelalters und der Neuzeit Dass in der Kunst des Mittelalters kaum Darstellungen der Laokoonsage zu finden sind, hat seinen Grund in der geringen Kenntnis der antiken literarischen Texte und im Verschwinden der künstlerischen Darstellung dieses Mythos. Erst im 14. Jahrhundert treten erneut derartige Darstellungen auf. Eine der ersten zeigt neben dem Vergiltext im Codex Riccardianus, der heute in der Bibliothek des Palazzo Medici Riccardi zu finden ist, Laokoon und seine Söhne, die die Trojaner vor dem Pferd warnen. Hergestellt wurde die Illustration von Apollonio di Giovanni vor 1465. Die Textpassage im Codex füllt Vergils Lücke mit einer Aufforderung des Volkes, Neptun zu opfern, damit dieser Laokoons Worte bestätige und das Volk ihm damit glauben könne. Die künstlerische Gestaltung von mittelalterlichen Vergilhandschriften setzen im 15. Jahrhundert wahrscheinlich Jacobi de Fabriano sowie Benozzo Gozzoli fort. Aus der Renaissance sind unter anderem Holzschnitte mit Laokoondarstellungen aus der ersten Vergilausgabe in Deutschland, dem so genannten Straßburger Vergil des Jahres 1502, überliefert. Verantwortung trugen für diese Ausgabe Hans Grüninger und Sebastian Brant; Thomas Murner übernahm die Holzschnitte in seine Vergilausgabe. Aus der Zeit vor der Entdeckung der Laokoon-Gruppe im Jahr 1506, die die meisten nachfolgenden Laokoondarstellungen beeinflusste, ist noch eine Handzeichnung von Filippino Lippi zu einem geplanten Fresko erhalten. Diese Zeichnung steht vermutlich ebenso wie die früheren Miniaturen in Vergils Tradition oder laut Georg Lippold in der Tradition der pompejanischen Wandbilder und hängt nicht von anderen, verlorenen Bildquellen ab. Da auch Laokoons Frau und eine Tempelarchitektur dargestellt sind, führt Richard Foerster die Darstellung auch auf die von Servius paraphrasierte Fassung von Euphorion oder Hyginus zurück. Für den Klassischen Archäologen Arnold von Salis steht Lippis Zeichnung trotz klarer Unabhängigkeit von der Laokoon-Gruppe noch eher in der antiken Tradition als die Abbildungen in den Vergilhandschriften. Vorbild sei wohl ein altes römisches Wandgemälde, das mit denen in Pompeji verwandt sein könne und auch die Laokoondarstellung in der Vergilhandschrift in der Vatikanischen Bibliothek habe beeinflussen können. Von der Laokoon-Gruppe unabhängige spätere Werke befassen sich vorwiegend mit dem von Vergil erwähnten Opfer für Poseidon und dem Speerstoß ins Pferd oder präsentieren die Toten unabhängig von der Darstellung der Gruppe. So schuf zwar Hans Brosamer 1538 noch einen der Gruppe ähnlichen Kupferstich, Nicolò dell’Abbate aber vor 1552 zwölf unabhängige Fresken und Giovanni Battista Fontana Ende des 16. Jahrhunderts einen Kupferstich der Opferszene. Auch Giulio Romano stellte vor 1538 einige Fresken her, laut Foerster allerdings auf Grundlage der kurz zuvor entdeckten Darstellung bei Hyginus beziehungsweise nach Pietsch in Nachahmung Vergils. Marco Dente verarbeitet 1510 in einem Kupferstich neben der Laokoon-Gruppe möglicherweise eines der pompejanischen Wandbilder. Zudem ist auf der Basis des Altars, auf dem Laokoon steht, das zweite Buch von Vergils Aeneis erwähnt. Besonders einflussreich war ein Werk von El Greco (1604–1614), der Elemente der Laokoon-Gruppe mit den literarischen Zeugnissen des Mythos verknüpfte. Beeinflusst wurde er auch durch Tizians nur in einem Stich von Boldrini erhaltene Parodie der Laokoon-Gruppe, in der der Priester und seine Söhne als Affen dargestellt sind. Laut Arnold von Salis hatte Tizian damit seinem Ärger über den „Laokoonrummel seiner Zeit“ Luft machen wollen. Auf El Grecos Bild deutet Erwin Walter Palm zwei weitere, zuvor als Apollon und Artemis interpretierte Figuren des Bildes als Adam und Eva. Mathias Mayer sieht in der christlichen Ikonographie vor allem bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts eine allgemeine Verbindung von Laokoon mit der Adamsgestalt (und dem zweiten Adam: Jesus Christus) und interpretiert beide Geschichten unter anderem aufgrund der durch Schlangen verursachten Tode von beiden Personen als Sündenfälle. Mayer und Palm führen diese Verbindung von Laokoon mit Adams Gestalt auf die von Hygin und Euphorion bei Servius berichtete Geschichte des Heiratsverbotes zurück. Ganz anders deutet Ewald Maria Vetter die dargestellte Zweiergruppe: Die einen Apfel in der Hand haltende Figur sei nicht Adam, sondern Paris, der den Zankapfel der Eris hält; Palms Eva sei dann Helena. Außerdem sei El Grecos Bild nicht auf die Laokoon-Gruppe, sondern auf einen ähnlichen Kupferstich von Jean de Gourmont aus dem 16. Jahrhundert zurückzuführen, der wie El Grecos Bild besonders auf Trojas Untergang anzuspielen scheine. Auch aus der Zeit nach der Renaissance sind nur wenige von der Laokoon-Gruppe unabhängige Kunstwerke bekannt: Die Bronzegruppe von Adriaen de Vries (1626) und eine Zeichnung von Carl Bach (1796) weichen zudem nur in der Komposition von der gängigen Darstellung ab. Aubrey Beardsley erstellte 1886 neun Comic- und 19 Sketchzeichnungen zum zweiten Buch der Aeneis, darunter jeweils auch zwei zu Laokoon. Literarische Rezeption Der spätantike Autor Blossius Aemilius Dracontius (Ende 5. Jahrhundert n. Chr.) gestaltet in seinem Kurzepos De raptu Helenae (Über den Raub Helenas) seine Figur Helenus nach Laokoons Vorbild. Auch Helenus ist trojanischer Priester und warnt unter strukturellen Parallelen seine Landsleute vor dem Untergang der Stadt. Apollon straft hier die Trojaner, weil Laomedon nicht seine Schulden bei Apollon bezahlt hatte, wie dies auch im Laokoonmythos bei Nikander geschildert wurde (siehe oben). Er beschimpft dazu in einer Prophezeiung Kassandra und das Laokoonpendant Helenus. Sonst wird Laokoon bis zum Mittelalter nur als Beispiel für die griechische Deklination im Lateinischen bei mehreren spätantiken Grammatikern, bei Gregor von Tours in dessen Libri Miraculorum und in einem weiteren Epigramm der Anthologia Latina namentlich erwähnt. Simons sieht die Ursachen für die Nichterwähnung Laokoons trotz der beispielhaften Grausamkeit der Götter gegen ihn vor allem in der Beeinflussung der Trojageschichten durch die Werke von Dares Phrygius und Dictys Cretensis aus dem 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Diese sparten göttliche Eingriffe größtenteils aus, auch bei der Laokoonsage, die zuvor „ein Stück Allgemeingut“ war. Zudem, so Simons weiter, war die Überlieferung der Laokoonsage so vielfältig, dass die Autoren besonders vor dem Problem standen, mit welchem Gott, dem Laokoon geweiht war oder den er verärgert hatte, sie sich nun kritisch befassen sollten. Neptun war aufgrund seines weniger bedeutenden Wirkungsbereiches zudem wenig interessant für die christliche Kritik an heidnischen Göttern. Als dritten Grund gibt Simons an, dass Laokoons Tod als Symbol für den Fall Trojas durch Priamos’ Ende und Laokoons Warnungen durch die des Helenus (und der Kassandra) abgelöst wurden. Zudem sei die Geschichte für einen antiken Mythos zu untypisch, schwierig und sperrig. Vermutlich aus diesen Gründen ist die Rezeption der Laokoonsage im Mittelalter in der Forschung nicht umfangreich bearbeitet. Nur selten wird auf einige wenige Werke verwiesen, die sich dann vorwiegend an Vergils Darstellung des Mythos orientierten, darunter im 12./13. Jahrhundert sehr kurz die Trójumanna Saga Kapitel 34, in der Laokoon aber nicht namentlich erwähnt wird. Giovanni Boccaccio hat im 14. Jahrhundert Laokoon als 55. Sohn von Priamus ins IV. Buch seiner Genealogia deorum gentilium (1350–1367) aufgenommen. Im byzantinischen Mittelalter des 12. Jahrhunderts beschäftigte sich der Gelehrte Johannes Tzetzes mit dem Laokoonmythos, erwähnt in seinem griechischsprachigen Epos Posthomerica Laokoon aber nur sehr kurz: Dort stößt dieser als einziger mit einem Speer in das hölzerne Pferd. Ein Sohn stirbt dann unter Schlangenbissen. In seinem Scholion (Schulkommentar) zu Lykophrons Drama Alexandra (2. Jahrhundert v. Chr.) deutet er die „Inseln des kinderverschlingenden Porkes“ als die Kalydnainseln. Von diesen seien die Schlangen Porkes und Chariboia gekommen und hätten nach einer antiken Lesart die beiden Söhne Laokoons am Altar des Apollon Thymbraios, nach einer anderen Überlieferung nur einen Sohn ohne Erwähnung des Altares getötet. Nach Engelmann/Höfer geschah der Angriff, weil nicht Laokoon selbst, sondern ein Sohn das Pferd angegriffen hatte, was er mit einem Scholion zu Ovids nur fragmentarisch erhaltenem Ibis zu belegen versucht, nach dem die Tat von Laokoon oder T(h)eron ausgeführt wurde. Engelmann/Höfer vermuten in „T(h)eron“ eine alternative Schreibung zu Servius’ „Ethron“, einen von Laokoons Söhnen. Robert sieht in der Tatsache, dass nur die Söhne Laokoons sterben, er selbst aber nicht, einen Verweis auf Dionysios’ Anmerkung zur Sophoklestragödie. Foerster schließlich bezweifelt, dass „kinderverschlingend“ sich zwingend auf die Laokoongeschichte beziehen müsse. Auch scheine sich das Lykophronscholion eher auf Bakchylides als auf Sophokles zu beziehen. Zudem sei laut Foerster das Scholion zu Lykophron der erste echte Beleg, dass nur die Söhne bestraft würden. Bei Quintus, der sich dann auf Lykophron bezogen haben könnte, wurde auch Laokoon geblendet und bei Vergil laut Maurach mindestens als Priester entehrt, wenn nicht nach anderen Interpreten sogar getötet. Im westlichen Mittelalter hingegen geriet die Laokoongeschichte fast vollständig in Vergessenheit, da auch bildliche Zeugnisse wie die Laokoon-Gruppe verschwunden waren. Ein Gedicht von Jacopo Sadoleto, das direkt nach Auffinden der Gruppe im Jahre 1506 entstanden ist, beschreibt dieses Kunstwerk mit dem Vokabular, das Vergil für seine Darstellung des Mythos verwendete. Es wurde umgehend vom Lateinexperten dieser Zeit, seinem Freund Pietro Bembo, in höchsten Tönen gelobt und beeinflusste nachfolgende Laokoondichtungen stark. In der Neuzeit verfassten die Autoren James Thomson („The Laocoön“, 1735f.), Johann Gottfried Herder („Laokoon’s Haupte“, circa 1770–1772), Paolo Costa („Il Laocoonte“, 1825), Domenico Milelli („Laocoonte“, 1899), Erik Lindegren („Gipsavgjutning“, 1954), Donald Hall („Laocoön“, vor 1957), Ștefan Augustin Doinaș („Seminția lui Laocoon“, 1967) und Gunnar Ekelöf („Laocoön“, 1967) zum Teil von der Laokoon-Gruppe unabhängige Gedichte. Auch im Theater wurde der Laokoonmythos rezipiert – Georg Christian Braun veröffentlichte 1824 eine Quintus von Smyrnas Laokoondarstellung nahe Tragödie. Ernst Proschek („Laocoön“, 1919) und Eduard Maydolf („Laokoon. Einaktiges Trauerspiel“, 1925) verfassten im 20. Jahrhundert Dramen zum Stoff der Laokoonsage. Die sonstige von der Laokoon-Gruppe abhängige Literatur wird in deren Artikel behandelt, die sonstige Sekundärliteratur zu den einzelnen Laokoon-Darstellungen in den jeweiligen Abschnitten dieses Artikels. Musik In der Musik wurde das Laokoonmotiv nicht oft verarbeitet, eine Ursache dafür könnte das in der Laokoon-Geschichte fehlende, sonst aber in der Oper übliche Happy End sein, so der Klassische Philologe Klaus-Dietrich Koch. Eine Opera seria namens „Laconte/Laocoonte“ wurde von Pietro Alessandro Guglielmi nach dem Libretto von Giuseppe Pagliuca am 30. Mai 1787 in Neapel uraufgeführt. Der französische Komponist Hector Berlioz schrieb zwischen 1856 und 1864 die Oper Les Troyens in zwei Teilen nach einem selbstverfassten Libretto. Der zweite Teil (3.–5. Akt) wurde 1863 im Théâtre-Lyrique (Paris) uraufgeführt, der erste Teil erst nach Berlioz’ Tod. Das Werk verarbeitet vor allem das zweite und vierte Buch der Aeneis. Laokoon tritt zwar nicht selbst auf, Aeneas berichtet aber in seinem ersten Auftritt, nachdem er – so wie Laokoon in der Aeneis – von der Burg herabgeeilt kam, von dessen Speerstoß gegen das Trojanische Pferd und seinem Tod durch die Schlangen. Das Opfer an Neptun und den Tod der Söhne lässt Berlioz hingegen aus. Als Grund für das Auslassen einer eigenständigen Laokoonszene gibt der Musikwissenschaftler Klaus Heinrich Kohrs unter anderem dessen frühen Tod in der Aeneis an. Laut Koch spart Berlioz damit eine schon früh verschwindende Person ein. Auch kann die Szene auf der Bühne kaum angemessen dargestellt werden. Der Botenbericht, wie ihn Aeneas in Les Troyens gibt, stellt laut Koch und Kohrs eine sinnvolle Möglichkeit dar, dennoch das symbolhafte Unglück Laokoons zu behandeln. Seine alles überschauende Erzählerrolle wie in Vergils Aeneis muss er dafür allerdings aufgeben. Die musikalische Qualität des Stückes beschreibt Koch wie folgt: „14 z. T. ungewöhnlich lange Textzeilen in knapp einer Minute musikalisch hervorgebracht; die Stimmführung, in abwechselnd ganz kleinen und sehr großen Intervallen die Tenorstimmskala völlig ausschöpfend; charakterisierende, manchmal illustrative Orchestrierung; harmonische Vorgänge, die nicht leicht nachzuvollziehen sind: ein Stück, das gewiß ohne Vorbild und schwer zu klassifizieren ist.“ (Koch (1990) S. 138). An Laokoons Stelle als Warner der Trojaner tritt die in Vergils Aeneis nur kurz auftretende Kassandra, die zugleich ein Gegenstück zu Dido bildet. Die musikalische Darstellung dieser Szene beurteilt Koch so: „Man kann diese von fis-Moll aus kraß modulierende, rhythmisch stark gegliederte, zerrissen wirkende Gesangslinie völlig konträr werten: Zweifellos symbolisiert das Bizarre der Melodik und Harmonik treffend den tiefen Schock, den die Personen erlitten haben, und diese Musik wirkt auf uns »moderner« als alles Gleichzeitige (außer Wagners Tristan); andererseits kann man aber auch den Eindruck gewinnen, die Tonfolgen seien verwinkelt, willkürlich und gleichsam unlogisch – eine inspirationsferne Art Reißbrettmelodik und -harmonik.“ (Koch (1990) S. 140). Da man aber auch Kassandra nicht glaubt, interpretieren die zunächst erschrockenen Trojaner Laokoons Tod als Mahnung, das Trojanische Pferd in die Stadt zu ziehen. Sie beklagen dabei Laokoon als schreckliches Opfer des Gotteszornes. Er sei damit, so Andrée Thill, für Berlioz eine „heilige Figur“. Sonstige Rezeption Der am 7. November 1978 entdeckte Jupiter-Trojaner-Asteroid (3240) Laocoon ist nach Laokoon benannt. Quellenausgaben Anthologia Latina sive poesis Latinae supplementum ediderunt Franciscus Buecheler et Alexander Riese. Pars prior: Carmina in codicibus scripta recensuit Alexander Riese. Fasciculus I: Libri Salmasiani aliorumque carmina. Editio altera denuo recognita. Leipzig 1894/1964. (online verfügbar) Apollodor: Bibliotheke. Götter- und Heldensagen. Griechisch und Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Paul Dräger (Sammlung Tusculum). Artemis & Winkler, Düsseldorf u. Zürich 2005, ISBN 3-7608-1741-6. Arktinos von Milet, Epicorum Graecorum Fragmenta 62,11 = Albert Severyns: Recherches sur la chrestomathie de Proclos. La Vita Homeri et les sommaires du cycle. 1963. Herwig Maehler (Hrsg.): Die Lieder des Bakchylides. Band 2. Die Dithyramben und Fragmente. Leiden 1997, ISBN 978-2-251-66170-4, S. 310f. Felix Scheidweiler (Hrsg.): Euphorionis fragmenta. Georgi, Bonn 1908, ISBN 978-1-148-55887-5. Excidium Troiae edited by Elmer Bagby Atwood and Virgil Keeble Whitaker. Cambridge, Massachusetts 1944. Hygini Fabulae, recensuit, prolegomenis commentario appendice instruxit H.I. Rose. Leyden 1933 (Ndr. 1967). Nicander: The poems and poetical fragments. Ed. with a translation and notes by A. S. F. Gow, Cambridge 1953/New York 1979. Konrad Müller (Hrsg.): Petronii Arbitri Satyricon Reliquiae. Erweiterte und korrigierte Ausgabe der 4. Auflage von 1995. München und Leipzig 2003, ISBN 3-598-71257-X. Quintus von Smyrna: Der Untergang Trojas. Griechisch und Deutsch. Hrsg., übers. und kommentiert von Ursula Gärtner. Darmstadt 2010, ISBN 978-3-534-23313-7. The Fragments of Sophocles, edited with additional notes from the papers of Sir Richard Claverhouse Jebb and Walter George Headlam by Alfred Chilton Pearson. Cambridge 1917, ISBN 978-1-108-00988-1. Publius Vergilius Maro: Aeneis. Hrsg. von Gian Biagio Conte. (Bibliotheca Teubneriana). de Gruyter, Berlin 2009, ISBN 978-3-11-019607-8. Literatur Gesamtdarstellungen Bethe (1891): (Detaillierte Beschreibung des Mythos, auf die Rezeptionsgeschichte wird nicht eingegangen.) Engelmann/Höfer (1897): (Sehr gute Zusammenstellung und Interpretation der Belegstellen, in der Darstellung der Rezeptionsgeschichte wird nur auf die Laokoon-Gruppe eingegangen.) Gärtner (2005): Ursula Gärtner: Quintus Smyrnaeus und die „Aeneis“. Zur Nachwirkung Vergils in der griechischen Literatur der Kaiserzeit (= Zetemata. 123). München 2005, S. 23–40, 133–260 und 273–287. (Sehr ausführliche Darstellung der Laokoonsage allgemein [S. 133–160, 192–197, 205–218, 280 und 282] und speziell im Vergleich von Quintus’ mit Vergils Fassung.) Habermehl (2006): Peter Habermehl: Petronius, Satyrica 79–141. Ein philologischer-literarischer Kommentar. Band. 1: Sat. 79–110. Berlin 2006, ISBN 978-3-11-018533-1, S. 149–207. (Umfangreicher Kommentar über Petrons Darstellung der Geschichte, auf S. 151–160 wird insbesondere auf die Hintergrundgeschichte eingegangen.) Hunger (1979): Herbert Hunger: Laokoon. In: Derselbe: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart. Siebte Auflage, Reinbek 1979, ISBN 3-499-16178-8, S. 230f. (Guter kurzer Umriss der Laokoongeschichte mit vielen Hinweisen zur Rezeption in Kunst, Literatur und Musik.) Robert (1923): Carl Robert: Die Griechische Heldensage. Erste Hälfte. Der Troische Kreis bis zu Ilions Zerstörung. Herausgegeben von Otto Kern. Als Neuauflage von Ludwig Preller: Griechische Mythologie. Zweiter Band. Die Heroen (Die Griechische Heldensage). Vierte Auflage. Erneuert von Carl Robert. Drittes Buch. Die Großen Heldenepen. Zweite Abteilung. 3. Der Troische Kreis. Erste Hälfte bis zu Ilions Zerstörung. Berlin 1923, S. 1241–1275. (Ausführliche Darstellung der Geschehnisse der Iliu persis, in der Robert auf S. 1248–1252 detailliert auch auf Laokoon eingeht.) Simon (1992): Ergänzung bei (Ein sehr guter Beitrag – vor allem zur Rezeption in der Kunst; auch der Mythos wird überzeugend skizziert.) Allgemeine Untersuchungen Andreae (1988): Bernard Andreae: Laokoon und die Gründung Roms. Mainz 1988, ISBN 978-3-8053-0989-9 (vor allem S. 149–166). (Deutungsversuch der Laokoon-Gruppe mit umfangreichen Exkursen zu verwandten Skulpturen, zur Geschichte und Politik; in den hervorgehobenen Seiten Interpretation von Vergil und anderen Texten.) Althaus (2000): Horst Althaus: Laokoon: Stoff und Form. Tübingen/Basel 2. Auflage 2000. (Untersuchung literarischen Beschäftigungen von Winckelmann, Lessing, Herder und Goethe von mit der Laokoon-Gruppe [S. 11–100] sowie Blick auf die neuere Forschung [S. 116–138]. Dabei auf den Seiten 43 bis 48 sowie 135 bis 138 mit Blick auf die literarischen Darstellungen.) Foerster (1890a): Richard Foerster: Philologische Parerga zum Laokoon. In: Verhandlungen der vierzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Görlitz vom 2. bis 5. Oktober 1888. Leipzig 1890, S. 428–438. (Foerster befasst sich mit einer Inschrift über die Laokoon-Gruppe [S. 428–430], Peisandros von Laranda als Quelle für Vergils Aeneis [S. 430–432] und ausführlich mit Sophokles’ Laokoon in Bezug auf Hygin, Lykophron und andere [S. 432–438].) Foerster (1906a): Richard Foerster: Laokoon. In: Jahrbuch des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts. Band 21, Berlin 1906, S. 1–32. (Zunächst Beschreibung der Laokoon-Gruppe [S. 1–7], dann Diskussion der Entstehungszeit anhand grammatisch-exegetischer [S. 11–13], mythographisch-literarhistorischer [S. 13–23] sowie epigraphisch-paläographischer Gründe [S. 23–31].) Heinze (1957): Richard Heinze: Virgils epische Technik. Vierte Auflage, Darmstadt 1957, ISBN 978-1-144-23150-5, S. 12–20 und 67–71. (Sehr gute Interpretationen zu Vergils, Quintus’ und Pseudo-Apollodors Fassungen.) Nesselrath (2009): Heinz-Günther Nesselrath: Laokoon in der griechischen Literatur bis zur Zeit Vergils. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hrsg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30. November 2006, Universität Bonn (= Beiträge zur Altertumskunde. 254). Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-020126-0, S. 1–13. (Nesselrath geht auf alle griechischsprachigen Texte mit Laokoonbezug vor Vergil ein und interpretiert sie.) Pietsch (1980): Wolfgang Pietsch: Laokoon. Bemerkungen zur Episode in der Äneis, zur Wirkungsgeschichte und zur unterrichtlichen Behandlung eines antiken Mythologems. In: Anregung. Zeitschrift für Gymnasialpädagogik. Band 26, München 1980, S. 158–175. (Zunächst vor allem sprachliche Interpretations von Vergils Laokoongeschichte [S. 158–162], dann Anmerkungen zur Wirkungsgeschichte der Laokoon-Gruppe bis in die Moderne [S. 163–172], schließlich ein Vorschlag zur Nutzung des Stoffes im Unterricht [S. 172–175].) Robert (1881): Carl Robert: Bild und Lied (= Philologische Untersuchungen. 5). Berlin 1881, S. 192–212. (Noch immer grundlegende, ausgezeichnete Darstellung und Interpretation der Laokoonsage; auf S. 222–232 geht Robert zudem auf Arktinos und die Iliu persis ein.) Schmälzle (2018): Christoph Schmälzle: Laokoon in der Frühen Neuzeit. 2 Bde., Frankfurt a. M. 2018. (Untersuchung der europäischen Laokoon-Rezeption mit Fokus auf bislang wenig erforschte Rezeptionsstränge abseits der neoklassizistischen, insb. Barock, begleitet von einem Bildband.) Schott (1957): Gerhard Schott: Hero und Leander bei Musaios und Ovid. Köln 1957, S. 36–55. (Darstellung der verschiedenen Laokoon-Sagen mit Kommentaren zu einigen Forschungsproblemen [S. 36–46] mit dem Ziel, Quintus’ Fassung nicht von Vergil abhängen zu lassen [S. 46–55].) Simons (2009): Roswitha Simons: Der verräterische Gott. Laokoon in der lateinischen Literatur der Kaiserzeit und Spätantike. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hrsg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30. November 2006, Universität Bonn (= Beiträge zur Altertumskunde. 254). Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-020126-0, S. 104–127. (Simons geht ausführlich auf die Rezeption der Laokoongeschichte in der römischen Kaiserzeit und Spätantike ein [S. 104–123], darunter besonders bei Dracontius [S. 104–110], Petron [S. 114–117], Donatus [S. 117–120] und dem Excidium Troiae [S. 120–123], bevor sie eine Erklärung für die fast komplette Nichtbeachtung des Mythos im Mittelalter anbietet [S. 123–127].) Steinmeyer (1968): Herbert Steinmeyer: Die Laokoonszenen in Vergils Aeneis (Aeneis II 40–66 und 199–233). In: Der Altsprachliche Unterricht. Band 10, Seelze 1967, S. 5–28. (Zunächst im Vergleich mit anderen antiken Autoren Herausarbeitung von Vergils Laokoon als gegen Poseidon frevelnder Polisbürger [S. 5–17], dann Einordnung der Szene in die aristotelische Dramentheorie [S. 17–22] und in die Rezeption [S. 23–28].) Zintzen (1979): Clemens Zintzen: Die Laokoonepisode bei Vergil (= Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. 1979, 10). Mainz/Wiesbaden 1979, ISBN 978-3-515-03172-1. (Ausführliche Gesamtinterpretation der Laokoonsage mit einem Forschungsüberblick [S. 5–14], Hinweisen auf andere Laokoondarstellungen [S. 15–48] und einem Vergleich von Vergil mit Quintus von Smyrna [S. 27–63].) Einzeluntersuchungen Vergil Austin (1959): Roland Gregory Austin: Virgil and the Wooden Horse. In: The Journal of Roman Studies. Band 49, London 1959, S. 16–25. (Bericht über das Trojanische Pferd, in dem Austin auf S. 18–21 auch auf Laokoons Handlungen eingeht.) Austin (1964): Roland Gregory Austin: Publii Vergilii Maronis Aeneidos Liber Secundus. Oxford 1964, S. 44–51 und 94–109. (Englischsprachiger Kommentar zu Vergil, in dem Austin besonders auf S. 44f. und 94–97 auf die Laokoongeschichte selbst eingeht.) Bethe (1891): Erich Bethe: Vergilstudien. I. Die Laokoonepisode. In: Rheinisches Museum für Philologie. Neue Folge. Band 46, 1891, S. 511–527. (Analytische Interpretation der Darstellung bei Vergil unter besonderem Vergleich mit Pseudo-Apollodor und Arktinos.) Foerster (1890b): Richard Foerster: Über die Entstehungszeit des Laokoon. In: Verhandlungen der vierzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Görlitz vom 2. bis 5. Oktober 1888. Leipzig 1890, S. 74–95. (Foerster geht auf die Abhängigkeit der Laokoon-Gruppe von der Laokoonsage bei Vergil ein [S. 84–91] und sieht als Hauptquelle für den Mythos Euphorions Fassung.) Henry (1878f.): James Henry: Aeneida, or critical, exegetical, and aesthetical remarks on the Aeneis. Bd. 2, Dublin 1878f., ISBN 978-1-174-70321-8, S. 47–51 und 115–125. (Englischsprachiger Kommentar zu Vergils zweitem Buch der Aeneis.) Kleinknecht (1944): Hermann Kleinknecht: Laokoon. In: Hermes. Band 79, 1944, S. 66–111. (Ausführliche Darstellung des Prodigienstil für Vergils Laokoondarstellung zunächst anhand des Textes [S. 67–82], dann im Vergleich zur Geschichtsschreibung [S. 83–92] und zur Konzipierung der gesamten Szene [S. 93–97], sowie Interpretation des Gesamtmythos [S. 109].) Klingner (1967): Friedrich Klingner: Virgil: Bucolica, Georgica, Aeneis. Zürich/Stuttgart 1967, S. 410–419. (Interpretation von Vergils Darstellung des Mythos mittels zweier Deutungsebenen.) Knox (1950): Bernard MacGregor Walker Knox: The Serpent and the Flame: The Imagery of the Second Book of the Aeneid. In: The American Journal of Philology. Band 71, 1950, S. 379–400. (Analyse und Interpretation des Schlangenangriffs bei Vergil [vor allem S. 381–384].) Krafft (1986): Peter Krafft: Nochmals Vergils Laokoon. In: Ulrich Justus Stache, Wolfgang Maaz, Fritz Wagner (Hrsg.): Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire. Franco Munari zum 65. Geburtstag. Hildesheim 1986, ISBN 978-3-615-00012-2, S. 43–62. (Detaillierter Überblick über den Forschungsstand [S. 43–46], Vergleich von Vergils mit anderen Laokoondarstellungen [S. 46–52] nebst Interpretation der Ergebnisse [S. 52–56].) Maurach (1992): Gregor Maurach: Der vergilische und der vatikanische Laokoon. Mit einem Anhang zu Michelangelos Laokoon-Zeichnung und Tafeln I–VIII. In: Gymnasium. Band 99, Heidelberg 1992, S. 227–247. (Nach einer textkritischen Frage [S. 228–230] Interpretation von Laokoons Entehrung bei Vergil [S. 230–239] sowie Rekonstruktion der Laokoon-Gruppe [S. 239–244] und Vergleich selbiger mit Vergil [S. 244–246].) Plüss (1884): Hans Theodor Plüss: Vergil und die epische Kunst. Leipzig 1884, ISBN 978-1-142-39922-1, S. 57–104. (Ausführlichste sprachlich-inhaltliche Interpretation zu Vergils zweitem Laokoonauftritt [S. 57–84], Widerlegungen von früheren Interpretationen [S. 84–100] mit einem Exkurs über die Form der Darstellung [S. 101–104].) Putnam (1965): Michael Courtney Jenkins Putnam: The Poetry of the Aeneid. Cambridge (Massachusetts) 1965, ISBN 978-0-8014-9518-2, S. 4–7, 17–27 und 236. (Interpretation von Vergils zweitem Buch der Aeneis [S. 3 bis 63].) Zwierlein (2008): Otto Zwierlein: Si mens non laeva fuisset. In: Stefan Freund, Meinolf Vielberg (Hrsg.): Vergil und das antike Epos. Festschrift Hans Jürgen Tschiedel. Stuttgart 2008, ISBN 3-515-09160-2, S. 339–354. (Belegstarke Interpretation von Vergils [S. 339–349] und Petrons [S. 349–354] Laokoon-Darstellung als willkürlichen Akt der Götter ohne Verschuldung der Trojaner.) Petron Barnes (1971): Edward James Barnes: The poems of Petronius. Toronto 1971, S. 69–106. (In der Forschung nicht rezipierte ausführliche Interpretation von Petrons Laokoondarstellung mit einem Vergleich zu Vergil auf S. 79–90.) Beck (1979): Roger Beck: Eumolpus poeta, Eumolpus fabulator: A Study of Characterization in the Satyricon. In: Phoenix. Band 33, S. 240–252. (Vor allem Interpretation des Dichters der Laokoonepisode bei Petron: Eumolpus.) Bodoh (1987): John James Bodoh: Reading Laocoon in Vergil and Petronius. In: L’Antiquité classique. Band 61, Brüssel 1987, S. 269–274. (Vor allem sprachliche Analyse von Laokoons Tod, dargestellt bei Vergil und Petron.) Connors (1998): Catherine Connors: Petronius the Poet: Verse and Literary Tradition in the Satyricon. Cambridge 1998, ISBN 978-0-521-59231-4, S. 84–99. (Interpretation von Petron im Kontext der umliegenden Stellen und der Verfassungszeit [S. 84–87. 93–99] unter Berücksichtigung einiger Motive [S. 87–93] wie der Laokoondarstellung [S. 89f.].) Courtney (2001): Edward Courtney: A companion to Petronius. Oxford 2001, S. 133–143. (Interpretation von Petrons Troiae Halosis mit besonderem Augenmerk auf eine mögliche Parodie Vergils und die Figur Eumolpus.) Elsner (1993): John Elsner: Seduction of Art: Encolpius and Eumolpius in a Neronian Picture Gallery. In: Proceedings of the Cambridge Philological Society. Band 39, Cambridge 1993, S. 30–47. (Beschreibung von Petrons Laokoondarstellung im Kontext der umgebenden Stellen.) Manuwald (2007): Gesine Manuwald: Der Dichter in der Gemäldegalerie. Zur Diskussion über Kunst und Literatur in Petrons Satyricon. In: Luigi Castagna, Eckard Lefèvre (Hrsg.): Studien zu Petron und seiner Rezeption / Studi su Petronio e sulla sua fortuna. Berlin 2007, S. 253–266. (Ausführliche Anmerkungen zum Rezitator der Laokoonepisode bei Petron: dem Dichter Eumolpus.) Rimell (2002): Victoria Rimell: Petronius and the anatomy of fiction. Cambridge 2002, S. 60–76. (Interpretation der Petronstelle im Kontext des Werkes [S. 61–65] sowie im Vergleich zu Vergils Laokoondarstellung [S. 66–76].) Salanitro (1995): Maria Salanitro: Il sacrificium di Laocoonte in Virgilio e in Petronio. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung. Band 102, Berlin/Rom 1995, S. 291–294. (Gute Gegenüberstellung von Laokoons Opfer bei Vergil und Petron.) Schönberger (1992): Otto Schönberger: Satyrgeschichten. Lateinisch und Deutsch. Petronius. Berlin 1992, S. 148–152 und 298–299. (Neben Text und Übersetzung von Petrons Laokoonsage [S. 148–152] fasst Schönberger die wichtigsten Interpretationen zur Stelle zusammen [S. 298–299].) Stubbe (1933): Heinz Stubbe: Die Verseinlagen im Petron. Leipzig 1933, S. 23–49. (Ausführliche Interpretation zunächst des Kontextes von Petrons Laokoondarstellung [S. 23–31], dann dessen Quellen [S. 31–34] und anderer Laokoondarstellungen [S. 34–39]. Im Anschluss folgen Text, Übersetzung und Kommentar [S. 40–49].) Sullivan (1968): John Patrick Sullivan: The Satyricon of Petronius. A literary study. London 1968, ISBN 978-0-14-044805-4, S. 186–189. (Herausarbeitung eines Bezugs zu Senecas Tragödien und nicht zu Neros beziehungsweise Lucans Trojadichtungen.) Walsh (1968): Patrick Gerard Walsh: Eumolpus, The Halosis Troiae, and the De Bello civili. In: Classical Philology. Band 43, 1968, S. 208–212. (Neben Interpretation von Petrons Laokoondarstellung auch Kommentar zum zweiten großen Gedicht bei Petron: dem Bellum civile.) Quintus von Smyrna Campbell (1981): Malcolm Campbell: A Commentary on Quintus Smyrnaeus Posthomerica XII. Leiden 1981, ISBN 978-90-04-06502-4, S. 133–145 153–169 und 177f. (Kommentar zu den beiden Laokoonepisoden bei Quintus [S. 133–145 und 153–169] sowie ein Vergleich mit Kassandras Auftritt [S. 177f.].) Gärtner (2009): Ursula Gärtner: Laokoon bei Quintus Smyrnaeus. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hrsg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30. November 2006, Universität Bonn (= Beiträge zur Altertumskunde. 254). Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-020126-0, S. 128–145. (Nach Anmerkungen zur Person Quintus und seinen Quellen [S. 128–131] ausführliche Analyse und Interpretation seiner Laokoondarstellung im Kontrast zu vor allem Vergils Text [S. 132–145].) Knight (1932): William Francis Jackson Knight: Iliupersides. In: The Classical Quarterly. Band 26, 1932, S. 178–189. (Versuch, eine direkte Abhängigkeit von Quintus von Smyrnas und Triphiodoros’ Epen von Vergil anhand dreier Beispiele zu lösen [S. 178–182], darunter die Laokoongeschichte [S. 182–184].) Andere antike Autoren Ehwald (1894): Rudolf Ehwald: Vergilische Vergleiche. In: Philologus. Band 53, 1894, S. 729–744. (Suche nach literarischen Vorbildern für Vergils Geschichten, darunter mit Berücksichtigung der pompejanischen Wandbilder und Euhporions Text auch dessen Laokoondarstellung [S. 740–743].) Foerster (1890b): Richard Foerster: Über die Entstehungszeit des Laokoon. In: Verhandlungen der vierzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Görlitz vom 2. bis 5. Oktober 1888. Leipzig 1890, S. 74–95. (Foerster geht auf S. 84–91 auf die Abhängigkeit der Laokoon-Gruppe von der Laokoonsage bei Vergil ein und sieht als Hauptquelle für den Mythos Euphorions Fassung.) Pearson (1917): Alfred Chilton Pearson: ΛΑΟΚΟΩΝ. In: The Fragments of Sophocles. edited with additional notes from the papers of Sir Richard Claverhouse Jebb and Walter George Headlam by Alfred Chilton Pearson. Cambridge 1917, S. 38–47. (Prägnante Zusammenfassung des Mythos, der hin zu Sophokles’ Tragödie führt.) Rezeption in der Literatur Simons (2009): Roswitha Simons: Der verräterische Gott. Laokoon in der lateinischen Literatur der Kaiserzeit und Spätantike. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hrsg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30. November 2006, Universität Bonn (= Beiträge zur Altertumskunde. 254). Berlin/New York 2009, ISBN 978-3-11-020126-0, S. 104–127. (Simons geht ausführlich auf die Rezeption der Laokoongeschichte in der römischen Kaiserzeit und Spätantike ein [S. 104–123], darunter besonders bei Dracontius [S. 104–110], Petron [S. 114–117], Donatus [S. 117–120] und dem Excidium Troiae [S. 120–123], bevor sie eine Erklärung für die fast komplette Nichtbeachtung des Mythos im Mittelalter anbietet [S. 123–127].) Winner (1974): Matthias Winner: Zum Nachleben des Laokoon in der Renaissance. In: Jahrbuch der Berliner Museen. Band 16, 1974, S. 83–121. (Umfangreicher Aufsatz über Filippino Lippis Laokoonskizze, die der Autor belegstark mit Bildern und Texten der Zeit und der Antike verknüpft, bevor er sich den ersten Jahren nach dem Auffinden der Laokoon-Gruppe widmet.) Rezeption in der Kunst Bieber (1967): Margarete Bieber: Laocoon. The influence of the group since its rediscovery. 2. Auflage, Detroit 1967. (Zunächst Darstellung der Rezeption der Laokoon-Gruppe in der Kunst [S. 12–20], dann in der Literatur [S. 20–41].) Ettlinger (1961): Leopold Ettlinger: Exemplum Doloris. Reflections on the Laocoon Group. In: Millard Meiss: De Artibus Opuscula XL. Essays in Honor of Erwin Panofsky. New York 1961, S. 121–126. (Interpretation der Laokoondarstellungen in der antiken Kunst als beispielhafte Darstellung von Pathos und Schmerz.) Foerster (1891): Richard Foerster: Laokoon-Denkmäler und -Inschriften. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts. Band 6, 1891, S. 177–196. (Auf S. 177–190 befasst sich Foerster mit den Kontorniat-Medaillons und nachantiken Laokoon-Darstellungen und verknüpft diese [vor allem S. 190] mit dem Mythos; im Anschluss daran [S. 191–196] vermerkt er Inschriften, die sich mit der Laokoon-Gruppe befassen.) Foerster (1906b): Richard Foerster: Laokoon im Mittelalter und in der Renaissance. In: Jahrbuch der Königlich Preussischen Kunstsammlungen. Band 27, 1906, S. 149–178. (Hervorragende Darstellung der Rezeption in der Kunst vor dem Auffinden der Laokoon-Gruppe [S. 149–159] und späterer von ihr unabhängiger Werke [S. 167–175].) Lippold (1946/7): Georg Lippold: Zur Laokoongruppe. In: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts. Band 61/62, 1946/7, S. 88–94. (Lippold geht nach der Beschreibung der beiden Wandbilder mit der Laokoongeschichte [S. 88] auf deren Vorbilder ein [S. 89–93], bevor er eine Neuinterpretation der Laokoon-Gruppe vorschlägt [S. 93f.].) Rodenwaldt (1909): Gerhart Rodenwaldt: Die Komposition der Pompejanischen Wandgemälde. Berlin 1909, S. 100–101 und 263–266. (Beschreibung des Bildes aus der Casa di Laocoonte [S. 100f.] sowie Interpretation selbiger [S. 263–266].) Salis (1947): Arnold von Salis: Antike und Renaissance. Über Nachwirkung und Weiterwirken der alten in der neueren Kunst. Erlenbach/Zürich 1947, S. 136–153. (Von Salis beschäftigt sich mit dem Auffinden der Laokoon-Gruppe [S. 136–139] und ähnlichen Darstellungen vor und nach dem Fund [S. 140–143], und dabei besonders mit Michelangelo [S. 143–153].) Schaffer (2013): Anette Schaffer: El Greco. Die Erfindung des Laokoon. Schwabe, Basel 2013. Schauenburg (1977): Konrad Schauenburg: Zu Götterstatuen auf unteritalienischen Vasen. In: Archäologischer Anzeiger. 1977, S. 285–297. (Analyse einer Laokoondarstellung auf einem apulischen Krater sowie Vergleich mit einer ähnlichen Szene auf einer Vasenscherbe [S. 294–297].) Schmidt (1979): Margot Schmidt: Eine unteritalische Vasendarstellung des Laokoon-Mythos. In: Ernst Berger, Reinhard Lullies (Hrsg.): Antike Kunstwerke aus der Sammlung Ludwig. Bd. 1, Basel 1979, ISBN 3-8053-0439-0, S. 239–248. (Beschreibung und Neuinterpretation vorhandener Vasendarstellungen von Laokoon mit Vergleich zu Darstellungen aus der Mythologie.) Rezeption in der Musik Koch (1990): Klaus-Dietrich Koch: Die Aeneis als Opernsujet. Dramaturgische Wandlungen vom Frühbarock bis Berlioz. Konstanz 1990, S. 32, 59–61, 138, 140 und S. 153 Anm. 62, mit Konkordanzen von Berlioz und Vergil S. 120–136. (Koch behandelt Henry Purcells und Nahum Tates Oper Dido and Aeneas, Pietro Metastasios Libretto Didone abbandonata, Francesco Cavallis und Giovanni Francesco Busenellos La Didone sowie Hector Berlioz’ Les Troyens, geht auf den genannten Seiten auf die Laokoondarstellung bei Berlioz ein und ergänzt seinen Text um eine reichhaltige Materialsammlung.) Kohrs (2006): Klaus Heinrich Kohrs: Châtiment effroyable. Laokoon in Berlioz’ Les Troyens. In: Dorothee Gall, Anja Wolkenhauer (Hrsg.): Laokoon in Literatur und Kunst. Schriften des Symposions „Laokoon in Literatur und Kunst“ vom 30. November 2006, Universität Bonn (= Beiträge zur Altertumskunde. 254). Berlin/New York 2009, S. 247–254. (Philologische Behandlung der Laokoon-Darstellung bei Berlioz im Vergleich mit Vergils Laokoondarstellung in der Aeneis.) Weblinks Interpretation von Vergils Laokoon-Darstellung bei gottwein.de Anmerkungen Person der griechischen Mythologie Person (Trojanischer Krieg) Gestalt der griechischen Mythologie als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schlauchpilze
Schlauchpilze
Die Schlauchpilze (Ascomycota) bilden eine der großen Abteilungen im Reich der Pilze (Fungi). Sie tragen den Namen nach ihren charakteristischen Fortpflanzungsstrukturen, den schlauchförmigen Asci. Viele Hefe- und Schimmelpilze, aber auch begehrte Speisepilze wie Morcheln und Trüffeln gehören zu dieser Gruppe. Stammesgeschichtlich sind sie sehr wahrscheinlich die Schwestergruppe der Ständerpilze (Basidiomycota) und bilden mit diesen das Taxon Dikarya. Eine Mehrzahl der früher in eine eigenständige Gruppe gestellten Pilze ohne sexuelle Stadien im Lebenszyklus (Deuteromycota) können durch molekulargenetische Daten heute in die Schlauchpilze eingeordnet werden. Schlauchpilze haben eine große Bedeutung für den Menschen, da sie einerseits für zahlreiche Krankheiten von Pflanzen, Haustieren und Menschen verantwortlich sind, andererseits aber auch eine wichtige Rolle bei der Herstellung von Lebensmitteln wie Käse und Brot, Bier und Wein spielen und auch in der Medizin, wo das von Penicillium chrysogenum produzierte Antibiotikum Penicillin die Bekämpfung von bakteriellen Infektionskrankheiten revolutioniert hat, von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit sind. Schlauchpilze übernehmen als Pilzpartner in Flechten und als so genannte Mykorrhiza-Pilze zudem eine wichtige Stellung in vielen Ökosystemen. Aufbau Viele Schlauchpilze setzen sich aus langen, aber nur etwa fünf Mikrometer dünnen Zellfäden, den Hyphen, zusammen, die sich oft wiederholt verzweigen und so ein wollig verknäultes Geflecht, das Myzel, bilden, das meist einige Zentimeter groß wird. Die darin enthaltenen Hyphen selbst würden dagegen (hypothetisch aneinandergelegt) meist eine Länge von einem oder sogar mehreren Kilometern erreichen. Das andere Extrem bilden die einzelligen Hefen, die oft nur mit dem Mikroskop zu sehen sind. Eine Reihe von Arten wie beispielsweise die klassische Backhefe (Saccharomyces cerevisiae) ist allerdings dimorph, das bedeutet, dass sie sowohl in ein- als auch in mehrzelliger Form auftreten können. Die Zellwand besteht bei Schlauchpilzen fast immer aus Chitin und β-Glukanen; einzelne Zellen sind in charakteristischer Weise durch Querwände, die Septen, abgeteilt. Diese geben der Hyphe Stabilität und verhindern einen großflächigen Verlust von Zellplasma, falls die Zellmembran lokal einmal aufbrechen sollte. Als Resultat können sich Schlauchpilze im Gegensatz zu den feuchtigkeitsliebenden Jochpilzen (Zygomycota) auch in trockenen Lebensräumen halten. Die meisten Querwände sind allerdings zentral perforiert, weisen also eine kleine Öffnung in der Mitte auf, durch die sich Zellplasma und auch Zellkerne mehr oder weniger frei in der ganzen Hyphe bewegen können. Die meisten Hyphen enthalten nur einen Zellkern pro Zelle, man bezeichnet sie daher als uninukleat. Das Ascokarp (Fruchtkörper) Bei vielen, bei weitem aber nicht allen Schlauchpilzen kommt es im Zuge der geschlechtlichen Vermehrung zur Bildung eines makroskopischen, mit dem bloßen Auge sichtbaren Fruchtkörpers aus sehr eng ineinander verflochtenen Zellfäden, der Ascokarp oder auch Ascoma genannt wird und beispielsweise bei Trüffeln als „Speisepilz“ verzehrt wird. Er besteht aus sterilen und fruchtbaren Hyphen. Letztere bilden die Sporen genannten Vermehrungszellen und sind oft in einer eigenen Fruchtschicht, dem Hymenium, zusammengefasst. Sie entwickeln sich meist auf der inneren Oberfläche des Ascokarps. Ohne Bedeutung für die Systematik der Pilze klassifiziert man Ascokarpe unter anderem nach ihrer Lage: Liegt der Fruchtkörper wie beispielsweise bei den Morcheln (Morchella) oberhalb der Erde nennt man ihn epigäisch, befindet er sich wie etwa bei den Trüffeln (Tuber) unterirdisch, heißt er hypogäisch. Daneben unterscheidet man als Formtypen das Apothecium: Hier ist das Ascokarp becherartig nach oben geöffnet. Die Fruchtschicht (Hymenium) liegt frei, so dass zahlreiche Sporen gleichzeitig verbreitet werden können. Apothecien besitzen beispielsweise die Morcheln und Lorcheln. das Kleistothecium: In diesem Fall ist das Ascokarp kugelförmig und geschlossen, die Sporen können somit nicht selbständig freigesetzt werden. Dies hat zur Folge, dass Pilze mit Kleistothecien neue Strategien zur Verbreitung ihrer Sporen entwickeln mussten. Die Trüffel haben dieses Problem beispielsweise dadurch gelöst, dass sie Tiere wie beispielsweise Wildschweine anlocken, welche die schmackhaften Ascokarpe aufbrechen und die ihnen daraufhin anheftenden Sporen über größere Strecken transportieren können. Kleistothecien finden sich meist bei Pilzen, die nur sehr wenig Raum für ihr Ascokarp zur Verfügung haben, beispielsweise bei solchen, die unterhalb der Borkenschicht von Bäumen oder wie die Trüffel im Boden leben. Auch die Hautpilze der Gattung Arthroderma bilden Kleistothecien aus. das Perithecium: Perithecien haben die Form eines Kegels oder einer Kugel. Ihre Eigenart ist, dass sich an der Oberseite eine kleine Pore, die Ostiole, befindet, durch welche die Sporen bei Reife – im Gegensatz zu Apothecien einzeln hintereinander – entlassen werden. Perithecien finden sich beispielsweise bei den Holzkeulen (Xylaria) aber auch bei den Pustelpilzen (Nectria). das Pseudothecium: Wie bei den Perithecien werden die Sporen in Pseudothecien in einer nach außen geöffneten Höhlung gebildet. Hierbei werden die Fruchtkörper ascolocular gebildet, indem Fruchtkörperanlagen aus haploidem Mycel schon vor der Befruchtung entstehen und die dikaryotischen Hyphen in eine später entstehende Höhlung, den Loculus mit den Asci, hineinwachsen. Der Unterschied besteht in der unten näher beschriebenen Art der Sporenfreisetzung: In Pseudothecien treten dazu so genannte bitunicate Sporenschläuche auf, die sich bei Wasseraufnahme ausdehnen und so die in ihnen befindlichen Sporen regelrecht aus der Öffnung herausschieben. Beispielarten sind der Apfelschorf (Venturia inaequalis) oder die Rosskastanien-Blattbräune (Guignardia aesculi). Stoffwechsel Wie die meisten Pilze zersetzen auch Schlauchpilze in erster Linie lebende oder tote Biomasse. Dazu geben sie an ihre Umgebung kräftige Verdauungsenzyme ab, die organische Substanzen in kleine Bruchstücke aufspalten, welche daraufhin durch die Zellwand aufgenommen werden. Viele Arten leben von abgestorbenem pflanzlichem Material wie abgefallenen Blättern, Zweigen oder auch ganzen Baumstämmen. Andere befallen als Parasiten Pflanzen, Tiere oder andere Pilze und gewinnen ihre Stoffwechselenergie sowie alle notwendigen Nährstoffe aus dem Zellgewebe ihres Wirts. Besonders in dieser Gruppe finden sich teilweise extreme Spezialisierungen; so befallen viele Arten nur ein bestimmtes Bein einer spezifischen Insektenart. Daneben finden sich Schlauchpilze allerdings auch häufig in symbiotischen Beziehungen. So bilden sie beispielsweise mit diversen Algenzellen oder Cyanobakterien, von denen sie energiereiche Photosynthese-Produkte erhalten, die Flechten – andere kooperieren als Mykorrhiza-Pilze mit Waldbäumen. Schließlich gibt es sogar fleischfressende Pilze, die mit ihren Hyphen Fallen entwickelt haben, in denen sich kleinere Protisten wie Amöben, aber auch Tiere wie Fadenwürmer (Nematoda), Rädertierchen (Rotifera), Bärtierchen (Tardigrada) oder sogar kleine Gliederfüßer wie die Springschwänze (Collembola) verfangen können. Schlauchpilze haben im Verlauf ihrer langen Stammesgeschichte die Fähigkeit erlangt, nahezu jede organische Substanz abzubauen. So sind sie im Gegensatz zu fast allen anderen Organismen dazu in der Lage, pflanzliche Zellulose oder das im Holz enthaltene Lignin durch geeignete Enzyme zu zersetzen. Auch Kollagen, ein wichtiges tierisches Strukturprotein oder Keratin, aus dem zum Beispiel Haare bestehen, dienen Pilzen als „Nahrungsquelle“. Exotischere Beispiele liefern Aureobasidium pullulans, der Wandfarbe verstoffwechselt oder der Kerosinpilz (Amorphotheca resinae), der sich von Kerosin ernähren kann und infolgedessen oft die Treibstoffleitungen von Flugzeugen verstopft. Verbreitung und Lebensraum Schlauchpilze finden sich weltweit in allen landbasierten Ökosystemen, als Flechten treten sie sogar in der Antarktis auf. Die Verbreitung einzelner Arten ist dagegen sehr variabel: Manche finden sich auf allen Kontinenten, andere wie beispielsweise die kulinarisch hoch begehrten weißen Trüffel (Tuber magnatum) nur regional in isolierten Gegenden Italiens und Frankreichs. Wie bereits erwähnt erlauben die zwischen den Zellen befindlichen Querwände oder Septen Schlauchpilzen die Besiedelung weitaus trockenerer Lebensräume als beispielsweise den Jochpilzen. Diese Austrocknungsresistenz ist bei einzelnen Arten, die auf gesalzenem Fisch wachsen, wegen des dort auftretenden gewaltigen osmotischen Drucks extrem ausgeprägt. Auf der anderen Seite ist eine (allerdings in der Minderheit befindliche) Gruppe ins Wasser zurückgekehrt. Fortpflanzung Die Fortpflanzung von Schlauchpilzen ist sehr vielfältig, sie kann sowohl in ungeschlechtlicher als auch in geschlechtlicher Weise geschehen. Letztere ist durch die dabei ausgebildeten Fortpflanzungsstrukturen, die schlauchförmigen Asci besonders charakteristisch. Auf der anderen Seite spielt die ungeschlechtliche Fortpflanzung bei weitem die größere Rolle; viele Arten haben die geschlechtliche Vermehrung auch ganz aufgegeben. Grundsätzlich unterscheidet man bei Schlauchpilzen zwei fundamental verschiedene Zustände im Lebenszyklus, den Anamorph, das ungeschlechtliche Stadium, und den Teleomorph, das geschlechtliche Stadium, das allerdings nicht immer vorhanden ist. Die Gesamtheit aus Anamorph und Teleomorph wird manchmal auch als Holomorph bezeichnet. Da Teleomorph und Anamorph sich oft äußerlich in keiner Weise ähneln, war bis ins späte 20. Jahrhundert eine Zuordnung der Stadien zueinander oft nicht möglich. Dies hat zu der kuriosen, aber bis heute taxonomisch akzeptierten Situation geführt, das zwei verschiedene Lebensstadien ein und desselben Pilzes verschiedenen „Arten“ zugeordnet werden und damit unterschiedliche Namen tragen. So ist die geschlechtliche Erscheinungsform des Kerosinpilzes zum Beispiel unter dem Namen Amorphotheca resinae bekannt, während Hormoconis resinae das ungeschlechtliche Stadium bezeichnet. Durch molekulargenetische Methoden werden heute allerdings immer mehr Verbindungen zwischen diesen „Arten“ aufgedeckt, so dass die frühere Einteilung der ungeschlechtlichen Stadien in eine eigene Abteilung, die Fungi imperfecti (Deuteromycota) heute obsolet geworden ist. Ungeschlechtliche Fortpflanzung Die ungeschlechtliche Fortpflanzung ist bei Schlauchpilzen die dominante Form der Vermehrung, die für die schnelle Ausbreitung der Pilze in einem noch nicht erschlossenen Gebiet verantwortlich ist. Sie erfolgt durch mit dem Mutterpilz genetisch identische, meist einkernige Verbreitungsstrukturen, die Konidiosporen, kurz Konidien oder nach der Art ihrer Entstehung durch den zellulären Prozess der Mitose auch Mitosporen genannt werden. Gebildet werden sie in der Regel durch spezielle, als konidiogen bezeichnete Zellen, die an der Spitze spezialisierter Hyphen, der Konidiophoren, sitzen. Je nach Art können sie durch den Wind, durch Wasser, aber auch durch Tiere verbreitet werden. Koelomyceten und Hyphomyceten Die Typenvielfalt der ungeschlechtlichen Stadien, der Anamorphe, ist enorm. Sie lassen sich (ohne Bedeutung für die Systematik) je nachdem, ob die Sporen in einer abgeschlossenen Struktur, einem Konidioma, gebildet werden oder nicht, grob in zwei Gruppen unterteilen, die Koelomyceten und die Hyphomyceten. Koelomyceten bilden ihre Sporen in nach außen hin abgeschlossenen Konidiomata, die sich oft knapp unterhalb der Oberfläche eines Wirtsorganismus bilden. Man unterscheidet acervulare Konidiomata oder Acervuli: Sie entwickeln sich im Wirtsorganismus und können dabei unterhalb der Cuticula genannten Außenschicht der Pflanze (subcuticular), innerhalb der äußersten Zellschicht, der Epidermis (intraepidermal), direkt darunter (subepidermal) oder auch unter zahlreichen Wirtszellschichten liegen. Meist entwickelt sich dort eine flache Schicht mit relativ kurzen Konidiophoren, die daraufhin massenhaft Sporen produzieren. Der dadurch immer stärker anwachsende Druck führt schließlich zum Aufbrechen der Epidermis und Cuticula und ermöglicht so ein Entweichen der Konidien. pyknidiale Konidiomata oder Pycnidia: Im Gegensatz zu den Acervuli bilden sich pycnidiale Konidiomata im Pilzgewebe selbst. Sie haben meist die Form einer bauchigen Vase; durch die an der Spitze gelegen kleine Öffnung, die Ostiole, werden die Sporen in ihre Umgebung entlassen. Bei den Hyphomyceten liegen die Konidiophoren, also die Hyphen, die an der Spitze konidienbildende Zellen tragen, immer frei. Sie treten meist isoliert, manchmal allerdings auch in Form parallel ausgerichteter Bündel oder kissenförmiger Massen auf; bündelförmige Konidiomata werden als synnematal, kissenförmige als sporodochial bezeichnet. Sporen Für die weitere Klassifikation der ungeschlechtlichen Lebenszustände der Schlauchpilze sind die Sporen wichtig, die nach Farbe, Form und Septierung unterschieden werden: Den wohl häufigsten Sporentyp machen die als Amerosporen bezeichneten Einzelzellen aus. Ist dagegen die Spore durch eine Querwand (Septe) zweigeteilt, spricht man von Didymosporen. Bei zwei oder mehr Trennwänden kommt es auch auf die Form an. Sind die Septen innerhalb der Spore transversal, also wie die Sprossen einer Leiter angeordnet, nennt man sie Phragmosporen, bilden sie dagegen eher eine netzähnliche Struktur, spricht man von Dictyosporen. Bei manchen Sporen gehen von einem Zentralkörper strahlenförmige „Arme“ aus, sie heißen Staurosporen; bei anderen ist die ganze Spore wie eine Feder spiralig aufgewunden und wird dann Helicospore genannt. Schließlich bezeichnet man sehr lange, wurmförmige Sporen, die ein Verhältnis von Länge zu Durchmesser von mehr als 15:1 aufweisen, als Scolecosporen. Konidiogenese und Dehiszenz Zwei weitere wichtige Eigenschaften der Schlauchpilz-Anamorphen sind die Art, wie die Sporen gebildet werden, die Konidiogenese, und die Weise, wie sie sich abtrennen, die Dehiszens. Erstere entspricht der Embryologie bei Tieren und Pflanzen und lässt sich in zwei fundamentale Entwicklungsformen einteilen, die blastische Konidiogenese, bei der die Spore bereits wahrnehmbar ist, bevor sie durch eine Querwand von der sie bildenden konidiogenen Hyphe abgetrennt wird, und die thallische Konidiogenese, bei der sich erst die Querwand bildet und die so abgetrennte Zelle sich dann in eine Spore umwandelt. Diese beiden Grundtypen lassen sich noch feiner untergliedern: Bei blastisch-acropetaler Sporenbildung entstehen die Konidien durch fortgesetzte Knospung an der Spitze der konidiogenen Hyphe, so dass sich eine lange Kette von Sporen bildet, deren jüngste immer an deren Spitze (apikal) liegt. Bilden sich zwei Knospen an einer Spore, die dann Ramoconidium genannt wird, so verzweigt sich die Kette. Blastisch-acropetale Konidiogenese ist somit eine Variante normalen Hyphenwachstums. Die blastisch-synchrone Konidiogenese zeichnet sich dadurch aus, dass sich zahlreiche Sporen gleichzeitig auf einer zentral gelegenen, meist aufgeschwollenen Zelle, bilden. Manchmal entstehen aus diesen Sporen sekundär wieder acropetale Ketten. Die blastisch-sympodiale Entwicklung ist dadurch charakterisiert, dass sich nach der Sporenbildung an der Spitze der Konidiophore hinter der Spore eine neue Spitze bildet, die dann seitlich (sympodial beziehungsweise zymös) hervorwächst. Diese bildet ihrerseits schließlich eine Spore, unterhalb derer wiederum eine neue Spitze entsteht usw. Unweigerlich werden bei diesem Prozess die konidiogenen Zellen immer länger. Besonders auffällig ist die blastisch-annellidische Form der Konidiogenese: Nachdem sich eine Spore gebildet und abgetrennt hat, bleibt eine ringförmige Narbe an der Spitze der konidiogenen Zelle zurück. Diese wächst durch diesen Ring hindurch und bildet dann die nächste Spore, die bei der Abtrennung ihrerseits eine Narbe hinterlässt, so dass man an der Zahl der Ringe einer konidiogenen Zelle die Zahl der von ihr gebildeten Sporen ablesen kann. Bei der blastisch-phialidischen Bildung der Sporen entstehen am offenen Ende der in diesem Fall Phialiden genannten konidiogenen Zellen immer neue Sporen. Da die Phialide selbst ihre Form und Länge nicht ändert, wächst die Sporenkette ähnlich wie bei der blastisch-acropetalen Entwicklung nach oben; im Gegensatz zu dieser ist hier aber die am so genannten konidiogenen Lokus gebildete unterste Spore immer die jüngste. Der Anamorph des Schimmelpilzes Penicillium ist ein bekanntes Beispiel für diese Konidiogeneseform. Als Variante der blastisch-phialidischen Entwicklungsform kann die basauxische Bildung gelten. Bei ihr befinden sich die Sporen der entstehenden Kette in unterschiedlichen Entwicklungsstadien: Während die am oberen Ende befindlichen ältesten Sporen ausgereift sind, haben sich die unten gelegenen jüngsten Sporen noch kaum von der darunter gelegenen Hyphe differenziert. Ganz anders verläuft die blastisch-retrogressive Sporenbildung. Hierbei bildet sich an der Spitze der konidiogenen Hyphe eine Spore und teilt sich durch eine Querwand von dieser ab. Daraufhin entwickelt sich direkt darunter eine weitere Spore, die sich nun ihrerseits durch eine Septe vom Rest der Hyphe trennt. Durch mehrfache Wiederholung dieses Prozesses bilden sich aus einer Hyphe von der Spitze nach unten immer weitere Sporen, während die Hyphenzelle selbst sich immer weiter verkürzt. Anders als bei den blastischen Formen werden bei thallisch-arthrischer Konidiogenese vor der Sporenbildung erst die Septen gebildet. Dazu hört eine Hyphe erst auf zu wachsen und bildet dann in irregulären Abständen doppelte Querwände aus. Die so entstandenen Einzelzellen trennen sich auf eine schizolytisch genannte Weise voneinander ab und beginnen sich zu differenzieren, so dass eine Kette kurzer zylinderförmiger Sporen, der so genannten Arthrokonidien, entsteht, die gelenkig miteinander verbunden zu sein scheinen. Bei einer Variante dieser Entwicklungsform bilden sich nur alternierende Zellen zu Sporen aus; die dazwischenliegenden Zellen degenerieren, sterben ab und setzen so die zwischen ihnen gelegenen Arthrokonidien frei. Schließlich existiert noch die thallisch-solitäre Entwicklungsform. Hier trennt sich am Ende einer konidiogenen Hyphe eine große bauchige Zelle ab, in der sich dann zahlreiche transversal angeordnete interne Querwände bilden. Die Zelle differenziert sich nun zu einer Phragmospore, die als ganzes (auf eine rhexolytisch genannte Weise) abgetrennt wird. Die Dehiszens kann im Wesentlichen auf zwei unterschiedlichen Wegen geschehen. Bei der schizolytischen Variante bildet sich zwischen den Sporen eine Doppeltrennwand mit zentral gelegener Mittellamelle aus, die sich dann zur Abtrennung der Sporen auflöst. Bei rhexolytischer Dehiszens degeneriert dagegen einfach die Zellwand, welche die Sporen außen verbindet und setzt die Konidien auf diese Weise frei. Heterokaryose und Parasexualität Bei einer ganzen Reihe von Schlauchpilzen existieren entweder keine sexuellen Stadien oder solche sind nicht bekannt. Zwei Wege, trotzdem die genetische Vielfalt zu erhalten, sind Heterokaryose und Parasexualität. Erstere wird einfach durch Verschmelzung zweier Hyphen verschiedener Organismen ausgelöst, ein Prozess, der als Anastomose bezeichnet wird. Als Resultat befinden sich mehr Zellkerne im Myzel als gewöhnlich, die zudem von genetisch unterschiedlichen „Elternorganismen“ stammen. Parasexualität bezeichnet dagegen ein Phänomen, bei der es ohne eigentliche sexuelle Vorgänge zu einer Verschmelzung zweier Zellkerne und dadurch zu einer Verdoppelung der Chromosomenzahl kommt. Daran schließt sich eine komplexe Form der Mitose genannten Kernteilung an, bei der es zum „Crossing over“, einem Austausch von Genmaterial zwischen je zwei einander entsprechenden Chromosomen kommt. (Bei sexuellen Formen der Vermehrung tritt „Crossing over“ dagegen nur bei der Meiose genannten Reifeteilung auf.) Endlich entstehen durch Haploidisation wieder zwei Zellkerne mit je einem Chromosomensatz, die sich aber genetisch nun von den beiden Ausgangskernen unterscheiden. Geschlechtliche Fortpflanzung Die geschlechtliche Fortpflanzung der Schlauchpilze ist durch eine charakteristische Struktur geprägt, den Ascus, der sie von allen anderen Pilzen unterscheidet. Ein Ascus ist ein schlauchförmiges Meiosporangium, das bedeutet, dass in ihm durch die Meiose genannte Reifeteilung die geschlechtlichen Sporen gebildet werden, die dann zur Abgrenzung von den ungeschlechtlich gebildeten Konidiosporen auch Ascosporen heißen. Von Ausnahmen wie der Bäckerhefe (Saccharomyces cerevisiae) abgesehen sind fast alle Schlauchpilze im Normalzustand haploid, ihre Kerne besitzen also jeweils nur einen Chromosomensatz, was sie besonders anfällig für Mutationen macht. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung kommt es zu einer in der Regel sehr kurzen diploiden Phase (mit dann zwei Chromosomensätzen), an die sich aber meist sehr schnell eine Meiose anschließt, so dass der haploide Zustand wiederhergestellt ist. Ablauf der sexuellen Sporenbildung Der sexuelle Teil des Lebenszyklus wird eingeleitet, sobald zwei passende Hyphen aufeinandertreffen. Diese stammen aus demselben Hyphengeflecht, das auch die ungeschlechtlichen Sporen ausbildet. Entscheidend dafür, ob eine Konjugation, also eine sexuelle Verschmelzung stattfindet, ist zunächst ob die Hyphen demselben Organismus angehören oder ob sie von einem anderen Pilz stammen. Während zahlreiche Pilze durchaus zur Selbstbefruchtung in der Lage sind, eine Eigenschaft, die als homothallisch bezeichnet wird, benötigen andere einen genetisch nicht-identischen Partner und sind damit heterothallisch. Daneben müssen die zwei betroffenen Hyphen auch noch passenden Paarungstypen angehören. Diese sind eine Besonderheit der Pilze und entsprechen in etwa den Geschlechtern bei Pflanzen und Tieren; es kann allerdings mehr als zwei Paarungstypen geben. Bei Verträglichkeit bilden sich auf den Hyphen nun die Gametangien aus, die Bildungszellen für die Gameten, in denen sich zahlreiche Zellkerne sammeln. Durch eine sehr feine Hyphe, die Trichogyne, die aus einem der Gametangien, nun Ascogonium genannt, herauswächst, bildet sich eine Verbindung aus, durch die Zellkerne aus dem anderen Gametangium, nun Antheridium genannt, in das Ascogonium übertreten können. Anders als bei Tieren oder Pflanzen kommt es nach der Vereinigung der Zellplasmen der beiden beteiligten Gametangien (Plasmogamie) in der Regel nicht zu einer sofortigen Verschmelzung der Kerne (Karyogamie). Stattdessen ordnen sich die eingewanderten Kerne aus dem Antheridium paarweise mit Kernen des Ascogoniums an, bleiben aber unabhängig neben diesen bestehen. Damit hat die Dikaryophase im Lebenszyklus des Pilzes begonnen, während deren sich die Kernpaare wiederholt synchron teilen, so dass sich ihre Zahl vervielfacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist die Dikaryophase eine evolutionäre Anpassung und dient dazu, bei einem seltenen Aufeinandertreffen zweier Individuen das Potenzial der sexuellen Fortpflanzung voll auszuschöpfen. Durch die wiederholte synchrone Teilung der Kernpaare vermehrt sich das genetische Ausgangsmaterial und wird bei der Rekombination während der Meiose in vielfältigster Weise miteinander kombiniert, so dass eine möglichst große Zahl genetisch unterschiedlicher Sporen entstehen kann. Eine ähnliche Lösung eines gleichgelagerten Problems hat sich unabhängig davon auch bei den Rotalgen (Rhodophyta) ausgebildet. Aus dem befruchteten Ascogonium wachsen nun millionenfach neue, dinukleate Hyphen aus, in die jeweils pro Zelle zwei Zellkerne einwandern. Sie werden auch ascogen oder fertil genannt. Ernährt werden sie durch gewöhnliche, uni- oder mononukleate Hyphen mit nur einem Zellkern, die als steril bezeichnet werden. Das Geflecht aus sterilen und fertilen Hyphen bildet sich nun in vielen Fällen zum makroskopisch sichtbaren Fruchtkörper des Pilzes, dem Ascokarp aus, das mehrere Millionen fertiler Hyphen enthalten kann. In der eigentlichen Fruchtschicht, dem Hymenium, entstehen nun die Asci. Dazu bildet eine ascogene Hyphe an der Spitze einen U-förmigen Haken aus, der entgegen der Wachstumsrichtung der Hyphe zeigt. Die in dieser endständigen, das heißt an der Spitze der Hyphe gelegenen Zelle enthaltenen zwei Kerne teilen sich nun derart, dass die Spindelfasern ihrer Mitosespindeln parallel verlaufen und dadurch jeweils zwei (genetisch verschiedene) Tochterkerne an der Spitze des Hakens zu liegen kommen, ein Tochterkern an der jetzt gegen die Wachstumsrichtung ausgerichteten Spitze der Hyphe und ein weiterer an der Basis der Hyphenzelle positioniert ist. Jetzt werden zwei parallele Querwände eingezogen, welche den Haken in drei Teile teilen: Die ursprüngliche, jetzt gegen die Wachstumsrichtung zeigende Spitze der Hyphe mit einem Kern, die daneben gelegene Basis der Hyphe, ebenfalls mit einem Zellkern und ein an der Spitze gelegener Mittelbereich mit zwei Zellkernen. In letzterem findet bei richtiger Positionierung in der Fruchtschicht endlich die eigentliche Kernverschmelzung statt, durch welche die diploide Zygote entsteht. Er verlängert sich jetzt zu einer langgezogenen schlauch- oder zylinderförmigen Kapsel, dem eigentlichen Ascus. Hier findet nun auch die Reifeteilung oder Meiose statt, durch die sich die Zahl der Kerne auf vier erhöht und gleichzeitig der haploide Zustand wiederhergestellt wird. Fast immer schließt sich eine weitere Kernteilung (Mitose) an, so dass am Ende acht Tochterkerne im Ascus zu liegen kommen. Diese werden nun mit etwas Zellplasma von eigenen Membranen und meist auch einer festen Zellwand umhüllt und bilden so schließlich die eigentlichen Verbreitungszellen, die Ascosporen. Diese liegen im Ascus zunächst wie Erbsen in einer Hülse, werden aber bei passender Gelegenheit freigesetzt. Ascosporen sind grundsätzlich nicht begeißelt, so dass sie auf andere Verbreitungsmechanismen angewiesen sind. Manche Sporen werden durch den Wind ausgebreitet, bei anderen kommt es beim Kontakt mit Wasser zum Aufbrechen des reifen Ascus und zur Freisetzung der Sporen. Einzelne Arten haben regelrechte „Sporenkanonen“ entwickelt, mit denen die Sporen bis zu 30 cm weit geschleudert werden können. Vermutlich um ihre Sporen in die turbulente Luftzone oberhalb des Bodens zu verbringen, wird bei Pilzen der Gattung Ascobolus die Ausrichtung der Sporenkanone sogar durch den Lichteinfall bestimmt; sie haben hierzu ein regelrechtes Linsensystem entwickelt. Sobald die Sporen auf einem geeigneten Substrat auftreffen, keimen sie aus, bilden neue Hyphen und beginnen so den Lebenszyklus von vorn. Ascus-Klassifikation Bei der Klassifikation der Schlauchpilze spielt auch die Form des Ascus, also des schlauchförmigen Behälters, in dem die geschlechtlichen Sporen gebildet werden, eine Rolle. Es lassen sich hier grundsätzlich vier Typen unterscheiden: Ein unitunikat-operculater Ascus hat einen eingebauten „Deckel“, das Operculum, der über eine eingebaute Schwachstelle verfügt, an der er nach der Ausreifung der Sporen aufbricht und jene auf diese Weise freisetzt. Unitunikat-operculate Asci kommen nur in den Apothecien genannten Ascokarpen vor, also beispielsweise bei den Morcheln. Ein unitunikat-inoperculater Ascus besitzt dagegen kein Operculum. An dessen Stelle tritt ein elastischer Ring, der wie ein Druckventil funktioniert. Bei Reife dehnt er sich kurzzeitig aus und lässt so die Sporen hinausschießen. Dieser Typ findet sich sowohl in Apothecien als auch in Perithecien. Eine Beispielart ist der abgebildete Goldschimmel (Hypomyces chrysospermus). Ein bitunikater Ascus ist dadurch charakterisiert, dass er von einer Doppelwand umgeben ist. Diese setzt sich aus einer dünnen spröden Außenhülle und einer dicken elastischen Innenwand zusammen. Sobald die Sporen reif sind, spleißt die Hülle offen, so dass die Innenwand Wasser aufnehmen kann. Infolgedessen beginnt diese sich mitsamt der in ihr enthaltenen Sporen auszudehnen und zwar so lange, bis sie sich über den Rest des Ascokarps erhebt, so dass die Sporen unbehindert vom Fruchtkörper des Pilzes in den freien Luftstrom gelangen können. Bitunicate Asci treten ausschließlich in Pseudothekien auf und finden sich beispielsweise bei Apfelschorf (Venturia inaequalis) und Rosskastanien-Blattbräune (Guignardia aesculi). Gar keinen aktiven Freisetzungsmechanismus haben die meist kugelförmig gebauten prototunikaten Asci. Bei ihnen löst sich die reife Ascuswand entweder einfach auf, so dass die Sporen herausquellen können, oder sie wird durch äußere Einflüsse wie beispielsweise Tiere aufgebrochen. Prototunikate Asci finden sich sowohl in Perithekien als auch in Kleistothekien, beispielsweise bei den Bläuepilzen (Ophiostoma). Da es sich eher um eine Sammelbezeichnung für nicht zu den anderen drei Typen gehörige Asci handelt, gilt es als wahrscheinlich, dass sie sich mehrfach unabhängig aus unitunikaten Asci entwickelt haben. Ökologie Schlauchpilze übernehmen zentrale Rollen in den meisten landbasierten Ökosystemen. Sie sind wichtige Zersetzer organischer Materialien wie toter Blätter, Zweige, abgestorbener Bäume etc. und erleichtern zudem detrivoren, also von organischen Abfallstoffen lebenden Organismen die Aufnahme ihrer Nahrung. Durch das Aufbrechen sonst nur schwer abbaubarer Substanzen wie Zellulose oder Lignin nehmen sie einen wichtigen Platz im Stickstoff- und Kohlenstoffkreislauf der Natur ein. Umgekehrt bilden die Fruchtkörper der Schlauchpilze selbst die Nahrung der verschiedensten Tiere, von Insekten (Insecta) und Schnecken (Gastropoda) hin zu Nagetieren (Rodentia) und größeren Säugetieren wie Rehen oder Wildschweinen. Daneben sind Schlauchpilze für ihre zahlreichen symbiotischen Beziehungen zu anderen Lebewesen bekannt. Flechten Wahrscheinlich schon früh in ihrer Stammesgeschichte haben Schlauchpilze Grün- (Chlorophyta) sowie in Einzelfällen andere Algen und Cyanobakterien (Cyanobakteria) „domestiziert“ und bilden mit diesen als Flechten bekannte Lebensgemeinschaften, die in den unwirtlichsten Gegenden der Erde, in der Arktis und Antarktis, in Wüsten oder Hochgebirgen leben und Temperaturextreme von −40 Grad Celsius bis +80 Grad Celsius überstehen können. Während der photoautotrophe Algenpartner durch Photosynthese die Stoffwechselenergie bereitstellt, bietet der Pilz ein stabiles Stützskelett und schützt vor Strahlungseinwirkung und Austrocknung. Etwa 42 Prozent oder umgerechnet 18.000 aller Schlauchpilzarten sind flechtenbildend; umgekehrt sind die Pilzpartner fast aller Flechten Schlauchpilze – der Anteil der Ständerpilze liegt wahrscheinlich bei nicht mehr als zwei bis drei Prozent. Mykorrhizapilze und Endophyten Mit Pflanzen bilden Schlauchpilze zwei besonders wichtige Lebensgemeinschaften, als Mykorrhizapilze und als Endophyten. Erstere sind symbiotische Assoziationen der Pilze mit dem Wurzelsystem der Pflanzen, die für Bäume, insbesondere Nadelbäume, lebensnotwendig sind und ihnen erst den Aufschluss von Mineralsalzen aus dem Boden ermöglichen. Während der Pilzpartner durch sein fein verzweigtes Myzel viel eher als die Pflanze zur Aufnahme von Mineralen in der Lage ist, wird er von der Pflanze mit Stoffwechselenergie in Form von Photosyntheseprodukten versorgt. Es ist sogar bekannt, dass Mykorrhizapilze in der Lage sind, durch ihr weit gespanntes Hyphengeflecht Nährstoffe von einer Pflanze zu einer anderen zu transportieren, um diese zu stabilisieren. Als sehr wahrscheinlich gilt, dass erst die Assoziation zwischen Mykorrhizapilzen und den Wurzeln der Pflanzen letzteren die Eroberung des Landes ermöglicht hat. Jedenfalls sind schon die ersten erhaltenen Fossilien von Landpflanzen mit Mykorrhizapilzen assoziiert. Endophyten leben dagegen in der Pflanze, insbesondere im Stamm und in den Blättern, schädigen diese dabei allerdings in der Regel nicht. Die genaue Natur der Beziehung zwischen Pilz und Wirtspflanze ist noch nicht gut verstanden, es scheint allerdings, dass Endophytenbesiedelung einer Pflanze höhere Widerstandskraft gegen Schadinsekten, Fadenwürmer und Bakterien verleiht sowie die Produktion spezieller Alkaloide, giftiger Pflanzenstoffe, die auf pflanzenfressende Säugetiere gesundheitsschädigend wirken, heraufsetzt oder erst ermöglicht. Man unterscheidet zwischen nur punktuell auftretenden und systemischen Endophyten; letztere kommen überall in der Pflanze vor. Symbiotische Beziehungen zu Tieren Eine Reihe von Arten aus der Schlauchpilz-Gattung Xylaria findet sich in den Nestern von Blattschneiderameisen und verwandten Arten aus dem Tribus Attini und in den Pilzgärten der Termiten (Isoptera). Da sie erst Fruchtkörper ausbilden, wenn die Ameisen die Nester verlassen haben oder im Absterben begriffen sind, wurde zwischenzeitlich in Betracht gezogen, dass sie wie eine Reihe von Ständerpilzen (Basidiomycota) von den Insekten kultiviert werden. Dies konnte bisher nicht bestätigt werden. Wichtige Symbiosepartner sind hingegen die Borkenkäfer (Scolytidae). Die Käferweibchen transportieren die Pilzsporen in charakteristischen Einstülpungen ihrer Außenhaut, den Mycetangien, zu neuen Pflanzen. Dort fressen sie Gänge in das Holz, die sich nach innen zu größeren Kammern weiten, in denen sie ihre Eier ablegen. Gleichzeitig werden hier auch die Sporen freigesetzt. Von den entstehenden Pilzhyphen, die anders als die Käfer das Holz enzymatisch abbauen können, ernähren sich wiederum die geschlüpften Larven, die sich nach ihrer Verpuppung und Umwandlung zum erwachsenen Insekt mit Pilzsporen kontaminiert auf die Suche nach neuen Pflanzen machen. Bedeutung für den Menschen Schlauchpilze tragen erheblich sowohl zum Nutzen als auch zum Schaden des Menschen bei. Schadwirkungen Eine der bedeutendsten Schadwirkungen ist ihre Funktion als Erreger von zahlreichen Pflanzenkrankheiten. Ein großflächiges Ulmensterben wurde zum Beispiel in Nordamerika und Europa durch die eng verwandten Arten Ophiostoma ulmi und Ophiostoma novo-ulmi ausgelöst, für den Befall von Esskastanien (Castanea sativa) kann die aus Asien stammende Art Cryphonectria parasitica verantwortlich gemacht werden, eine besonders in Nordamerika grassierende Krankheit der Maispflanzen (Zea mays) wird durch Cochliobolus heterostrophus hervorgerufen und Taphrina deformans greift Pfirsichblätter an. Uncinula necator ist für den Befall von Weinreben mit echtem Mehltau verantwortlich, während Schlauchpilze der Gattung Monilia insbesondere Stein- und Kernobst befallen und dort die so genannte Polsterfäule auslösen; daneben werden aber auch die Blütenstände von Pfirsich (Prunus persica) und Sauerkirsche (Prunus ceranus) infiziert. Schlauchpilze wie Stachybotrys chartarum sind für die Ausbleichung von Baumwolltextilien verantwortlich und stellen insbesondere in den Tropen ein großes Problem dar. Blaugrüner, roter und brauner Schimmel befällt und verdirbt hingegen Lebensmittel, Penicillium italicum zum Beispiel Orangen. Mit Fusarium graminearum infiziertes Getreide enthält Mykotoxine wie Deoxynivalenol, die bei Verzehr durch Schweine bei diesen zu Haut- oder Schleimhautläsionen führen. Direkt für den Menschen bedeutsam ist der Mutterkornpilz (Claviceps purpurea), der Roggen oder Weizen befällt und hochgiftige, eventuell sogar karzinogene Alkaloide bildet, die bei Einnahme unter anderem zu Darmkrämpfen und schweren Halluzinationen führen können. Hochgradig krebserzeugend und leberschädigend sind dagegen die von Aspergillus flavus, einem unter anderem auf Erdnüssen wachsenden Schlauchpilz, gebildeten Aflatoxine. Im Vergleich dazu eher harmlos ist Candida albicans, ein Hefepilz, der menschliche Schleimhäute befallen kann und dort Kandidosen auslöst. Auch die für Pilzinfektionen der Haut verantwortlichen Hautpilze der Gattung Epidermophyton sind für Menschen mit gesundem Immunsystem eher ungefährlich. Ist dieses jedoch gestört, so kann es zu lebensgefährlichen Erkrankungen kommen; Pneumocystis jirovecii ist beispielsweise für schwere Lungenentzündungen verantwortlich, wie sie beispielsweise bei AIDS-Patienten auftreten. Nutzwirkungen Andererseits haben Schlauchpilze dem Menschen auch bedeutenden Nutzen gebracht. Am berühmtesten ist wohl die Art Penicillium chrysogenum, deren vermutlich zur Bekämpfung konkurrierender Bakterien entwickeltes Antibiotikum als Penizillin im 20. Jahrhundert eine Revolution in der Behandlung bakterieller Infektionskrankheiten ausgelöst hat. Doch auch die Bedeutung von Tolypocladium niveum, ein Schlauchpilz der mit Cyclosporin eines der effektivsten und schonendsten Mittel zur Immunsuppression produziert, lässt sich kaum überschätzen. Neben dem Einsatz bei Organtransplantationen zur Verhinderung der Abstoßung körperfremden Gewebes wird Cyclosporin auch zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen wie zum Beispiel der Multiplen Sklerose in Betracht gezogen, allerdings bestehen hier Zweifel über die langfristige Verträglichkeit des Wirkstoffs. Daneben können manche Schlauchpilze verhältnismäßig leicht durch gentechnologische Verfahren genetisch verändert werden. Sie produzieren dann wichtige Proteine wie Insulin, menschliche Wachstumsfaktoren oder tPA, einen zur Auflösung von Blutgerinnseln eingesetzten Wirkstoff. Der Brotschimmel Neurospora crassa ist ein wichtiger Modellorganismus der Biologie; sein Genom wurde mittlerweile vollständig sequenziert. Auf profanerer Ebene werden Schlauchpilze zur Produktion von Lebensmitteln eingesetzt: Die Backhefe (Saccharomyces cerevisiae) kommt beim Backen mit Hefeteig und bei der Herstellung von Bier und Wein zum Einsatz, indem sie Zucker wie Glukose oder Saccharose zu Alkohol vergärt und Kohlendioxid freisetzt, das dazu dient, den Teig zu lockern. Enzyme von Penicillium camembertii spielen bei der Produktion der Käsesorten Camembert und Brie, solche von Penicillium roqueforti bei der Herstellung von Gorgonzola, Roquefort und Blue Stilton eine Rolle. Aspergillus oryzae wird insbesondere in Asien einem Brei aus eingeweichten Sojabohnen zugesetzt; durch die Fermentation entsteht die in vielen fernöstlichen Gerichten eingesetzte Sojasauce. Schließlich sind einige Schlauchpilze auch begehrte Speisepilze: Mögen die Ständerpilze (Basidiomycetes) in dieser Hinsicht zahlenmäßig auch bedeutender sein; die Schlauchpilze stellen mit Morcheln (Morchella) und Trüffeln (Tuber) die beiden kulinarisch herausragendsten Pilz-Delikatessen. Gefährdung Informationen über die globale Gefährdungssituation der Schlauchpilze fehlen weitgehend. Anders als etwa bei Säugetieren oder Vögeln sind die Bestände in der Regel viel zu wenig bekannt, um genaue Aussagen über die globale Bedrohung von Schlauchpilzen treffen zu können. Dies gilt insbesondere für die zahlreichen, oft nur mikroskopisch sichtbaren Mykorrhiza-Pilze, die dennoch wichtige ökologische Aufgaben übernehmen, doch auch bei Großpilzen sind die vorliegenden Informationen noch sehr spärlich. Erst seit 2003 sind auf der Roten Liste auch Pilze aufgeführt, im Jahr 2004 werden dort allerdings nur zwei nordamerikanische Flechtenarten, Cladonia perforata und Erioderma pedicellatum gelistet, die als einzige bisher evaluiert wurden – die Aussagekraft der Liste ist daher bisher vernachlässigbar. Auf nationaler Ebene wurde in Deutschland erstmals 1992 eine Rote Liste der gefährdeten Großpilze erstellt. Auf der 1996 herausgegebenen Nachfolgerliste werden etwa 55 % der bekannten Flechtenarten (in denen Schlauchpilze die weitaus überwiegende Zahl der Pilzpartner stellen) als gefährdet eingeschätzt, daneben werden auch eine ganze Reihe von Großpilzen wie der Leuchtende Prachtbecher (Caloscypha fulgens) oder die Riesenlorchel (Gyromitra gigas) gelistet. In der Schweiz gibt es seit 1995 eine „Provisorische Rote Liste der gefährdeten Höheren Pilze der Schweiz“, auf der ebenfalls einige Schlauchpilzarten aufgeführt sind. Stammesgeschichte Schlauchpilze sind sehr wahrscheinlich im Meer entstanden. Wann sie sich von ihrer evolutionären Schwestergruppe, den Ständerpilzen, getrennt haben, lässt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht genau beantworten. Molekularbiologische Befunde verweisen diesen Zeitpunkt in das Erdzeitalter des späten Proterozoikums vor etwa 600 Millionen Jahren. Obwohl bereits aus dem Silur Fossilien bekannt sind, die als Schlauchpilze interpretiert werden können, ist ihre Zuordnung zu dieser Gruppe heute umstritten. Zweifelsfrei nachgewiesen sind Schlauchpilze aus dem unteren Devon vor etwa 400 Millionen Jahren. In einer berühmten Fundstätte, dem Rhynie Chert im schottischen Aberdeenshire, wurden in Dünnschnitten unterhalb der Epidermis von Blättern, Sprossen und Rhizomen der frühen Landpflanze Asteroxylon Asci, Ascosporen und perithekienförmige Ascokarpe identifiziert, die sich eindeutig mit Schlauchpilzen in Verbindung bringen lassen. Die Wechselwirkungen zwischen Pilz und Pflanze sind damit schon sehr früh entstanden; es wird sogar spekuliert, dass die enge symbiotische Beziehung zwischen Pilzen und Pflanzen eine Voraussetzung für die Besiedelung des Landes gewesen sein könnte. Interessanterweise sind auch die ältesten Flechten aus den Fundstätten bei Rhynie bekannt. Systematik Schlauchpilze bilden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein monophyletisches Taxon, umfassen also alle Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahren. Dies erscheint vor allem aufgrund der Synapomorphie des Ascus, der nur bei Schlauchpilzen auftritt, als nahezu sicher. Bei den Pilzen ohne geschlechtliches Stadium ist oft aufgrund eindeutiger molekularbiologischer oder ultrastruktureller Daten eine Einordnung in die Schlauchpilze möglich. Die Zusammenfassung mit den Ständerpilzen (Basidiomycota) zu einer Dikarya genannten Gruppe wird durch die bei beiden Gruppen vorhandene regelmäßige Septierung durch Querwände mit zentraler Perforation, die ihnen gemeinsame zweikernige (dikaryotische) Phase im Lebenszyklus nach der Verschmelzung der Zellplasmen und die bei beiden auftretende, im Abschnitt zur Heterokaryose angesprochene Möglichkeit der Fusion steriler Hyphen (Anastomose) begründet. Die an der Spitze ascogener Zellen kurz vor der Ascusbildung auftretenden Haken und die bei Ständerpilzen vorzufindenden Schnallen (clamp connections) werden als Homologien gesehen, also als Strukturen, die auf eine gemeinsame Vorläuferstruktur zurückgehen. Die Schlauchpilze bilden mit einem Anteil an der Gesamtzahl aller echten Pilze von 75 % eine sehr artenreiche Gruppe; mehr als 32.000 Arten wurden bisher beschrieben; die tatsächliche Anzahl dürfte allerdings insbesondere in Anbetracht der bisher kaum untersuchten Pilzflora tropischer Gebiete um ein Mehrfaches darüber liegen. Es lassen sich innerhalb des Taxons drei große Gruppen unterscheiden, die als Unterabteilungen klassifiziert werden: Die Pezizomycotina (auch Euascomycetes) bilden die größte Klasse. Bei ihnen entwickeln sich die Asci aus ascogenen Hyphen, die fast immer in Ascokarpen vereinigt sind. Die Ascosporenmembran bildet sich in dieser Klasse nicht aus der Membran des Zellkerns, sondern aus der außenliegenden Plasmamembran. Zu den Euascomycetes gehören die meisten Schimmelpilze wie auch die medizinisch so bedeutsame Art Penicillium chrysogenum, zahllose flechtenbildende Pilze, aber auch die Trüffeln und Morcheln. Die Saccharomycotina (Hemiascomycetes) sind sehr einfach gebaute Schlauchpilze, die nur kurze oder gar keine Hyphengeflechte ausbilden. In dieser Gruppe finden sich keine Ascokarpe; die Asci entstehen vielmehr direkt, ohne den Umweg über spezialisierte ascogene Zellen: Nach der Konjugation passender haploider Zellen und der Verschmelzung zur Zygote wandelt sich diese selbst in einen Ascus um, in dem sich dann vier tetraederförmig angeordnete Ascosporen bilden, die durch Sprossung auskeimen. Im Gegensatz zu den Pezizomycotina stammt die Sporenmembram von der Membran des Sporenkerns ab. Zu den Saccharomycotina zählen zahlreiche Hefepilze, darunter die Backhefe (Saccharomyces cerevisiae), aber auch die für Schleimhautinfektionen verantwortliche Art Candida albicans. Es gilt als weitgehend unumstritten, dass die Saccharomycotina eine natürliche Gruppe bilden. Die Taphrinomycotina (Archaeoascomycetes) schließlich sind eine erst zu Ende des 20. Jahrhunderts etablierte relativ kleine Gruppe von Arten, die klassisch zu den Hemiascomyceten gezählt wurden. Sie haben sich wahrscheinlich schon früh von allen anderen Schlauchpilzen getrennt. Die Gruppe gilt heute als monophyletisch, auch wenn sie recht vielfältig ist. Auch Taphrinomycotina bilden keine Ascomata aus. Gliederung Wijayawardene und Autoren (2020) gliedern die Abteilung Ascomycota wie folgt: Es wird bis zur Unterklasse bzw. bis zur Ordnung angezeigt, siehe auch Systematik der Pilze: Unterabteilung Taphrinomycotina Klasse Taphrinomycetes Ordnung Taphrinales Klasse Neolectomycetes Ordnung Schlauchkeulenartige (Neolectales) Klasse Pneumocystidomycetes Ordnung Pneumocystidales Klasse Schizosaccharomycetes Ordnung Schizosaccharomycetales Klasse Archaeorhizomycetes Unterabteilung Saccharomycotina Klasse Saccharomycetes Ordnung Saccharomycetales Unterabteilung Echte Schlauchpilze – Pezizomycotina Klasse Arthoniomycetes Ordnung Arthoniales Ordnung Lichenostigmatales Klasse Coniocybomycetes Ordnung Coniocybales Klasse Dothideomycetes Unterklasse Dothideomycetidae Unterklasse Pleosporomycetidae keiner Unterklasse zugeordnet – incertae sedis Ordnung Abrothallales Ordnung Acrospermales Ordnung Aulographales Ordnung Botryosphaeriales Ordnung Catinellales Ordnung Collemopsidiales Ordnung Dyfrolomycetales Ordnung Eremithallales Ordnung Jahnulales Ordnung Kirschsteiniotheliales Ordnung Lembosinales Ordnung Lichenotheliales Ordnung Minutisphaerales Ordnung Monoblastiales Ordnung Murramarangomycetales Ordnung Muyocopronales Ordnung Natipusillales Ordnung Parmulariales Ordnung Stigmatodiscales Ordnung Strigulales Ordnung Superstratomycetales Ordnung Tubeufiales Ordnung Valsariales Ordnung Zeloasperisporiales Klasse Eurotiomycetes Unterklasse Chaetothyriomycetidae Unterklasse Eurotiomycetidae Unterklasse Coryneliomycetidae Unterklasse Mycocaliciomycetidae Klasse Geoglossomycetes Ordnung Erdzungenartige – Geoglossales Klasse Laboulbeniomycetes Ordnung Laboulbeniales Ordnung Pyxidiophorales Klasse Lecanoromycetes Unterklasse Acarosporomycetidae Unterklasse Candelariomycetidae Unterklasse Lecanoromycetidae Unterklasse Ostropomycetidae Unterklasse Umbilicariomycetidae keiner Unterklasse zugeordnet – incertae sedis Ordnung Micropeltidales Ordnung Turquoiseomycetales Klasse Leotiomycetes Ordnung Golfkugelpilzartige – Cyttariales Ordnung Mehltaupilzartige – Erysiphales Ordnung Helotiales Ordnung Lahmiales Ordnung Leotiales Ordnung Medeolariales Ordnung Phacidiales Ordnung Runzelschorfartige – Rhytismatales Ordnung Thelebolales Ordnung Triblidiales Klasse Lichinomycetes Ordnung Lichinales Klasse Orbiliomycetes Ordnung Knopfbecherchenartige – Orbiliales Klasse Pezizomycetes Ordnung Becherlingsartige – Pezizales Klasse Sordariomycetes Unterklasse Diaporthomycetidae Unterklasse Lulworthiomycetidae Unterklasse Savoryellomycetidae< Unterklasse Hypocreomycetidae Unterklasse Sordariomycetidae Unterklasse Xylariomycetidae keiner Unterklasse zugeordnet – incertae sedis Ordnung Amplistromatales Ordnung Spathulosporales Klasse Xylonomycetes Ordnung Xylonomycetales Forschung Schlauchpilze sind bis heute Gegenstand aktiver Forschungsarbeiten. Ein wichtiges Forschungsgebiet ist immer noch die Systematik; die Stellung der Schlauchpilze als Schwestergruppe der Ständerpilze gilt zwar als relativ unumstritten, Fragen nach der weiteren Einteilung sind aber nach wie vor aktuell. Insbesondere das Verhältnis der Archaeoascomycetes zu den restlichen Schlauchpilzen ist noch nicht aufgeklärt; auch die detailliertere Klassifikation der Schlauchpilz-Ordnungen ist noch im Fluss. Ein anderes fruchtbares Forschungsgebiet ist die Untersuchung der Stammesgeschichte der Schlauchpilze anhand fossiler Sporen, Asci oder ganzer Ascomata. Insbesondere die Assoziation von Schlauchpilzen mit den Wurzeln der ersten Landpflanzen ist bei weitem noch nicht aufgeklärt; weitere Fossilienfunde gelten als dringend notwendig, um die Vorgänge bei der Landbesiedelung von Pflanzen und Pilzen besser zu verstehen. Die Rolle der Schlauchpilze in natürlichen Ökosystemen ist ein weiteres aktives Gebiet mykologischer Studien. Während die Flechtenkunde (Lichenologie) sich traditionell als selbständige Wissenschaft versteht, fällt die Untersuchung von Mykorrhiza-Symbiosen und endophytischen Pilzen in das Arbeitsgebiet des Pilzforschers oder Mykologen. Gerade die Endophyten sind in ihrer Auswirkung auf die jeweiligen Wirtspflanzen erst sehr wenig erforscht. Einige Pilze dienen auch als Modellorganismen in Genetik und Molekularbiologie. Unter anderem an Neurospora crassa und der Backhefe Saccharomyces cerevisiae werden zahlreiche zellbiologische Phänomene erforscht, die von grundsätzlicher Bedeutung für das Verständnis der allen Organismen zugrundeliegenden Lebensprozesse sind. Immer mehr in den Vordergrund rückt die Frage des Artenschutzes: Die Gefährdung einer Art lässt sich dann zuverlässig beurteilen, wenn seriöse Daten zur Bestandsentwicklung vorliegen – diese existieren jedoch selbst in den gemäßigten Breiten nur in sehr wenigen Ausnahmefällen. Wahrscheinlich ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur ein sehr geringer Teil der Vielfalt der Schlauchpilzearten erfasst. Quellen Literatur C. J. Alexopoulos, M. Blackwell, C. W. Mims: Introductory Mycology. 4. Auflage. Wiley, New York NY 1996, ISBN 0-471-52229-5. B. Kendrick: The Fifth Kingdom. Kapitel 4. Focus Publ., Newburyport MA 2001, ISBN 1-58510-022-6. G. J. Krieglsteiner: Verbreitungsatlas der Großpilze Deutschlands (West). Bd. 2. Schlauchpilze. Ulmer, Stuttgart 1993, ISBN 3-8001-3318-0. Josef Breitenbach, Fred Kränzlin (Hrsg.): Pilze der Schweiz. Beitrag zur Kenntnis der Pilzflora der Schweiz. Band 1: Ascomyceten (Schlauchpilze). Mykologia, Luzern 1981, ISBN 3-85604-010-2. Einzelnachweise Weblinks Anamorph-Teleomorph-Datenbank Fotografien einiger Fruchtkörper (Ascomata) Funghiparadise, Seite mit zahlreichen Abbildungen von Schlauchpilzen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Operation%20Bagration
Operation Bagration
Operation Bagration ( Operazija Bagration; benannt nach General Pjotr Iwanowitsch Bagration) war der Deckname einer großen Offensive der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges an der deutsch-sowjetischen Front. Sie begann am 22. Juni 1944 mit dem Angriff von vier sowjetischen Fronten gegen die deutsche Heeresgruppe Mitte mit dem anfänglichen Ziel der Rückeroberung der belarussischen Hauptstadt Minsk. Sie weitete sich bald zu einem umfassenden operativen Erfolg der sowjetischen Truppen aus, der erst Ende August 1944 an der Weichsel, an den Grenzen Ostpreußens und bei Riga vorläufig aufgehalten wurde. Militärhistorisch gilt dieser „Sowjetische Blitzkrieg“ als die erfolgreiche Umsetzung der Militärstrategie Tiefe Operation. Die Operation Bagration führte zum vollständigen Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte und dem Verlust von 28 Divisionen der Wehrmacht. Sie gilt als die schwerste und verlustreichste Niederlage der deutschen Militärgeschichte. Die während dieser Kämpfe erlittenen Verluste konnte die Wehrmacht nicht mehr ausgleichen. Eine Stabilisierung der deutschen Ostfront gelang fortan bis zum Kriegsende nur noch zeitweise und örtlich begrenzt. „Mit dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 begann die Agonie der deutschen Kriegführung im Osten“, so der Militärhistoriker Hermann Gackenholz. Die Operation Bagration trug nicht nur entscheidend zur deutschen Kriegsniederlage bei, sondern beeinflusste nachhaltig die politische Entwicklung. Die deutsche Niederlage wurde nun endgültig unausweichlich; die Hoffnungen der Wehrmacht, die Rote Armee wenigstens zu einem Verhandlungsfrieden zwingen zu können, zerstoben. Die sowjetischen Siege veranlassten die polnische Armia Krajowa (Heimatarmee) zu einem Aufstand mit dem Ziel, Polen eigenständig von der deutschen Besatzung zu befreien und einer Besetzung des Landes durch die Rote Armee zuvorzukommen. Des Weiteren entschieden sich die Angehörigen des deutschen militärischen Widerstandes unter dem Eindruck der katastrophalen Rückschläge an der Front, am 20. Juli 1944 einen Staatsstreich zu wagen. Von Bedeutung ist außerdem, dass während der sowjetischen Offensive erstmals in größerem Umfang deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager befreit wurden, womit einer breiteren internationalen Öffentlichkeit umfangreiche Informationen über die Existenz des Holocaust zugänglich gemacht wurden. Vorgeschichte Die in der Sowjetunion kämpfenden Heeresgruppen der deutschen Wehrmacht waren, nach dem Abbruch der Großoffensive Unternehmen Zitadelle im Juli 1943, bis zum Frühsommer 1944 permanent in der Defensive. Die deutschen Truppen hatten große Teile des sowjetischen Staatsgebiets räumen müssen; ein Sieg der Wehrmacht war längst unmöglich. Im Süden war bis zum 12. Mai der größte Teil der von den Heeresgruppen Nord- und Südukraine verteidigten Ukraine und die Halbinsel Krim verlorengegangen (→ Dnepr-Karpaten-Operation, Schlacht um die Krim). Die Truppen der Roten Armee hatten in Rumänien zum ersten Mal seit Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges das Territorium der Sowjetunion verlassen. Im Norden war gegen den Widerstand der Heeresgruppe Nord im Januar 1944 die Leningrader Blockade endgültig aufgebrochen worden und die sowjetischen Truppen standen an der Grenze der ehemaligen baltischen Staaten (→ Leningrad-Nowgoroder Operation). Trotz der immer schwierigeren Lage war die Wehrmacht bis Mitte 1944 aber insgesamt noch zu geordneten Rückzugsbewegungen, effizienter Defensive und lokal begrenzten Konterattacken in der Lage. Lage der Heeresgruppe Mitte im Frühsommer 1944 Der Heeresgruppe Mitte war es gelungen, das Gebiet von Belarus bis zum späten Frühjahr 1944 im Großen und Ganzen zu halten. Dadurch war diese Heeresgruppe im Frühsommer 1944 allerdings der am weitesten ostwärts eingesetzte deutsche Großverband und befand sich in einer gefährlich exponierten Lage. Da überdies Mannschaften und Material abgezogen werden mussten, um gegen die Anfang Juni in Frankreich gelandeten Westalliierten zu kämpfen, wurden die Heeresgruppe und die gesamte deutsche Ostfront ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt weiter geschwächt. Pläne der Wehrmachtsführung Die Wehrmachtsführung hatte im Grunde seit der Niederlage von Stalingrad – spätestens aber seit dem Scheitern des Unternehmens Zitadelle – keine Strategie mehr, die auf einen Sieg im Deutsch-Sowjetischen Krieg abzielte, auch wenn die NS-Propaganda anderes verbreitete. Das Ziel sämtlicher Bemühungen bestand seit dem Sommer 1943 vielmehr darin, zumindest eine totale Niederlage und damit das Ende des NS-Regimes abzuwenden, indem man der Roten Armee so hohe Verluste zufügte, dass Stalin einwilligen würde, den Krieg in einem Remisfrieden zu beenden. In der deutschen Führungsebene herrschte aber Uneinigkeit darüber, wie dieser Verhandlungsfrieden erreicht werden sollte. Verkürzung der Hauptkampflinie Für die Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte war klar, dass auch das Gebiet von Belarus auf Dauer nicht verteidigt werden konnte. Von den Stäben der Heeresgruppe wurden daher Pläne ausgearbeitet, die einen schrittweisen Rückzug auf eine Frontlinie beinhalteten, die den ungefähr 1000 Kilometer langen belarussischen Frontvorsprung stark verkürzte. Dadurch sollten eine stärkere Besetzung der so verkürzten Hauptkampflinie (HKL) ermöglicht, Reserven gewonnen und bessere Abwehrmöglichkeiten feindlicher Offensiven geschaffen werden. Heeresgruppenbefehlshaber Generalfeldmarschall Ernst Busch beantragte die Durchführung dieser Maßnahme bei den miteinander konkurrierenden Führungsstellen Oberkommando des Heeres (OKH) und Oberkommando der Wehrmacht (OKW). „Feste Plätze“ als Wellenbrecher Diese Pläne stießen jedoch auf den Widerstand Hitlers, der seit dem Dezember 1941 persönlich die Leitung des OKH übernommen hatte. Hitler war aus politischen und ideologischen Gründen nicht bereit, Rückzüge in größerem Umfang zuzulassen. Er hatte zwar erkannt, dass die Rote Armee viel stärker geworden war als zu Beginn des Krieges; mit dem von ihm selbst entwickelten Konzept der als Wellenbrecher gedachten „festen Plätze“ meinte er jedoch, die noch unter deutscher Kontrolle befindlichen sowjetischen Gebiete halten und den Kräftevorteil der Roten Armee, die hier „ausbluten“ sollte, wieder zu seinen Gunsten wenden zu können. Im Bereich der Heeresgruppe Mitte waren die Städte Witebsk, Orscha, Minsk, Mogilew und Bobruisk von Hitler am 8. März 1944 als „feste Plätze“ definiert worden. Sie sollten nach seinen Vorstellungen zu einem späteren Zeitpunkt überdies als Ausgangspunkte für eine erneute deutsche Offensive in Richtung Osten dienen; Hitler hielt einen Sieg über die Sowjetunion noch immer für möglich. Entscheidung für die „festen Plätze“ Hitler warf auf der entscheidenden Stabsbesprechung am 20. Mai 1944 Generalfeldmarschall Busch vor, dass dieser nun auch zu jenen Generälen gehöre, „die nach hinten blicken“. Busch war in diesem Moment nicht in der Lage, die von ihm als richtig angesehene Rückzugslösung zu vertreten, und gab gegenüber Hitler klein bei. Trotz heftiger Proteste seitens der Busch unterstehenden Armeebefehlshaber wurde daher keine Verkürzung der HKL vorgenommen. Kurze Zeit nachdem Hitler seinen Willen durchgesetzt hatte, meldete sich der Befehlshaber der 4. Armee Generaloberst Gotthard Heinrici krank, denn Heinricis Ansichten über die zukünftige Kriegführung standen dem vom OKH realisierten Vorgehen diametral entgegen. Am 4. Juni übernahm vertretungsweise General der Infanterie Kurt von Tippelskirch das Kommando. Zur Verteidigung der „festen Plätze“ wurde mit Ausnahme von Witebsk jeweils eine Frontdivision eingeteilt und sämtliche Ressourcen für den Bau zusätzlicher Defensivstellungen zur Verfügung gestellt. Der feste Platz Witebsk erhielt als besonders exponierter Ort drei Divisionen, obwohl der Befehlshaber der 3. Panzerarmee, Generaloberst Reinhardt, mehrfach dagegen protestierte. Für den Bau der Verteidigungsanlagen wurden beispielsweise im Bereich der 3. Panzerarmee zwischen 15.000 und 25.000 Einwohner zwangsrekrutiert und unter unmenschlichen Bedingungen, die unter anderem durch einen Mangel an Kleidung und Nahrung gekennzeichnet waren, eingesetzt. Die Befestigungsarbeiten wurden permanent bis zum Beginn der sowjetischen Offensive fortgesetzt. Einschätzung der Absichten der Roten Armee Das OKH rechnete im Sommer 1944 mit einer Offensive der Roten Armee. Die Abteilung Fremde Heere Ost unter Generalmajor Reinhard Gehlen erwartete die Hauptstoßrichtung dieses Angriffs aber im Bereich der Heeresgruppe Nordukraine in Richtung der polnischen Hauptstadt Warschau bis zur Weichselmündung. Die deutschen Generäle befürchteten, dass durch diesen Angriff die Heeresgruppen Nord und Mitte von der Nachschubzufuhr abgeschnitten würden. Dies hätte einen Zusammenbruch der gesamten deutschen Ostfront zur Folge gehabt. Insbesondere Generalfeldmarschall Walter Model verteidigte als Befehlshaber der Heeresgruppe Nordukraine diese These sehr energisch. Diese deutsche Fehlanalyse der gegnerischen Truppenbewegungen im Vorfeld der sowjetischen Offensive war nach Einschätzung des Militärhistorikers Robert Stephan der schwerwiegendste Fehler, der von der Abteilung Fremde Heere Ost während des Deutsch-Sowjetischen Krieges begangen wurde. Die Rote Armee sorgte mit massiver Geheimhaltung und Täuschung durch die Maskirowka für diesen Irrtum der Abteilung Fremde Heere Ost. So wurden die Laufzettel der Güterwagen mit Zielen fernab der eigentlichen Ziele beschriftet, der tatsächliche Bestimmungsort durch scheinbar zufällige Verschmutzungen mit Pünktchen codiert. Allgemeiner Zustand der Heeresgruppe Mitte Die Heeresgruppe Mitte war bis zum Sommer 1944 der stärkste in der Sowjetunion stehende deutsche Großverband. Aufgrund der immer schlechteren strategischen Gesamtlage des Deutschen Reiches seit den alliierten Landungen in Italien (Juli 1943, Operation Husky) und in der Normandie (Juni 1944, Operation Overlord) in einen Mehrfrontenkrieg verschlimmerte sich auch der Zustand dieses Großverbands zunehmend. Es herrschte infolge unzureichenden Nachschubs Mangel an einsatzbereiten Soldaten, Fahrzeugen, Flugzeugen, Treibstoff und Munition. Nach den Worten des deutschen Militärhistorikers Karl-Heinz Frieser war die Heeresgruppe Mitte im Frühsommer 1944 daher ein „Kartenhaus vor dem Einsturz“. Die Moral und die körperliche Verfassung der in der Heeresgruppe eingesetzten Soldaten waren aufgrund allgemeinen Stillstands, schlechter Nachrichten von anderen Kriegsschauplätzen und Versorgungsengpässen schlecht. Einige der deutschen Soldaten hegten die Hoffnung, dass der Krieg nach der Landung der Alliierten in der Normandie bald beendet werden würde. Die Zahl der Desertionen häufte sich vor allem bei den aus dem Gebiet der Sowjetunion stammenden freiwilligen Hilfskräften der Wehrmacht, weil wegen der zunehmend kritischen Kriegslage des Dritten Reiches dessen bevorstehende Niederlage immer wahrscheinlicher wurde. Die Propaganda des von der Sowjetunion aufgebauten und geförderten Nationalkomitees Freies Deutschland wurde intensiviert, zeigte aber verhältnismäßig wenig Wirkung gegenüber den meist nationalsozialistisch indoktrinierten deutschen Soldaten. Viele deutsche Soldaten waren bereits seit dem Winter 1941/42 chronisch unterernährt, da im Deutschen Reich aufgrund des lange andauernden Krieges kaum Nahrungsmittelreserven vorhanden waren und man nicht mehr in der Lage war, die vorgeschriebenen Kostsätze zu liefern. Daraus resultierende dauerhafte Vitaminmangelstörungen führten zusammen mit weiteren Mangelerscheinungen zu geringerer körperlicher Leistungsfähigkeit, sofern die Feldeinheiten nicht in der Lage waren, in den von ihnen besetzten Gebieten die eigenen Bedürfnisse an Nahrungsmitteln selbst durch Plünderung oder eine provisorische Zwangs-Landwirtschaft zu ergänzen bzw. zu decken. Alkohol und Aufputschmittel wie Methamphetamin waren hingegen reichlich verfügbar. Grobe Verstöße gegen die Vorschriften oder Auflehnung gegen Vorgesetzte waren aber aufgrund der NS-Propaganda, der unnachgiebigen Aufrechterhaltung der Disziplin durch das deutsche Offizierskorps sowie wegen des gefürchteten Rufes der deutschen Feldgendarmerie („Kettenhunde“) und der immer härteren Urteile der Militärjustiz bis zum Sommer 1944 die Ausnahme. Gliederung der Heeresgruppe Mitte vor dem Beginn der Operation Bagration (Stand 21. Juni 1944) Gliederung der Luftflotte 6 vor dem Beginn der Operation Bagration (Stand 21. Juni 1944) Lage im rückwärtigen Raum Die Heeresgruppe Mitte litt auch unter der selbst verursachten Lage im rückwärtigen Raum hinter ihrem Frontabschnitt. Dieser war bereits seit Überlegungen zur Frontverkürzung aus dem Jahr 1943 als Gebiet vorgesehen, das zu räumen sei. Daher wandten das deutsche Militär unter dem Befehlshaber des Rückwärtigen Heeresgebietes Weißruthenien General der Kavallerie Edwin von Rothkirch und Trach und die Wirtschaftsorganisation Ost die sogenannten ARLZ-Maßnahmen an, die für Gebiete vorgesehen waren, aus denen sich die Wehrmacht zurückzog. Es befanden sich in dem weißrussischen Gebiet rund 100.000 Menschen, die bei vorherigen Rückzügen verschleppt worden waren, inzwischen aber als „arbeitsunfähig“ eingestuft wurden. Dazu kamen mehrere Hunderttausend Verschleppte aus dem Zuständigkeitsbereich der Heeresgruppe Nord. Dennoch wurden der Region weiterhin Nahrungsmittel zur Versorgung der deutschen Truppe und des Reichsgebiets entzogen. Der Kampf zwischen Besatzern und Partisanen sowie die Verschleppung von Zwangsarbeitern in das Deutsche Reich verschärften die Lage weiter. Das führte zu einer Hungersnot unter Deportierten und der ansässigen Bevölkerung und auch zu einer mangelhaften Versorgung der deutschen und verbündeten Truppen. Anfang 1944 begann die Wehrmacht dann mit der systematischen Zerstörung von Wirtschaftsbetrieben, Unterkünften und Infrastruktur, die nach Meinung der Deutschen nicht unmittelbar benötigt wurde. Einwohner, die nicht direkt für die Deutschen arbeiteten, wurden nach Westen vertrieben. Nur die Arbeitsfähigen wurden weiter in das Deutsche Reich verschleppt. Dies führte zu erneuten Versorgungskatastrophen und Seuchenausbrüchen in den Auffanglagern an der Grenze des Deutschen Reiches. Im Auffanglager Alytus kurz vor der ostpreußischen Grenze starben schätzungsweise bis zu 35.000 Menschen durch Verhungernlassen. Die Zivilverwaltungen der Zielregionen lehnten aus diesem Grund die Aufnahme weiterer Vertriebener ab. Auch leistete die belarussische Zivilbevölkerung zunehmend Widerstand gegen die Deportationen. Daraufhin griff die Wehrmacht massenhaft Zivilisten auf und trieb sie in Gebiete, die von Partisanen oder der Roten Armee kontrolliert wurden. Bei Osaritschi wurden im März 1944 bei einem begrenzten Rückzug der Wehrmacht bis zu 40.000 Menschen in einem Lager zurückgelassen, von denen mindestens 9000 starben. (→Todeslager Osaritschi) Partisanenkrieg in Belarus Große Teile des von der Heeresgruppe Mitte besetzten Gebietes wurden seit 1942 durch sowjetische Partisaneneinheiten kontrolliert, die durch eine spezielle Abteilung des NKWD unter Generalleutnant Panteleimon Kondratjewitsch Ponomarenko koordiniert und überwacht wurden. Das waldreiche, wenig erschlossene Gelände (→Wehrmachtsloch) begünstigte die Operationen solcher Gruppierungen wesentlich. Diese sowjetischen Partisanen, denen sich auch viele der überlebenden belarussischen Juden angeschlossen hatten, waren häufig sehr gut organisiert. Im Gegensatz zu einem in Zeiten der Sowjetunion geprägten Mythos war ihr Auftreten gegenüber der belarussischen Landbevölkerung meist durch das brutale Requirieren von Nahrungsmitteln und sonstigen Gütern gekennzeichnet. Neben diesen prosowjetischen Gruppierungen existierten vor allem im polnischen Teil von Belarus Partisanen der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, AK), die nicht nur die deutschen Besatzer, sondern ab dem Herbst 1943 auch die prosowjetischen Partisanen bekämpften. In der ehemals polnischen Woiwodschaft Wolhynien begann die AK ab demselben Zeitpunkt die Kontrolle über ganze Landstriche zu übernehmen. Dieses Unternehmen scheiterte an deutschen Sicherungsverbänden, die die AK-Kämpfer bis Anfang Juni 1944 in die westlichen Pripjetsümpfe abdrängten. Die belarussische Zivilbevölkerung hatte allen Gruppierungen Nahrungsmittel und Kleidung abzuliefern und befand sich durch die zunehmend anarchischen Zustände in einer immer kritischer werdenden Situation. Diese führte dazu, dass immer mehr Belarussen aus ihrer Not heraus mit den deutschen Besatzern kollaborierten, wenn sie nicht zu den prosowjetischen Partisanen gingen. Den Polen standen die Belarussen aufgrund von Benachteiligungen während der Zeit der polnischen Herrschaft im westlichen Teil des Landes feindlich gegenüber. Die belarussischen Nationalisten, die aufgrund ihres Strebens nach einem eigenständigen Staat in der Zeit der sowjetischen und polnischen Besatzung unterdrückt worden waren (→ Smizer Schylunowitsch), standen meist auf der Seite der Deutschen. Sie waren seit dem März 1944 in der Weißruthenischen Heimwehr organisiert und verfolgten die Schaffung eines unabhängigen belarussischen Staates. Diese Bestrebungen wurden von den Deutschen zwar unterstützt, jedoch auch argwöhnisch beobachtet. Aufgrund der seit Herbst 1942 rapide anwachsenden Zahl von Partisanenüberfällen fanden seit Anfang 1943 unter der Leitung von SS-Obergruppenführer Erich von dem Bach-Zelewski großangelegte Unternehmen der Wehrmacht, SS sowie ab Herbst 1943 der von Bronislaw Wladislawowitsch Kaminski geführten Brigade russischer Kollaborateure vorgeblich gegen die Partisanen in diesem Gebiet statt. Diese mit unmenschlicher Härte durchgeführten Vergeltungsmaßnahmen führten zu der Ermordung Tausender belarussischer Zivilisten sowie der Deportation tausender Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Die von den vermeintlichen oder tatsächlichen Partisanen bewohnten Orte wurden vollständig zerstört. Zum Beispiel wurden im Verlauf von „Partisanenbekämpfungsaktionen“ im Polozker Gebiet während der Monate April und Mai 1944 insgesamt 7.011 Menschen ermordet, 6.928 Gefangene gemacht sowie 11.233 Menschen als Arbeitskräfte nach Deutschland deportiert. Die im Umkreis von Polozk operierenden Partisanen wurden durch dieses Vorgehen sehr geschwächt. Sowjetische Boden- und Luftangriffe, die zur Unterstützung der Partisaneneinheiten durchgeführt wurden, brachten ihnen keine Entlastung. Die Massenmorde und Deportationen durch die deutschen Besatzer waren aber nur örtlich von Bedeutung für den Kriegsverlauf: Es existierten auch weiterhin im zentralen Belarus und westlich von Minsk große, vor allem bewaldete Gebiete, die vollständig durch Partisanenverbände wie beispielsweise die Bielski-Partisanen kontrolliert wurden und die sogar über behelfsmäßige Flugplätze von der Roten Armee versorgt werden konnten. Diese Gebiete stellten eine gute Basis für die sowjetische Militäraufklärung (→ Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije) dar, die im Hinterland der Heeresgruppe insgesamt 61 Abhörposten betrieb und über die Stützpunkte der Partisanen Agenten in den deutschen Machtbereich schleusen konnte. Störaktionen der Partisanen, dritte Phase der Operation „Eisenbahnkrieg“ Die sowjetischen Partisanen wurden durch Offiziere des NKWD in ihrer Tätigkeit geleitet, sodass sie in Koordination mit der Roten Armee tätig werden konnten. Nachdem ein ausreichendes Verbindungsnetzwerk geschaffen worden war, begannen direkt von Moskau aus geleitete Sabotageoperationen, von denen eine der wichtigsten die im Sommer 1943 beginnende „Operation Eisenbahnkrieg“ war. Deren Hauptziel war die Störung des deutschen Nachschubs durch Sprengung der hierfür genutzten Eisenbahnlinien. Das war ein empfindlicher Eingriff in die Bewegungsfreiheit der Deutschen, da die Bahnlinien die einzigen Transportwege waren, die eine ausreichende Kapazität zur schnellen Verlegung größerer Einheiten in Regiments- oder Divisionsstärke boten. Nach der Operation Schienenkrieg und der „Operation Konzert“ im Sommer/Herbst 1943, begann die dritte Phase der „Operation Eisenbahnkrieg“ kurz vor dem Beginn des sowjetischen Angriffs. In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni begannen die Partisaneneinheiten, die sich in Belarus befanden, damit, die Bahnlinien Pinsk–Luninez, Borissow–Orscha und Molodetschno–Polozk, die die einzigen in den Bereich der Armeen der Heeresgruppe Mitte führenden Eisenbahnverbindungen waren, systematisch zu sprengen. Die von 145.000 Partisanen gelegten 10.500 Sprengladungen unterbrachen den Nachschub der deutschen Truppen für 48 Stunden komplett, obwohl etwa 3500 der Sprengsätze entschärft werden konnten. Diese Aktion war der größte Sabotageanschlag des Zweiten Weltkrieges. Nach dem Beginn der sowjetischen Offensive begannen sowjetische Partisanenabteilungen die Operationen der Roten Armee zu unterstützen. Beispielsweise versuchten sie gezielt, Ortschaften unter ihre Kontrolle zu bringen. Dies geschah beispielsweise in dem Ort Dokschizy, der aufgrund eines Partisanenangriffs und des nachfolgenden deutschen Gegenschlages dem Erdboden gleichgemacht wurde. Angriffsvorbereitungen der Roten Armee Auf sowjetischer Seite wurden nach dem Ende der Kesselschlacht von Kamenez-Podolski am 15. April offensive Operationen an der westlichen Frontlinie bis zum Beginn des Juni 1944 durch das Hauptquartier des Kommandos des Obersten Befehlshabers (Stawka) gestoppt, um Kräfte für große Offensiven zur Vertreibung sämtlicher Besatzungstruppen vom Staatsgebiet der Sowjetunion zu sammeln. Bis in den Mai hinein fanden auf der Halbinsel Krim Kämpfe mit der deutschen 17. Armee statt, die mit der Eroberung der Hafenstadt Sewastopol durch sowjetische Truppen und der weitgehenden Vernichtung der 17. Armee ihren Abschluss fanden. Planung der Offensive in Belarus Nachdem die Verbände der Heeresgruppe Süd, die vom Sommer 1943 bis zum April 1944 die Hauptlast der Kämpfe an der Ostfront getragen hatten, bedeutend geschwächt und weitgehend von sowjetischen Territorien verdrängt worden waren, stellte die Heeresgruppe Mitte immer noch ein starkes Hindernis für die sowjetischen Truppen dar. Es bot sich daher – wie von der deutschen Generalität erwartet – ein Vorstoß im Bereich der Heeresgruppe Nordukraine in Richtung Warschau an. Die Stawka entschied sich jedoch im April 1944 stattdessen für einen Angriff in Belarus. Die Planung der Offensive wurde vom Chef des Operationsstabes der Roten Armee Armeegeneral Alexei Innokentjewitsch Antonow ausgeführt. Antonows Pläne wurden von den Marschällen Wassilewski und Schukow übernommen und Stalin und den anderen beteiligten Befehlshabern am 20. Mai 1944 vorgelegt. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Befehlshaber der 1. Belarussischen Front, Rokossowski, und Stalin. Der General bestand darauf, im Gegensatz zur ursprünglichen Vorgabe, einen Zangenangriff mit zwei Stoßrichtungen auf die Stellungen der deutschen 9. Armee zu führen. Rokossowski setzte sich schließlich durch und die Planungen wurden überarbeitet. Stalin genehmigte daraufhin ihre Ausführung am 31. Mai und benannte die Offensive nach dem georgisch-russischen General Pjotr Iwanowitsch Bagration. Der Termin für den Beginn sollte gemäß den Vereinbarungen, die auf der Konferenz von Teheran getroffen wurden, mit der unter dem Tarnnamen Operation Overlord geplanten Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni zeitlich koordiniert werden. Einige Historiker nehmen an, dass die Vereinbarung nicht eingehalten wurde, weil der 22. Juni 1944 aus sowjetischer Sicht ein weit besserer Termin für einen Angriff war, der klar als Revanche für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion drei Jahre zuvor betrachtet wurde und weil zwischen den Partnern der Anti-Hitler-Koalition bereits Differenzen bestanden. Andere Quellen geben logistische Probleme während des sowjetischen Aufmarsches als Grund für den verspäteten Beginn an. Dies ist aufgrund der kapazitiven Überforderung des durch den Krieg stark zerstörten sowjetischen Eisenbahnnetzes, über das in kürzester Zeit Armeen von anderen Frontabschnitten und rückwärtigen Gebieten nach Belarus transportiert werden mussten, ebenfalls plausibel. Aufmarsch der Roten Armee Die Wehrmacht hatte in den vergangenen Monaten bewiesen, dass sie in der Lage war, Angreifern hohe Verluste zuzufügen. Entsprechend der Einschätzung, dass die Heeresgruppe Mitte den stärksten deutschen Verband darstellte, wurde daher eine große Anzahl von Einheiten der Roten Armee in Belarus konzentriert, um eine für einen Erfolg als notwendig erachtete personelle und materielle Übermacht gegenüber der Heeresgruppe Mitte zu schaffen. Die inzwischen sehr leistungsfähig gewordene sowjetische Rüstungsindustrie ermöglichte es der Roten Armee, eine gigantische Menge von Kriegsmaterial anzusammeln. Die Anzahl der zur Verfügung stehenden Waffen stieg in eine bis dahin nicht erreichte Größenordnung. Durch die umfangreichen Rekrutierungsmaßnahmen seit Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges standen genügend gut ausgebildete Soldaten zur Verfügung. Zusätzlich erhielt die Sowjetunion nun auch wirksame Unterstützung durch alliierte Waffenlieferungen, die im Rahmen der Umsetzung des Leih- und Pachtgesetzes über den Persischen Korridor bereitgestellt wurden. Die sowjetischen Truppen waren mit 12.000 Lastkraftwagen vollmotorisiert, während die deutschen Truppen für Transportaufgaben schon seit dem Einmarsch zum großen Teil auf Pferdegespanne angewiesen waren. Beispielsweise waren bei der deutschen 3. Panzer-Armee ungefähr 60.000 Pferde im Einsatz. Für sämtliche Fahrzeuge der Roten Armee wurde ein Kraftstoffverbrauch von 25.000 Tonnen pro Tag veranschlagt, der auch problemlos bereitgestellt werden konnte. Im Gegensatz dazu litten die deutschen Einheiten als Folge der zunehmend präziseren US-amerikanischen Luftangriffe auf Erdölfelder und Hydrierwerke der Achsenmächte immer häufiger unter Treibstoffmangel. Allgemeiner Zustand der sowjetischen Truppen Die Moral der sowjetischen Soldaten am belarussischen Frontabschnitt war bis in den Juni 1944 hinein ähnlich wie bei den deutschen Truppen schlecht, was auf allgemeine Kriegsmüdigkeit sowie die Ereignislosigkeit an diesem Frontabschnitt zurückzuführen war. Wie auch bei ihrem deutschen Gegner war die Versorgung mit alkoholischen Getränken in Form von Samogon und Wodka im Gegensatz zu anderen Versorgungsgütern sehr gut. Eine Anzahl sowjetischer Offiziere bereicherte sich durch die Plünderung von Hilfslieferungen, die eigentlich für die Bevölkerung der von der Roten Armee befreiten Gebiete bestimmt waren. Auch als aufgrund verschiedener befohlener Vorbereitungen klar wurde, dass eine große Offensive bevorstand, besserte sich die Stimmung der Soldaten nicht wesentlich. Die sowjetische Führung nutzte die mehrmonatige Kampfpause dennoch, um den Ausbildungsstand der Soldaten zu verbessern. Es wurde ein koordiniertes Vorgehen der angreifenden Infanteristen trainiert, auf das bisher kaum Wert gelegt worden war. Die sowjetischen Soldaten waren während der vorangegangenen drei Kriegsjahre häufig einfach frontal auf die deutschen Stellungen zugestürmt und hatten dadurch exorbitant hohe Verluste erlitten. Die Abkehr von dieser ineffizienten Taktik des „Verheizens“ erwies sich im Verlauf der Kämpfe des Sommers 1944 als sinnvoll und schlachtentscheidend. Maskirowka – Verschleierung der sowjetischen Vorbereitungen Um das OKW über die beabsichtigte Stoßrichtung des Angriffs im Unklaren zu halten, wurden durch Antonow und Schukow umfangreiche Maskirowka-Maßnahmen (Tarnung) in Gang gesetzt und konkret am 29. Mai 1944 für die geplante Offensive in Belarus begonnen. Das Ziel dieser Militäraktion war die Vortäuschung sowjetischer Truppenkonzentrationen mittels Attrappen vor dem Frontabschnitt der Heeresgruppe Südukraine durch die 3. Ukrainische Front und die Verschleierung des tatsächlichen Aufmarsches in Belarus. Das war bei den massiven Truppenbewegungen, die die Operation Bagration erforderte, nicht einfach, gelang der Roten Armee jedoch. Deutsche Aufklärungsflugzeuge operierten unbehelligt über den Scheinkonzentrationen sowjetischer Truppen in der Ukraine, sodass die dort aufgestellten Attrappen fotografiert und die Aufnahmen an den deutschen Generalstab weitergegeben wurden. Die echten Truppenbewegungen der Roten Armee fanden dagegen nachts statt. Die sowjetische Seite hielt Funkstille ein, sodass die deutsche Fernmeldeaufklärung keine Informationen gewann. Bei der Aufklärung der sowjetischen Kräfte im Bereich der Heeresgruppe Mitte, für deren Auswertung und Lagefeststellung sowie Lagebeurteilung die Abteilung Fremde Heere Ost unter Gehlen zuständig war, blieben seit Beginn 1944 die 6. Garde-Armee und die 5. Garde-Panzer-Armee bis zum Beginn der sowjetischen Operation Bagration unerkannt. Das Täuschungsmanöver des sowjetischen Oberkommandos war größtenteils erfolgreich. Das deutsche OKW war bis zum tatsächlichen Beginn der Offensive nicht über ihre beabsichtigte Stoßrichtung informiert, vermutete sie aber im Gegensatz zur Suggestion der sowjetischen Maskirowka im Bereich der Heeresgruppe Nordukraine. Obwohl auf Korpsebene die Zusammenballung sowjetischer Kräfte im Bereich der Heeresgruppe Mitte durchaus beobachtet und weitergemeldet wurde und die Führungsebene der Heeresgruppe sich seit dem 10. Juni im Klaren darüber war, dass eine Offensive in ihrem Sektor der Front stattfinden würde, zog das Oberkommando des Heeres (OKH) gemäß den Weisungen des OKW starke Kräfte aus der Heeresgruppe Mitte ab und verstärkte die Heeresgruppe Nordukraine. Nachdem am 6. Juni 1944 die Landung der Alliierten in Frankreich begonnen hatte, wurden noch weitere deutsche Einheiten, die bisher im Bereich der Heeresgruppe Mitte eingesetzt waren, zur Verstärkung der in Frankreich stationierten Truppen abgezogen. Die Front in Italien erhielt zudem große Mengen an Munition, die wiederum den Verbänden der Heeresgruppe Mitte fehlten. Diese Faktoren schwächten die Verteidigungsfähigkeit der Deutschen zusätzlich. Trotz des massiven sowjetischen Truppenaufmarsches wurden die deutschen Frontverbände vom Ausmaß des Angriffs überrascht. Aufgrund der Täuschungsmanöver der Roten Armee ignorierte das deutsche OKW die Anzeichen für einen bevorstehenden Angriff und veranlasste keine Umgruppierung der eigenen Kräfte. Laut späteren Ausführungen des Generals von Tippelskirch schätzten auch die deutschen Armeebefehlshaber und Korpskommandeure das tatsächliche Kräfteverhältnis und die Verteidigungsfähigkeit ihrer Einheiten falsch ein. Selbst als die sowjetischen Truppen am 20. Juni Hindernisse entfernten, die beim Vordringen zu den deutschen Verteidigungslinien im Weg standen, erfolgte auf der Seite der deutschen Generalität immer noch keine Reaktion. Die an der Front der Heeresgruppe Mitte eingesetzten deutschen Soldaten warteten sehenden Auges auf ihren Untergang. Im Gegensatz dazu hatte die sowjetische Führung dank ihrer militärischen Aufklärung einen sehr genauen Überblick über die Aufstellung der deutschen Kräfte erhalten. Die sowjetischen Generäle waren daher sicher, dass die Deutschen auf die Offensive nicht vorbereitet waren. Bei der Gruppierung ihrer Kräfte legten die sowjetischen Befehlshaber besonderes Augenmerk auf die hohe Konzentration der Truppen an verhältnismäßig engen Durchbruchsstellen. Gliederung der an der Operation Bagration beteiligten Einheiten der Roten Armee am 21. Juni 1944Glantz: Soviet Military Deception. S. 360–379.In die Gliederung ist nur der nördliche Flügel der 1. Weißrussischen Front einbezogen. Die 1. Weißrussische Front umfasste wesentlich mehr Armeen als die übrigen Fronten, weil sie für den gesamten Frontbogen vom südöstlichen Weißrussland über die Pripjetsümpfe bis hin zum nordwestukrainischen Kowel zuständig war. Die von der Front zu verteidigende Kampflinie hatte eine Gesamtlänge von über 600 Kilometern. Der südliche Flügel der 1. Weißrussischen Front kam erst während der Lublin-Brester-Operation ab dem 18. Juli 1944 zum Einsatz. Verlauf Der sowjetische Angriffsplan sah drei Frontabschnitte vor, an denen ein Durchbruch durch die deutschen Linien erfolgen sollte. Das erste Hauptziel war die Ausschaltung der deutschen 3. Panzerarmee und die Einnahme der festen Plätze Witebsk und Orscha. Diese Aufgabe sollte von der 1. Baltischen Front unter dem Kommando des Armeegenerals Hovhannes Baghramjan in Koordination mit der benachbarten 3. Weißrussischen Front unter Armeegeneral Iwan Danilowitsch Tschernjachowski erfüllt werden. Der zweite Schwerpunkt der sowjetischen Offensive war ein Angriff der 2. Weißrussischen Front unter dem Kommando von General Georgi Fjodorowitsch Sacharow auf die Stellungen der deutschen 4. Armee unter der Führung von General der Infanterie von Tippelskirch, die der Stadt Mogilew vorgelagert waren. Der dritte Angriff zielte auf die Stadt Bobruisk, in der das Hauptquartier der deutschen 9. Armee unter General der Infanterie Hans Jordan eingerichtet war. Dieser Armee stand der nördliche Flügel der 1. Weißrussischen Front unter dem Marschall der Sowjetunion Konstantin Konstantinowitsch Rokossowski gegenüber. Der südliche Flügel von Rokossowskis Truppen befand sich hauptsächlich in der nordwestlichen Ukraine im Frontabschnitt vor der Stadt Kowel und sollte zunächst untätig bleiben. In der Lücke zwischen beiden Flügeln lagen die unzugänglichen Pripjetsümpfe. Die drei Angriffe wurden zeitlich gestaffelt. Am 22. Juni begannen die Kämpfe bei Witebsk, am darauffolgenden Tag wurde die deutsche 4. Armee zum ersten Mal attackiert und am 24. Juni griff die 1. Weißrussische Front im Sektor der deutschen 9. Armee an. Das taktische Ziel der Offensive war die Ausführung einer Zangenbewegung durch die bei Bobruisk und Witebsk angreifenden Kräfte, die sich bei Minsk vereinigen und große Teile der Heeresgruppe Mitte in einem riesigen Kessel einschließen sollten. Die Attacke bei Mogilew sollte sicherstellen, dass die deutsche 4. Armee nicht zur Entlastung der 3. Panzer-Armee oder der 9. Armee eingesetzt werden konnte. Nach der erfolgreichen Einkreisung der deutschen Armeen sollten möglichst große Teile des nun ungedeckten belarussischen Hinterlands besetzt werden. In der sowjetischen und russischen Militärgeschichtsschreibung wird der Verlauf der Operation bis zur kompletten Sicherung des taktischen Zieles Minsk als erste Phase, der weitere Verlauf bis zu ihrem Ende am 29. August 1944 als zweite Phase bezeichnet. Kräfteverhältnisse Es besteht in der historischen Literatur ein allgemeiner Konsens darüber, dass die sowjetischen Truppen den deutschen Einheiten zahlenmäßig und in Bezug auf ihre Kampfkraft deutlich überlegen waren. Wenn es jedoch um die Quantifizierung dieses Unterschiedes in Form von Zahlenangaben geht, sind zwischen verschiedenen Quellen erhebliche Unterschiede feststellbar. Laut offiziellen sowjetischen Quellen standen vor dem Beginn der sowjetischen Offensive 1.400.000 Soldaten der Roten Armee mit 31.000 Geschützen, Raketenwerfern und Mörsern, 5.200 Panzern und Sturmgeschützen und 5.300 Flugzeugen den 1.200.000 Soldaten der Heeresgruppe Mitte mit 9.500 Geschützen, Raketenwerfern und Mörsern, 900 Panzern und Sturmgeschützen sowie 1.350 Flugzeugen gegenüber. Während die Angaben für die sowjetischen Truppen auch von dem US-amerikanischen Historiker Glantz übernommen wurden, rechnete dieser nur noch mit höchstens 850.000 deutschen Soldaten, was der ungefähren Ist-Stärke der Heeresgruppe Mitte am 1. Juni 1944 entsprach. Der russische Militärhistoriker Grigori Fedotowitsch Kriwoschejew beziffert die Stärke aller an der Offensive beteiligten sowjetischen Fronten mit 2.331.700 Soldaten. Nach dem deutschen Historiker Karl-Heinz Frieser wurden insgesamt 1.670.000 Soldaten der Roten Armee mit 32.718 Geschützen, Raketenwerfern und Mörsern, 5.818 Panzern und Sturmgeschützen und 7.799 Flugzeugen bei der Offensive eingesetzt. Ihnen gegenüber standen nominell 849.000 Soldaten der Heeresgruppe Mitte, davon waren aber nur 486.493 tatsächlich im Einsatz an der Front. Die deutschen Truppen waren mit 3.236 Geschützen, Raketenwerfern und Mörsern, 570 Panzern und Sturmgeschützen und 602 Flugzeugen weit unterlegen. Die für die deutschen Truppen von Frieser angegebenen Zahlen wurden auch von dem russischen Militärhistoriker Alexei Issajew übernommen. Die strategische Reserve der Roten Armee umfasste am 1. Juni 1944 eine Panzer-Armee, 36 Schützen- und Kavallerie-Divisionen, 16 Panzer- und mechanisierte Korps und 11 Artillerie-Divisionen. Die deutsche Wehrmacht hingegen besaß zu diesem Zeitpunkt keine nennenswerten strategischen Reserven. Luftüberlegenheit der sowjetischen Luftstreitkräfte Seit der Schlacht bei Kursk hatte sich die Zahl der an der Ostfront eingesetzten deutschen Kampfflugzeuge ständig verringert. Der Grund dafür war, dass zur Abwehr der alliierten Landungen in Italien und der Normandie Luftwaffenverbände an diese Kriegsschauplätze verlegt worden waren. Wegen der alliierten Luftüberlegenheit erlitten die deutschen Fliegerkräfte dort hohe Verluste. Der Ersatz dieser Maschinen verschlang den Großteil der neu produzierten deutschen Flugzeuge. Die deutsche Flugzeugindustrie war nicht mehr in der Lage, die steigenden Verluste der Luftwaffe vollständig auszugleichen. Das zwischen den deutschen und sowjetischen Luftstreitkräften bestehende Ungleichgewicht vergrößerte sich bis zum Beginn der Operation Bagration. Die deutsche Luftflotte 6 unter Ritter von Greim, die zur Unterstützung der Heeresgruppe Mitte vorgesehen war, hatte aufgrund von Verlusten und technischen Ausfällen, die auf die mangelhafte Versorgung mit Ersatzteilen und Treibstoff zurückzuführen waren, im Juni 1944 nur noch 61 einsatzbereite Jagdflugzeuge zur Verfügung. Die für die Offensive bereitgestellte sowjetische Luftstreitkraft umfasste dagegen vier Luftarmeen mit tausenden Flugzeugen aller Art. Jeder sowjetischen Angriffsfront war eine Luftarmee zugeteilt. Die sowjetische Luftstreitmacht errang ab Beginn der Offensive die absolute Luftüberlegenheit und behielt sie für den Rest des Krieges. Unterstützung durch Artillerie Der Angriff der Roten Armee begann am Morgen des 22. Juni um 4:00 Uhr mit dem stärksten Artilleriefeuer, das bis dahin auf die Stellungen der Heeresgruppe Mitte niedergegangen war. Dieses setzte sich aus folgenden Komponenten zusammen: 15 Minuten Feuer auf deutsche Verteidigungsstellungen bis in eine Tiefe von drei Kilometern; 90 Minuten Feuer auf aufgeklärte Ziele sowie bekannte Stellungen von Artillerie und schweren Waffen; 20 Minuten Feuer auf die deutsche Hauptverteidigungslinie und dahinterliegende Stellungen; 24 Stunden gerichtete Feuerschläge auf erkannte Einzelziele bei Anforderung durch Beobachter. Die Rote Armee hatte in den geplanten Durchbruchszonen Artilleriegeschütze in einer Dichte von 178 Einheiten pro Kilometer aufgestellt. Dieser massiven Feuerkraft konnten die vorher mühsam ausgehobenen deutschen Stellungen nicht standhalten. Die überlebenden deutschen Soldaten in den Durchbruchskorridoren waren danach nicht mehr in der Lage, wirksamen Widerstand gegen die ohnehin zahlenmäßig mehrfach überlegenen sowjetischen Panzer- und Infanterieeinheiten zu leisten. Der Mangel an einsatzbereitem schweren Waffenmaterial machte die Lage der deutschen Soldaten noch aussichtsloser. Witebsk-Orscha-Operation Der als Witebsk-Orscha-Operation bezeichnete Angriff war der stärkste der drei initialen sowjetischen Vorstöße, da für die Eroberung der „festen Plätze“ Witebsk und Orscha insgesamt zwei Fronten (Heeresgruppen) der Roten Armee eingesetzt wurden. Kesselschlacht bei Witebsk Nach dem Ende des vorbereitenden Artilleriebeschusses griff aus Richtung Nordwesten die 1. Baltische Front unter Armeegeneral Baghramjan mit der 6. Garde-Armee und der 43. Armee die deutsche Front bei Witebsk an. In Koordination dazu attackierte die 3. Weißrussische Front unter Generalleutnant Tschernjachowski mit der 39. Armee, 5. Armee und der 11. Garde-Armee die deutschen Stellungen bei der Stadt Witebsk aus südöstlicher Richtung. Infanterieeinheiten eröffneten die Angriffe, um Durchbrüche in der deutschen Frontlinie zu schaffen. Zunächst stürmten Schützen zu Fuß die erste und zweite deutsche Verteidigungslinie. Auf Panzern aufgesessene Soldaten in Gruppen zu jeweils 15 Soldaten führten den Vorstoß auf den dritten und letzten deutschen Verteidigungsgraben. Durch die entstandenen Lücken in der deutschen Frontlinie stießen Panzerverbände tief in das deutsch besetzte Hinterland vor. Während des Angriffs auf Witebsk wurden zwei mit schweren Panzern des Typs IS-2 ausgerüstete Regimenter gegen die deutschen Truppen eingesetzt, für die es keine effektive Verteidigung mehr gab. Bis zum 24. Juni gelang es den sowjetischen Truppen, die Einheiten des deutschen IX. Armeekorps bis 30 Kilometer hinter ihre ursprünglichen Stellungen zu verdrängen, da diese dort viel schlechter ausgebaut waren als in der näheren Umgebung der Stadt. Die deutsche Aufklärungsabteilung Fremde Heere Ost (FHO) unter Reinhard Gehlen hatte vor dem 22. Juni die komplette sowjetische 6. Garde-Armee im Bereich der 1. Baltischen Front übersehen, wodurch die Führungsebene der Heeresgruppe Mitte diesen Bereich als nicht gefährdet ansah. Zwei Divisionen des deutschen VI. Armeekorps, das den südöstlich von Witebsk gelegenen Abschnitt verteidigte, wurden fast vollständig aufgerieben. Am Abend des 24. Juni war die deutsche Frontlinie nördlich und südlich von Witebsk zusammengebrochen. Das aus drei Divisionen bestehende LIII. Armeekorps der deutschen 3. Panzer-Armee, das 30.000 Soldaten umfasste und den als Magneten gedachten und gut befestigten Frontvorsprung um den „festen Platz“ Witebsk verteidigte, wurde aufgrund des schnellen sowjetischen Durchbruchs in diesem bereits am 25. Juni eingeschlossen. Örtliche Gegenangriffe der Deutschen, wie der von Teilen der 290. Infanterie-Division ausgeführte Vorstoß gegen die sowjetische 6. Garde-Armee, blieben ohne Wirkung. Aufgrund der großen sowjetischen Übermacht war es den nicht eingeschlossenen deutschen Verbänden des IX. Armeekorps unmöglich, eine westlich der Stadt gelegene Frontlinie zu halten; sie wurden im Verlauf der nächsten Tage weiter nach Westen abgedrängt oder zerschlagen. Die für die Deutschen katastrophale Lage führte dazu, dass auch die zu einer Kampfgruppe zusammengefassten SS-Polizeieinheiten, die vorher zur Partisanenbekämpfung eingesetzt worden waren, direkt zum Einsatz gegen die angreifende Rote Armee geführt wurden (→ Kampfgruppe von Gottberg). Da diese Gruppe nicht die Kampfkraft besaß, um sich mit regulären sowjetischen Einheiten Gefechte zu liefern, blieb dieser Versuch, die angeschlagene Frontlinie der deutschen 3. Panzer-Armee zu verstärken, ohne Wirkung. Die bei Witebsk eingeschlossenen deutschen Truppen standen unter massivem Druck durch die sowjetischen Angreifer. Generalleutnant Hitter und General der Infanterie Gollwitzer befahlen am 25. Juni als Befehlshaber der eingeschlossenen Truppen entgegen den Weisungen Hitlers den Ausbruch aus dem „festen Platz“. Dieser Ausbruch scheiterte an der Gegenwehr der zahlenmäßig weit überlegenen sowjetischen Truppen. Die Soldaten des deutschen LIII. Armeekorps ergaben sich zu einem großen Teil nach einem sowjetischen Großangriff am 27. Juni, der den Abstand zwischen dem Kessel und den noch von den Deutschen kontrollierten Gebieten auf mehr als 80 km vergrößert hatte. Eine Gruppe von etwa 5.000 Soldaten der 4. Luftwaffen-Felddivision begann auf eigene Faust am 26. Juni einen Ausbruchsversuch. Sie wurde am selben Tag gestoppt und am 27. Juni in den Wäldern bei der Ortschaft Ostrowno aufgerieben. Im Ergebnis der Kämpfe bei Witebsk entstand ein etwa 100 Kilometer breiter Korridor zwischen der deutschen 16. Armee der Heeresgruppe Nord und der deutschen 4. Armee, durch den die sowjetischen Truppen der 3. Weißrussischen Front schnell in Richtung Minsk vorstießen. Die Truppen der 1. Baltischen Front begannen das Gebiet um die Stadt Polozk anzugreifen. Eine Komponente der von der Stawka geplanten Zangenbewegung um die gesamte Heeresgruppe Mitte war erfolgreich verlaufen. Witebsk war nach dem Ende der Kämpfe fast vollständig zerstört. Von 170.000 Einwohnern, die im Juni 1941 die Stadt bewohnt hatten, waren im Juli 1944 nur 118 übriggeblieben. Die deutsche 3. Panzer-Armee hatte über die Hälfte ihrer Einheiten verloren. Ihre Reste zogen sich Richtung Westen zurück, wobei sie durch die 1. Baltische Front verfolgt wurden. Da die Deutschen bei der Bekämpfung der Partisanen im Frühjahr 1944 Erfolge erzielt hatten, war der Rückzugsweg für die verbleibenden Einheiten der 3. Panzer-Armee nicht versperrt. Die nördlich von Orscha eingesetzten Teile des deutschen VI. Armeekorps unter dem General der Artillerie Georg Pfeiffer wurden der deutschen 4. Armee unterstellt. Nach sowjetischen Angaben starben im Kessel von Witebsk etwa 18.000 deutsche Soldaten und 10.000 wurden gefangen genommen. Befreiung von Orscha Am nördlichen Rand des Verteidigungsbereiches der deutschen 4. Armee lag die Ortschaft Orscha, durch die mehrere Eisenbahnlinien verliefen sowie die von den Deutschen als Rollbahn oder Autobahn bezeichnete Hauptversorgungsstraße der Heeresgruppe Mitte, die in östlicher Richtung direkt nach Smolensk und Moskau und in westlicher Richtung direkt nach Minsk führte (→ Europastraße 30). Da das Verkehrsnetz auf dem Gebiet von Belarus im Jahr 1944 sehr unterentwickelt war und nur wenige Straßen existierten, die besser befestigt waren als gewöhnliche Feldwege, war die Rückeroberung Orschas für die angreifenden sowjetischen Truppen eine wichtige militärische Aufgabe, mit der der südliche Flügel der 3. Weißrussischen Front betraut wurde. Auch der deutschen Führung war die Bedeutung des Ortes bewusst, weshalb er ähnlich wie Witebsk als „fester Platz“ deklariert und stark befestigt wurde. Den Angriff der sowjetischen 11. Garde-Armee am 23. Juni wehrten die Deutschen zunächst ab, die sowjetischen Truppen erzielten nur geringe Geländegewinne. Durch den weiter nördlich erfolgenden Vorstoß auf Witebsk gelang es jedoch den sowjetischen Einheiten in den folgenden Tagen, die stark befestigten Verteidigungsbereiche zu umgehen. Am 25. Juni waren die deutschen Verteidiger bereits so geschwächt, dass ihre Stellungen im Verlauf des Tages durchbrochen wurden. Ein deutscher Gegenangriff in der Nähe der Ortschaft Orechowsk schlug fehl. Am 26. Juni waren die deutschen Truppen gezwungen, sich aus dem Gebiet um Orscha vor der Übermacht und einer drohenden Einkesselung zurückzuziehen, sodass die Ortschaft am Abend desselben Tages von sowjetischen Truppen befreit wurde. Damit war die deutsche Verteidigung der wichtigen Straße nach Minsk gescheitert. Sowjetische Panzerverbände der 11. Garde-Armee stießen auf ihr schnell in Richtung der belarussischen Hauptstadt vor. Die deutschen Verbände zogen sich im Laufe der folgenden Tage gemeinsam mit der übrigen 4. Armee in Richtung Westen zurück. Das Marschtempo der auf Pferdefuhrwerke angewiesenen deutschen Verbände war wesentlich geringer als das der motorisierten sowjetischen Verbände. Befreiung von Mogilew (Mogilew-Operation) Im mittleren Sektor des von der Heeresgruppe Mitte gehaltenen Gebietes begannen die Truppen der erst im Frühjahr 1944 neu gebildeten 2. Weißrussischen Front ihre Angriffe gegen die Stellungen der deutschen 4. Armee am 23. Juni. Die Angriffskraft der sowjetischen Truppen war wesentlich geringer als im Witebsker Gebiet, da ihr Operationsplan eine Einschließung des Zentrums der Heeresgruppe Mitte durch die im Norden und Süden vorgehenden Angriffsspitzen vorsah. Bei Mogilew sollte ein vorzeitiger Rückzug der deutschen 4. Armee verhindert werden, der die Einschließung der Heeresgruppe Mitte möglicherweise vereitelt hätte. Die sowjetische 49. Armee drang bis zum Abend des 26. Juni 30 Kilometer in Richtung Mogilew vor. Diese Armee war zuvor durch die Verkürzung ihres Frontsektors verstärkt worden. In der Nacht vom 26. zum 27. Juni errichteten sowjetische Pioniere nördlich von Mogilew Pontonbrücken über den Dnepr, die eine einfache Überquerung des Flusses ermöglichten. Adolf Hitler erteilte daraufhin den Befehl, dass die 12. Infanterie-Division die zur Festung erklärte Stadt bis zum letzten Mann zu verteidigen hatte, um den Vormarsch der sowjetischen 49. Armee zu verzögern. Alle anderen Teile der deutschen 4. Armee zogen sich weiter Richtung Minsk zurück, sodass diese Division praktisch geopfert wurde. Die sowjetischen Truppen schlossen Mogilew am 27. Juni ein. Nach erbitterten Kämpfen wurde der „feste Platz“ am 28. Juni zurückerobert. Der Befehlshaber der 12. Infanterie-Division Generalleutnant Bamler und der Stadtkommandant, Generalmajor Gottfried von Erdmannsdorff, ließen den Kampf einstellen, nachdem die Mehrheit der deutschen Soldaten bei der Verteidigung der Stadt gefallen war. Mehr als 2000 Überlebende gerieten in sowjetische Gefangenschaft. Versprengte deutsche Soldaten leisteten noch über mehrere Wochen Widerstand und kämpften sich teilweise zu ihren Linien zurück. Die Rückzugsbewegung der deutschen 4. Armee lief nur langsam ab, da der Weg durch ein weites, unzugängliches Waldgebiet führte, das außerdem zum größten Teil von Partisanenverbänden kontrolliert wurde. Die einzige für den Rückzug verfügbare, jedoch unbefestigte Straße Mogilew–Beresino–Minsk war mit Fahrzeugen aller Art verstopft. Viele Zivilisten, die mit den Deutschen kooperiert hatten, flohen aus Furcht vor Lynchjustiz zusammen mit den deutschen Soldaten. Der durch das OKH verursachte Mangel an Kraftfahrzeugen bei den deutschen Verbänden rächte sich jetzt. Zusätzlich wurden die Kolonnen durch sowjetische Schlachtflugzeuge vom Typ Iljuschin Il-2 angegriffen, was am 28. Juni zu einem allgemeinen Chaos und zum Tod der drei Korps-Kommandeure Georg Pfeiffer, Robert Martinek und Otto Schünemann innerhalb weniger Stunden führte. Der massenhafte Einsatz sowjetischer Schlachtflieger war für die deutschen Truppen neu und führte zur Zerstörung der Artillerie bzw. ihrer Zugfahrzeuge, die bis dahin die letzte effiziente Verteidigungsmöglichkeit gegen die Angriffe der Roten Armee gewesen war. Generell erlitten die deutschen Truppen auch in diesem Sektor hohe Verluste. Laut Kurt von Tippelskirch, dem Befehlshaber der deutschen 4. Armee, gelang es nur der Hälfte seiner Soldaten, sich über den Fluss Dnepr zurückzuziehen. Kessel von Bobruisk (Bobruisker Operation) In dem südlichen, von der deutschen 9. Armee gehaltenen Frontabschnitt begann der Angriff der 1. Weißrussischen Front unter Marschall Rokossowski am 24. Juni. Auch dort wurde der Angriff durch heftiges Artilleriefeuer sowie durch Schlachtflugzeuge der sowjetischen 16. Luftarmee unterstützt. Gemäß Rokossowskis Plan griffen seine Truppen nördlich von Rogatschew und südlich von Paritschi an. Am Abend des Tages gelang es den Angreifern der sowjetischen 65. Armee unter Generalleutnant Batow, die Front des deutschen XXXV. Armeekorps bei Paritschi zu durchbrechen. Der Befehlshaber der deutschen 9. Armee beging den Fehler, die 20. Panzer-Division, die die einzige Einheit mit Chancen eine Abwehr einer Angriffsspitze war, auf beide Schwerpunkte aufzuteilen. Durch diese Schwächung der Verteidigung waren beide Angriffe der 1. Weißrussischen Front erfolgreich. Die schnellen sowjetischen motorisierten Verbände im Süden stießen nach dem Durchbruch in Richtung Bobruisk und von dort nach Osipowitschy vor. Die langsameren Infanterieeinheiten drehten nach Norden ein und begannen mit den aus Richtung Rogatschew angreifenden Teilen das Gros der deutschen 9. Armee einzuschließen. Aufgrund zweier gegensätzlicher Befehle, die zum einen das Halten der Stadt Bobruisk, zum anderen den Rückzug aus der Stadt anordneten, herrschte auf deutscher Seite großes Chaos. Der Kommandeur der 134. Infanterie-Division Generalleutnant Ernst Philipp beging aus Verzweiflung Selbstmord. Die Verwundetenzahlen der deutschen Truppen stiegen schnell, sodass schließlich keine Blutkonserven mehr zur Verfügung standen. Nach einem Bericht eines sowjetischen Soldaten nutzten Ärzte bei der deutschen 36. Infanterie-Division am 26. Juni bei der Ortschaft Paritschi südöstlich von Bobruisk das Blut aufgegriffener belarussischer Kinder, um ihre Verwundeten mit Bluttransfusionen zu versorgen. Die Grube mit den verscharrten, teilweise noch lebenden Kindern wurde einen Tag später durch die Soldaten der Roten Armee geöffnet. Im Gegensatz zu den in Witebsk stationierten Einheiten wurde den Truppen der deutschen 9. Armee mit Ausnahme der 383. Infanterie-Division schließlich doch ein Rückzug nach Nordwesten in Richtung Minsk genehmigt. Große Teile der relativ unbeweglichen Einheiten mussten dabei den Weg über Bobruisk nehmen. Aufgrund der guten Motorisierung der sowjetischen Truppen überholten diese die sich zurückziehenden deutschen Einheiten und bildeten am 27. Juni gegen 16:00 Uhr einen Kessel um große Teile der deutschen 9. Armee. Dabei wurden etwa 70.000 Soldaten eingeschlossen, unter denen sich auch viele Unterstützungskräfte befanden. Die Truppen in diesem Kessel wurden von sowjetischer Artillerie zusammengeschossen. Außerhalb des sowjetischen Einschließungrings waren keine deutschen Einheiten in der Nähe, die die Umklammerung hätten aufheben können. Der Kessel wurde am Tag darauf in zwei Teile gespalten, die jeweils am westlichen und östlichen Ufer der Beresina lagen. Die Soldaten im kleineren Kessel am Ostufer ergaben sich am 28. Juni gegen 13:00 Uhr. Der Kommandeur des deutschen XXXV. Armeekorps, Generalleutnant von Lützow, autorisierte selbstständige Ausbruchsversuche aus dem Kessel am westlichen Ufer. Mit den verbliebenen Panzern der 20. Panzer-Division an der Spitze durchbrachen etwa 15.000 bis 30.000 deutsche Soldaten den Einschließungsring, wobei sie in Sprechchören „Wir wollen in die Heimat!“ riefen und gemeinsam das Lied „Oh Deutschland hoch in Ehren“ anstimmten. Sie kämpften sich zunächst in nördlicher Richtung entlang der Beresina an dem gerade von der Roten Armee besetzten Osipowitschy vorbei und später nach Nordwesten auf die aus Richtung Marina Gorka entgegenkommende 12. Panzer-Division zu, die zu den ersten Verstärkungen gehörte, die bei der Heeresgruppe Mitte nach dem Beginn der sowjetischen Offensive eingetroffen waren. Der größere Teil der deutschen Soldaten konnte nicht aus dem Kessel vom Bobruisk fliehen. Die Kämpfe im Ausbruchskorridor führten zu hohen Verlusten auf sowjetischer und deutscher Seite. Viele Infanteristen konnten nicht mit dem Tempo der Angriffsspitzen mithalten und waren auf sich gestellt. Unter den deutschen Soldaten brach Panik aus, viele versuchten sogar, den Fluss Beresina durchschwimmend, den sowjetischen Einheiten zu entkommen. Der ehemalige Wehrmachtsoldat Heinz Fiedler, der der 134. Infanterie-Division angehörte, berichtete: Wie katastrophal die deutschen Verluste waren, beschrieb der sowjetische Journalist Grossman: Die in Bobruisk eingeschlossene 383. Infanterie-Division verteidigte den „festen Platz“. Die Reste der Division unter dem Befehl des Platzkommandanten Generalleutnant Edmund Hoffmeister ergaben sich am 29. Juni. Tausende deutscher Soldaten gingen in sowjetische Gefangenschaft oder wurden an Ort und Stelle umgebracht. Dieses Schicksal ereilte beispielsweise viele der in Bobruisk verbliebenen schwer verwundeten Deutschen: Sowjetische Hilfswillige (kurz Hiwis) und Zivilisten, bei denen eine Kollaboration mit den Deutschen nachweisbar war, hatten keine Gnade von den Soldaten der Roten Armee zu erwarten; sie wurden nach ihrer Gefangennahme misshandelt und häufig getötet. Nach Angaben der sowjetischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti wurden im Kessel von Bobrujsk 16.000 deutsche Soldaten getötet und 18.000 gerieten in Gefangenschaft. Die toten deutschen Soldaten wurden nach dem Ende der Kämpfe anonym in Sammelgräbern beerdigt. Die Stadt Bobruisk wurde während der Kämpfe fast vollständig zerstört. Nach der Rückeroberung lebten in der Stadt kaum mehr als 28.000 Menschen, die meisten waren obdachlos. Die Mehrzahl der geflohenen Einwohner kehrte erst 1945 zurück. Die Truppen der 1. Weißrussischen Front stießen nach ihrem Erfolg durch einen breiten Korridor über Osipowitschy und Marina Gorka auf Minsk und in westlicher Richtung parallel zum Fluss Prypjat auf Sluzk und Baranowitschi vor. Die Rote Armee begann einen Ring um die noch intakte deutsche 4. Armee, die sich noch weiter östlich gegen die 2. Weißrussische Front verteidigte, zu schließen sowie um die sich zurückziehenden nördlich von Bobruisk stehenden Reste der deutschen 9. Armee. Rückeroberung von Minsk (Minsker Operation) Die bis dahin erzielten Erfolge der Roten Armee und die daraus resultierenden Meldungen machten dem deutschen OKW die Dimension der bisher erlittenen Niederlage deutlich, erst am 26. Juni wurde die Lage in ihrem vollen Ausmaß wahrgenommen. Sofort wurden alle verfügbaren Reserven, die vorher in Richtung der Heeresgruppe Nordukraine verlegt worden waren oder sich zur Auffrischung im Reichsgebiet befanden, in Richtung der Heeresgruppe Mitte in Marsch gesetzt. Dazu gehörten neben diversen Infanterieeinheiten die bereits erwähnte 12. Panzer-Division, die 5. Panzer-Division und die 4. Panzer-Division. Insgesamt wurden bis zum 29. August 1944 acht Panzer-Divisionen als Verstärkung zur Heeresgruppe Mitte verlegt. Personelle Konsequenzen bezüglich der Besetzung von Führungspositionen der Heeresgruppe folgten. Der Oberbefehlshaber der deutschen 9. Armee, General Jordan, wurde wegen zu zögerlichem Einsatz der 20. Panzer-Division abgelöst und durch General von Vormann ersetzt. Busch wurde als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte allein für die Lage der Heeresgruppe verantwortlich gemacht und am Abend des 28. Juni entlassen. Sein Nachfolger wurde Generalfeldmarschall Model. Wie Busch stand auch Model bedingungslos auf der Seite Adolf Hitlers, genoss jedoch bei diesem im Gegensatz zu seinem Vorgänger hohes Ansehen. Model hatte außerdem den Vorteil, dass er das Kommando über die Heeresgruppe Nordukraine behielt und somit ohne Anträge den Transfer von Verstärkungen einleiten konnte. Durch diese Umgruppierungen wurden die enormen Probleme, mit denen die Heeresgruppe Mitte konfrontiert war, zunächst nicht gelöst. Deren Front war am Abend des Tages auf einer Breite von etwa 300 Kilometern durchbrochen oder aufgrund der dramatischen Umstände aufgegeben worden. Generalfeldmarschall Model wollte die bedrohliche Situation durch die Errichtung einer neuen deutschen Front mit den zur Verfügung stehenden begrenzten Kräften entschärfen. Gleichzeitig wollte er die Umfassung der 4. und der 9. Armee durch die 1. Weißrussische Front und 3. Weißrussische Front verhindern. Bildung des Kessels von Minsk Bereits während der Endphase der Kesselschlachten von Witebsk und Bobruisk waren motorisierte und gepanzerte Angriffspitzen der beteiligten sowjetischen Fronten in westlicher Richtung auf die belarussische Hauptstadt Minsk vorgestoßen. Den nördlichen Flügel des sowjetischen Angriffs bildete die unter dem Befehl des Marschalls der Panzertruppen Pawel Alexejewitsch Rotmistrow stehenden 5. Garde-Panzer-Armee, den südlichen das 1. Garde-Panzer-Korps der 1. Weißrussischen Front. Kämpfe um Borissow Um den nördlichen, hauptsächlich von der 5. Garde-Panzer-Armee getragenen sowjetischen Vorstoß zu stoppen, sollte die ad hoc gebildete Kampfgruppe von Saucken, die die bereits stark angeschlagene Kampfgruppe von Gottberg verstärkte, mit der deutschen 5. Panzer-Division den Übergang über den Fluss Beresina bei Borissow nordöstlich von Minsk sichern. Die letzten am 28. Juni in Borissow per Eisenbahntransport eingetroffenen Teile der Division kämpften bereits während des Ausladens gegen durchgebrochene sowjetische Panzer. Es kam zu Kompetenzstreitigkeiten, weil SS-Gruppenführer Curt von Gottberg eine Unterstellung seiner Polizeieinheiten unter den Befehl der 5. Panzer-Division ablehnte. Dennoch waren es vor allem die Vorausabteilungen der 5. Panzer-Division, die eine schnelle Einnahme von Borissow durch die sowjetischen Truppen verhinderten. Marschall Rotmistrow ließ daraufhin seine Panzer rücksichtslos gegen den von den Deutschen gebildeten Brückenkopf von Borissow anrennen, sodass sich vor allem am 30. Juni Nahkämpfe kurz vor und in der Stadt abspielten, die zu hohen sowjetischen Verlusten führten. Die Deutschen zogen sich am Abend des 30. Juni aus Borissow auf das Westufer der Beresina zurück. Teile der SS-Polizeieinheiten ermordeten während des Abzuges Zivilisten, die zusammen mit den Deutschen nach Westen fliehen wollten. Die Position bei Borissow wurde für die Deutschen unhaltbar, als die verbliebene Masse der 5. Garde-Panzer-Armee den Fluss am 1. Juli nördlich der Stadt überschritten hatte und auf den Verkehrsknotenpunkt Molodetschno vorstieß, der sich bereits westlich von Minsk befand. Die Kampfgruppe von Saucken musste dieser Bewegung folgen, um eine Überdehnung der eigenen Front zu vermeiden. Das öffnete den direkten Weg nach Minsk für die sowjetischen Truppen und sperrte den nördlichen Rückzugsweg für die 4. deutsche Armee. Am 1. Juli überquerte das sowjetische 2. Garde-Panzer-Korps die Beresina und stieß in südwestlicher Richtung auf Minsk vor. Vorstoß der 1. Weißrussischen Front Im südöstlichen Abschnitt verzögerte die noch weitestgehend unberührt gebliebene deutsche 2. Armee den Vormarsch der Roten Armee ab Sluzk. Die als Verstärkung von der Heeresgruppe Nordukraine herbeigerufene deutsche 4. Panzer-Division gelangte per Eisenbahntransport bis nach Baranawitschy. Sie wurde dort am 30. Juni und 1. Juli ausgeladen und sofort in voneinander getrennten Abteilungen eingesetzt. Ihr wichtigster Auftrag war, die Verbindung zur 12. Panzer-Division, der Kampfgruppe Lindig und den aus dem Kessel von Bobruisk geflohenen Truppen bei der Ortschaft Stoubzy (belarussisch: Стоўбцы) wiederherzustellen. Andere Teile unterstützten die sich aus Richtung Sluzk zurückziehenden deutschen Einheiten. Im Südosten erreichte die 1. Weißrussische Front am 2. Juli Stoubzy, das von der deutschen 4. Panzer-Division und der 12. Panzer-Division als Rückzugsweg offen gehalten werden sollte. In und um die Stadt entbrannten heftige Kämpfe zwischen der deutschen 4. Panzer-Division und Einheiten der sowjetischen 65. Armee. Die Deutschen behielten während der folgenden Tage einen Teil der Stadt und der Umgebung in ihrer Hand. Weiter nordwestlich der Ortschaft befand sich der Urwald von Naliboki, der kaum erschlossen und von Partisanen besetzt war und sich deswegen nicht als Rückzugsweg für die Deutschen eignete. Die 12. Panzer-Division stellte den Anschluss an die 4. Panzer-Division verspätet her, da die von Osten kommenden Einheiten wegen des Ausfalls der Funkverbindungen an Stoubzy vorbeimarschierten. Um die Begegnung zu ermöglichen, gab die 4. Panzer-Division Stoubzy am 4. Juli auf. Dadurch wurde der einzige verbleibende Rückzugsweg für die sich noch knapp 100 km weiter östlich befindende deutsche 4. Armee gesperrt. Eroberung von Minsk und Einschließung der deutschen 4. Armee Die militärische Katastrophe der Heeresgruppe Mitte war nicht mehr aufzuhalten, als das 2. sowjetische Garde-Panzer-Korps und die 5. Garde-Panzer-Armee am 3. Juli Minsk einnahmen. Die ebenfalls zum „festen Platz“ erklärte Stadt wurde kaum verteidigt, weil sich zwar große Mengen an Nachschubgütern im Ort befanden, es aber keine nennenswerten Truppen mehr zur Verfügung standen, um die Großstadt zu verteidigen. Tatsächlich waren bereits Tage vor der sowjetischen Rückeroberung kaum noch deutsche Soldaten in der Stadt, sodass die verbliebenen Einwohner damit begannen, Lebensmittellager zu plündern. Minsk wurde weniger stark zerstört als andere Orte in Belarus, weil die deutschen Truppen nicht mehr in der Lage waren, einen Großteil der Häuser planmäßig anzuzünden oder zu sprengen. Durch den geringen deutschen Widerstand hielt sich auch der sowjetische Artillerieeinsatz in Grenzen. Die bis dahin noch auf dem Ostufer der Beresina befindliche deutsche 4. Armee beendete aufgrund ihrer geringen Marschgeschwindigkeit den Flussübergang erst am gleichen Tag und war daraufhin zusammen mit Teilen des XXXXI. Panzer-Korps der deutschen 9. Armee in einem Kessel eingeschlossen, der durch die Truppen der 2. Weißrussischen Front bedrängt und eingedrückt wurde. Damit erlitten die deutschen Truppen ein ähnliches Schicksal wie die Armee Napoleons knapp 132 Jahre zuvor. (→ Schlacht an der Beresina) Generalfeldmarschall Model konzentrierte nach diesen Misserfolgen seine Bemühungen ganz auf die Bildung einer Frontlinie westlich von Minsk, da er nicht über genügend Kräfte verfügte, um den eingeschlossenen Truppen östlich der Stadt zu helfen. Während des sowjetischen Vormarsches versuchten viele belarussische Zivilisten, in westlich gelegene Gebiete zu fliehen. Sie gerieten häufig in die Kämpfe zwischen der Roten Armee und der Wehrmacht. Zerschlagung der deutschen 4. Armee Am 30. Juni bildete General von Tippelskirch aus einem Großteil der zurückflutenden Truppen seiner Armee die „Gruppe Müller“ unter dem Kommando des stellvertretenden Führers des XII. Armeekorps, Generalleutnant Vincenz Müller. Die an Müller mündlich weitergegebene Zielvorgabe lautete: Müller sollte versuchen, nach dem Vorbild des bereits im April bei einem Flugunfall ums Leben gekommenen Generaloberst Hans-Valentin Hube die ihm unterstellten Truppen, die in absehbarer Zeit eingeschlossen sein würden, in einem wandernden Kessel in Richtung Westen an Minsk vorbei zu bewegen und wieder den Anschluss an die deutschen Stellungen herzustellen. Bis zum 3. Juli, als die deutsche 4. Armee endgültig von der Roten Armee eingeschlossen wurde, verlief der Rückzug langsam, aber im Großen und Ganzen planmäßig. Es fanden Feuerüberfälle von Partisanen statt, die sich in den Wäldern westlich und südwestlich von Mogilew aufhielten, und deren Intensität mit fortlaufender Zeit zunahm. Nach der sowjetischen Rückeroberung von Minsk verstärkte sich auch der Druck durch die regulären Truppen der 2. Weißrussischen Front, die mit der Vernichtung der deutschen Armee beauftragt war. Generalleutnant Müller, der sich im deutschen Heer einen Namen als „Steher“ gemacht hatte, war aber immer noch der Meinung, dass der Ausbruch aus der Umklammerung zu schaffen wäre: Ob Müller zu diesem Zeitpunkt die aktuelle deutsche Gesamtlage vollständig bekannt war, bleibt dahingestellt. Die Lage der Reste der deutschen 4. Armee dramatisierte sich in den folgenden Tagen nahezu stündlich. Die Ränder des Kessels, der sich in einem unübersichtlichen Gebiet mit vielen Waldstücken befand, zerfaserten immer mehr: Deutsche Einheiten, die vor angreifenden sowjetischen Truppen in Waldstücken Deckung suchten, verloren den Kontakt zum Rest der Armee und waren plötzlich auf sich gestellt. Die Angriffsspitzen der Deutschen, die einen Weg nach Westen bahnen sollten, kamen immer schwerer voran. Ein zusätzliches Hindernis war die Tatsache, dass keine Karten des Gebietes um Minsk zur Verfügung standen, nach denen sich die Deutschen hätten orientieren können. Die kümmerlichen Reste der deutschen Luftwaffe versuchten, zumindest ansatzweise die eingeschlossenen Truppen mit Nahrung und Munition zu versorgen: Der Großteil dieser wenigen per Fallschirm abgeworfenen Versorgungsgüter, deren Menge sowieso nicht ausgereicht hätte, landete jedoch beim Gegner. Am 3. Juli vereinigten sich die „Kampfgruppe Müller“ und das ebenfalls bereits abgeschnittene XXVII. Armeekorps unter General der Infanterie Paul Völckers in der Nähe von Minsk. Beide Generale kamen überein, ihre Verbände aufzulösen und den Durchbruch auf eigene Faust anzuordnen. Am 5. Juli hatte die „Gruppe Müller“ zum letzten Mal Funkkontakt mit dem Oberkommando der 4. Armee: Müller forderte dabei von Tippelskirch auf, wenigstens den Abwurf genauer Landkarten über dem Kessel zu organisieren, erhielt aber keine Antwort mehr. Am selben Tag brach auch die Versorgung aus der Luft ab, bei Smilawitschy (belarussisch Сьмілавічы) südostwärts Minsk wurden die letzten Versorgungspakete abgeworfen. Die deutschen Feldflugplätze wurde aufgrund des raschen sowjetischen Vordringens weiter nach Westen verlegt. Am 6. Juli blockierten die sowjetische 49. und 33. Armee die Rückzugsstraße Beresino-Minsk und schnitten die an der Spitze der abgeschnittenen Teile der deutschen 4. Armee stehende 110. Infanterie-Division vom Rest des Verbandes ab. Der Treibstoff und die Munition der deutschen Einheiten gingen zur Neige. Verwundete konnten nicht mehr medizinisch versorgt werden. Trotz der verzweifelten Lage kämpften die deutschen Soldaten aus Furcht vor sowjetischer Gefangenschaft weiter. Ausbruchsversuche und Kapitulation Generalleutnant Müller schätzte die Lage als hoffnungslos ein und schlug in der am 6. oder 7. Juli südlich von Smolewitschy stattfindenden Stabsbesprechung des XXVII. Armeekorps vor, „Schluss zu machen“ und den Kampf einzustellen. Sein Vorschlag wurde von den meisten der ihm unterstellten Kommandeure abgelehnt, die zu ihren Einheiten gingen und von nun an auf eigene Faust versuchten, doch noch nach Westen durchzustoßen. Befehle zum Durchschlagen in kleinen Gruppen wurden ausgegeben und alle verbliebenen schweren deutschen Waffen gesprengt. Die 57. Infanterie-Division, die noch eine Stärke von ungefähr 5000 deutschen Soldaten hatte, versuchte unter dem Befehl von Generalleutnant Adolf Trowitz bei der Ortschaft Michanowitschi den sowjetischen Einschließungsring zu sprengen, scheiterte aber. Ähnliche Versuche kleinerer Gruppen folgten, hatten aber immer dasselbe Ergebnis. Müller beschloss in der Zwischenzeit, nachdem er Gedanken an einen Selbstmord verworfen hatte, sich auf eigene Faust zu den sowjetischen Gegnern zu begeben und zu kapitulieren, da sein Stab inzwischen versprengt war und keine Kommunikationsmöglichkeiten mehr bestanden. Am Morgen des 8. Juli ging Müller in Begleitung eines weiteren Offiziers und eines Hornisten in Richtung schießender sowjetischer Artillerie und ließ sich von der Sicherung des dazugehörenden Stabes gefangen nehmen. Er wurde sofort zu einem sowjetischen Oberst geführt, dem er erklärte, dass er den Befehl zur Einstellung des Kampfes geben wolle, jedoch keine Mittel mehr habe, um diesen zu kommunizieren. Er diktierte daraufhin einen Befehl, der neben der Aufforderung zur Kampfeinstellung auch Zusagen der sowjetischen Führung über die korrekte Behandlung der Gefangenen enthielt. Der Befehl wurde in den folgenden Tagen in Form von Flugblättern mit Kleinflugzeugen über dem Gebiet des Restkessels abgeworfen und durch Propagandaeinheiten, denen auch Lew Kopelew angehörte, über Lautsprecher bekannt gegeben. Da Generalleutnant Müller keine Befehlsgewalt mehr über einen Großteil seiner Streitkräfte hatte und die Flugblätter bei Weitem nicht alle deutschen Soldaten erreichten, ging deren verzweifelter Kampf zunächst an diesem Tag bis zum 11. Juli in einer halbwegs organisierten Form weiter, bis sich die letzte größere zusammenhängende Formation in Bataillonsstärke ergab. Nach sowjetischen Angaben starben im Kessel von Minsk etwa 70.000 deutsche Soldaten und rund 35.000 wurden gefangen genommen. Gefangennahme der deutschen Soldaten Ein größerer Teil der eingekesselten deutschen Soldaten ging nach dem Bekanntwerden der Kapitulation in Gefangenschaft, wie aus den Memoiren Lew Kopelews zu entnehmen ist: Nicht immer verliefen diese Aktionen so reibungslos; versprengte deutsche Einheiten in Kompanie- oder Zugstärke versuchten sich nach Westen durchzuschlagen, leisteten weiterhin Widerstand und griffen mehrfach die Propagandaeinheit Kopelews an. Die deutschen Soldaten handelten so, weil ihnen der Aufruf Müllers zur Kapitulation einfach noch nicht bekannt gemacht worden war oder weil sie sich nicht in sowjetische Gefangenschaft begeben wollten. Besonders SS-Soldaten wehrten sich heftig. Um diese deutschen Rückkämpfer zu stellen, zog die Rote Armee in großem Maßstab ehemalige Partisanen heran, wie aus der Geschichte der Bielski-Partisanen hervorgeht: Die übrigen Soldaten des deutschen Trupps wurden in dem oben beschriebenen Fall gefangen genommen. Derartige Szenen sollten sich in den folgenden letzten Monaten des Krieges noch häufig wiederholen: Fanatische Vorgesetzte verursachten durch ihr blindes Durchhalten oft zusätzliche Todesopfer unter den deutschen Soldaten. In der Geschichte der Bielski-Partisanen wird auch erwähnt, dass die deutschen Soldaten, die den Partisanen in die Hände fielen, zumeist erschossen und unter Umständen misshandelt wurden. Im Falle der Bielski-Partisanen nahmen die dieser Gruppe angehörenden überlebenden Juden nun Rache für die Grausamkeiten, die an ihnen während der vergangenen drei Jahre durch die Deutschen begangen worden waren: Das Vorgehen der belarussischen Partisanen muss im Kontext zu den von den Deutschen betriebenen Zwangsverschleppungen von Arbeitskräften, der von ihnen angewandten Taktik der verbrannten Erde und dem zu diesem Zeitpunkt immer noch stattfindenden Holocaust gesehen werden. Unabhängig von den äußeren Umständen handelt es sich bei der Erschießung oder Misshandlung von Kriegsgefangenen um ein Kriegsverbrechen und einen Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung. Lew Kopelew, aus dessen Memoiren hier zitiert wurde, verbrachte später acht Jahre im sowjetischen Gulag, nachdem er gegen die von der Roten Armee einige Monate später in Ostpreußen begangenen Gräueltaten protestiert hatte. Es gelang trotz der Verfolgung durch Partisanen und die Rote Armee noch bis in den August hinein vereinzelten Soldaten der deutschen 4. Armee, sich bis zu den von der Wehrmacht gehaltenen Linien durchzuschlagen, die sich zu diesem Zeitpunkt schon in der Nähe der ostpreußischen Grenze befanden. Weiteres sowjetisches Vordringen Nach dem Einschluss der deutschen 4. Armee stellte sich die Lage der übrigen Teile der Heeresgruppe Mitte wie folgt dar: Am nördlichen Rand des Zuständigkeitsbereiches befand sich isoliert der Rest der 3. Panzer-Armee, der von der Heeresgruppe Nord durch eine etwa 60 km breite Lücke getrennt war. Durch diese Lücke stießen Teile der sowjetischen 1. Baltischen Front weiter nach Westen vor. Auf der südlichen Seite war die deutsche 2. Armee damit beschäftigt, ihren in den Pripjetsümpfen gelegenen Frontabschnitt nach Westen hin aufzurollen und die Verteidigungsaufgaben der stark angeschlagenen deutschen 9. Armee zu übernehmen. Deren Reste wurden dazu dieser Armee unterstellt. Im mittleren Abschnitt des Zuständigkeitsbereiches der Heeresgruppe Mitte befand sich überhaupt keine zusammenhängende Front mehr. Die 5. und 12. Panzer-Division, die ursprünglich dafür vorgesehen waren, die deutschen Verteidigungslinien östlich Minsk zu verstärken, übernahmen die Hauptlast der deutschen Verteidigungsbemühungen in diesem Bereich. Dazu war das waldreiche und schwer zugängliche Gelände westlich Minsk günstig. Die beiden Hauptrouten in Richtung Westen verliefen über die Ortschaften Molodetschno und Baranawitschy, alle anderen Wege waren für motorisierte und gepanzerte Verbände ungeeignet, da das Kampfgebiet sehr stark bewaldet war. Man konzentrierte sich auf deutscher Seite darauf, diese beiden Ortschaften solange wie möglich zu halten. In der verbleibenden Zeit wurden immer mehr Einheiten aus anderen Frontabschnitten in den Bereich der Heeresgruppe Mitte verlegt. Generalfeldmarschall Model konnte den ihm übertragenen Abschnitt mit den wenigen verbleibenden Kräften nicht durchgängig und starr verteidigen. Stattdessen wurden die verbleibenden Panzerdivisionen zu örtlichen Gegenangriffen auf die Angriffsspitzen der Roten Armee verwendet, sodass sich deren Vormarsch soweit verzögerte, dass rückwärtige deutsche Truppen Verteidigungsstellungen errichten konnten. War ein kurzer Gegenstoß der deutschen Truppen erfolgt, lösten sich diese bald darauf wieder vom Gegner, um sich den erwarteten Gegenschlägen der Roten Armee mit schwerer Artillerie und Schlachtflugzeugen zu entziehen. Aufgrund der mehrfachen Überlegenheit der Roten Armee hatte die Wehrmacht aber keine ernsthafte Chance, den sowjetischen Vormarsch zum Stehen zu bringen. Dies hätte nur durch den Einsatz ganzer Armeen geschehen können. Um Kräfte dieser Größenordnung zur Verfügung zu stellen, hatte der Generalstabschef Kurt Zeitzler bereits am 30. Juni vorgeschlagen, die Heeresgruppe Nord aus ihren Stellungen nach Süden hin zu verlegen und dort eine neue Abwehrstellung zu errichten. Dieser Plan wurde von Hitler mit Verweis auf das verbündete Finnland abgelehnt und Zeitzler trat umgehend von seinem Posten als Generalstabschef zurück. Gliederung der Heeresgruppe Mitte Die folgende Gliederung gibt eine Übersicht über die der Heeresgruppe Mitte zur Verfügung stehenden Einheiten, die auf deutscher Seite die Hauptlast der Kämpfe bis zum Ende der sowjetischen Offensive am 29. August 1944 trugen. Viele Einheiten waren „ad hoc“ zusammengestellte Gebilde (Kampfgruppen, Sperrgruppen, Divisionsgruppen und Korps-Abteilungen) oder hastig formierte Volksgrenadier-Divisionen, um die immensen deutschen Verluste aus der ersten Phase der sowjetischen Offensive zu ersetzen. Gliederung der Heeresgruppe Mitte nach der Zerschlagung der deutschen 4. Armee (Stand 19. Juli 1944) Polozker Operation Die sowjetische Führung hatte das Gefahrenpotential erkannt, das von der immer noch intakten Heeresgruppe Nord für die angreifenden sowjetischen Truppen ausging. Die 1. Baltische Front begann daher kurz nach dem erfolgten Durchbruch bei Witebsk mit Teilen nach Norden zu schwenken und den „festen Platz“ Polozk anzugreifen. Begünstigt durch das waldreiche Gelände mussten sich die deutschen Verteidiger zunächst nur wenig zurückziehen. Der Befehlshaber der Heeresgruppe Nord Generaloberst Georg Lindemann plädierte wie von den sowjetischen Befehlshabern vorausgesehen für eine Aufgabe der Stadt und einen Rückzug der Heeresgruppe an die Düna. Hitler aber befahl Lindemann, dass die ursprüngliche Lage durch einen Gegenangriff wiederhergestellt werden sollte. Dafür standen aber nur zwei schlecht ausgerüstete Divisionen zur Verfügung, die gegen die Armeen der 1. Baltischen Front vorgehen sollten. Der deutsche Gegenangriff scheiterte am 2. Juli. Stattdessen wurde die Lage für die Verteidiger der Stadt immer bedrohlicher, da die sowjetische 4. Stoßarmee weiter nördlich die deutsche Front durchbrochen hatte. Eigenmächtig befahl Lindemann daraufhin den Rückzug aus Polozk. Nach heftigen Kämpfen wurde die Stadt am 4. Juli von den Truppen der 1. Baltischen Front befreit. Im Gegensatz zu den befestigten Orten in den südlicheren Frontabschnitten gelang der fast eingeschlossenen deutschen Besatzung unter Generalleutnant Carl Hilpert der Ausbruch aus dem „festen Platz“. Georg Lindemann trat am gleichen Tag von seinem Posten als Befehlshaber der Heeresgruppe Nord zurück und wurde durch den General der Infanterie Johannes Frießner abgelöst. In der Folge wurde die deutsche Front nördlich der Stadt immer weiter in Richtung Westen eingedrückt. Es zeichnete sich ab, dass die Heeresgruppe Nord vom Rest der deutsch besetzten Gebiete abgeschnitten werden würde, falls nicht unverzüglich ein Rückzug in Richtung Süden erfolgte. Hitler sperrte sich aber immer noch gegen die eindringlich vorgebrachten Rückzugsvorschläge der Generalität. Inzwischen konnte die Wehrmacht die Lücke, die in der deutschen Verteidigung zwischen den Resten der 3. Panzer-Armee und der Polozk verteidigenden 16. Armee existierte, mangels verfügbarer Truppen nicht schließen. Ortschaften wurden teilweise von versprengten Einheiten verteidigt, die aber der sowjetischen Übermacht deutlich unterlegen waren. Kessel von Vilnius und Beginn des polnischen Aufstands (Vilniusser Operation) Die katastrophale Lage der Deutschen und das rasche Vordringen der Roten Armee riefen zu Beginn des Monats Juli eine dritte Konfliktpartei auf den Plan, die sich bis dahin im Hintergrund gehalten hatte: Die Befehlshaber der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, kurz AK) befürchteten, dass der sowjetische Einmarsch nach Polen im schlimmsten Fall mit der vollständigen Annexion des polnischen Staatsgebiets enden oder zumindest zur Installation einer prosowjetischen Regierung führen würde. Daher initiierten sie die Aktion Burza („Gewittersturm“), deren Ziel die eigenständige Befreiung des polnischen Staatsgebiets durch die AK und die Etablierung einer unabhängigen polnischen Regierung war. Nach ersten Kämpfen seit Jahresbeginn hatte der offene Kampf gegen die Besatzer einen ersten Höhepunkt während der Schlacht um die heutige litauische Hauptstadt Vilnius. Nach heftigen Kämpfen nahm die Rote Armee die Engpässe von Molodetschno am 5. Juli und Baranowitschi am 8. Juli ein. Die sowjetische 5. und 11. Garde-Armee drangen auf litauisches Gebiet und in Richtung Vilnius vor. Vilnius war zuvor von Hitler zu einem „festen Platz“ deklariert worden. In der Stadt, die in den folgenden Tagen von den sowjetischen Truppen unter General Tschernjachowski eingeschlossen wurde, befanden sich 4000 deutsche Soldaten unter dem Kommando von Generalmajor Rainer Stahel, darunter auch zwei Fallschirmjägerregimenter, die erst am Abend des Vortags eingeflogen worden waren. Etwa 15 Kilometer westlich der Stadt befand sich eine ad hoc zusammengestellte Kampfgruppe unter dem Kommando von Oberstleutnant Theodor Tolsdorff, die die Besatzung von Vilnius verstärken sollte. Am 3. oder 4. Juli versuchten Unterhändler der Armia Krajowa den Stadtkommandanten von Vilnius zur Übergabe der Stadt zu überreden und boten im Gegenzug an, dass die polnische Untergrundarmee die Stadt gegen die Rote Armee verteidigen würde. Die Deutschen gingen auf das Angebot nicht ein. Am 7. Juli begann die Armia Krajowa ihrerseits die Operation Ostra Brama (deutsch „Tor der Morgenröte“ benannt nach einer gleichnamigen Kapelle in Vilnius) unter dem Kommando von Aleksander Krzyżanowski, welche die Befreiung der Stadt zum Ziel hatte. Die im Umland befindlichen polnischen Kräfte mit einer Stärke von ungefähr 6000 bis 10.000 Kämpfern besetzten einen Großteil des Stadtzentrums von Vilnius. In den östlichen Stadtteilen kooperierten die AK-Einheiten mit sowjetischen Aufklärungseinheiten. Der polnische Aufstand vereitelte die deutschen Bemühungen, Vilnius zu befestigen. Die AK-Einheiten stoppten den Vormarsch der Kampfgruppe Tolsdorff, erlitten dabei aber schwere Verluste, bis sich sowjetische Einheiten in das Geschehen einschalteten. Die Kampfgruppe Tolsdorff richtete sich daraufhin in einem Kessel zur Verteidigung ein. Den deutschen Soldaten in Vilnius, die sich hauptsächlich in den westlichen Teilen der Stadt verschanzt hatten, wurde am 11. Juli ein Ausbruch genehmigt, nachdem der neue Generalstabschef Adolf Heusinger Hitler davon mit den Worten überzeugt hatte, dass es sich doch leichter bei einem aussichtslosen Ausbruchsversuch sterben lasse als bei einer aussichtslosen Verteidigung. Etwa 3000 der 4000 in Vilnius eingeschlossenen Wehrmachtsoldaten schlugen ab dem späten Abend des 12. Juli durch das Flusstal der Neris zur Kampfgruppe Tolsdorff durch. Gleichzeitig trugen aus Richtung der Stadt Kaunas Teile der deutschen 6. Panzer-Division und der Division Großdeutschland einen Gegenangriff unter der persönlichen Leitung von Generaloberst Georg-Hans Reinhardt vor. Dessen Spitzen trafen am Mittag des 13. Juli auf den Kessel der Kampfgruppe Tolsdorff. Nach Aufnahme der Überlebenden zogen sich die Deutschen in Richtung Kaunas zurück. Die letzten deutschen Soldaten verließen Vilnius am 14. Juli. Die AK-Angehörigen wurden am 15. Juli von NKWD-Truppen unter dem Befehl von Iwan Serow entwaffnet und ihre Offiziere einschließlich des Befehlshabers Krzyżanowski verhaftet. Einheiten der AK, die sich dem Befehl zur Entwaffnung widersetzten, wurden von den sowjetischen Truppen zerschlagen, wobei viele AK-Angehörige getötet wurden. In den noch unter deutscher Kontrolle stehenden Teilen litauischen Gebiets wurden mit den Deutschen kollaborierende Litauer (Schutzmannschaftsbataillone unter litauischem und deutschem Kommando) zur Bekämpfung der Armia Krajowa eingesetzt. Trotz der massiven Verfolgung gelang es einigen AK-Angehörigen, sich in die Wälder um Vilnius zurückzuziehen und zu reorganisieren. Rund 6000 Offiziere und Soldaten der AK wurden im Rahmen dieser Vorgänge in den Bezirken Wilna und Nowogrudok verhaftet. Nach dem Ende der Schlacht um Vilnius war die Gefechtsstärke der sowjetischen 5. Garde-Panzer-Armee aufgrund hoher Verluste auf 50 einsatzbereite Panzer geschrumpft. Am 16. Juli 1944 wurde deswegen der Befehlshaber Marschall Rotmistrow von seinem Frontkommando entbunden. Widersprüchliche Historiografie Die Historiografie des Verlaufs der Kesselschlacht von Vilnius ist besonders widersprüchlich. Im Gegensatz zu der hier gegebenen Darstellung behaupten sowjetische Quellen, dass die Rote Armee Vilnius bereits am 7. Juli erreicht und eigenständig zusammen mit sowjetischen Partisanen zurückerobert habe. Dabei sollen 10.000 Deutsche gefangen genommen worden sein. Der Beitrag der Armia Krajowa wird komplett verschwiegen. In der polnischen Geschichtsschreibung wird der Zeitpunkt, an dem Vilnius von den sowjetischen Truppen erreicht wurde, mit dem 12. Juli 1944 viel später angesetzt und die kämpferische Leistung der AK-Einheiten hervorgehoben. Auch die polnischen Historiker äußern, dass der größere Teil der deutschen Besatzung gefangen genommen oder getötet worden sei. Białystoker Operation Nach der vollständigen Einschließung der deutschen 4. Armee bei Minsk erhielt die 2. Weißrussische Front am 5. Juli 1944 die Aufgabe, von Minsk aus nach Westen vorzustoßen und die Kleinstädte Wolkowysk, Grodno sowie schließlich Białystok einzunehmen. In dieser Operation wurden hauptsächlich die sowjetische 50. Armee sowie Teile der 49. Armee eingesetzt. Zur Unterstützung wurde außerdem die 3. Armee herangezogen, die der 1. Weißrussischen Front zugeordnet war. Die Reste der deutschen 4. Armee mit der Sperrgruppe Weidling und das LV. Armeekorps der 2. Armee verzögerten den sowjetischen Vormarsch zunächst nur. Am 16. Juli 1944 gelang den sowjetischen Truppen die Einnahme von Grodno und Wolkowysk. Nachdem Verstärkung in Form der 19. Panzer-Division eingetroffen war, versuchten die Deutschen am 23. Juli, den sowjetischen Vormarsch vor dem Augustówer Wald zu stoppen. Der 19. Panzer-Division unter Generalleutnant Hans Källner gelang es, die sowjetischen Truppen zu überraschen und sowjetischen Panzerverbänden bei Grodno schwere Verluste zuzufügen. Die Ortschaft Lipsk wurde kurzzeitig zurückerobert. Der Anfangserfolg des deutschen Gegenschlages zeigte, dass die sowjetischen Truppen erschöpft waren und Nachschubprobleme hatten. Aufgrund des Mangels an weiteren Reserven scheiterte der deutsche Gegenangriff jedoch und die sowjetischen Truppen setzten die Offensive nach Verstärkung durch das 3. Garde-Kavalleriekorps in Richtung Białystok fort. Gegen den Widerstand des deutschen LV. Armeekorps eroberte die sowjetische 3. Armee, die Stadt am 27. Juli 1944 nach heftigen Straßenkämpfen zurück. Ausweitung der sowjetischen Angriffe auf benachbarte Frontabschnitte Der aus der Schwächung der Heeresgruppe Mitte resultierende Vormarsch der Roten Armee verdeutlichte der sowjetischen Führung, dass das Deutsche Reich am Ende seiner Kräfte angelangt war. Daher beschloss die Stawka, die Offensive auf die angrenzenden Frontabschnitte auszuweiten. Lemberg-Sandomierz-Operation Am 13. Juli 1944 begann die sowjetische Offensive auf den von der Heeresgruppe Nordukraine gehaltenen Frontabschnitt. Auch dieser mit weit überlegenen Kräften gegen die inzwischen ausgedünnte deutsche Verteidigung geführte Angriff erzielte rasche Erfolge, die zu der Einkesselung deutscher Einheiten bei Brody führten. In den Woiwodschaften Tarnopol und Lwów begannen Einheiten der polnischen Armia Krajowa (Heimatarmee) ab dem 16. Juli mit ihren Aktionen gegen die deutschen Besatzer. Die ostpolnische Stadt Lemberg wurde während der Aktion Burza vom 22. Juli bis zum 27. Juli durch die Kämpfer der AK erobert. Nachdem die Rote Armee die Stadt erreicht und gesichert hatte, wurden die A.-Angehörigen wie zuvor in Vilnius entwaffnet und vielfach durch Kräfte des sowjetischen NKWD inhaftiert. Pleskau-Ostrower Operation Gegen die Flankenbedrohung der 1. Baltischen Front durch die immer noch intakte Heeresgruppe Nord begannen die 2. und 3. Baltische Front am 17. Juli 1944 ebenfalls eine Offensive, die zum Vordringen sowjetischer Truppen auf lettisches Gebiet führte. Die deutsche 16. und 18. Armee gerieten in eine kritische Lage und zogen sich weiter nach Westen zurück. Ostrow und Pleskau wurden als letzte noch in deutscher Hand verbliebene russische Städte am 21. bzw. 23. Juli 1944 von der Roten Armee zurückerobert. Letzte sowjetische Angriffsoperationen und Ende der Offensive Von Mitte Juli 1944 an ließ die Angriffskraft der sowjetischen Truppen im Bereich der Heeresgruppe Mitte wegen überdehnter Nachschubwege nach. Die Verluste an gepanzerten Fahrzeugen, die die Rote Armee in den vorangegangenen Phasen der Offensive erlitten hatte, konnte sie deswegen nicht mehr ausgleichen. Daher setzte die sowjetische Seite bei den folgenden Angriffen hauptsächlich Infanterieeinheiten ein. Schaulener Operation Nach der Eroberung der Stadt Polozk erhielt die 1. Baltische Front den Auftrag, mit Teilen in westlicher Richtung vorzustoßen, mit dem Ziel, die litauische Stadt Schaulen einzunehmen. Schaulen war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt zwischen Königsberg und dem lettischen Riga. Der ab dem 5. Juli 1944 beginnende sowjetische Vormarsch wurde dadurch begünstigt, dass sich zwischen den Resten der deutschen 3. Panzer-Armee und der 16. Armee der Heeresgruppe Nord eine 60 bis 100 Kilometer breite Lücke in der deutschen Front befand, die aus einem Mangel an Truppen zunächst nicht geschlossen wurde. Um einem erwarteten Gegenstoß der Heeresgruppe Nord zuvorzukommen, wurde der Front von Armeegeneral Baghramjan am 14. Juli die sowjetische 2. Garde-Armee und die 51. Armee aus der Reserve der Stawka zugewiesen. Der direkte Vorstoß auf Schaulen begann am 20. Juli. Am 22. Juli erreichten die sowjetischen Truppen die Stadt Ponewiesch, die in der sowjetischen Literatur als ein wichtiges Kommunikationszentrum der Heeresgruppe Nord dargestellt wurde. Am 27. Juli wurde das lettische Dünaburg im Zusammenspiel mit Einheiten der 2. Baltischen Front erobert. Schaulen wurde durch eine ad hoc zusammengestellte Einheit unter dem Kommando von Oberst Hellmuth Mäder zwei Tage lang verteidigt, bis die Truppen des 3. Garde-mechanisierten Korps der sowjetischen 51. Armee die Stadt am 28. Juli einnahmen. Drei Tage später erreichte das 3. Garde-mechanisierte Korps bei Tuckum die Bucht von Riga. Gleichzeitig wurde die Stadt Mitau zur Hälfte von den sowjetischen Truppen besetzt. Diese Entwicklung schnitt die deutsche Heeresgruppe Nord von allen Landverbindungen nach Süden ab. Mit der Linie über Tukums und Schaulen war ein vorläufiges Ende des sowjetischen Vormarsches im Baltikum erreicht, da es der deutschen 3. Panzer-Armee zu diesem Zeitpunkt gelang, westlich eine geschlossene Front aufzubauen. Die deutsche Seite brachte im Anschluss eine Reihe von Gegenangriffen vor, die die Rückeroberung von Schaulen und Mitau sowie die Wiederherstellung der Landverbindung zur Heeresgruppe Nord zum Ziel hatten. Am 8. August waren Pläne zu dieser „Unternehmen Doppelkopf“ genannten Offensive fertig, nach denen zwei improvisierte Panzerkorps der Heeresgruppen Nord und Mitte zur Wiederherstellung einer Landverbindung nach Süden verlegt wurden. Der deutsche Gegenangriff begann am 16. August 1944. Wegen eines Mangels an Luftunterstützung, Treibstoff und Infanterieverbänden zur Flankensicherung stockte der deutsche Vormarsch jedoch am 19. August bei Schagarren und vor Schaulen, ohne dass eines der Ziele erreicht worden wäre. Nur durch eine von der sowjetischen Führung nicht vorhergesehene Attacke einer Ad-hoc-Panzereinheit unter der Führung von Generalmajor Hyazinth Graf Strachwitz (Gruppe von Strachwitz) konnten die Deutschen am 20. August 1944 eine Landverbindung zur Heeresgruppe Nord öffnen, die als „Kemern-Korridor“ bezeichnet wurde. Die Rückeroberung von Mitau und Schaulen, das von der hauptsächlich aus Litauern bestehenden sowjetischen 16. Schützendivision verteidigt wurden, scheiterte hingegen. Kaunaser Operation Nach dem Ende der Schlacht um Vilnius stabilisierte die deutsche 3. Panzer-Armee ab dem 15. Juli 1944 den in Litauen befindlichen Frontsektor und wehrte die Angriffe der 3. Weißrussischen Front zunächst ab. Zugute kamen den Deutschen dabei die noch von den Litauern errichteten Befestigungen von Kaunas. Nachdem sie in den vorangegangenen Tagen Verstärkungen erhalten hatten, begannen am 28. Juli 1944 die Truppen der 3. Weißrussischen Front erneut konzentrierte Angriffe auf die deutschen Verteidigungslinien. Am Abend des 29. Juli waren die sowjetischen Soldaten 5 bis 17 Kilometer weit nach Westen vorgestoßen. Am Folgetag brach der deutsche Widerstand an den Zugängen zum Fluss Memel zusammen. Im Sektor der sowjetischen 33. Armee stieß der 2. Garde-Panzer-Korps bis nach Wilkowischken vor, das sich wenige Kilometer vor der ostpreußischen Grenze befand. Dadurch gerieten die deutschen Truppen in Kaunas in Gefahr, erneut eingeschlossen zu werden. Daraufhin gaben sie die Stadt am 1. August 1944 auf. Auf der bis zu 50 Kilometer weiter westlich befindlichen Linie von Wilkowischken nach Raseinen errichteten die Deutschen neue Verteidigungsstellungen, die sie gegen die weiteren sowjetischen Angriffe hielten. Bei Schirwindt erreichten die sowjetischen Soldaten erstmals die ostpreußische Grenze. Bis zum endgültigen Abbruch der Offensive am 29. August 1944 gelang den sowjetischen Truppen in Litauen kein weiterer bedeutender Vorstoß nach Westen. Der Vormarsch der Roten Armee löste bei der deutschen Bevölkerung Ostpreußens Panik aus. Trotz eines durch Erich Koch, den Gauleiter der NSDAP in Ostpreußen, ausgesprochenen strikten Verbots setzten sich erste Flüchtlingstrecks in Richtung Westen in Bewegung. Lublin-Brester Operation Am 18. Juli begann der bis dahin passiv gebliebene südliche Flügel der 1. Weißrussischen Front im polnischen Frontabschnitt bei der Stadt Kowel anzugreifen. Da die deutschen Truppen diesen Frontabschnitt am besten gesichert hatten, setzte die Rote Armee besonders viele Artilleriegeschütze ein. Das Artilleriebombardement übertraf deswegen noch die in Belarus erfolgten Angriffe an Intensität. Zwar hatte Generalfeldmarschall Model bereits bis zum 8. Juli die deutschen Truppen aus dem unhaltbaren Frontvorsprung bei Kowel in vorteilhaftere Stellungen westlich der Stadt abziehen lassen, trotzdem hatten sie aufgrund der massiven Übermacht der Roten Armee keine Möglichkeit, den sowjetischen Angriff aufzuhalten. Die sowjetische 47. Armee und die 8. Garde-Armee drangen tiefer in das ehemalige polnische Staatsgebiet ein und erreichten den westlichen Bug am 21. Juli. Lublin wurde am 24. Juli von der Roten Armee eingenommen. Zeitgleich griff der nördliche Flügel der 1. Weißrussischen Front die deutsche 2. Armee frontal an, die sich hauptsächlich in einem vorgeschobenen Frontbogen in den Pripjetsümpfen vor der Stadt Brest-Litowsk befand, und drängte sie auf die zum „festen Platz“ erklärte Stadt zurück. Die sowjetische 70. Armee stieß aus südlicher Richtung auf den Ort vor. Am 25. Juli wurden zwei deutsche Divisionen in Brest-Litowsk eingeschlossen und sollten den Ort laut einem Befehl von Adolf Hitler „bis zur Vernichtung der Besatzung“ verteidigen. Um den geordneten Rückzug der 2. Armee zu ermöglichen, startete die deutsche Seite zwei Gegenangriffe. Bei der Ortschaft Kleszcele stoppten die deutsche 4. Panzer-Division und die 5. SS-Panzer-Division „Wiking“ einen Angriff sowjetischer Panzerverbände. Bei Siedlce wurde ein sowjetischer Vorstoß durch die 3. SS-Panzer-Division „Totenkopf“ abgewehrt. Im Oberkommando der Wehrmacht überredete Generalfeldmarschall Model Hitler dazu, einen Ausbruch der eingeschlossenen deutschen Kräfte aus Brest-Litowsk zu genehmigen. Bis zum 29. Juli zogen sich daraufhin die deutschen Einheiten unter erheblichen Verlusten aus Brest-Litowsk zurück. Der Verlust der Stadt hatte Symbolkraft: Der Ort war am Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges als erster angegriffen worden. Sämtliche von den deutschen Truppen erzielten Gebietsgewinne waren nach ihrer Rückeroberung durch die Rote Armee verlorengegangen. An das Ostufer der Weichsel gelangten die sowjetischen Truppen erstmals am 25. Juli. Die 69. Armee überquerte den Fluss und errichtete am 29. Juli einen Brückenkopf bei Puławy. Am 27. Juli 1944 begann die sowjetische 2. Panzer-Armee mit etwa 800 gepanzerten Fahrzeugen aus dem Raum Puławy auf die polnische Hauptstadt Warschau vorzustoßen. Unterstützt wurde sie dabei von der 8. Garde-Armee unter Wassili Iwanowitsch Tschuikow sowie der von der Sowjetunion aufgebauten 1. polnischen Armee unter dem Kommando von General Zygmunt Berling, die nicht zu den Verbänden der Armia Krajowa zählte. Die sowjetischen Truppen beabsichtigten den Warschauer Vorort Praga aus der Bewegung heraus zu nehmen und weiter im Norden die Narew-Brücken von Zegrze und Serock zu sichern. Am 1. August 1944 bildete die 8. Garde-Armee am Dorf Magnuszew einen zweiten Brückenkopf über die Weichsel. Kämpfe im Raum Warschau Unter dem Eindruck, dass sowjetische Panzer bereits den Stadtteil Praga östlich der Weichsel erreicht hätten, gab der Chef der AK in Polen, General Bór-Komorowski, im Einvernehmen mit der Delegation der Exilregierung aus London, den Befehl, den Aufstand in Warschau durchzuführen. Am 1. August um 17:00 begann die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa) den Warschauer Aufstand um die Hauptstadt selbst zu befreien. Analog zu den vorangegangenen kleineren Erhebungen bei Vilnius, Lemberg und Lublin sollte vor der Roten Armee die Kontrolle über die polnische Hauptstadt erlangt werden. Den polnischen Kämpfer bekamen große Teile der Stadt in ihre Hand, die jedoch nicht zusammenhängend waren. Strategisch wichtige Positionen blieben in deutscher Hand. Zur gleichen Zeit kam es im Raum nordwestlich der Stadt zur entscheidenden Panzerschlacht vor Warschau. Das sowjetische 3. Panzer-Korps war Ende Juli bis in die Umgebung der Stadt Radzymin durchgedrungen. Durch den Einsatz von Teilen der eilig herangeführten Fallschirm-Panzer-Division 1 Hermann Göring zusammen mit der 73. Infanterie-Division verteidigten die deutschen Truppen am 28. und 29. Juli Praga. Die 19. Panzer-Division und die SS-Panzer-Division „Totenkopf“ führten am Abend des 1. August einen Zangenangriff auf die polnische Ortschaft Okuniew und schlossen das sowjetische 3. Panzer-Korps ein. Nach dem Eintreffen der deutschen 4. Panzer-Division wurde Radzymin zurückerobert. Bis zum 4. August wurde das sowjetische 3. Panzer-Korps von den deutschen Truppen aufgerieben. Damit war nördlich von Warschau wieder eine deutsche Abwehrfront entstanden. Der Angriff vor Warschau war die letzte erfolgreiche Großoperation deutscher Panzerverbände während des Deutsch-Sowjetischen Krieges. Durch die erfolgreiche Verteidigung wurde ein sowjetischer Vorstoß in Richtung Ostsee bis zum Januar 1945 verhindert. Die sowjetischen Truppen waren wegen des deutschen Gegenangriffs in den ersten Augusttagen nicht in der Lage, den polnischen Aufständischen in Warschau zu Hilfe zu kommen. Ab dem 8. August begannen die Fallschirm-Panzer-Division und die 19. Panzer-Division mit Gegenattacken, um die sowjetischen Brückenköpfe an der Weichsel südlich von Warschau zu eliminieren. Dies gelang den deutschen Truppen weder bei Puławy noch bei Magnuszew, wo bei dem Dorf Studzianki besonders heftige Kämpfe stattfanden. Die sowjetischen Truppen hatten zusätzliche Pontonbrücken über den Fluss geschlagen, diese mit Flak gegen Luftangriffe geschützt und ausreichenden Nachschub in die Brückenköpfe geführt. Am 16. August brachen die deutschen Truppen ihre Angriffsversuche ab und gingen zur Verteidigung über. Auch die sowjetischen Kräfte bauten ihre Stellungen in der Folgezeit aus und führten keine weiteren Angriffsoperationen südlich von Warschau durch. Die deutsche Front war anderthalb Monate nach dem Beginn der sowjetischen Offensive im Bereich der Heeresgruppe Mitte und Nord wieder stabilisiert. Ossowezer Operation und die Kontroverse über den Warschauer Aufstand In der Zwischenzeit hatte die deutsche 2. Armee entlang des Narew neue Stellungen bezogen. Diese Stellungen umfassten auch die alte Festung Osowiec (russ.: Ossowez), die noch aus der Zeit des russischen Zarenreiches stammte. Die von der sowjetischen 49. Armee ab dem 6. August 1944 vorgetragene Offensive hatte das Ziel, diese Positionen zu erobern und weitere Zugänge in Richtung Ostpreußen zu öffnen. Gegen die gut geschützten deutschen Stellungen kam der Angriff nur langsam voran. Erst nach einem heftigen Luftangriff gelang den sowjetischen Truppen am 14. August 1944 die Einnahme der südlichen Teile der Festung Ossowez. Weitere, bis zum 29. August 1944 vorgetragene sowjetische Angriffe erzielten aufgrund der deutschen Gegenwehr ebenfalls geringe Geländegewinne und die sowjetischen Truppen erlitten schwere Verluste. Der Kommandeur der sowjetischen 343. Schützen-Division Generalmajor Jakimowitsch kam dabei ums Leben. Die sowjetischen Angriffe wurden als selbständige Operation bis zum 30. Oktober 1944 fortgesetzt. Zur gleichen Zeit fanden in Warschau Kämpfe zwischen der deutschen Besatzung unter dem Kommando des aus Vilnius entkommenen Rainer Stahel und den polnischen Aufständischen statt. Viele deutsche SS-Einheiten, die wenige Wochen zuvor noch zur „Bandenbekämpfung“ in Belarus eingesetzt worden waren, wurden nach Warschau verlegt. Darunter befanden sich berüchtigte Verbände wie die Kaminski-Brigade und die SS-Sondereinheit Dirlewanger. Die unter dem Befehl von SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth stehenden Einheiten, zu denen auch ein Bataillon des Sonderverbands Bergmann gehörte, begingen gleich in den ersten Tagen des Aufstands ein Massaker, dem zwischen 20.000 und 50.000 polnische Zivilisten zum Opfer fielen. Das brutale Vorgehen der Deutschen wurde trotz einiger Interventionen in den weiteren Augusttagen fortgesetzt. Die polnischen Aufständischen, die mit der Hilfe der Alliierten gerechnet hatten, waren auf sich selbst gestellt. Nach dem Abflauen der Kämpfe vor Warschau begannen die sowjetischen Truppen weitere Verstärkungen heranzuführen, ohne jedoch weitere Offensiven im Bereich der umkämpften polnischen Hauptstadt zu starten. Eigenmächtige Versuche der unter sowjetischem Kommando stehenden 1. polnischen Armee, am 16. September 1944 die Aufständischen zu unterstützen, wurden schnell durch die Stawka unterbunden. Bis heute besteht eine Kontroverse über die Frage, ob die Rote Armee die Niederschlagung des Aufstandes durch die Deutschen bewusst in Kauf genommen hat. Diese lässt sich abschließend nur durch die Einsicht von derzeit immer noch unter Verschluss stehenden Akten der Stawka beantworten. Für diese These spricht das Verhalten der sowjetischen Truppen nach der Einnahme von Vilnius und dass es der Roten Armee möglich gewesen wäre, die bei der mäßig erfolgreichen Ossowezer Operation gebundenen Kräfte auch für einen Angriff auf Warschau einzusetzen. Ein Gegenargument ist die schlechte Versorgungslage, in der sich die sowjetischen Truppen befanden, nachdem die Front sich innerhalb von anderthalb Monaten 500 Kilometer weit nach Westen verschoben hatte. Hinzu kommt, dass der durch die Ossowezer Operation beseitigte Frontbogen eine gute Ausgangsposition für einen erneuten deutschen Gegenangriff wie bei Radzymin bot, sodass sowjetische, auf Warschau vorstoßende Kräfte womöglich wiederum eingeschlossen worden wären. Marschall Rokossowski (dessen Schwester in Warschau lebte) bestritt in seinen Memoiren, die Mittel für eine Unterstützung des Warschauer Aufstands gehabt zu haben. Ergebnisse Die Operation Bagration wurde auf einer Frontbreite von 1100 Kilometern vorgetragen, der Vorstoß erreichte eine Tiefe von bis zu 600 Kilometern. Sie öffnete der Roten Armee den Weg zur Bucht von Riga, nach Ostpreußen sowie an die mittlere Weichsel und nach Warschau. Die Heeresgruppe Nord, ein Drittel des Ostheeres, wurde durch den Durchbruch der sowjetischen Einheiten zur Ostsee zeitweise von allen Landverbindungen abgeschnitten. Nur mit viel Glück konnte die Wehrmacht eine Verbindung mit dem Kemern-Korridor wiederherstellen. Aufgrund der Weigerung Hitlers, die Heeresgruppe Nord vollständig aus dem Baltikum zurückzuziehen, wurde dieser Großverband später endgültig auf die Halbinsel Kurland abgedrängt (→ Unternehmen Aster, Baltische Operation, Kurland-Kessel). Bedingt durch die katastrophalen Verluste verlor die Wehrmacht ihre operative Handlungsfähigkeit an der Ostfront vollständig und war in der Folgezeit nur noch zu hinhaltendem Widerstand gegenüber der Roten Armee fähig. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Rote Armee in das Deutsche Reich eindringen würde. Nachdem Ende August 1944 der sowjetische Vormarsch vor Warschau zu einem vorläufigen Stillstand gekommen war, verlagerte das sowjetische Oberkommando den Schwerpunkt seiner Angriffe nach Süden. Am 20. August begann die Rote Armee auf dem Gebiet der rumänisch-deutschen Front mit einer weiteren, auf sowjetischer Seite mit Operation Jassy-Kischinew bezeichneten Offensive. Der Zusammenbruch der Heeresgruppe Südukraine ermöglichte der Roten Armee das Vordringen nach Südosteuropa. Die strategische Gesamtlage des Zweiten Weltkrieges änderte sich dahingehend, dass die bereits vorher vorhandene materielle Überlegenheit der Sowjetunion und der Alliierten gegenüber dem Deutschen Reich weiter wuchs. Deswegen stellt die Operation Bagration keinen militärischen Wendepunkt wie die Schlachten bei Moskau, Stalingrad oder Kursk dar, sondern markierte zusammen mit der Operation Overlord, den Beginn der Endphase des Dritten Reiches, denn die totale militärische Niederlage war damit unabwendbar und ein Remisfrieden unerreichbar geworden. Das Resultat der sowjetischen Offensive war aufgrund der schweren strategisch-politischen Fehler der obersten deutschen politischen und militärischen Führung nur folgerichtig. Militärisch hatten die schwachen Kräfte der Heeresgruppe Mitte im Juni 1944 keine Chance, den Angriff der Roten Armee aufzuhalten. Auch verzweifelte Gegenmaßnahmen wie der Versuch, Stalin zu ermorden (→ Unternehmen Zeppelin), änderten an dieser Situation nichts. Verlustzahlen Seriöse Beiträge über die Verluste beider Hauptkriegsparteien wurden erst lange nach dem Ende der Kampfhandlungen in den 1990er- und 2000er-Jahren veröffentlicht. Während von deutscher Seite bis in die 1990er-Jahre hinein keine wissenschaftlichen Arbeiten über die sowjetische Großoffensive zur Verfügung standen, übertrieben die sowjetischen Historiker die Stärke der Heeresgruppe Mitte und das Ausmaß der deutschen Verluste. Dies änderte sich erst nach dem Ende des Kalten Krieges. Maßgeblich für den heutigen Forschungsstand sind die Arbeiten der Historiker Kriwoschejew und Frieser. Nach Kriwoschejew betrugen die Gesamtverluste der Roten Armee 765.815 Soldaten. Davon waren 178.507 Gefallene und Vermisste. 587.308 Soldaten der Roten Armee wurden als verwundet gemeldet. Die Verluste der Wehrmacht durch die Operation Bagration betrugen nach der Forschungsarbeit des Historikers Frieser insgesamt 399.102 Soldaten. Davon waren im Sommer 1944 gemeldete 26.397 Gefallene, 262.929 Gefangene und Vermisste und 109.776 Verwundete. Die tatsächliche Anzahl der auf deutscher Seite gefallenen Soldaten ist nicht mehr exakt feststellbar. Da laut Frieser die Anzahl der sogenannten Rückkämpfer auf etwa 9.000 und die der Kriegsgefangenen auf ungefähr 150.000 zu veranschlagen ist, kann die Anzahl der während der Kämpfe gefallenen deutschen Soldaten auf etwa 131.000 geschätzt werden. Laut dem Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller seien die deutschen Gesamtverluste „nach neuesten Zahlen“ auf 250.000 Gefallene, Verwundete und Vermisste zu veranschlagen, die sowjetischen – bis Ende Juli – auf 440.879. Müllers Angaben stellen eine Untergrenze möglicher Verlustzahlen beider Seiten dar. Nach sowjetischen Angaben, die im Zuge der Kompilierung des Geschichtswerks История второй мировой войны 1939–1945 гг. (Geschichte des Zweiten Weltkrieges 1939–1945) in den späten 1970er-Jahren in der Sowjetunion erstellt wurden, starben vom 22. Juni bis zum 22. Juli 1944 381.000 deutsche Soldaten und 158.480 gerieten in Gefangenschaft; 2.735 Panzer, 631 Flugzeuge, 8.702 Geschütze und 57.152 Kraftfahrzeuge seien vernichtet oder erbeutet worden. Die sich daraus ergebende Gesamtzahl von 539.480 Soldaten übersteigt jedoch die Zahl der bei der Heeresgruppe Mitte eingesetzten Soldaten, die am 20. Juni 1944 lediglich 486.493 betrug. Die Zahl von 2.735 angeblich zerstörten deutschen Panzern ist sogar 4,7-mal höher als die Zahl von 570 tatsächlich vorhandenen Panzern. Über die Verluste der Kämpfer der polnischen Armia Krajowa können keine genauen Angaben gemacht werden. Ebenso wenig sind Zahlen über die Opfer in der belarussischen, litauischen und polnischen Zivilbevölkerung bekannt, die direkt durch die Kämpfe der Operation Bagration verursacht wurden. In den drei Jahren der deutschen Besatzung verloren ungefähr 1,4 Millionen Menschen, also ein Viertel der belarussischen Zivilbevölkerung, ihr Leben. Ende des Holocaust auf dem Gebiet der Sowjetunion Bereits vor der sowjetischen Sommeroffensive war ein Großteil der jüdischen Bevölkerung in Belarus, Litauen und Ostpolen durch deutsche Einsatzgruppen, die Kampfgruppe von Gottberg oder in Vernichtungslagern systematisch ermordet worden. Die Ghettos in den belarussischen Städten wurden liquidiert. Beispielsweise wurden die letzten 2000 Einwohner des Minsker Ghettos am 21. Oktober 1943 im Vernichtungslager Maly Trostinez von SS-Polizeieinheiten umgebracht. Die Juden, die 1944 noch am Leben waren, leisteten entweder als Partisanen in den Wäldern Widerstand oder wurden als Arbeitskräfte in verschiedenen Lagern der Wehrmacht und SS ausgebeutet. Auflösung der deutschen Konzentrationslager auf sowjetischem Boden Der Vormarsch der Roten Armee beendete die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Deutschen. Er bedeutete aber meist für die noch in den Lagern gefangenen Juden den Tod oder die Verschleppung in das westwärts gelegene Reichsgebiet, da die Lager durch die abziehenden Wachmannschaften und Sonderkommandos der SS vor dem Eintreffen der sowjetischen Soldaten hastig zerstört wurden. Teilweise wurden die Lager auch irrtümlich durch die sowjetischen Truppen angegriffen, was zu weiteren Opfern führte. Das Lager Maly Trostinez wurde zum Beispiel am 28. Juni 1944 durch sowjetische Schlachtflugzeuge beschossen. Aufgrund der Gründlichkeit der SS hatten die Soldaten der Roten Armee keine Chance, die Lager rechtzeitig zu erreichen und ihre Insassen zu befreien. Meist fanden die Soldaten der Roten Armee wie in Maly Trostinez nur noch verbrannte Gebäude und die verkohlten Leichen der letzten Häftlinge vor. Lagerinsassen konnten sich nur dann retten, wenn es ihnen gelang, sich in Verstecken vor dem Zugriff durch die Deutschen in Sicherheit zu bringen oder im letzten Moment zu fliehen. In nennenswerter Zahl überlebten auf diese Weise und durch die Hilfe des deutschen Majors Karl Plagge Häftlinge im Lager des Heereskraftfahrparks (HKP) 562 Ost in Vilnius. Schicksal der überlebenden Juden Die Befreiung durch die Rote Armee bedeutete für die traumatisierten Überlebenden, dass sie sich zum ersten Mal seit dem Sommer 1941 frei bewegen konnten. Die jüdischen Partisanen kehrten aus den Wäldern in ihre Heimatorte zurück. Dabei kam es zu Fällen von Selbstjustiz gegenüber ehemaligen Nachbarn, die mit den Deutschen kollaboriert und Verwandte oder Bekannte an die SS ausgeliefert hatten. Viele der ehemaligen Partisanen meldeten sich wenig später freiwillig zum Dienst in der Roten Armee oder wurden eingezogen. In einigen Fällen wurden jüdische Häftlinge von den sowjetischen Soldaten als Kollaborateure behandelt und wiederum eingesperrt. Dies geschah beispielsweise mit einer Gruppe von etwa 20 Häftlingen, denen es gelungen war, am 28. Juni 1944 aus Maly Trostinez zu fliehen und die am 4. Juli durch Soldaten der Roten Armee entdeckt wurden. Sie wurden in Lager nach Sibirien verschleppt und von dort erst 1946 entlassen. Beginn der Aufarbeitung des Holocaust Das ganze Ausmaß nationalsozialistischer Gräueltaten kam infolge der Operation Bagration erstmals an das Licht der Weltöffentlichkeit, da Gebiete befreit wurden, in denen sich deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager hauptsächlich befanden. Wegen der Häufung von Berichten über die Hinrichtungsstätten richtete die Sowjetunion Sonderkommissionen ein, die mit der Untersuchung der deutschen Verbrechen befasst waren. Trotz der Bemühungen der SS, die Existenz der Lager zu vertuschen, gelang es den im August und September 1944 tätigen Kommissionen, aufgrund der Aussagen Überlebender auch bereits unkenntlich gemachte Orte wie das Vernichtungslager Sobibor aufzufinden. Sowjetische Journalisten wie Wassili Grossman berichteten erstmals in den sowjetischen Medien über die ehemaligen deutschen Lager. Die Nachrichten und Untersuchungsergebnisse wurden auch an die westlichen Alliierten weitergeleitet. Dies hatte zur Folge, dass die Alliierten auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 neben der Entmilitarisierung auch die durchgehende „Entnazifizierung“ Deutschlands für die Zeit nach ihrem Sieg vereinbarten. Die Bekanntmachung der deutschen Gräueltaten in der Sowjetunion hatte zur Folge, dass sich die Wut der sowjetischen Soldaten auf alles Deutsche weiter verstärkte. Dies führte in Kombination mit der sowjetischen Hasspropaganda zu den Kriegsverbrechen, die ab Januar 1945 von der Roten Armee auf deutschem Territorium begangen wurden. Öffentliche Zurschaustellung gefangener deutscher Soldaten in Moskau Um das Ausmaß des sowjetischen Sieges in Belarus der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, befahl Stalin, dass die während der Vernichtung der deutschen 4. Armee gefangen genommenen deutschen Soldaten in einer Parade durch Moskau geführt werden sollten. Der Grund hierfür war, die noch mit dem Deutschen Reich verbündeten Regierungen Finnlands, Rumäniens und Ungarns zu einem Seitenwechsel zu veranlassen und den verbündeten Briten und Amerikanern die Stärke der Roten Armee vor Augen zu führen. Die von Stalin befohlene Parade fand am 17. Juli 1944 statt. 57.000 gefangene deutsche Soldaten wurden in zwei getrennten Kolonnen durch Moskau getrieben. An der Spitze der größeren Kolonne marschierten die gefangen genommenen Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte zusammen mit weiteren Offizieren und Unteroffizieren. Die Gefangenen wurden beschimpft und zum Teil mit Gegenständen beworfen. Die zur Bewachung abkommandierten sowjetischen Soldaten hatten jedoch strikten Befehl, keine Übergriffe der aufgebrachten Menge zuzulassen. Da die Gefangenen, die zuvor oft tagelang nicht versorgt worden waren, am Abend des 16. Juli reichlich Kascha und mit Schmalz bestrichene Brote zu essen bekommen hatten, litten viele von ihnen während des Marsches an Durchfall. Entsprechend wurden die Straßen, nachdem der Zug der Gefangenen die Stadt passiert hatte, mit Reinigungsmaschinen gesäubert. Von Moskau aus wurden große Teile der Deutschen in Arbeitslager bei Karaganda, Kuibyschew, Stalingrad, in der Ukraine sowie bei Tscherepowez verschickt. (→ Liste sowjetischer Kriegsgefangenenlager des Zweiten Weltkriegs) Die deutschen Generäle wurden nach dem Marsch durch die Stadt vom Rest der Gefangenen getrennt und in das Moskauer Butyrka-Gefängnis gebracht. Von den etwa 150.000 gefangen genommenen deutschen Soldaten starben schätzungsweise 20 bis 25 Prozent während des Transports in die sowjetischen Gefangenenlager. Das ist im Vergleich zu anderen Operationen des Deutsch-Sowjetischen Krieges ein besonders hoher Wert. Diese Verluste sind durch allgemeinen Mangel an Verpflegung, extreme klimatische Verhältnisse und durch kraftraubende lange Fußmärsche verursacht worden. Es existieren in heute zugänglichen sowjetischen Akten keinerlei Hinweise darauf, dass diese Verluste von sowjetischer Seite vorsätzlich herbeigeführt worden sind. Operation Bagration und das Attentat vom 20. Juli 1944 Der rasche Vormarsch der Roten Armee und die immer ungünstiger werdende Lage der deutschen Truppen in der Normandie waren für die Mitglieder der Widerstandsgruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg schockierend. Der Oberleutnant der Reserve Heinrich Graf von Lehndorff-Steinort richtete im Auftrag von Stauffenbergs die Frage an Henning von Tresckow, ob ein militärischer Umschwung überhaupt noch einen praktischen Zweck habe. Von Tresckow, der als Stabschef der 2. deutschen Armee besser als alle anderen Widerständler über die tatsächliche Lage an der deutschen Ostfront Bescheid wusste, antwortete jedoch hierauf: Von Tresckow plante, sofort nach dem Gelingen des Putsches die deutsche Westfront den Truppen der Alliierten zu öffnen. Die dadurch freigewordenen deutschen Einheiten sollten dann umgehend an die Ostfront verlegt werden, um ein weiteres sowjetisches Vordringen nach Westen und somit eine sowjetische Besatzung Deutschlands zu verhindern. Gleichzeitig sollten auch mit der Sowjetunion Verhandlungen über einen Waffenstillstand begonnen werden. Nach der katastrophalen Niederlage in Belarus hatte das Deutsche Reich jedoch gegenüber der Sowjetunion keinen Verhandlungsspielraum mehr, wenn die von Tresckow vorgeschlagenen Maßnahmen nicht wirksam wurden. Nicht alle Widerständler teilten von Tresckows Meinung. Der Generalfeldmarschall Günther von Kluge hatte als Oberbefehlshaber West bereits resigniert und unterstützte die Bestrebungen Tresckows und Georg Boeselagers nicht mehr, mit den Alliierten Verhandlungen aufzunehmen. Die Mehrheit der Offiziere des militärischen Widerstands setzte ihre Bemühungen fort, und die Vorbereitungen eines Attentats auf Hitler erreichten einen letzten Höhepunkt. Am 18. Juli 1944 begann Philipp Freiherr von Boeselager auf Weisung seines Bruders Georg mit der Verlegung von sechs Schwadronen des Kavallerie-Regiments 31 von der deutschen Front im östlichen Teil Polens in Richtung Berlin. Die sechs Schwadronen erreichten Brest-Litowsk, das soeben zu einem „Festen Platz“ erklärt worden war, und durchquerten ohne Pause die Stadt. Sie ritten auch die Nacht über weiter und erreichten nach einer Strecke von über 200 Kilometern das polnische Dorf Lachówka (Powiat Siemiatycki). Dort erhielten die Schwadronchefs einen Hinweis auf . Die Einheit sollte nach Berlin-Tempelhof geflogen werden. Von dort aus sollte sie unverzüglich in das Reichssicherheitshauptamt und das Propagandaministerium vordringen, um dort Heinrich Himmler und Joseph Goebbels festzunehmen und zu liquidieren. Die Schwadronen bereiteten gerade die Verladung auf LKW und einen späteren Lufttransport vor, als die Nachricht vom Misslingen des Attentats auf Hitler am späten Nachmittag über Radio bekannt wurde. Georg von Boeselager und sein Bruder verlegten daraufhin die Schwadronen umgehend an die deutsche Ostfront zurück. Diese Bewegungen fielen allerdings niemandem auf, sodass allen Beteiligten aus dem Kreis des Kavallerie-Regiments 31 eine Untersuchung und Verhaftung durch die Geheime Staatspolizei erspart blieb. Henning von Tresckow selbst nahm sich, nachdem er vom Scheitern des Attentats auf Hitler erfahren hatte, am Morgen des 21. Juli an der Front bei Brest das Leben. Im Gegensatz zu den wenigen direkt Beteiligten empfand die Mehrheit der noch kämpfenden Soldaten der Heeresgruppe Mitte das Attentat auf Hitler als Verrat, da man den Zeitpunkt aufgrund der überaus kritischen Frontlage als denkbar ungünstig ansah. So äußerte sich Peter von Butler, zum Zeitpunkt des Attentats Verbindungsoffizier für die 14. Panzer-Division im Generalstab, in einem später gegebenen Interview wie folgt: Das Attentat wurde als betrachtet und führte in keiner Weise zu einer Auflehnung der Deutschen gegenüber ihren Vorgesetzten. Die Befehlshaber der Wehrmacht begannen damit zu rechnen, dass es zu Kämpfen mit Einheiten der Waffen-SS kommen würde, bis schließlich Nachrichten vom endgültigen Scheitern des Putschversuches eintrafen. Die Nachricht von dem Putschversuch entfachte auch neue Aktivitäten des NKFD und des BdO. 17 von der Roten Armee gefangen genommene deutsche Generäle der Heeresgruppe Mitte wandten sich unter der Federführung des durch die Ereignisse im Minsker Kessel verbitterten Vincenz Müller in einem Aufruf an jeden , der später auch von Generalfeldmarschall Friedrich Paulus unterzeichnet wurde. In diesem Aufruf wurde gefordert, das Regime der NSDAP mit Gewalt zu stürzen. Tatsächlich wurde dieser Aufruf aber vom deutschen Offizierskorps als ein opportunistischer Versuch der daran beteiligten Generäle betrachtet, ihre eigene Haut zu retten. Die Wirkung dieses und späterer Aufrufe war aus diesem Grund äußerst gering. Spätfolgen Die durch die von den Deutschen angewandte Taktik der verbrannten Erde und sowjetischen Artilleriebeschuss verursachten Zerstörungen in Belarus und im Baltikum waren enorm. In nahezu allen während der Operation Bagration umkämpften Städten waren über 70 Prozent der Häuser unbewohnbar oder dem Erdboden gleichgemacht worden. Teilweise mussten Städte komplett wieder aufgebaut werden. Dies traf insbesondere auf Babrujsk, Mahiljou, Wizebsk, Minsk, Brest-Litowsk, Šiauliai und Jelgava zu. Eine Ausnahme hiervon ist die litauische Hauptstadt Vilnius, deren Altstadt bedingt durch den polnischen Aufstand am 7. Juli 1944 weitgehend intakt blieb. Während der Wiederaufbaumaßnahmen der ersten Nachkriegsjahre wurden die Städte in Belarus bevorzugt behandelt. Dies bedeutete, dass die belarussische Landbevölkerung teilweise noch bis in die 1950er-Jahre hinein in provisorischen Erdbehausungen lebte, die noch während des Krieges entstanden waren. Die ehemals ostpolnischen Gebiete wurden nach dem sowjetischen Sieg dauerhaft in das Territorium von Belarus eingegliedert. Die polnische Bevölkerung sollte später vollständig nach Westen in ehemals deutsche Gebiete deportiert werden. Ein Teil der polnischen Bevölkerung verblieb aber in Belarus. Ethnische Spannungen zwischen Weißrussen und der polnischen Minderheit im Westen von Belarus sind bis heute nicht gelöst und führen derzeit (Februar 2010) neben anderen politischen Faktoren zu einem angespannten Verhältnis zwischen Belarus und Polen. Bedingt durch den massiven Einsatz von Landminen durch die Wehrmacht wie auch durch die Rote Armee wird Belarus bis heute (2007) mit der Räumung undokumentierter Minenfelder aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges belastet. Besonders in den Regionen um Minsk, Witebsk und Gomel, die lange Zeit Frontgebiet waren, besteht bis heute Minengefahr. Zwischen 1944 und Februar 2006 wurden 6171 Minenunfälle dokumentiert. Dabei verloren 2665 Menschen ihr Leben. Sonstiges Die Operation wurde vom sowjetischen Oberkommando Stawka nach dem Namen des Generals Pjotr Iwanowitsch Bagration benannt, der in der Schlacht von Borodino 1812 gegen die napoleonischen Truppen gefallen war. Der die Operation Bagration umfassende Zeitraum wird in der von Percy Ernst Schramm edierten Version des Kriegstagebuchs des Wehrmachtführungsstabes mit der Begründung ausgespart, dass die Kriegsführung auf diesem Schauplatz unter der alleinigen Verantwortung von Adolf Hitler und dem Generalstab des Heeres gelegen habe. Die Unterlagen des OKH sollen bis auf Ausnahmen verloren gegangen sein. Literatur Irina Scherbakowa (Memorial): Wenn Stumme mit Tauben reden – Generationendialog und Geschichtspolitik in Russland. Osteuropa 05/2010, S. 17–25. Astrid Sahm: Der Zweite Weltkrieg als Gründungsmythos – Wandel der Erinnerungskultur in Belarus. Osteuropa 05/2010, S. 43–54. Bogdan Musial: Sowjetische Partisanen 1941–1944. Mythos und Wirklichkeit. 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Bagration Bagration Bagration Bagration Bagration Konflikt 1944
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https://de.wikipedia.org/wiki/Griechischer%20Tempel
Griechischer Tempel
Der griechische Tempel ( „Wohnung“; inhaltlich nicht gleichzusetzen mit dem lateinischen „Tempel“) ist ursprünglich das ein Kultbild bergende Gebäude eines griechischen Heiligtums. Er diente im Allgemeinen nicht dem Kult, da die Gottesverehrung ebenso wie Opfer im Freien stattfanden, konnte aber Weihgeschenke oder Kultgerät aufnehmen. Er ist der bedeutsamste und am weitesten verbreitete Gebäudetypus der griechischen Baukunst. Nicht zum griechischen Tempel im eigentlichen Sinne werden Tempelbauten gezählt, die in den hellenistischen Reichen des Ostens oder Nordafrikas errichtet wurden und den je lokalen Bautypen verpflichtet blieben, auch wenn griechische Gestaltungsweisen zum Tragen kamen. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an griechisch-parthische Bauten, die Tempel Baktriens oder die in ägyptischer Tradition stehenden Bauten des ptolemäischen Reiches. Innerhalb weniger Jahrhunderte entwickelten die Griechen den Tempel von den kleinen Lehmziegelbauten des 9. und 8. Jahrhunderts v. Chr. zu monumentalen Bauten mit doppelten Säulenhallen des 6. Jahrhunderts v. Chr., die ohne Dach leicht über 20 Meter Höhe erreichten. Für die Gestaltung griffen sie hierbei auf die landschaftsspezifischen Bauglieder der verschiedenen Säulenordnungen zurück, bei denen zunächst zwischen dorischer und ionischer Ordnung zu unterscheiden ist, zu denen ab dem späten 3. Jahrhundert v. Chr. die korinthische Ordnung trat. Eine Vielzahl unterschiedlicher Grundrissmöglichkeiten wurde entwickelt, die mit den verschiedenen Säulenordnungen der aufgehenden Architektur kombiniert wurden. Ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. ließ der Bau großer Tempel nach, um nach einer kurzen letzten Blüte im 2. Jahrhundert v. Chr. im Verlauf des 1. Jahrhunderts v. Chr. fast vollständig zum Erliegen zu kommen. Man nahm nur kleinere Bauaufgaben neu in Angriff, erneuerte ältere Tempel oder arbeitete an ihrer Fertigstellung weiter. Der griechische Tempel wurde nach festen Regeln entworfen und gebaut, deren wichtige Bezugsgrößen der untere Durchmesser der Säulen oder die Maße des Fundamentes sein konnten. Optische Verfeinerungen lösten die Starre der sich so ergebenden fast mathematischen Gestaltungsgrundlagen. Entgegen einer heute immer noch verbreiteten Vorstellung waren die griechischen Tempel bemalt, wobei satte Rot- und Blautöne neben das dominierende Weiß traten. Überaus reich war bei aufwendig gestalteten Tempeln der figürliche Schmuck in Form von Reliefs und Giebelfiguren. In der Regel wurden die Bauten von Städten und Heiligtumsverwaltungen beauftragt und finanziert. Auch konnten Privatpersonen, meist hellenistische Herrscher, als Bauherren und Stifter auftreten. Mit dem Versiegen dieser finanziellen Quellen im späten Hellenismus, mit dem Einverleiben des griechisch geprägten Kulturkreises in das Römische Reich, dessen Verwaltungsbeamte und Herrscher als neue Auftraggeber auftraten, endete der Bau griechischer Tempel. Die nun entstehenden Bauten waren Teil der römischen Reichsarchitektur, die anderen Zielen diente und weiterentwickelte Formen der Gestaltung benutzte. Entwicklungsgeschichtlicher Überblick Die Grundlagen für die Entwicklung des griechischen Tempels wurden zwischen dem 10. Jahrhundert v. Chr. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. gelegt. In seiner einfachsten Form als Naos konnte er ein einfacher Schrein mit vorgezogenen Längswänden sein, der eine kleine Vorhalle besaß. In der Frühzeit bis ins 8. Jahrhundert v. Chr. gab es auch die Form als Apsidenbau mit mehr oder minder halbrunden Rückseiten. Der rechteckige Bautypus setzte sich jedoch durch. Indem dieser kleine Grundbau um Säulen erweitert wurde, legten die Griechen den Grundstein für Entwicklung und Formenvielfalt ihrer Tempel. Die ersten Tempel waren zumeist einfache Lehmziegelbauten auf steinernem Sockel. Die Säulen waren wie das Gebälk aus Holz. Türwandungen und Mauerstirne waren mit hölzernen Bohlen geschützt. Die Lehmziegelwände waren oft durch Holzpfosten in Fachwerktechnik verstärkt. Den Elementen dieser einfachen, klar strukturierten Holzbautechnik waren alle wichtigen Gestaltungsprinzipien unterworfen, die die Entwicklung des griechischen Tempels über Jahrhunderte bestimmten. Am Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. wurden die Dimensionen der einfachen Vorläufer deutlich gesteigert. Mit Tempel B in Thermos setzt der Bau 100 Fuß, das heißt 32–33 Meter langer, sogenannter Hekatompedoi (griechisch für ‚hundertfüßig‘), ein. Da die technischen Mittel noch nicht ausreichten, entsprechende Dachweiten zu überbrücken, blieben diese Tempel mit 6–10 Meter Breite sehr schmal. Um die Bedeutung des Kultbildes und seines Baues zu steigern, wurde der Naos mit einem säulengestützten Baldachin versehen. Der sich ergebende Säulenkranz, die Peristasis, bleibt im griechischen Kulturraum allein dem Tempel eigentümlich. Durch die Kombination des Tempels mit einem alle Seiten umgebenden Säulenkranz wurde als neue gestalterische Forderung die Allansichtigkeit an Architekten und Bauherren herangetragen. In der Folge bekam der an der Front befindliche Pronaos des so geschaffenen Ringhallentempels, Peripteros, ein Pendant an der Gebäuderückseite, den Opisthodom, dessen Integration also rein ästhetisch bedingt war. Mit der Einführung des Steinbaues im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. unterlagen die vorliegenden Grundelemente und -formen des Tempels, wie etwa Säulenanzahl und -stellungen, im Laufe der griechischen Antike einer ständigen Wandlung. Neben dem einfachen Peripteros wird im 6. Jahrhundert v. Chr. im ionischen Samos der Dipteros als neuer Bautypus entwickelt, der Nachfolger in Didyma, Ephesos und Athen findet. Vom 6. bis zum Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. wurden unzählige Tempel errichtet, fast jede Stadt, jede Kolonie besaß gleich mehrere Tempel. Hinzu kamen die Bauten der außerstädtischen und übergeordneten Heiligtümer wie Olympia und Delphi. Im beobachtbaren Wandel der Formen ist die Suche nach der harmonischen Form aller Bauteile wie des gesamten Erscheinungsbildes erkennbar: Die Entwicklung führte von bisweilen derb und kräftig erscheinenden Frühformen bis zur ästhetischen Vollkommenheit und Raffinesse der späten Bauwerke, von planerischer Unbekümmertheit bis zur streng mathematischen Durchdringung des Grundrisses und der Bauglieder. Ab dem Frühhellenismus verliert der griechische Peripteraltempel stark an Bedeutung. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, erlischt der klassische Tempelbau im griechischen Mutterland ebenso wie in den griechischen Kolonien Großgriechenlands. Allein im westlichen Kleinasien wird während des 3. Jahrhunderts v. Chr. ein schleppender Tempelbau aufrechterhalten. Der Bau von Großprojekten wie dem Apollontempel in Didyma bei Milet, dem Artemision in Sardis kommt nicht voran. Erst im 2. Jahrhundert v. Chr., und vor allem mit Person und Nachwirken des Architekten Hermogenes, der in seinen theoretischen Schriften und seinen Bauten den Bau ionischer Tempel auf ein neues Fundament stellt, kommt es wieder zu einer regen Bautätigkeit, die peripterale Bauten umfasst. Zugleich fließen durch die Herrscher der verschiedenen hellenistischen Reiche üppige finanzielle Mittel. Selbstdarstellung, Konkurrenz, Stabilisierung von Einflusssphären und die zunehmenden Auseinandersetzungen mit Rom, die auch auf kulturellem Gebiet geführt wurden, entfalteten die Kräfte für diese Wiederbelebung des anspruchsvollen griechischen Tempelbaus. In dieser Phase wird der griechische Tempel im südlichen Kleinasien, in Ägypten und in Nordafrika verbreitet. Doch trotz dieser Beispiele, und obwohl wirtschaftlicher Aufschwung und hoher Grad technischer Innovationsmöglichkeiten im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. einen günstigen Rahmen bieten, wird der Kultbau hellenistischer Zeit durch die Unmenge kleiner Antentempel und Prostyloi und kleinster Tempel, Naiskoi, repräsentiert, die zwar ab archaischer Zeit an hervorgehobenen Orten, auf Marktplätzen, bei Quellen und neben den Wegen errichtet wurden, nun aber ihre eigentliche Blüte erleben. Als Besonderheit kommt es infolge dieser Beschränkung auf kleine Bauten zur Entwicklung des Pseudoperipteros, der mittels Blendsäulen an den Wänden der Cella die Illusion eines Ringhallentempels erweckt. Ein frühes Beispiel bietet Tempel L in Epidauros, der prominente Nachfolger in römischen Tempeln wie der Maison Carrée in Nîmes finden soll. Im frühen 1. Jahrhundert v. Chr. wandelt sich das Bauverhalten als Folge der mithridatischen Kriege. Als Auftraggeber treten verstärkt römische Magistrate im Osten auf, die ihre Wohltätigkeit selten in Form eines Tempels zeigten. Gleichwohl werden in dieser Phase Tempel errichtet. Mit der Einrichtung des Prinzipats entstehen unter den wenigen Neubauten zumeist Tempel für den Herrscherkult oder Tempel für römische Gottheiten. Zwar gibt es weiterhin Tempelneubauten für griechische Gottheiten, doch folgen die Bauten entweder dem Formenkanon der sich herausbildenden römischen Reichsarchitektur oder behalten lokale nichtgriechische Eigentümlichkeiten bei, wie die Tempel in Petra oder Palmyra zeigen. Die fortschreitende Romanisierung des Ostens bringt das Ende des Baus griechischer Tempel mit sich, auch wenn bis ins fortgeschrittene 2. Jahrhundert hinein begonnene Großbauten wie der Apollontempel in Didyma oder das Olympieion in Athen weitergebaut und vollendet werden. Mit den Edikten Theodosius’ I. und seiner Nachfolger zum Verbot der heidnischen Kulte werden nach und nach die griechischen Tempel geschlossen oder in christliche Kirchen umgeweiht. Damit endet die Geschichte des griechischen Tempels, wenn auch einige Bauten noch lange genutzt wurden. So wurde der zunächst zur Kirche geweihte Parthenon in Athen nach der osmanischen Eroberung in eine Moschee umgewandelt und blieb bis zum 17. Jahrhundert unversehrt. Erst der unglückliche Treffer einer venezianischen Kanonenkugel in den als Pulvermagazin genutzten Bau zerstörte diesen bedeutenden Tempel nach über zweitausend Jahren seines Bestehens. Aufbau Der griechische Tempel hat in seinen kanonischen Formen einen über lange Zeit immer gleichen Grundaufbau, für den sich die Griechen einer beschränkten Anzahl räumlicher Komponenten, die im Grundriss zum Tragen kommen, und Bauglieder, die dem Aufriss verwandt wurden, bedienten. Grundriss Der zentrale Kultbau des Tempels, der Naos, kann in mehrere Gebäudebereiche unterteilt sein. Meist war im Hauptraum, der Cella, die Götterstatue aufgestellt. In archaischen Tempeln, in Sizilien bis in die klassische Zeit hinein, kann hierfür noch ein eigener Raum, das Adyton, abgetrennt sein. Auf der Vorderseite der Cella befindet sich eine Vorhalle, der Pronaos, die aus den hervorspringenden Seitenwänden der Cella, den Anten, und zwei dazwischen stehenden Säulen gebildet wird. Ein dem Pronaos entsprechender Raum auf der Rückseite des Tempels wird Opisthodom genannt. Dieser nicht mit der Cella durch eine Tür verbundene Raum ist rein ästhetisch zu begründen: Um der Allseitigkeit des Peripteros zu genügen, wurde die Gestaltung der Front an der Rückseite wiederholt. Ringsum kann der Naos von einem oder mehreren Säulenkränzen, der Ringhalle oder Peristasis, umgeben sein. Dadurch wird ein umlaufender Umgang, das Pteron, gebildet, der den Heiligtumsbesuchern Raum bot und für kultische Prozessionen genutzt wurde. Mittels dieser Komponenten konnten verschiedene Grundrisstypen im griechischen Tempelbau verwirklicht werden. Das einfachste Beispiel des griechischen Tempels ist der Antentempel, auch templum in antis genannt, ein kleines rechteckiges Gebäude, welches dem Schutz des Kultbildes diente. Vor der Cella befand sich der durch die verlängerten Cellawände, die Anten, gebildete Pronaos, der durch eine Tür mit der Cella verbunden war. Zum Abstützen des Gebälks standen zwischen den Antenstirnen, in antis, zwei Säulen. Besaß diese einfache Form einen Opisthodom, wird der Grundrisstypus Doppelantentempel genannt. Bei einer Variante des Doppelantentempels ist der Opisthodom auf der Rückseite der Cella lediglich durch Halbsäulen und kurze Antenpfeiler angedeutet, so dass er als Pseudo-Opisthodom angesprochen werden kann. Wird der Vorhalle des Antentempels auf ganzer Breite eine Säulenstellung von meist vier oder sechs Säulen vorgelagert, wird der Typus als Prostylos bezeichnet. Der Amphiprostylos entstand, indem diese Säulenstellung des Prostylos auf der Rückseite des Tempels wiederholt wurde. Demgegenüber bezeichnet der Begriff Peripteros einen Tempel, der eine an allen Seiten umlaufende, meist ein Joch tiefe Säulenhalle besaß. Es ergab sich hierdurch ein freier Säulenumgang, eine Peristasis, um alle vier Seiten des Tempels. Eine hellenistische oder römische Abwandlung dieses weit verbreiteten Tempeltypus ist der Pseudoperipteros, bei dem die Säulen in Form von Halbsäulen oder Pilastern den Seitenwänden und der Rückwand eines Prostylos nur vorgeblendet waren. Der Dipteros besaß eine allseitig doppelte Säulenhalle, wobei die Säulenstellungen an Vorder- und Rückseite um weitere Reihen erweitert werden konnten. Der Pseudodipteros unterscheidet sich vom Dipteros dadurch, dass die innere Säulenstellung der Peristasis fehlt, die Umgangshalle aber dennoch zwei Säulenjoche tief ist. Eine besondere Baugattung stellten die sogenannten Rundtempel dar, die einen umgebenden Säulenkranz besitzen konnten und (peripterale) Tholos genannt werden. Oftmals von sakralem Charakter, ist für griechische Tholoi die Funktion als Tempel meist nicht nachzuweisen. Ein der Tholos ähnliches Bauwerk ist der Monopteros, dem jedoch die Cella fehlt. Um Grundrisstypen eindeutiger anzusprechen, können die Definitionen gemischt werden: peripteraler Doppelantentempel, prostyler Antentempel, peripteraler Amphiprostylos, um nur einige Beispiele zu geben. Zusätzlich wurde bereits bei Vitruv (4, 3, 3) nach der Anzahl der Frontsäulen differenziert. In der Forschung werden heute folgende Begriffe benutzt: Als Dodekastylos wird nur der 12-Säulen-Saal am Didymaion bezeichnet. 12-säulige Tempelfronten sind hingegen nicht überliefert. Wenige Tempel hatten eine ungerade Anzahl an Frontsäulen, etwa Heratempel I in Paestum oder Apollontempel A in Metapont, die mit ihren neun Frontsäulen als Enneastylos anzusprechen sind, oder der archaische Tempel C in Thermos, der mit seinen fünf Säulen der Schmalseiten als Pentastylos zu bezeichnen ist. Aufriss Der Aufbau griechischer Tempel gliedert sich immer in drei Zonen: den Stufenbau, die Säulen, das Gebälk. Das unterirdische Fundament eines griechischen Tempels wird Stereobat genannt. Es besteht aus mehreren Schichten quaderförmiger Steine. Die oberste Schicht, die Euthynterie, ragt teilweise aus dem Boden hervor. Ihre Oberfläche ist sorgfältig geglättet und ausgeglichen. Auf der Euthynterie erhebt sich ein meist dreigliedriger Stufenbau, Krepidoma oder Krepis genannt, dessen oberste Stufe die Standfläche für die Säulen bildet und daher Stylobat genannt wird. Stereobat, Euthynterie und Krepis bilden zusammen den Unterbau des Tempels. Auf dem Stylobat stehen die aufstrebenden und sich nach oben verjüngenden Säulenschäfte, die normalerweise aus einzelnen Säulentrommeln zusammengesetzt sind. In die Schäfte sind je nach Säulenordnung unterschiedliche Anzahlen von Kanneluren eingeschnitten: sind es in der dorischen Ordnung meist 18–20 Kanneluren, so besitzen ionische und korinthische Säulen regelhaft 24 Kanneluren. Bei frühen ionischen Säulen konnte die Kannelurenanzahl bis zu 48 gesteigert werden. Während die dorischen Säulen direkt auf dem Stylobat stehen, ist bei ionischen und korinthischen Säulen eine Basis eingeschoben, die auf einer zusätzlichen Plinthe ruhen kann. Am oberen Ende der Säule leitet bei dorischen Säulen ein konkav eingezogener Säulenhals, das Hypotrachelion, zum Kapitell über, das bei ionischen Säulen unvermittelt auf den Säulenschaft folgt. In der dorischen Ordnung besteht das Kapitell aus einem runden, anfangs sehr flach gedrückten Wulst, dem Echinus, und einer quadratischen Platte, dem Abakus. Im Laufe der Entwicklung streckt sich der Echinus dorischer Kapitelle immer stärker, bis er in einem Winkel von 45 Grad linear aufsteigt. Demgegenüber besitzen ionische Säulen einen mit einem Eierstab verzierten Echinus, dem ein quergelagertes, Voluten bildendes Polster folgt, auf dem ein nur flach gebildeter Abakus ruht. Das namengebende korinthische Kapitell der korinthischen Säulen besaß hingegen Blattkränze stilisierter Akanthusblätter, denen Stängel und Voluten entwachsen, die zu den Kapitellecken des Abakus streben. Auf den Kapitellen ruht das Gebälk. In der dorischen Ordnung war das Gebälk immer zweigeteilt in Architrav und Triglyphenfries. Auch die ionische Ordnung Athens und der Kykladen kannte den Fries oberhalb des Architravs. Den ionischen Tempel Kleinasiens war der Fries hingegen bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. unbekannt. Bei ihnen folgte auf dem Architrav direkt der Zahnschnitt. Hinter dem Fries verbargen sich ursprünglich die Dachbalken, die uns beim Zahnschnitt Kleinasiens direkt am Außenbau begegnen. Der dorische Fries war durch Triglyphen gegliedert. Diese lagen über den Säulenachsen und über der Mitte des Joches. Zwischen den Triglyphen waren – teils bemalte, teils reliefverzierte – Metopen angebracht. In der ionischen und in der korinthischen Ordnung ist der Fries demgegenüber entweder glatt belassen oder mit Reliefs sowie Malerei versehen. Im Steinbau wird die Abdeckung des Säulenumgangs und der Ansatz der Dachkonstruktion in das Geison hinaufgehoben, der Fries verliert seine bauliche Funktion zugunsten eines rein dekorativen Charakters. Häufig wird die Cella, insbesondere im Frontbereich des Pronaos, mit Architrav und Fries geschmückt. Über dem Fries oder einem Zwischenglied, wie dem Zahnschnitt der ionischen und korinthischen Ordnung, springt das Gesims deutlich hervor. Es besteht aus dem Geison, das an den ansteigenden Dachschrägen der Schmalseiten als Schräggeison gebildet wurde, und der Sima. An den Langseiten der oft aufwendig verzierten Sima waren Wasserspeier angebracht, meist in Form von Löwenköpfen. Das Giebeldreieck oder Tympanon, das sich an den Schmalseiten des Tempels durch das von den Dorern eingeführte Giebeldach ergab, während ältere Dachformen in Griechenland dem Walmdach verpflichtet waren, besaß oft eine reiche vielfigurige Ausstattung mit mythischen Szenen oder Kämpfen. An den Ecken und am Giebelfirst waren anfangs geometrische, später florale oder figürliche Schmuckformen, die sogenannten Akrotere angebracht. Der Tempel stand, wenn es die örtlichen Gegebenheiten zuließen, frei und war somit auf Allseitigkeit angelegt. Er nahm hierbei auf seine Umgebung keine Rücksicht, sondern stand als autarker Baukörper ganz für sich. Hierin unterschied er sich deutlich vom römischen Tempel, der oft in ein architektonisches Stadtgefüge oder in eine Platzgestaltung eingegliedert und viel stärker und betonter auf Frontansicht konzipiert wurde. Entwurf und Maß Der Grundriss griechischer Tempel konnte Ausmaße bis zu 115 × 55 Meter erreichen, füllte also die Fläche eines durchschnittlichen Fußballfeldes und besaß dabei Säulenhöhen von annähernd 20 Meter. Solche Baumassen harmonisch zu gliedern, bedurfte es ausgeklügelter Entwurfsmittel, die bereits an kleineren Tempeln entwickelt wurden und sich bewährt hatten. Wichtiges Maß war hierfür der Fuß, der je nach landschaftlicher Ausrichtung unterschiedliche Größen besaß und zwischen knapp 29 und 34 Zentimeter schwankte. Aus diesem Grundmaß wurden die Einheiten abgeleitet, aus denen sich der zu entwerfende Tempel entwickelte. Wichtige Faktoren waren hierbei der untere Durchmesser der Säulen oder die Breite der Standplatten für die Säulen, die Plinthen. Auch der Achsabstand der Säulen, das Joch, konnte als Basis des Entwurfes dienen. Diese Maße wurden in Beziehungen zu anderen Entwurfselementen gesetzt, zur Säulenhöhe, zum Säulenabstand, und wirkten sich schließlich durch die Anzahl der Säulen auf die Außenmaße von Stylobat und Ringhalle einerseits, des eigentlichen Naos andererseits aus. Durch vertikale Bezüge insbesondere der dorischen Ordnung erschloss all dies sogleich grundsätzliche Möglichkeiten für die Gestaltung des Gebälkes. Neben diesem sehr rationalen Ansatz wurde bei den Tempeln des späten 7. und frühen 6. Jahrhunderts v. Chr. versucht, die Grundmaße aus den geplanten Dimensionen von Cella oder Stylobat zu entwickeln und in einem gleichsam umgekehrten Prozess die kleinen Einheiten aus den großen abzuleiten. So wurde die Cellalänge beispielsweise mit 100 Fuß – einer heiligen Zahl, die im Opfer von 100 Tieren wiederkehrt – festgelegt und alle weiteren Einteilungen mussten sich dem unterwerfen, was oft zu kaum nachvollziehbaren Lösungen führte. Wichtig für den Entwurf war auch das System, nach dem der Architekt den Naos in die Ringhalle einband. War dies anfangs durch konstruktive Notwendigkeiten keine Frage und führte immer zu axialen Bezügen zwischen Cellawänden und Säulen, löste sich diese Bindung mit der Einführung des Steinbaus. Gleichwohl blieb bei Tempeln ionischer Ordnung der Bezug immer erhalten. Bei dorischen Tempeln hingegen setzte die hölzerne Dachkonstruktion, die ursprünglich hinter dem Fries angebracht war, im Steinbau erst hinter dem Geison an. Damit wurde die Verbindung zwischen Frieszone und Dach, dessen konstruktive Elemente nun frei von axialen Bezügen angeordnet werden konnten, gelöst. Dies hatte zur Folge, dass für einen langen Zeitraum die Cellawände keine vorgegebene Bindung an die Säulen mehr besaßen und frei in der Ringhalle positioniert werden konnten. Erst als Ergebnis einer längeren Entwicklung wählten die Architekten als verbindliche Bezugslinie die Verbindung von äußerer Wandflucht und zugeordneter Säulenachse für den Tempel dorischer Ordnung. Doch an dorischen Tempeln in Großgriechenland wurde auch dieses Ideal nur selten verwirklicht. Grundlegende Proportionen des Baus wurden auch durch das Verhältnis der Frontsäulen zu den Säulen der Langseiten festgelegt. Als klassische Lösung legten griechische Architekten die Formel „Frontsäulen : Flankensäulen = n : (2n+1)“ zugrunde, die auch auf die Anzahl der Joche angewandt werden konnte. Es ergaben sich hieraus die zahlreichen Tempel klassischer Zeit, die entweder 6 × 13 Säulen oder 5 × 11 Joche aufwiesen. Die gleiche – nun abstrahierte – Proportion durchzieht den gesamten Parthenon, bei dem nicht nur die Säulenstellungen mit 8 × 17 Säulen derselben Formel folgen, sondern auf das Verhältnis 4:9 gekürzt alle weiteren Entwurfsmaße. Es findet sich unter anderem im Joch, im Stylobat und in der Festlegung von Breite zu Höhe des Baus bis zum Geison, die der Umkehrung in die Relation 9:4 unterworfen ist. Ab der Wende vom 3. zum 2. Jahrhundert v. Chr. spielte in der Architekturdiskussion das Verhältnis von Säulenstärke zu lichtem Säulenabstand, dem Interkolumnium, eine zunehmende Rolle, die ihren Reflex in den Schriften Vitruvs fand. Nach diesem Verhältnis werden bei Vitruv (3, 3, 1 ff.) fünf verschiedene Entwurfskonzepte und Tempeltypen unterschieden: Pyknostylos, dicht- oder gedrängtsäulig: Interkolumnium = 1 ½ untere Säulendurchmesser Systylos, nah- oder engsäulig: Interkolumnium = 2 untere Säulendurchmesser Eustylos, schön- oder wohlsäulig: Interkolumnium = 2 ¼ untere Säulendurchmesser Diastylos, weitsäulig: Interkolumnium = 3 untere Säulendurchmesser Aräostylos, dünn- oder lichtsäulig: Interkolumnium = 3 ½ untere Säulendurchmesser Fixierung und Diskussion dieser Entwurfsgrundlagen gehen auf Hermogenes zurück, den Vitruv als Erfinder des Eustylos überliefert. In der Tat lässt sich am Dionysostempel von Teos, der dem Hermogenes zugeschrieben wird (Vitruv 3, 3, 8), eine Interkolumniumsweite von 2 1/6 unteren Säulendurchmessern nachweisen. Optische Verfeinerung Um die mathematische Starre zu lösen und Täuschungen der visuellen Wahrnehmung entgegenzusteuern, wurde eine mit bloßem Auge nicht erkennbare Krümmung des gesamten Bauwerkes eingeführt. Die antiken Architekten hatten erkannt, dass gerade langgestreckte horizontale Linien optisch im Mittelpunkt zu hängen scheinen. Dementsprechend wurden horizontale Linien durch eine Kurvatur, die Stylobat und Gebälk umfassen konnte, tatsächlich zur Gebäudemitte hin um einige Zentimeter nach oben gewölbt. Auch Säulen wurden von dieser Vermeidung mathematisch gerader Linien erfasst, indem sie nicht linear nach oben verjüngt wurden, sondern der Eindruck einer mehr oder minder starken Schwellung des Säulenschaftes, Entasis genannt, hervorgerufen wurde. Zudem erfuhren die Säulen bei ihrer Aufstellung eine leichte Innenneigung zur Gebäudemitte hin, die sogenannte Inklination. Kurvatur und Entasis sind bereits seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. nachweisbar. Am konsequentesten und feinsten wurden all diese Gestaltungsmittel am klassischen Bau des Parthenon auf der Akropolis von Athen umgesetzt. Seine Kurvatur durchzieht alle horizontalen Bauglieder bis zum Gesims, selbst die Cellawände greifen in voller Höhe die Kurvatur auf. Die Inklination der mit Entasis versehenen Säulen setzt sich in Architrav und Triglyphenfries fort, die Außenseiten der Cellawände wiederholen die Inklination der Säulen. Kein Stein des Baus, kein Architrav, kein Friesteil konnte als einfacher rechteckiger Quader zugehauen werden. Alle Bauglieder wiesen leichte und für jedes Glied individuell ermittelte Abweichungen von rechten Winkeln auf. Dies ermöglicht heute, für jedes erhaltene Bauglied, sei es der Säulen, sei es des Gebälkes oder der Cellawände, seine ursprüngliche Position am Bau exakt bestimmen zu können. Eine ungeheure Steigerung des betriebenen Aufwandes, obgleich der Parthenon in der Rekordzeit von nur 16 Jahren – 447 bis 431 v. Chr. – errichtet und samt Figurenschmuck fertiggestellt wurde. Farbigkeit Hauptartikel: Antike Polychromie Die griechischen Tempel waren prinzipiell farbig gefasst. Nur drei Grundfarben ohne Abstufungen wurden verwandt: Weiß, Blau und Rot, hinzu konnte Schwarz kommen. Stufenbau, Säulen und Architrave waren überwiegend weiß. Lediglich Details wie die ringförmig eingeschnittene Kerben am Ansatz dorischer Kapitelle, die Anuli, oder Zierelemente der dorischen Architrave, wie Taenia samt Guttae, konnten farblich abgesetzt sein. Der Fries wurde mit Farben klar gegliedert. Beim dorischen Triglyphenfries wechselten blau gefasste Triglyphen mit rot hinterlegten Metopen, die ihrerseits wiederum farbig gehaltene Figuren in Hochrelief besitzen konnten. Reliefs, Ornamente und Giebelskulpturen waren farb- und nuancenreicher gefasst. Deutlich im Schatten liegende Elemente konnten schwarz unterlegt sein, wie die Mutuli oder die Schlitze der Triglyphen. Es wurden also vor allem nichttragenden Teile bemalt, während die tragenden Teile wie die Säulen und die horizontal gliedernden Elemente wie Architrav und Geison mit einer weißen Stuckschicht überzogen waren. Bauplastik Der griechische Tempel war oft mit figürlichem Schmuck versehen. Insbesondere die Frieszonen boten Platz für Reliefs und Reliefplatten, die Giebeldreiecke waren Träger vielfiguriger Szenen mit freistehenden Skulpturen. Doch auch der Architrav konnte in archaischer Zeit an ionischen Tempeln reliefverziert sein, wie der ältere Apollontempel in Didyma beweist. Die Architravecken wurden dort von Gorgonen eingenommen, denen sich Löwen und wahrscheinlich weitere Tiere an den Seiten anschlossen. Allerdings kannte der frühe ionische Tempel Kleinasiens keinen eigenständigen Fries als Bauglied, der derartige Reliefs hätte aufnehmen können. Eigentlicher Reliefträger blieb der Fries, entweder als Triglyphenfries mit seinen skulptierten Metopen, oder als fortlaufender Fries an kykladischen, attischen, später auch kleinasiatischen ionischen Tempeln. Die Metopen als separierte Einzelbilder, die von Ausnahmen abgesehen höchstens drei Figuren aufnehmen konnten, stellten meist Einzelszenen eines größeren Zusammenhangs dar. Selten sind Szenen über mehrere Metopen verteilt, lieber wurden Momente aus einer übergeordneten Handlung, insbesondere Kampfhandlung, herausgegriffen und derart das gesamte Geschehen entwickelt. Auch andere thematische Zusammenhänge konnten so illustriert werden. So zeigten etwa die Metopen vom Zeustempel in Olympia über der Cella die zwölf Taten des Herakles, je sechs auf einer Tempelseite. Mythische Einzelszenen wie der Raub Europas oder die Entführung einer Rinderherde durch die Dioskuren waren ebenso Inhalt der Darstellung wie Szenen der Argonautensage oder des Trojanischen Krieges. Die Kämpfe gegen Kentauren, die Amazonen, die Giganten, wie sie etwa am Parthenon in Athen begegnen, kehren an vielen Tempeln wieder. Kampfszenen jedweder Art waren meist auch Thema ionischer Friese, etwa die Gigantomachie am Hekateion in Lagina oder die Amazonomachie am Artemistempel in Magnesia am Mäander, die beide dem späten 2. Jahrhundert v. Chr. angehören. In komplizierten Kompositionen wurde das Hin und Her der wechselnden Ereignisse dem Betrachter vor Augen geführt. Daneben waren ruhige oder friedliche Szenen Inhalt: Götterversammlungen, Prozessionen beherrschen den rund 160 Meter langen Fries, der den oberen Abschluss der Naoswände am Parthenon bilden. Schon wegen ihrer Größe und Frontalität hervorgehoben waren die Ausschmückungen der Giebeldreiecke. Anfangs waren die Giebel mit mächtigen Reliefs gefüllt, wie etwa am bald nach 600 v. Chr. errichteten Artemistempel in Kerkyra, dessen Westgiebel mittig die Gorgo Medusa mit ihren Kindern, flankiert von Panthern einnimmt. Ganz in die Zwickel des Giebelfeldes verschoben finden kleinere Szenen ihre Darstellung, etwa ein Blitze schleudernder Zeus im Kampf gegen Giganten. Beinahe freiplastisch, trotzdem von sich gegenüberstehenden Löwen geprägt ist der um 570 v. Chr. entstandene Giebelschmuck des ersten Ringhallentempels auf der Athener Akropolis, in dessen Zwickeln unter anderem Herakles gegen Triton kämpft. Nach der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. ändert sich das Kompositionsschema und die Tiergruppen werden ihrerseits in den Zwickeln untergebracht, bevor sie ganz aus den Giebeln verschwinden. Die zentrale Komposition wird jetzt von Götterkämpfen oder aufgereihten Figurengruppen eingenommen. Die Wertschätzung, welche die Griechen diesen Figurengiebeln entgegenbrachten, zeigt sich am Fund der Figuren vom spätarchaischen Apollontempels in Delphi, dessen Giebelskulpturen nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 373 v. Chr. regelrecht bestattet wurden. Als Thema der einzelnen Giebeldarstellungen tritt immer stärker der lokale Bezug hervor. So zeigt der Ostgiebel des Zeustempels in Olympia die Vorbereitungen für das Wagenrennen zwischen Pelops und Oinomaos, dem mythischen Herrscher des bei Olympia gelegenen Pisa. Es ist der Ursprungsmythos des Heiligtums selbst, der hier an hervorgehobenster Position dargestellt wird. Und ähnlich verhält es sich mit der Geburt der Athena im Ostgiebel des Parthenon oder dem Streit um das attische Land zwischen Athena und Poseidon auf dessen Westseite. Am Giebel des jüngeren Kabirentempels in Samothrake aus dem späten 3. Jahrhundert v. Chr. schließlich wurde vermutlich eine rein lokale Kultsage des Heiligtums dargestellt, die von keinem übergeordneten Interesse für Griechenland war. Das Dach krönten Akrotere, ursprünglich in Form tönerner, reich bemalter Scheiben, ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. meist als vollplastische Skulpturen, die Giebelecken und First schmückten. Schalen und Dreifüße, Greife und Sphingen, vor allem mythische Figuren und Götter konnten dargestellt werden. So krönten Niken im Knielaufschema den Alkmeoniden­tempel des Apollonheiligtums in Delphi, reitende Amazonen bildeten die Eckakrotere am Asklepiostempel in Epidauros. Pausanias (5, 10, 8) beschreibt die als Eckakrotere dienenden bronzenen Dreifüße und die von Paionios gearbeiteten Niken der Firstakrotere des Zeustempels in Olympia. Der Vollständigkeit halber erwähnt sei noch ein weiterer Träger figürlichen Schmucks, die columnae caelatae der ionischen Tempel von Ephesos und Didyma. Hierbei waren bereits an den archaischen Tempeln die unteren Bereiche der Säulenschäfte rundum mit fast frei gearbeiteten Hochreliefs verziert, die zunächst einfache Reihungen von Figuren darstellten, an ihren spätklassischen und hellenistischen Neubauten hingegen friedliche mythische Szenen und Kämpfe vortrugen. Funktion und Gestaltung Als Wohnung des Kultbildes war der Tempel funktional vor allem auf die Cella bezogen. Ihre Erhabenheit zu steigern, diente der für den Außenbau betriebene Aufwand. Demgegenüber war die Gestaltung der Cella selbst meist zurückhaltend. Die Cella und somit das Kultbild besaßen als einzige Lichtquelle die Cellatüre. Das einfallende Licht konnte das Innere also nur unzureichend beleuchten. Eine Ausnahme stellten die Tempel des Apollon von Bassae und der Athena in Tegea dar. Beide hatten in ihrer südlichen Cellawand eine Tür, die den Raum oder das Kultbild zusätzlich beleuchten konnten. Eine Besonderheit besaßen die Tempel der Kykladen, die meist mit einem Dach aus marmornen Ziegeln gedeckt waren. Ein solches Marmordach besaßen die Kultbilder aus Gold und Elfenbein bergenden Tempel des Zeus in Olympia oder der Athena Parthenos in Athen. In derart gedeckten Räumen mag ein gleichmäßig diffuses Licht eine besondere Stimmung erzeugt haben. Aus kultischen Gründen, aber auch, um das Licht der tiefstehenden Sonne zu nutzen, waren fast alle griechischen Tempel nach Osten ausgerichtet. Doch gab es auch nach Westen orientierte Tempel, wie der Artemistempel in Ephesos oder der Artemistempel in Magnesia am Mäander belegen. Bei beiden ist die Abweichung aus kultischen Gründen offensichtlich. Das Kultbild war auf den vor dem Tempel befindlichen Altar ausgerichtet. Um diese Beziehung nicht zu stören, wurden anfänglich in der Mitte angeordnete einreihige Säulenstellungen innerhalb der Cella verdoppelt und in Richtung der Seitenwände verschoben. Das Mittelschiff der sich ergebenden dreischiffigen Innenräume wurde meist besonders betont. Um die Würde des derart gestalteten Innenraumes zu erhöhen, konnten besondere Gestaltungselemente eingesetzt werden. So stammen etwa die ältesten nachweisbaren korinthischen Kapitelle aus den Naoi dorischer Tempel. Um den Eindruck des Innenraumes noch zu steigern, konnten die inneren Säulen U-förmig Aufstellung finden, wie dies beispielsweise am Parthenon in Athen und dem Zeustempel in Nemea nachzuweisen ist. Am Athenatempel in Tegea ist diese Anordnung schließlich vollständig an die Cellawände gerückt, und nur Halbsäulen, zur Bedeutungssteigerung von korinthischen Kapitellen bekrönt, gliedern den Raum. Eine Frühform dieser Lösung begegnet am Apollotempel von Bassae, bei dem die mittlere Säule der hinteren Säulenstellung noch frei im Raum steht, während die Säulen der Langseiten als Halbsäulen an vortretenden Wandzungen gebildet sind. Die Cella des griechischen Tempels wurde nur selten und nur von wenigen Besuchern betreten. Im Allgemeinen blieb das Betreten des Raumes, von hohen Festen und besonderen Anlässen abgesehen, den Priestern vorbehalten. Um das Kultbild noch weiter zu entrücken, wurde es bisweilen in einem stärker abgetrennten Raum innerhalb der Cella, dem Adyton, untergebracht. Vor allem in Großgriechenland hat sich diese Tradition lange erhalten. Im Laufe der Jahre konnten zahlreiche Weihgeschenke in der Cella aufgestellt werden, so dass der Raum einen geradezu musealen Charakter bekommen konnte (Pausanias 5, 17). Der rückwärtige Raum des Tempels, der Opisthodom, diente meist als Aufbewahrungsort für Kultgeräte. Er konnte auch den Tempelschatz bergen. Im Fall des Parthenon in Athen wurde in ihm die Bundeskasse des Attischen Seebundes unter den Schutz der Gottheit gestellt. Wie der Pronaos war der Opisthodom oft durch Holzschranken gesichert. Nicht nur die Cella, sondern auch die Ringhalle eines Tempels konnte der Aufstellung von Weihgeschenken dienen, die oft in den Interkolumnien der Säulen Platz fanden. An den Säulen selbst konnten ebenfalls Votivgaben angebracht werden, wie etwa am Heraion in Olympia. Die Peristasis wurde bisweilen für kultische Prozessionen genutzt oder bot einfach Menschen Platz und Schutz. So lobt Vitruv (III 3, 8 f.) die Ringhalle eines Pseudodipteros, da sie es einer großen Menschenmenge erlaube, sich zwanglos in der Ringhalle aufzuhalten. Auftraggeber, Bauwesen und Kosten Auftraggeber griechischer Tempel waren vor allem zwei Gruppen: zum einen öffentliche Auftraggeber mit den je zuständigen Gremien und Institutionen, zu denen die Verwaltungen großer Heiligtümer gehörten; zum anderen einflussreiche und potente Privatstifter, wie sie uns vor allem in Gestalt hellenistischer Monarchen begegnen. Die finanziellen Aufwendungen wurden durch laufende Einkünfte gedeckt, sei es durch Steuern oder Sonderabgaben, sei es durch den Verkauf von Rohstoffen wie Silber. Auch Kollekten wurden bei überregionalen Heiligtümern wie Delphi oder Olympia gern eingesetzt. Hellenistische Monarchen konnten als Privatstifter in fremden Städten auftreten und öffentliche Bauvorhaben finanzieren, wie etwa das Beispiel Antiochos IV. belegt, der den Neubau des Olympieion in Athen in Auftrag gab. Die Mittel kamen aus dem Privatvermögen der Stifter. Bauaufträge wurden ausgeschrieben, nachdem eine Volks- oder Ratsversammlung einen entsprechenden Beschluss gefasst hatte. Das je zuständige Gremium wählte unter den eingereichten Entwürfen einen Siegerentwurf aus. Danach trat eine Baukommission als Aufsicht führende Behörde ihre Arbeit an. Aufgaben der Kommission waren Ausschreibung und Auftragsvergabe, Bauaufsicht und Abnahme der Arbeiten sowie Lohnauszahlungen. Die Bauausschreibung enthielt alle Informationen, die es einem Bauunternehmer ermöglichten, ein realistisches Angebot für die Durchführung des Vorhabens vorzulegen. Zuschlag bekam üblicherweise das niedrigste Angebot für die umfassendste Leistung. Bei öffentlichen Bauten wurde das Baumaterial gewöhnlich vom Bauträger gestellt, Ausnahmen waren im Vertrag geregelt. Normalerweise waren Unternehmer nur für spezielle Arbeiten im Gesamtzusammenhang zuständig, da die Betriebsgrößen sehr bescheiden waren. Bezahlt wurde anfangs pro Arbeitskraft und Tag, ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. setzte sich die Bezahlung nach Stück oder Bauabschnitt durch. Die Kosten konnten immens sein. Eine Säule vom Neubau des Artemistempels in Ephesos kostete beispielsweise laut den erhaltenen Abrechnungen 40.000 Drachmen, was einem heutigen Gegenwert von fast 2 Millionen Euro entspricht, wenn der Tageslohn eines Handwerkers dieser Zeit mit 2 Drachmen angesetzt wird. 120 Säulen sah der Bauentwurf vor, was umgerechnet Kosten in Höhe von 360 Millionen Euro allein für den „Säulenwald“ verursachte. Tempel der verschiedenen Säulenordnungen Eines der Kriterien zur Einteilung griechischer Tempel ist die architektonische Säulenordnung, die als Gestaltungsgrundlage eines Tempels diente. Je nach Wahl der Säulenordnung, die selten eine freie war, vielmehr von Tradition und landschaftlicher Gebundenheit bestimmt wurde, waren die Gesetzmäßigkeiten, denen ein Bau zu folgen hatte, ganz verschiedene. Drei große Ordnungssysteme werden hierbei unterschieden, denen die Ansprache der Tempeltypen folgt: Der dorische, der ionische und der korinthische Tempel. Tempel dorischer Ordnung Das Bild griechischer Tempelarchitektur wird vor allem von den zahlreichen, bisweilen sehr gut erhaltenen Tempeln dorischer Ordnung geprägt. Schon früh waren Reisenden die zahlreichen Ruinen Unteritaliens und Siziliens zugänglich, die Tempel in Paestum und Akragas oder Segesta, auch das Hephaisteion in Athen oder der Parthenon beeinflussten Forschung und Auseinandersetzung mit den dorischen Tempeln. Die Anfänge des griechischen Tempelbaues dorischer Ordnung lassen sich bis weit ins 7. Jahrhundert v. Chr. zurückverfolgen. Am Übergang zum Steinbau um 600 v. Chr. steht er weitgehend vollständig entwickelt vor uns, lediglich Details der dorischen Ordnung werden insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen des Tempelbaus weiterentwickelt und verfeinert. Von frühen Formen, die bisweilen noch in apsidialen Rückseiten endeten und Walmdächer trugen, abgesehen, treten recht bald und noch vor 600 v. Chr. die ersten 100 Fuß langen Ringhallentempel auf. Ein Beispiel ist der um 625 v. Chr. errichtete Tempel C in Thermos, ein 100 Fuß langer Hekatompedos, der von einer Ringhalle mit 5 × 15 Säulen umgeben war und dessen Cella eine mittlere Säulenstellung in zwei Schiffe teilte. Bunt bemalte Tontafeln, offensichtlich frühe Metopen, und tönerne Triglyphen belegen, dass das Gebälk schon ganz der dorischen Ordnung verpflichtet war. Alle in der Einflusssphäre von Korinth und Argos errichteten Tempel des späten 7. Jahrhunderts v. Chr. scheinen dorische Peripteroi gewesen zu sein. Die frühesten Steinsäulen besitzen hierbei noch nicht die derbe Gedrungenheit der hoch- und spätarchaischen Bauten, sondern greifen die Schlankheit ihrer hölzernen Vorgänger auf. Bereits um 600 v. Chr. wird das Moment der Allseitigkeit auf den Tempel dorischer Ordnung übertragen, indem der vorgelagerte Pronaos ein Pendant an der Rückseite, den Opisthodom, erhielt. Diese von früher Zeit an vorgegebene Allseitigkeit bleibt dem dorischen Tempel vor allem des griechischen Mutterlandes vorbehalten. Weder der ionische Tempel noch die dorischen Tempel Großgriechenlandes folgten diesem Aspekt. Mit der einsetzenden Monumentalisierung der Steinformen und mit der Verlagerung der hölzernen Dachkonstruktion in den Bereich des Geisons verliert der dorische Tempel seinen Bezug zwischen Naos und Ringhalle. Die im kleiner dimensionierten Bau sich wie selbstverständlich ergebenden Beziehungen zwischen Wand- und Säulenachsen lösen sich und die Stellung des Naos in der Peristase bleibt für gut einhundert Jahre keiner festen Regel unterworfen, beginnt gleichsam zu „schwimmen“. Am Heraion in Olympia ist der Übergang von der Holz- zur Steinbauweise gut zu fassen. Denn die Säulen des ursprünglich ganz aus Holz und Lehm errichteten Baues wurden im Laufe der Zeit durch Steinsäulen ersetzt. Wie in einem Museum für die Geschichte des dorischen Kapitells und der dorischen Säule insgesamt sind hier alle Zeitstufen bis in römische Zeit anzutreffen. Noch Pausanias sah eine der Holzsäulen, die im Opisthodom stand. Am Tempel mit seinen 6 × 16 Säulen und seinem weiterhin hölzernen Gebälk musste bereits der allen dorischen Ringhallentempeln eigentümliche Eckkonflikt ausgeglichen werden. Erreicht wurde es durch eine Verkleinerung der Eckjoche, die sogenannte Eckkontraktion. Überaus fortschrittlich stellt sich der Tempel hinsichtlich der Einbindung des Naos in die Ringhalle dar, der die später kanonische Lösung der Beziehung zwischen äußeren Wandfluchten und zugeordneten Säulenachsen vorwegnimmt. Auch mit seiner Differenzierung zwischen breiteren Jochen der Schmalseiten und schmaleren Jochen der Langseiten ist der Tempel durchaus wegweisend, was gleichermaßen für seine Rhythmisierung der Säulen in der Cella gilt, die mit den Außensäulen korrespondieren. Der älteste komplette Steinbau eines dorischen Tempels wird durch den am Anfang des 6. Jahrhunderts v. Chr. errichteten Artemistempel in Kerkyra, dem heutigen Korfu, repräsentiert. Wuchtig und schwer erhoben sich alle Teile des Tempels, dessen gedrungene Säulen kaum das Fünffache des unteren Säulendurchmessers an Höhe erreichten und der mit seinen nur säulenbreiten Interkolumnien eine dichte Säulenfront bot. Die Einzelformen seiner dorischen Ordnung sind noch weit vom Kanon entfernt, obgleich alle notwendigen Glieder im Aufbau vorhanden sind. Fremd wirkt sein Grundriss, der mit einer Säulenstellung von 8 × 17 Säulen den Bautypus des Pseudodipteros zu vertreten scheint. Unter den Tempeln dorischer Ordnung nimmt das peisitratische Olympieion in Athen eine Sonderstellung ein. Obgleich nie vollendet, versuchte der Architekt an diesem Bau, den ionischen Dipteros zu adaptieren. Säulentrommeln, die im späteren Fundament verbaut wurden, sprechen dafür, im Entwurf einen dorischen Tempel zu erkennen. Dennoch folgt der Grundriss soweit seinen ionischen Vorbildern auf Samos, dass eine derartige Lösung kaum mit einem dorischen Triglyphenfries in Einklang bringbar scheint. Nachdem Hippias 510 v. Chr. aus Athen vertrieben worden war, blieb der Bau sofort liegen: Am Denkmal tyrannischer Selbstdarstellung wollte die Demokratie nicht weiterbauen. Von dieser Ausnahme und Beispielen aus dem experimentierfreudigen Gebiet Großgriechenlands abgesehen, bleibt der klassische dorische Tempel der Peripteros. Ihn zur Vollendung zu bringen, wird mit Nachdruck betrieben. Die klassische Lösung fand der Architekt Libon von Elis schon bald am um 460 v. Chr. errichteten Zeustempel von Olympia. Der Tempel mit seinen 6 × 13 Säulen oder 5 × 12 Jochen ist durch und durch rational gestaltet. Ein Joch ist hierbei 16 Fuß breit, eine Triglyphe + Metope ergaben 8 Fuß, ein Mutulus + Via ergaben 4 Fuß, die Ziegelbreite des marmornen Daches betrug 2 Fuß. Die Formen der Säule sind kräftig, die Schwellung des Schaftes besitzt jedoch nur eine schwach ausgeprägte Entasis, der Echinus der Kapitelle streckt sich in 45 Grad fast steil nach oben. Der gesamte Aufbau ist von einer Kurvatur durchzogen. Die Cella ist exakt 3 × 9 Joche groß und fluchtet mit den Außenwänden in die Achsen der gegenüberliegenden Säulen. 6 × 13 Säulen, das klassische Verhältnis, kehrt an zahlreichen Tempeln wieder. Genauso häufig begegnet es in einer auf die Jochzahlen bezogenen Abwandlung bei Tempeln, die ein Säulenverhältnis von 6:12 und ein Jochverhältnis von 5:11 aufweisen. Am Parthenon ist es gesteigert auf 8 × 17 Säulen, folgt aber dem gleichen Schema. Trotz seiner acht Säulen der Schmalseiten ist der Tempel ein reiner Peripteros, dessen Naosaußenseiten in die Achsen der 2. und 7. Säule fluchten. Gleichwohl heben viele weitere Sonderlösungen den Tempel aus der Masse griechischer Peripteroi heraus. So sind die Anten von Pronaos und Opisthodom zu kurzen Pfeilern verkürzt. Stattdessen weist er prostyle Säulenstellungen innerhalb der Peristasis an Front und Rückseite auf und scheint hierin ionische Lösungen aufzugreifen. Auch die Gestaltung des Naos mit seinem vier Säulen bergenden Westraum fällt auf. Diesen „Parthenon“ genannten Raum besaß bereits der archaische Vorgänger. Im ganzen Entwurf waltet das Verhältnis 4:9. Säulendurchmesser zu Säulenabstand wurden hierdurch festgelegt, das Seitenverhältnis des Stylobats folgt ihm, auch der Naos ohne Anten. Tempelbreite zu Tempelhöhe bis zum horizontalen Geison ist durch das Verhältnis 9:4 festgelegt, und dem folgt ins Quadratverhältnis gesteigert das Verhältnis zwischen Tempellänge zu Tempelhöhe, das 81:16 beträgt. All dies wurde wieder entspannt und gelöst durch die oben erwähnten Verfeinerungen, die den gesamten Bau, von Bauglied zu Bauglied, durch alle Schichten durchziehen. 92 figurengeschmückte Metopen zieren den Triglyphenfries: Kentauromachie, Iliupersis, Amazonomachie und Gigantomachie sind ihre Themen. Den Naos bekrönt ein umgehender ionischer Figurenfries mit der Darstellung der Prozession anlässlich der Panathenäen. Großformatige Figuren schmücken schließlich die Giebelfelder der Schmalseiten. Als klassischer griechischer Tempel schlechthin, so stellt sich der Parthenon für viele bis heute dar. Im 4. Jahrhundert v. Chr. wurden als Reminiszenz an archaische Vorgängerbauten wenige dorische Tempel mit 6 × 15 Säulen oder 6 × 14 Säulen gebaut. Insgesamt folgen die dorischen Tempel der Tendenz, in ihrem Aufbau leichter und lichter zu werden. Die Säulen werden schmaler, die Säulenabstände werden weiter. Es drückt sich hierin eine Angleichung an Proportion und Gewichtung ionischer Tempel aus, die am ionischen Tempel ihre Antwort in einer zunehmenden Schwere der Bauglieder erhält. Unter dem Gesichtspunkt dieser gegenseitigen Beeinflussung verwundert es nicht, dass am Zeustempel in Nemea im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts v. Chr. die Front durch eine zwei Joche tiefe Vorhalle betont wird, der Opisthodom hingegen unterdrückt wurde. Frontbetonung aber ist ein Wesenszug ionischer Tempel. Die zunehmende Reduktion der Säulenanzahl an der Langseite, die am ionischen Tempel zu beobachten ist, findet ihr Pendant im dorischen Tempelbau. An einem kleinen Tempel in Kournò ist die Peristase auf 6 × 7 Säulen reduziert, der Stylobat umfasst nur knapp 8 × 10 Meter, und die Eckstützen waren zu den „Schmalseiten“ hin als Pfeilerhalbsäulen gebildet. Die Ringhalle dorischer Großbauten ist hier nurmehr Zitat, die Funktion als Baldachin für den Kultbildbau, für den Statuenschrein offensichtlich. An all dem nimmt die Entwicklung in Sizilien und Unteritalien kaum teil. Nicht nur, dass der Tempelbau sich im Großen und Ganzen auf das 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. beschränkt. Im verbleibenden Zeitraum entwickelten die Griechen in Großgriechenland überwiegend ausgefallene Lösungen, die in den Mutterstädten der Kolonien kaum denkbar gewesen wären. Tempel mit ungerader Säulenanzahl an der Front etwa lassen sich gleich an zwei Beispielen nachweisen. Beide Tempel hatten neun Frontsäulen. Die gegenüber dem Mutterland fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten bildeten die Grundlagen für manche Abweichung. So erlaubten die in den Kolonien entwickelten konstruktiven Neuerungen im Gebälkbau, bisher nie dagewesene Räume zu überspannen, was in direkter Folge zu tiefen Ringhallen und weitläufigen Bauten des Naos führte. Häufig sind die Peristasen zwei Joche tief, so dass sie als Pseudodipteroi angesprochen werden müssen. Der Opisthodom spielt nur eine untergeordnet Rolle, obwohl er, wie am Poseidontempel in Paestum, durchaus vertreten war. Viel häufiger besaßen die Tempel hingegen einen separaten Raum am hinteren Ende der Cella, der allgemein nicht betreten werden durfte, das Adyton. Das Adyton konnte dabei durchaus als freistehender Bau innerhalb der Cella angelegt gewesen sein. Wenn möglich, wurde auf Säulenstellungen in der Cella verzichtet, wodurch freie Dachkonstruktionen nötig wurden, die bis zu 13 Meter überspannten. Größter derartiger Bau war das in vielem absolut „ungriechische“ Olympieion in Akragas, ein mit Halbsäulen und figürlichen Stützfiguren, Telamone, ausgestatteter und teils mit Wänden und Scherwänden geschlossener „Pseudo“-Peripteros von 8 × 17 Säulen. Mit Außenmaßen von 56 × 113 Meter war der Bau der größte jemals fertiggestellte dorische Tempel überhaupt. Waren die Architekten der Kolonien im Grundsätzlichen schon so unabhängig und experimentierfreudig, so waren sie es erst recht im Detail. Die Unterseiten dorischer Geisa konnten mit Kassetten statt der üblichen Mutulus-Platten verziert sein. War die Betonung der Hauptseite – oft durch Rampen und Treppenanlagen mit bis zu acht Stufen sowie mit bis zu dreieinhalb Jochen tiefen Vorhallen – klares Entwurfsprinzip der Tempel, so wurde dies durch eine Erweiterung der Säulenabstände an den Langseiten wieder aufgehoben, wie etwa am Heratempel I von Paestum. Der dorische Eckkonflikt konnte allein in den Kolonien ganz ignoriert werden; wenn unteritalische Architekten ihn lösten, wurde auf zahlreiche verschiedene Lösungen zurückgegriffen: Verbreiterung der Eckmetopen oder der Ecktriglyphen, Veränderungen an Säulenabstand und Metopen. Teils kamen an Front- und Langseiten unterschiedliche Lösungen gleichzeitig zum Einsatz. Tempel ionischer Ordnung Für die Frühzeit ionischer Tempel vor dem 6. Jahrhundert v. Chr. kann höchstens von ionischen Tempeln im Sinne des ionischen Siedlungsgebietes gesprochen werden. Bauteile, die der ionischen Ordnung zuzusprechen wären, fehlen. Dennoch lässt sich bereits bei den frühen Tempeln das rationale System erkennen, das in der Folge die ionischen Tempel durchdringt. So sind ab der Frühzeit Cellawände und korrespondierende Säulen axial aufeinander bezogen, während bei dorischen Tempeln die Cellaaußenwände mit den Säulenachsen fluchten. Auch kommen die frühen Tempel wie ihre archaischen Nachfolger ohne Allseitigkeit der Gestaltung aus, der Opisthodom fehlt regelmäßig und erst im 4. Jahrhundert v. Chr. wird der Peripteros vollständig „ionisiert“. Demgegenüber zeichnen sich frühe ionische Tempel durch eine Betonung der Front mittels doppelter Säulenstellungen aus. Die überlangen Peristasen werden zum bestimmenden Element. Zugleich lebt der ionische Tempel von der Vorliebe für bewegte und reich dekorierte Oberflächen, von Schattenspielen, die allenthalben eingesetzt werden. Sobald die ionische Ordnung im Tempelbau greifbar wird, wird sie zugleich ins Monumentale gesteigert. Der um 560 v. Chr. errichtete Rhoikostempel im Heraion von Samos erreichte als Dipteros bereits Grundmaße von 52 × 105 Meter. Ein doppelter Säulenkranz von 8 × 21 Säulen umgab den Naos, an der Rückseite waren gar zehn Säulen untergebracht. Die Front hingegen wies unterschiedliche Jochweiten auf, wobei das Mitteljoch besonders weit geöffnet war. Die Säulen erreichten bei gleichem Durchmesser das Dreifache an Höhe ihrer dorischen Pendants. 40 Kanneluren bereicherten das filigrane Oberflächenspiel der Säulenschäfte. Die samischen Basen waren mit Abfolgen horizontaler Kanneluren verziert, erreichten bei dieser Verspieltheit dennoch ein Gewicht von 1500 Kilogramm. Die Kapitelle dieses Baues waren wahrscheinlich wie das Gebälk noch ganz aus Holz gearbeitet. Erst am späteren Neubau des Polykrates haben sich ionische Volutenkapitelle der äußeren Ringhalle erhalten. Die Säulen der inneren Peristasis trugen hingegen sogenannte Blattkranzkapitelle und verzichteten auf Voluten. Auf den Kykladen begegnen uns ganz aus Marmor errichtete Tempel, zugehörige ionische Volutenkapitelle wurden jedoch nicht gefunden. Ihr marmornes Gebälk gehört der ionischen Ordnung an. Mit dem um 550 v. Chr. begonnen älteren Artemision von Ephesos werden die Hinterlassenschaften zahlreicher. Der als Dipteros konzipierte Bau, für den mit Theodoros von Samos einer der Architekten des samischen Heraion engagiert werden konnte, übertrifft mit seinem 55 × 115 Meter großen Unterbau alle Vorbilder. Seine Cella war als offener Innenhof, als sogenannter Sekos, ausgeführt, der Bau selbst war ganz aus Marmor errichtet. Der Tempel galt als eines der sieben Weltwunder der Antike, was bei dem betriebenen Aufwand gerechtfertigt erscheinen mag. Die Säulen erhoben sich auf ephesischen Basen, 36 Säulen waren an ihrem unteren Ende mit mannshohen Figurenfriesen geschmückt, den sogenannten columnae caelatae. Die Säulen hatten zwischen 40 und 48 Kanneluren, die abwechselnd breit und schmal geschnitten sein konnten. Mit den hier nachgewiesenen ersten Marmorarchitraven der griechischen Baukunst wurden sogleich die größten je überwundenen Spannweiten in Stein überbrückt. Der mittlere 8,74 Meter lange Architravblock musste hierfür mit seinen 24 Tonnen Gewicht auf über 20 Meter Höhe mittels Flaschenzügen gehoben werden. Der Bau wies wie seine Vorbilder immer noch eine Differenzierung der Frontjoche auf und erhöhte dafür die Anzahl der rückseitigen Säulen auf neun. Kroisos war antiken Quellen nach einer der Stifter des Tempels und tatsächlich fand sich an einer der von ihm gestifteten Säulen eine Stifterinschrift, die seinen Namen erwähnt. Der Tempel wurde im Jahr 356 v. Chr. von Herostratos in Brand gesteckt, aber umgehend wieder aufgebaut. Für den Neubau wurde erstmals eine mächtige Krepis mit mindestens zehn Stufen ausgeführt, während die älteren ionischen Tempel im Allgemeinen ohne besonderen Unterbau auskamen. Als Gegengewicht zu dem betonten Sockel hatte das höher proportionierte Gebälk den aufstrebenden schlanken Säulen ein optisches Gewicht entgegenzusetzen, es stellte eine echte Last dar. Auch der um 540 v. Chr. begonnene Bau des Apollontempels von Didyma bei Milet war ein Dipteros mit offenem Innenhof. Dessen Wände wurden durch kräftige Pilaster gegliedert, die in rhythmischem Bezug zur Stellung der Ringhallensäulen standen. Die Säulen waren wie am Artemision von Ephesos als columnae caelatae mit figürlichem Schmuck gebildet und besaßen 36 Kanneluren. Um 500 v. Chr. wurde der Bau eingestellt und erst nach 331 v. Chr. als Neubau wieder aufgenommen, schließlich im 2. Jahrhundert n. Chr. vollendet. Die ungeheuren Baukosten mögen als eine der Gründe für die lange Bauzeit erklären. An dem Bau wurde zum ersten Mal das attische Einheitsjoch im ionischen Tempelbau angewandt, eine Differenzierung der Frontjochweiten fand also nicht mehr statt. Peripteroi ionischer Ordnung waren meist etwas kleiner dimensioniert und gedrungener in ihrem Säulenverhältnis als die Ringhallentempel dorischer Ordnung. Mit dem Tempel der Athena Polias in Priene ist der schon in der Antike als klassisch ionischer Tempel schlechthin geltende Bau des Pytheos erhalten. Es handelt sich um den ersten monumentalen Peripteros Ioniens, der zwischen 350 und 330 v. Chr. errichtet wurde. Seinem Entwurf liegt ein Raster von 6 × 6 Fuß zugrunde, wobei eine Säulenplinthe genau ein solches Feld einnahm. Der Peripteros besaß 6 × 11 Säulen, hatte also ein Verhältnis der Joche zueinander von 5:10 oder 1:2. Wände und Säulenstellungen waren ionischer Gepflogenheit folgend axial aufeinander bezogen. Die Peristasis war an allen Seiten gleich tief gestaltet, eine Betonung der Front entfiel und an der Rückseite der Cella wurde erstmals ein Opisthodom integriert. Die sich hier zeigende rational-mathematische Durchdringung der Konzeption entspricht ganz der naturphilosophisch geprägten ionischen Gedankenwelt. Bau und Wirken des Pytheos war ein großes Nachleben beschieden. In Hermogenes, der vermutlich selbst aus Priene stammte, erwuchs Pytheos ein würdiger Nachfolger, der um 200 v. Chr. den Tempelbau ionischer Ordnung auf einen letzten Höhepunkt brachte. Hermogenes errichtete als federführender Architekt unter anderem mit dem Artemision in Magnesia am Mäander einen der ersten Pseudodipteroi. Die am Pseudodipteros weggelassene innere Säulenstellung bei gleichzeitig zwei Joch tiefen Hallen führten zu einem ungeheuer erweiterten Umgang, dem Pteron, der einen Vergleich mit der gleichzeitigen Hallenarchitektur nicht zu scheuen brauchte. Das Raster des Baus in Magnesia folgte einem Quadrat von 12 × 12 Fuß. Die Ringhalle hatte einen Kranz von 8 × 15 Säulen, also 7 × 14 Jochen, was einem Verhältnis von 1:2 entspricht. Der Naos bestand dabei aus einem 4 Joche tiefen Pronaos, einer 4 Joche tiefen Cella und einem 2 Joche umfassenden Opisthodom. Über dem Architrav der Ringhalle folgte ein figürlicher Fries, der auf 137 Metern eine Amazonomachie darstellte. Darüber lagen der Zahnschnitt, das ionische Geison und die Sima genannte Traufleiste. Obgleich ebenfalls ionisches Siedlungsgebiet, führte die ionische Ordnung im Tempelbau Athens oder Attikas nur ein Schattendasein. Erwähnt sei der kleine, um 420 v. Chr. fertiggestellte amphiprostyle Tempel der Nike Apteros auf der Akropolis, der ionische Säulen auf plinthenlosen attischen Basen, Drei-Faszien-Architrav und figürlichen Fries kombiniert, auf den kleinasiatischen Zahnschnitt hingegen verzichtet. Ost- und Nordhalle des 406 v. Chr. vollendeten Erechtheions auf der Akropolis folgten ebenfalls dieser Abfolge der Bauglieder. Als Neuerung wurde an einem ionischen Tempel in Epidauros der Typus des Pseudoperipteros eingeführt. Der kleine ionische Prostylos besaß Halbsäulen an Langseiten und Rückseite, die Peristasis wurde zum Fassadenzitat reduziert. In Großgriechenland ist der ionische Tempel kaum zu greifen. Als Ausnahme ist er mit dem frühklassischen Tempel D, einem Peripteros von 8 × 20 Säulen, in Metapont nachweisbar. Sein Architekt kombinierte kleinasiatischen Zahnschnitt mit attischem Fries und belegt, dass die fernen Kolonien durchaus an der Entwicklung des Mutterlandes teilnehmen konnten. Tempel korinthischer Ordnung Als jüngste der drei klassischen griechischen Bauordnungen gelangte die korinthische Ordnung erst spät in den Außenbau griechischer Tempel. Nachdem die korinthische Ordnung etwa am Mausoleum von Belevi ihre Tauglichkeit für die monumentale Außenordnung bewiesen hat, mehren sich ab der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v. Chr. die Hinweise auf korinthische Tempel. Mit dem zwischen 175 und 164 v. Chr. konzipierten und begonnenen hellenistischen Olympieion in Athen tritt der korinthische Tempel erstmals gut datiert und erhalten in Erscheinung. Der mächtige Dipteros mit seinem 110 × 44 Meter großen Unterbau und seinen 8 × 20 Säulen ist einer der größten korinthischen Tempel überhaupt. Gestiftet von Antiochos IV. Epiphanes verbindet er alle Merkmale der kleinasiatisch-ionischen Ordnung mit dem korinthischen Säulenkapitell. In Athen bleibt der Bau hinsichtlich seiner Ordnung, der kleinasiatischen Bauformen und als Dipteros ein Außenseiter. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurde in Olba-Diokaisareia im Rauhen Kilikien ein 6 × 12 Säulen umfassender korinthischer Peripteros errichtet. Die meist noch aufrechten Säulen stehen auf attischen Basen ohne Plinthen, was für die Zeitstellung außergewöhnlich ist. Die 24 Kanneluren der Säulen sind in ihrem unteren Drittel nur facettiert. Die zugehörigen korinthischen Kapitelle sind aus je drei Werkstücken gearbeitet, ebenfalls eine Sonderform. Das Gebälk dieses Tempels war vermutlich dorischer Ordnung, zumindest legen das Mutulusplatten nahe, die in der Ruine verstreut sind. All diese Sonderformen lassen eine alexandrinische Stiftung und Bauhütte möglich erscheinen, da Alexandria sowohl die größte Vorliebe für die Verbindung korinthischer Kapitelle mit dorischem Gebälk hatte, als auch am konsequentesten auf die Plinthe unter attischen Basen verzichtete. Eine weitere Grundrisslösung bietet der Tempel der Hekate in Lagina, ein kleiner Pseudodipteros von 8 × 11 Säulen. Dessen Bauglieder folgen wieder ganz dem kleinasiatisch-ionischen Formkanon. Als Besonderheit hat er jedoch einen reichen figürlichen Fries aufzuweisen, der diesen kleinen um 100 v. Chr. errichteten Bau zu einem Kleinod erhebt. Die wenigen griechischen Tempel korinthischer Ordnung, die fast stets eine Einzellösung hinsichtlich ihrer Bauformen oder ihrer Grundrisse bieten, sind zunächst fast immer als Ausdruck königlichen Stiftungswesens zu deuten. Mittels der korinthischen Ordnung konnte der materielle und technische Aufwand, der für ein Gebäude betrieben wurde, erheblich gesteigert werden, was der Selbstdarstellung der Auftraggeber entgegenkam. Mit dem Niedergang der hellenistischen Monarchien, mit dem Aufstreben Roms und romfreundlicher Kräfte treten zunehmend merkantile Eliten und Heiligtumsverwaltungen als Bauherren auf. Durch den Bau korinthischer Tempel konnten Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit demonstriert werden. Als Element der römischen Reichsarchitektur fand der korinthische Tempel schließlich im ganzen römisch-hellenistischen Kulturraum, vor allem in Kleinasien, bis in die späte Kaiserzeit hinein eine weite Verbreitung. Literatur Alessandro Pierattini: The origins of Greek temple architecture. Cambridge University Press, Cambridge, New York 2022. Dieter Mertens: Städte und Bauten der Westgriechen. Von der Kolonisationszeit bis zur Krise um 400 vor Christus. Hirmer, München 2006, ISBN 3-7774-2755-1. Gottfried Gruben: Griechische Tempel und Heiligtümer. 5. Auflage. Hirmer, München 2001, ISBN 3-7774-8460-1. Manfred Bietak (Hrsg.): Archaische Griechische Tempel und Altägypten (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, Denkschriften der Gesamtakademie. Band 21: Untersuchungen der Zweigstelle Kairo des Österreichischen Archäologischen Institutes. Band 18). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2001, ISBN 3-7001-2937-8. Ralf Schenk: Der korinthische Tempel bis zum Ende des Prinzipats des Augustus (= Internationale Archäologie. Band 45). Leidorf, Espelkamp 1997, ISBN 978-3-89646-317-3. Dieter Mertens: Der alte Heratempel in Paestum und die archaische Baukunst in Unteritalien. Philipp von Zabern, Mainz 1993, ISBN 3-8053-1331-4. Wolfgang Müller-Wiener: Griechisches Bauwesen in der Antike. C. H. Beck, München 1988, ISBN 3-406-32993-4. Heiner Knell: Architektur der Griechen: Grundzüge. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1988, ISBN 3-534-80028-1. Hans Lauter: Die Architektur des Hellenismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1986, ISBN 3-534-09401-8. Werner Fuchs: Die Skulptur der Griechen. 3. Auflage. Hirmer, München 1983, ISBN 3-7774-3460-4. Weblinks Anmerkungen Bauform (Tempel)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Franz%C3%B6sische%20Fu%C3%9Fballnationalmannschaft
Französische Fußballnationalmannschaft
Die französische Fußballnationalmannschaft der Männer () häufig auch Les Bleus (nach den traditionell blauen Trikots) oder in deutschsprachigen Medien Équipe Tricolore (nach der Flagge Frankreichs) genannt, ist eine der erfolgreichsten Nationalmannschaften im Fußball. Aufgrund ihrer personellen Zusammensetzung entwickelte sich ab 1998 zudem in wortspielerischer Anlehnung an die Farben der Landesflagge (bleu-blanc-rouge) der Neologismus „black-blanc-beur“ („Schwarze, Weiße, Maghrebiner“). Frankreich gewann bisher zwei Weltmeisterschaften (1998, 2018) und zwei Europameistertitel (1984, 2000) sowie zweimal den Konföderationen-Pokal (2001, 2003). 2021 kam der Titel in der UEFA Nations League hinzu. Die Nationalmannschaft ist neben der brasilianischen Seleção die einzige, die für alle bisherigen Weltmeisterschaften eine Meldung abgegeben hat. Allerdings scheiterten die Bleus im Unterschied zu Brasilien bereits mehrmals in den WM-Qualifikationsturnieren oder verzichteten auf die Endrundenteilnahme (so 1950). Frankreich richtete auch selbst früh Endrunden von Kontinentalturnieren aus, nämlich 1938 die dritte Welt- und 1960 die erste Europameisterschaft. Ihre offizielle Länderspielgeschichte beginnt im Jahr 1904; allerdings gab es bereits seit der Jahrhundertwende Länderspiele, die von der Union des sociétés françaises de sports athlétiques (USFSA), dem bis zum Ersten Weltkrieg mitgliederstärksten nationalen Fußballverband, organisiert wurden. Die USFSA vertrat das Land bis 1908 im von ihr mitbegründeten Weltverband FIFA; ab 1909 ersetzte sie darin der Dachverband der konkurrierenden Verbände, der Comité Français Interfédéral. Mit der Vereinigung aller französischen Fußballorganisationen im Jahr 1919 übernahm die Fédération Française de Football (FFF, bis gegen 1940 offiziell Fédération Française de Football Association bzw. FFFA) dessen Rolle. Die FFF zählt derzeit 890 offizielle A-Länderspiele gegen 89 Gegner aus sämtlichen Kontinentalverbänden der FIFA; nach anderen Zählungen weicht die tatsächliche Zahl davon aber ab, weil zu unterschiedlichen Zeiten auch einzelne „Trainingsbegegnungen“, Partien gegen Mannschaften aus Frankreichs ehemaligen Kolonien, Kontinentalauswahlen und sogar Vereinsteams als offiziell gewertet wurden. Mit Abstand häufigster Gegner ist Belgien, gefolgt von England, der Schweiz, Italien und Spanien. Ihre Heimspiele tragen die Franzosen in aller Regel in einem der großen Stadien der Metropolregion Paris aus; seit 1998 ist das Stade de France in Saint-Denis das „Nationalstadion“ (siehe unten). Seit Juli 2012 trainiert Didier Deschamps die Nationalelf. Neben der A-Nationalmannschaft existiert noch eine B-Elf, in Frankreich seit den 1980er Jahren als Équipe A’ bezeichnet. Diese soll der Heranführung von Spielern an den Kreis der jeweiligen „ersten Wahl“ dienen und bestreitet ihre Begegnungen meist einen Tag vor einem A-Länderspiel; allerdings ist sie in den vergangenen Jahren nur noch sehr sporadisch zusammengestellt worden. Zwischen 1922 und 1968 hingegen hatte sie regelmäßig internationale Spiele ausgetragen. Geschichte Vorläufer und Anfangsjahre bis 1919 Bereits 1893 trug eine Pariser Auswahlmannschaft ein internationales Spiel gegen das Londoner Amateur-Vereinsteam Marylebone F.C. aus; die Pariser Elf setzte sich hauptsächlich aus dort lebenden Engländern zusammen, die bei Vereinen wie White Rovers und Standard AC spielten, aber auch Franzosen vom Club Français, und unterlag mit 0:3. Zwischen 1900 und 1904 bestritten Mannschaften der USFSA fünf Begegnungen gegen Auswahlteams aus Belgien und England, zwei davon anlässlich des Fußball-Demonstrationswettbewerbs bei der Sommerolympiade 1900 am Rande der Weltausstellung in Paris; dabei vertrat der Club Français die französischen Farben. Auch gegen eine Auswahl aus Deutschland – die Partien zählen zu den sogenannten deutschen Ur-Länderspielen – spielte ein Vereinsteam (die White Rovers) im Dezember 1898 und unterlag mit 0:7; einer Pariser Stadtauswahl gelang am Tag darauf ein 1:2. Als offizielle Länderspiele zählen diese Begegnungen allerdings nicht. Als solche werden – auch wenn sie noch unter der Regie der Vorgänger der heutigen FFF stattfanden – heutzutage erst die Partien bezeichnet, die seit Gründung der FIFA ausgetragen wurden. Das allererste dieser offiziellen internationalen Matches fand am 1. Mai 1904 vor 1500 Zuschauern im Brüsseler Vivier d’Oie gegen Belgien statt und endete mit einem 3:3. Das erste Heimspiel der Auswahl war ihr zweites Länderspiel am 12. Februar 1905: 500 Zuschauer im Parc des Princes sahen einen 1:0-Sieg der Gastgeber über die Schweiz. Blaue Trikots – wenn auch zunächst noch mit weißen Längsstreifen – trugen die Nationalspieler erstmals bei der Begegnung gegen England am 23. März 1908 in London, dem achten offiziellen Länderspiel, und diese Farbe blieb trotz einer empfindlichen 0:12-Niederlage bis in die Gegenwart das Markenzeichen der Bleus. Seit 1910 zierte zusätzlich der gallische Hahn (coq gaulois) ihren Dress. Das Länderspiel im Januar 1914 gegen Belgien in Lille war das erste Heimspiel, das nicht im Großraum Paris ausgetragen wurde. Die Leistungen der französischen Elf litten in dieser Frühzeit darunter, dass die Auswahl der Nationalspieler mehreren sachfremden Erwägungen unterlag: dazu gehörte der Verbandsproporz, nach dem jedem Mitgliedsverband im Comité Français Interfédéral eine festgelegte Anzahl an Spielern zuerkannt wurde. Und davon waren bis 1913 die Aktiven aus Vereinen des mitgliederstärksten Verbands, der USFSA, ausgeschlossen, der sich erst dann dem CFI anschloss und anfangs nur einen einzigen Platz im Team zugeteilt bekam. Außerdem waren die meisten Spieler reine Amateure, die sich nicht immer längere Abwesenheiten von ihrem Arbeitsplatz leisten konnten. Schließlich existierte beim Comité eine gewisse Geringschätzung von Spielern, die nicht aus Paris stammten, obwohl „Provinzclubs“ aus Nordfrankreich, der Normandie und von der Mittelmeerküste etliche der erfolgreichsten Vereinsmannschaften der Vorkriegszeit stellten. Mannschaft und Verbandsfunktionäre trafen sich in aller Regel an einem Pariser Bahnhof, um zum Spielort zu reisen, oft erst am Morgen der Begegnung; Trainingslager gab es so wenig wie einen festen Trainer. Aus all diesen Gründen gab es kaum einmal zwei Spiele, in denen dieselben elf Fußballer aufgeboten wurden, so dass auch kein eingespieltes Team zusammenkommen konnte; Jean Rigal war 1911 der erste Franzose, der es auf zehn Einsätze brachte. Zu den häufiger eingesetzten damaligen „Größen“ im blauen Dress zählen auch Pierre Allemane, Gaston Barreau, Fernand Canelle, Jean-Baptiste Ducret, Lucien Gamblin, Gabriel Hanot, Eugène Maës, Louis Mesnier sowie Torhüter Pierre Chayriguès. Zwischen Mai 1914 und März 1919 trug Frankreich kein einziges Länderspiel aus; allerdings fanden während und unmittelbar nach dem Krieg zahlreiche Partien zwischen französischen, britischen und belgischen Militärmannschaften statt. Insgesamt gab es bis zur Gründung der FFF 37 offizielle Länderspiele, von denen Frankreich bei einem Gesamt-Torverhältnis von 61:165 elf gewann, fünfmal remisierte und 21 Niederlagen kassierte. Außer gegen Belgien (12) und die Schweiz (6) trat die Équipe tricolore gegen England (6, stets eine Amateurauswahl), Italien (5), Luxemburg (3), Dänemark, Ungarn (je 2) und die Niederlande (1) an. Gegen die Dänen (0:9 und 1:17 bei der Olympiade 1908) und insbesondere gegen England (0:15, 0:12, 0:11 und 1:10 zwischen 1906 und 1910 – angesichts dieser Ergebnisse wurden das 0:3 von 1911 und das 1:4 von 1913 schon als Erfolge gewertet) hagelte es besonders deftige Niederlagen; Dänemark wurde gar als „französischer Nachtmahr“ (cauchemar) bezeichnet. Der höchste Sieg war ein 8:0 über Luxemburg (1913); als wichtigster Erfolg dieser Phase gilt allerdings das 4:3, mit dem sich die Franzosen 1912 in Turin gegen Italien durchsetzen konnten. Zwischen den Weltkriegen Die Fédération Française de Football Association führte noch im Jahr ihrer Gründung erstmals feste Strukturen für die Nationalmannschaft und die Spielerauswahl ein (siehe unten). Für nahezu vier Jahrzehnte bestimmte insbesondere Ex-Nationalspieler Gaston Barreau als sélectionneur, wer den blauen Dress tragen durfte. Erstmals 1930 – aber auch ab dann nur bei Weltmeisterschaftsendrunden – berief der Verband zusätzlich einen Trainer, 1934 mit Sid Kimpton sogar ausnahmsweise einen Engländer. Wie in etlichen anderen mitteleuropäischen Ländern nahm das Interesse am Fußball in Frankreich nach dem Weltkrieg stark zu. Verantwortlich für diese Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis bis tief in die Arbeiterschaft hinein war die wichtige Rolle, die die Ausübung dieses Sports zwischen den Schützengräben – häufig zusammen mit britischen Soldaten – gespielt hatte, aber auch die sich langsam verbessernden Arbeitsbedingungen insbesondere in der Industrie. Auch wenn das erste Länderspiel dieses Zeitabschnittes in Italien mit 4:9 verloren ging und die Halbfinal-Niederlage gegen die Tschechoslowakei im olympischen Turnier 1920 außerhalb der Fachpresse lediglich Kurzmeldungen zur Folge hatte, wohnten schon ein Jahr darauf 30.000 zahlende Zuschauer im Stade Pershing einem frühen ersten Triumph der Bleus bei und feierten exakt an Napoléons einhundertstem Todestag den 2:1-Sieg gegen den „Lehrmeister England“, der allerdings wie üblich nur seine Amateurnationalelf auf den Kontinent geschickt hatte. 1923 sandte der englische Verband daraufhin erstmals seine Profi-Auswahl nach Paris, was beim Gastgeber als „Zeichen des wachsenden Respekts“ verstanden wurde; die Begegnung endete standesgemäß mit einer französischen 1:4-Niederlage. Mit René Petit von Stade Bordeaux UC kam 1920 erstmals ein Spieler zum Einsatz, der nicht aus einer der frühen Fußball-Hochburgen stammte. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden in zunehmendem Maße Spieler berücksichtigt, die in Frankreichs nordafrikanischen Besitzungen aufgewachsen waren, so beispielsweise Alexandre Villaplane, Joseph Alcazar oder Mario Zatelli. Als erster dunkelhäutiger Fußballer kam Raoul Diagne 1931 für Frankreich zu internationalen Ehren; ihm folgten 1937 Abdelkader Ben Bouali und 1938 mit Larbi Ben Barek eine „schwarze Perle“ (perle noire), die mit José Leandro Andrade aus Uruguay und dem Brasilianer Leônidas da Silva auf eine Stufe gestellt wurde. In der zweiten Hälfte der 1930er nahm zudem die Zahl eingebürgerter bzw. naturalisierter Nationalspieler zu – alleine bis 1939 insgesamt 21. Dabei handelte es sich vor allem um Österreicher und Ungarn wie „Gusti“ Jordan, Rudi Hiden und Edmund Weiskopf, aber auch andere Zentraleuropäer und Südamerikaner, bspw. Héctor Cazenave, sowie vor dem Bürgerkrieg geflohene Spanier. Spätestens seit dieser Zeit „spiegelte die Nationalelf die Geschichte der französischen Immigration wider“. Auch die Auswahl von Gegnern erweiterte sich: bis Mitte der 1920er Jahre kamen mit Spanien, Irland, Norwegen und Lettland Spielpartner aus allen Himmelsrichtungen des Kontinents dazu, zudem mit Österreich die wohl stärkste europäische sowie mit Uruguay anlässlich des olympischen Fußballturniers 1924 auch die erste außereuropäische Mannschaft. 1928 vertrat zum letzten Mal die A-Nationalmannschaft Frankreich bei Olympischen Sommerspielen; aufgrund der Einführung des Professionalismus (1932) wurde sie danach durch die Amateurnationalmannschaft ersetzt. 1930 nahm Frankreich als einer von nur vier europäischen Teilnehmern die lange und teure Schiffsreise nach Südamerika auf sich, um bei der ersten Fußball-Weltmeisterschaft dabei zu sein; nach den Endrundenbegegnungen gegen Mexiko, Argentinien und Chile fuhren die französischen Spieler von Montevideo noch nach Rio de Janeiro weiter, um sich mit Brasilien zu messen, für die Arthur Friedenreich den 3:2-Endstand erzielte, während der erste Fußballer, der ein WM-Tor erzielt hatte, Lucien Laurent vom CA Paris, diesmal leer ausging. Dagegen sollte es aufgrund der trotz mancher politischen Annäherung weiterhin schwierigen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern („Erbfeindschaft“) noch bis 1931 dauern, ehe es zum ersten freundschaftlichen Kräftemessen der Bleus mit der deutschen Nationalelf kam. Dieses bereits 103. offizielle Länderspiel der Franzosen, das durch ein Eigentor von Reinhold Münzenberg zugunsten des Gastgebers entschieden wurde, sahen gut 40.000 Zuschauer im Stade Olympique Yves-du-Manoir von Colombes. Bis 1937 folgten drei weitere Begegnungen, davon zwei in Deutschland. 1938 organisierte Frankreich die 3. WM-Endrunde, bei der die Nationalmannschaft allerdings schon im Viertelfinale gegen Italien die Segel streichen musste. Ab September 1939 legten der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, der deutsche Einmarsch in Frankreich (Mai/Juni 1940) und die anschließende Besetzung nebst einer Zweiteilung des Landes auch den internationalen Sportbetrieb lahm: zwischen Januar 1940 und Dezember 1944 trug die Équipe Tricolore lediglich zwei Länderspiele gegen Teams aus neutralen Staaten aus (im März 1942 gegen die Schweiz und Spanien). Insgesamt entwickelte sich unter der Ägide der FFFA von 1920 bis 1942 die sportliche Gesamtbilanz nur unwesentlich besser als in den Anfangsjahren: bei 122 Länderspielen standen 38 Siegen zwölf Remis und 72 Niederlagen gegenüber, wobei von den 1920er (14/4/36) zu den 1930er und frühen 1940er Jahren (24/8/36) eine leicht ansteigende Tendenz zu erkennen ist. Es gab auch nur noch eine zweistellige Niederlage, nämlich 1927 mit 1:13 gegen Ungarn; zum absoluten „Angstgegner“ dieses zeitlichen Abschnitts entwickelten sich aber die Tschechoslowaken, gegen die erstmals bei der Olympiade 1920 und dann zwischen 1928 und 1936 in insgesamt sieben Begegnungen – davon fünf vor heimischem Publikum – bei einem Torverhältnis von 5:20 sieben Mal verloren wurde. Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur „Goldenen Generation“ der 1950er Jahre An Weihnachten 1944, kurz nach der Befreiung der Hauptstadt, wurde der internationale Spielbetrieb gegen Belgien wieder aufgenommen; es folgte, ebenfalls noch vor Kriegsende, ein Auswärtsmatch in der Schweiz. Ab der Saison 1950/51 erhielt die Nationalelf einen festen Trainer, auch wenn der weiterhin hauptamtlich bei einem Profiverein angestellt war und das letzte Wort bezüglich der Mannschaftsaufstellung im Zweifelsfall bei Sélectionneur Barreau bzw. dessen Nachfolger Paul Nicolas lag. Insbesondere gegen die vor dem Krieg nahezu übermächtigen Engländer und Tschechoslowaken erwiesen sich die Bleus in dieser Phase als gleichwertig. Gegen die Briten gelangen in Folge zwei Heimsiege (1946 und 1955) sowie zwei Unentschieden sogar im „Mutterland des Fußballs“ (1945 und 1951, jeweils 2:2), und auch die Mannschaft aus der ČSR hatte ihren Schrecken verloren: Von 1946 bis 1949 gewannen die Franzosen alle drei Partien, ehe der Gegner bei der EM-Endrunde 1960 den Spieß wieder umdrehen konnte. Zu den hervorstechendsten Spielern der ersten Nachkriegsjahre gehörten vor allem solche, die auch schon bis 1939 von sich reden gemacht hatten, etwa Julien Darui, Alfred Aston, Larbi Ben Barek, Oscar Heisserer, Jules Bigot, aber auch jüngere wie Jean Baratte, Ernest Vaast, Émile Bongiorni oder René Bihel. Darunter waren in zunehmendem Maße auch Söhne oder Enkel von in die Bergbaugebiete Nordfrankreichs und Lothringens eingewanderten Polen und Italienern. Für diejenigen Nationalspieler, die bei einem ausländischen Verein anheuerten – seinerzeit noch eine sehr überschaubare Zahl: Ben Barek, Bongiorni, Marcel Domingo, Louis Hon, Antoine Bonifaci und, erst ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, Raymond Kopaszewski („Kopa“) und Maryan Wisnieski –, war mit diesem Schritt ein Ende oder wenigstens eine Unterbrechung ihrer Nationalmannschaftskarriere verbunden; darin unterschied sich die FFF nicht von anderen westeuropäischen Verbänden. Umgekehrt sahen sich die Bleus 1952 bei einem Länderspiel in Dublin dem in der irischen Presse erhobenen Vorwurf ausgesetzt, dies sei gar keine französische Mannschaft, sondern „mit all ihren Italienern, Ungarn und Polen eine ‚Fremdenlegion‘“. Gegen die Nationalelf der UdSSR bestritt Frankreich in dieser Zeit des Kalten Krieges 1955 (2:2 in Moskau) und 1956 (2:1-Heimsieg) erste Freundschaftsspiele. Länderspiele zwischen Franzosen und (West-)Deutschen waren ab 1952 wieder zustande gekommen, und auch gegen den Weltmeister von 1954 bewährte sich das französische Team: 1952 vor eigenem Publikum sowie im Oktober 1954 in Hannover gab es jeweils 3:1-Siege, und die dritte Nachkriegsbegegnung bei der Weltmeisterschaftsendrunde 1958 endete sogar mit einem 6:3-Erfolg, der den dritten Rang und somit die bis dahin beste Platzierung der Franzosen bei einem internationalen Turnier sicherstellte. Bei dieser WM wurde die französische Nationalelf von den internationalen Fachleuten in einem Atemzug mit den siegreichen Brasilianern genannt und stellte mit Regisseur Raymond Kopa den besten Spieler sowie mit Mittelstürmer Just Fontaine den erfolgreichsten Torschützen, den es jemals bei einem WM-Turnier gab. Zwei Jahre später qualifizierten die Bleus sich auch für die erste Europameisterschaftsendrunde, die daraufhin in Frankreich ausgetragen wurde. Dort hatte die sogenannte „goldene Generation“ (génération dorée), deren überwiegend um 1930 geborene Spieler zu einem großen Teil unter National- und Vereinstrainer Albert Batteux wenigstens zeitweise auch bei Stade Reims zusammengespielt hatten, ihren Zenit aber bereits überschritten. Zu dieser zählten neben Kopa und Fontaine vor allem Spieler wie Thadée Cisowski, Yvon Douis, Léon Glovacki, Robert Jonquet, Raymond Kaelbel, André Lerond, Jean-Jacques Marcel, Roger Marche, Armand Penverne, Roger Piantoni, Torwart François Remetter, André Strappe, Joseph Ujlaki, Jean Vincent und Mustapha Zitouni. Die gut anderthalb Jahrzehnte seit Kriegsende waren erstmals durch eine positive Bilanz gekennzeichnet: Von 104 A-Länderspielen gewann Frankreich 49, spielte 21 Mal unentschieden und verlor nur 34. Besonders erfolgreich spielte die Nationalmannschaft nach der WM-Endrunde 1954 bis unmittelbar vor der ersten EM-Endrunde 1960; dort standen 22 Siege bei elf Remis und nur neun Niederlagen zu Buche. In diese Zeit fällt außerdem der Gewinn der Militärweltmeisterschaft (Juli 1957 in Argentinien), an dem etliche wehrpflichtige A-Nationalspieler (Cossou, Douis, Ferrier, Fulgenzy, Mekhloufi, Siatka, Szkudlapski, Wendling, Wisnieski) Anteil hatten. Allerdings entwickelte sich in den 1950er Jahren mit Jugoslawien ein neuer Angstgegner, der vor dem Zweiten Weltkrieg noch keine unüberwindliche Hürde dargestellt hatte, als die Bleus zwischen 1926 und 1936 in drei von fünf Spielen siegreich geblieben waren. Von 1949 bis 1960 hingegen kam es zu neun Begegnungen, von denen Frankreich fünf verlor und lediglich eine gewann. Diese Bilanz wird noch düsterer, wenn man nur die Pflichtspiele berücksichtigt. Bei der Qualifikation zur WM 1950 trennte man sich zunächst zweimal unentschieden (jeweils 1:1), ehe die Kicker vom Balkan das Entscheidungsspiel in Florenz mit 3:2 nach Verlängerung gewannen und die Franzosen ausschieden. Bei den Weltmeisterschafts-Endrunden 1954 und 1958 trafen beide jeweils in einer Vorrundengruppe aufeinander – Frankreich unterlag mit 0:1 bzw. 2:3. Und im Halbfinale der ersten Europameisterschaft 1960 verlor die Elf in Paris – nach 4:2-Führung – noch mit 4:5. Seit dieser Zeit galten die Jugoslawen als „schwarze Bestie“ (bête noire) der französischen Elf – und der Begriff fand ab 2008 erneut Verwendung, als Serbien Frankreich in der Qualifikationsgruppe für Südafrika auf den zweiten Rang verwies. Rückfall in die Zweitklassigkeit In den folgenden Jahren durchschritt die Équipe tricolore erneut ein „Tal der Tränen“, auch als „graue Jahre“ bezeichnet. Sie konnte sich abgesehen von der Teilnahme an der WM 1966 für keines der großen Turniere qualifizieren und musste dabei nacheinander Bulgarien (WM 1962, EM 1972), Ungarn (EM 1964, EM 1972), Jugoslawien (EM 1968), Schweden (WM 1970), der UdSSR und Irland (beide WM 1974), Belgien und der DDR (beide EM 1976) den Vortritt lassen – überwiegend also Mannschaften, die nicht unbedingt zu den allerstärksten in Europa zählten. Auf dem Weg zur Weltmeisterschaft in England schalteten die Franzosen zwar Angstgegner Jugoslawien aus; dort blieb ihnen anschließend aber nur der letzte Platz in ihrer Vorrundengruppe, weil sie gegen den Gastgeber und Uruguay verloren und lediglich Mexiko einen Punkt abzutrotzen vermochten. Diese internationale Schwäche ging mit einer Reihe von strukturellen und personellen Umbrüchen im französischen Fußball einher, die sich auch in wenig nachhaltigen Auftritten der Vereinsmannschaften in den Europapokalwettbewerben niederschlugen. Insgesamt acht Nationaltrainer, die seit 1964 Alleinverantwortliche waren, betreuten die jeweiligen Auswahlteams, teilweise für einen sehr kurzen Zeitraum. So wechselten sich Versuche mit den international rapide voranschreitenden Spielsystemen in schneller Folge ab, aber die Bleus „rannten den Entwicklungen eher hinterher“. Auch reichten einige wenige herausragende Spielerpersönlichkeiten wie Robert Herbin, Henri Michel oder Georges Bereta nicht aus, um um diese herum eine Mannschaft zu formen, die auf Dauer an der europäischen Spitze mithalten konnte. Und ein torgefährlicher Spielmacher wie Rachid Mekhloufi, der nach seiner Rückkehr in die Division 1 (1962) dreimal als saisonbester Spieler ausgezeichnet wurde, stand für Frankreich nicht mehr zur Verfügung, weil er sich seit dem Algerienkrieg öffentlich zu seinem Geburtsland bekannt hatte. Entsprechend negativ stellte sich die Gesamtbilanz dieses Zeitraums dar: Von Mitte 1960 bis Ende 1975 gewann Frankreich 35 Begegnungen, spielte 24 Mal unentschieden, verlor jedoch 45 Spiele. An herausstechenden Partien werden lediglich drei genannt – 1963 ein gleichwohl positiv gestaltetes 2:3 gegen Brasilien und ein 5:2 über England in der Europameisterschaftsqualifikation, dazu 1971 ein 4:3 in Argentinien –, während über den großen Rest, darunter ein 1:5 gegen Jugoslawien (1968), eher Begriffe wie „Trauerspiel“, „Ohrfeige“, „schwarzes Jahr“ oder „Rücken zur Wand“ gedruckt wurden. Ungeachtet der abnehmenden Leistungsstärke der A-Elf schuf die FFF 1962 sogar eine Nationalmannschaft für Zweitligaspieler (Équipe de France de Deuxième Division); diese trug ein halbes Dutzend Partien gegen ihr italienisches Pendant sowie mehrere Spiele gegen einheimische Regionalauswahlen aus, ehe sie 1965 den Spielbetrieb wieder einstellte. Die „glorreichen Vier“ 1976 bis 1986 Als mit Michel Hidalgo 1976 ein Trainer das Zepter übernahm, der als Spieler selbst zur „goldenen Generation“ gehört hatte, begannen sich langsam die Maßnahmen der systematischen Talentsichtung und Jugendförderung positiv auszuwirken, die insbesondere von Georges Boulogne seit 1970 landesweit durchgesetzt worden waren und in dem 1988 eröffneten Schulungs- und Trainingszentrum in Clairefontaine (Centre technique national Fernand-Sastre) einen Ort fanden, den auch die Nationalelf seither regelmäßig nutzt. Diese sportliche Entwicklung fand im Vereinsfußball ihre Entsprechung in dem wachsenden Gewicht v. a. der AS Saint-Étienne auf europäischer Ebene. Unter Hidalgo und seinem Nachfolger Henri Michel (1984–1988) konnte die Équipe Tricolore sich nicht nur wieder regelmäßig für große internationale Turniere qualifizieren, sondern drei dieser vier Endrunden sogar mit vorderen Platzierungen abschließen. Wegen der vier Teilnahmen wird dieser Zeitabschnitt auch mit der Bezeichnung „Die glorreichen Vier“ (französisch les quatre glorieuses) charakterisiert. Zwar mussten die Bleus bei ihrer ersten WM-Teilnahme seit zwölf Jahren, der Endrunde in Argentinien, schon nach den Gruppenspielen die Heimreise antreten und verpassten auch die EM-Endrunde 1980. Aber danach erreichte die nach ihrer Führungsfigur benannte „Platini-Bande“ (la bande à Platini) 1982 in Spanien und 1986 in Mexiko jeweils das Weltmeisterschafts-Halbfinale. Darin traf sie jeweils auf ihre deutschen Konkurrenten, gegen die sie beide Male verlor; aber insbesondere ihr Auftritt in Sevilla (3:3 n. V., 4:5 im Elfmeterschießen) hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Vier Jahre später wurde sie, u. a. nach Siegen über Italien und Brasilien, wie 1958 Dritter des Turniers. Bei der Europameisterschaft 1984 im eigenen Land gelang der Mannschaft dann ihr erster Titelgewinn überhaupt, wobei sie sämtliche fünf Spiele (gegen Dänemark, Belgien, Jugoslawien, Portugal und Spanien) gewann. Dabei bildete das „magische Mittelfeld-Viereck“ mit Michel Platini, als Regisseur und neunfacher Torschütze in überragender Form, Alain Giresse, Jean Tigana und Luis Fernández das Kernstück einer gewachsenen Formation. Um diese gruppierten sich Torwart Joël Bats, die Abwehrspieler Patrick Battiston, Maxime Bossis, Jean-François Domergue, Yvon Le Roux, die Stürmer Bernard Lacombe, Bruno Bellone und Didier Six sowie als Ergänzungsspieler Manuel Amoros, Daniel Bravo, Jean-Marc Ferreri, Bernard Genghini, Thierry Tusseau, Dominique Rocheteau; außerdem standen die Torhüter Philippe Bergeroo bzw. Albert Rust, die als einzige zu keiner Minute Einsatzzeit kamen, im Kader. 1985 gewann Frankreich den erstmals ausgetragenen Interkontinental-Pokal für Nationalmannschaften (Artemio-Franchi-Pokal) durch ein 2:0 gegen den amtierenden Copa-América-Titelträger Uruguay. Unter Hidalgo und Michel blieb die A-Elf 58-mal siegreich, remisierte 27-mal und verlor auch nur 27 Partien. Besonders erfolgreich waren die zwei Jahre nach der WM 1982, als für die Franzosen zwölf Siege, vier Unentschieden und lediglich zwei Niederlagen – im August 1982 gegen Polen und im September 1983 gegen Dänemark – zu Buche standen. Hidalgo hat auch als erster französischer Nationaltrainer einen dunkelhäutigen Spieler zum Mannschaftskapitän gemacht, nämlich Marius Trésor im Oktober 1976. Der lange Weg an die Weltspitze Nachdem der Kern dieses Teams die Karriere beendet hatte, folgte eine Durststrecke, bei der die Qualifikation zur Europameisterschaft 1988 sowie den Weltmeisterschaften 1990 und 1994 misslang. Bei der EM 1992 schied Frankreich schon frühzeitig aus. Erst bei der EM 1996 stieß die Équipe Tricolore wieder weit in einem Turnier vor, setzte sich gegen Spanien, Bulgarien, Rumänien und die Niederlande durch, verpasste aber gegen die Tschechen den Endspieleinzug. Dennoch hatte Trainer Aimé Jacquet dort bereits das Gerüst der Mannschaft zusammen, mit der er zwei Jahre später den Weltmeistertitel gewinnen sollte. In den 1990er-Jahren setzte auch eine Entwicklung ein, die zur Erhöhung der Leistungsstärke beitrug: Immer mehr Nationalspieler standen bei Vereinen aus den als stärker eingeschätzten Spielklassen benachbarter Länder unter Vertrag, anfangs vor allem in der italienischen, nachfolgend auch in der englischen und dann der spanischen Liga. Zur Bundesliga hingegen zog es Stammspieler von jenseits des Rheins bisher nur recht selten; Bixente Lizarazu war 1997 einer der ersten. Bei der Weltmeisterschaft 1998 im eigenen Land marschierten die Bleus zunächst souverän durch ihre Vorrundengruppe, setzten sich anschließend gegen Paraguay, Italien und Kroatien etwas mühsamer durch und schlugen im Finale die favorisierte brasilianische Elf deutlich mit 3:0. Eckpfeiler des Teams waren Torhüter Fabien Barthez, Abwehrspieler und Mannschaftskapitän Laurent Blanc sowie der überragende Regisseur Zinédine Zidane, würdiger Nachfolger von Raymond Kopa und Michel Platini. Zusammen mit Marcel Desailly, Lilian Thuram, Bixente Lizarazu, Youri Djorkaeff, Didier Deschamps, Emmanuel Petit, Alain Boghossian, Christian Karembeu, Stéphane Guivarc’h, Thierry Henry, David Trezeguet sowie den Ergänzungsspielern Frank Lebœuf, Vincent Candela, Bernard Diomède, Robert Pires, Patrick Vieira und Christophe Dugarry bildeten sie eine in diesen Wochen unüberwindbare Mannschaft. Wie schon beim EM-Titelgewinn 1984 waren auch hier lediglich der zweite und dritte Torhüter (Lionel Charbonnier, Bernard Lama) zu keinem einzigen Einsatz gekommen. Im Vorfeld dieses Turniers wurde mit Unterstützung der FFF ein offizieller Nationalmannschafts-Fanclub gegründet; hingegen ist der bekannte Schlachtruf „Allez, les Bleus!“ („Auf, ihr Blauen!“) schon deutlich älteren Datums. Frankreich bestätigte seinen Erfolg zwei Jahre später bei der Europameisterschaft in den Niederlanden und Belgien, als es Italien im Finale mit 2:1 nach Golden Goal besiegen und als erster amtierender Weltmeister auch Europameister werden konnte. Bei der Weltmeisterschaft 2002 schied man dann jedoch ohne eigenen Torerfolg bereits in der Vorrunde aus. Die Europameisterschaft 2004 endete für die Équipe Tricolore im Viertelfinale, wo sie dem späteren Turniersieger Griechenland mit 0:1 unterlag. Allerdings gewann sie 2001 und 2003 den Konföderationen-Pokal. Die personelle Zusammensetzung der Bleus – mit einem stark zunehmenden Anteil von Immigranten der zweiten bzw. dritten Generation sowie außerhalb Festlandfrankreichs geborener Spieler – veranlasste 2006 den politischen „Rechtsaußen“ Jean-Marie Le Pen zu der Tirade, in dieser Mannschaft könne sich das französische Volk nicht mehr wiedererkennen. Die Gesamtbilanz der Jahre von 1988 bis zum Sommer 2004 (Amtsantritt des Nationaltrainers Raymond Domenech) war uneingeschränkt positiv: 113 Siegen standen lediglich 22 verlorene Spiele bei 40 Unentschieden gegenüber. Im Mai 2004 kam es zu einem Freundschaftsspiel gegen Brasilien – also der beiden Mannschaften, die zu diesem Zeitpunkt die Plätze 1 und 2 der Weltrangliste belegten –, das im Stade de France 0:0 ausging. Anlass dafür war der 100. Geburtstag des Fußball-Weltverbands FIFA; gleichzeitig fand es auch fast auf den Tag genau am 100. Jahrestag des ersten offiziellen Länderspiels der Bleus statt. In diesem Zeitabschnitt waren die Bleus zudem dreimal bei kleineren Pokalwettbewerben erfolgreich: 1994 gewannen sie den Kirin Cup, 1998 und 2000 den marokkanischen Königspokal. Für die Weltmeisterschaft 2006 konnte sich Frankreichs Elf erst am letzten Spieltag qualifizieren. Dort erreichte sie dann aber wieder das Finale, wo sie wie bei der EM 2000 auf Italien traf, das sich diesmal im Elfmeterschießen durchsetzte. Mit dem Vizeweltmeistertitel und dem Missklang zum Abschluss der Nationalmannschaftskarriere Zinédine Zidanes – Platzverweis nach einem Kopfstoß gegen Marco Materazzi – war der bis dahin erfolgreichste Abschnitt der Nationalmannschaftsgeschichte, in dem die Équipe Tricolore von Mai 2001 bis Mai 2002 sogar die internationale Rangliste anführte und im September 2006 nochmals auf Platz 2 stand, an sein Ende gelangt. Absinken ins Mittelmaß und Gewinn des zweiten Sterns (2006–2018) Die sportliche Entwicklung der Nationalelf wird beispielsweise von France Football spätestens seit 2004 als eine Phase der „chronischen Instabilität“ bewertet, in der auch der Vizeweltmeistertitel von 2006 lediglich eine positive Ausnahme darstelle. Für die Endrunde der Europameisterschaft 2008 konnten die Franzosen sich zwar qualifizieren, allerdings schieden sie dort bereits in der Vorrunde aus. Die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 2010 wurde ebenfalls sichergestellt, aber dafür mussten sie zunächst die Ausscheidungsspiele der europäischen Gruppenzweiten bestreiten, in denen ihnen gegen Irland erst ein spätes, irreguläres Tor den Weg nach Südafrika eröffnete – Frankreichs Ausgleichstreffer im Rückspiel ging ein eindeutiges, von Thierry Henry nach dem Spiel auch eingeräumtes und selbst in der französischen Presse heftig kritisiertes Handspiel voraus. Bei der Endrunde 2010 schied Frankreich erneut in der Gruppenphase gegen Uruguay, Mexiko und den Gastgeber Südafrika als Tabellenletzter aus und stürzte in der FIFA-Weltrangliste von Mitte Juli vom neunten gleich auf den 21. Rang ab. Angesichts der Ergebnisse und insbesondere der dabei gezeigten Leistungen während der beiden zurückliegenden Jahre war die Fachwelt in Frankreich schon im Vorfeld der WM nicht allzu optimistisch gewesen, was den Ausgang dieses Turniers betraf; die Schuld daran wurde ganz überwiegend Trainer Domenech zugewiesen, dessen vorzeitige Ablösung in den zwölf Monaten vor der WM-Endrunde wiederholt erwogen wurde. Dabei liest sich seine Trainerbilanz nicht schlecht: bis zur WM-Endrunde gewannen die Bleus 41 Spiele, kamen zu 23 Unentschieden und verloren nur zwölf Begegnungen. Für Teile der Medien und etliche renommierte Trainerkollegen in Frankreich lag das Hauptproblem darin, dass er nicht vermochte, aus guten Einzelspielern eine homogene Mannschaft zu bilden, in der diese ihre jeweiligen individuellen Stärken optimal zur Geltung bringen konnten, sowie in zu häufigen Detailänderungen des französischen Spielkonzepts. Im Juli 2010, nach dem Fiasko von Knysna, gab der bei der FFF fest angestellte Domenech die Verantwortung für die A-Elf ab. Sein Nachfolger Laurent Blanc erhielt von der FFF ein Fixum von monatlich 100.000 €. Blancs erste Saison ließ sich mit acht Siegen, zwei Unentschieden und – in den beiden Auftaktpartien – zwei Niederlagen auch deshalb positiv an, weil Frankreich dabei Siege gegen Brasilien und in England verzeichnen konnte und sich in der Folge auch direkt für die EM-Endrunde qualifizierte. Mitte Juni 2012 erhöhten die Bleus dort die ununterbrochene Zahl von Spielen ohne Niederlage auf 23 (zwischen 7. September 2010 und 15. Juni 2012); eine noch längere Serie gelang den Franzosen nur unter Aimé Jacquet (30 Länderspiele ohne Niederlage, 16. Februar 1994 bis 9. Oktober 1996). Dennoch verlängerte Blanc anschließend seinen Vertrag nicht. Anfang Juli 2012 berief die FFF als seinen Nachfolger Didier Deschamps, der eine neue Mannschaft aufbauen wollte. Dazu hatte er in seiner ersten Saison, die mit einer negativen Bilanz endete (vier Siege, zwei Unentschieden und fünf Niederlagen), insgesamt 39 Spieler eingesetzt. Für die Redaktion von France Football war sein erstes Jahr noch nicht geeignet, eine Standortbestimmung abzugeben („Diese elf Spiele lassen noch keine Fortschritte auf den aktuellen Baustellen der Bleus erkennen“). Mit fünf Niederlagen in elf Spielen – darunter die erste Niederlage gegen Deutschland seit 1987 – hatte Deschamps die schlechteste Bilanz eines französischen Nationaltrainers in seiner Debütsaison seit mehr als einem halben Jahrhundert hinter sich gebracht. Im November 2013 gelang den Franzosen in den Play-offs die Qualifikation zur WM in Brasilien, aber das zentrale Problem der Nationalelf seit 2006 schien fortzubestehen. Potentielle „Leader“ wie Ribéry, Evra, Abidal oder Lloris, von denen am ehesten zu erwarten wäre, dass sie „den Jüngeren ihre Erfahrungen vermitteln, sie aktiv anleiten, sich im Spiel weiterzuentwickeln und ein höheres Niveau zu erreichen, … die mal ein Problem des Kollektivs in die eigenen Hände nehmen oder von sich aus den Trainer auf taktische Fragen ansprechen“, interessieren sich „mehr für ihre eigenen Statistiken als für das Auftreten der Mannschaft“ (Laurent Blanc). Schärfer formuliert dies ein Ligue-1-Trainer: „Die intellektuellen Fähigkeiten des Teams halten nicht mit dessen spieltechnischem Niveau Schritt“. 2014 allerdings wurden die Erfolge von Deschamps' Arbeit sichtbar; die Elf präsentierte sich mit ansehnlichem Spiel, hatte das WM-Viertelfinale erreicht und wurde folgerichtig von der FIFA wieder unter den acht weltbesten Teams geführt. Im Februar 2015 verlängerte die FFF Deschamps' Vertrag vorzeitig um weitere zwei Jahre bis 2018; dem folgte ein allerdings nur kurzzeitiges Tief (im Juli 2015 erneuter Absturz auf den 22. Platz in der Weltrangliste), denn im Sommer 2016 wurden die Franzosen Vizeeuropameister. Auf dem Weg dorthin wurde auch das Stade de France, in dem die Bleus gerade ein Freundschaftsspiel gegen Deutschland austrugen, von den gewaltsamen Anschlägen betroffen, die Paris am 13. November 2015 nahezu gleichzeitig an mehreren Orten erschütterten. Im Stadion selbst waren allerdings keine Opfer zu beklagen. Bereits im Sommer 2015 waren auch schon die Qualifikationsgruppen zur Fußball-Weltmeisterschaft 2018 ausgelost worden, und dabei hat Frankreich kein leichtes Los gezogen. Es musste sich ab September 2016 in der Europagruppe A zunächst mit den Niederlanden, Schweden, Bulgarien, Belarus und Luxemburg auseinandersetzen. Im September 2016 gewann Frankreich ein Vorbereitungsspiel in Italien mit 3:1. Mit dem Erfolg in Bari verlängert sich die Serie, dass die Franzosen in Italien gegen den Gastgeber seit 1962 nicht mehr verloren haben (drei Siege und zwei Unentschieden). Die Spielzeit 2017/18 begann mit den letzten vier WM-Qualifikationsspielen, wovon Frankreich zwar dreimal Heimrecht besaß – darunter auch gegen die Holländer –, sich zugleich aber in einem „Fernduell“ um den Gruppensieg mit Schweden befand, bei dem jedes Tor zählen konnte, um zu vermeiden, sich noch über die Playoffs qualifizieren zu müssen wie zuletzt schon 2010 mit seinem engen Ausgang gegen Irland. Am Ende wurde Frankreich trotz einer sehr schwachen Vorstellung gegen Luxemburg mit vier Punkten Vorsprung vor Schweden und den Niederlanden Gruppensieger und stand als WM-Teilnehmer in Russland fest. Mit Freundschaftsspielen gegen Wales und in Deutschland Mitte November 2017 trat die Elf von Trainer Deschamps in die Vorbereitungsphase auf dieses Turnier ein.In den ersten fünf Saisonspielen erwies Deschamps sich wiederum als sehr „experimentierfreudig“; darin waren 27 Spieler zum Einsatz gekommen. Andererseits fand unter ihm während der WM-Vorrunde 2018 mit Hugo Lloris der erst siebte Franzose Aufnahme in den sogenannten „Hunderter-Club“. Die Weltmeisterschaftsendrunde ließ sich erfolgreich, aber zäh und glanzlos an. Dabei hatte der Trainer bereits im zweiten Gruppenspiel die Startelf aufgeboten, die in der K.o.-Runde den Durchmarsch zum Titelgewinn ermöglichte; im dritten Vorrundenspiel gegen die Dänen allerdings verhalf Deschamps etlichen anderen Spielern zu Einsatzzeiten, weil die Bleus nur noch ein Unentschieden für den Gruppensieg benötigten. Maßgeblich für den Turniererfolg war eine extrem starke, zentrale Defensivachse aus Torhüter Lloris, den Innenverteidigern Umtiti und Varane sowie dem „Abräumer“ Kanté davor, die dafür sorgte, dass die gegnerischen Teams bis einschließlich des Viertelfinales insgesamt lediglich 13 Schüsse abgeben konnten, die direkt auf das Tor der Franzosen gingen. Aber auch die Leistungssteigerung von Griezmann und Pogba sowie die aufopferungsvolle Arbeit von Sturmspitze Giroud, der in der eigenen Spielfeldhälfte keinem Zweikampf aus dem Weg ging, die beiden 22-jährigen Außenverteidiger Hernández und Pavard, Schnelligkeit und Spielwitz von Mbappé sowie die Flexibilität des routinierten Matuidi waren Pluspunkte, denen auch die letzten beiden französischen Kontrahenten in Vorschlussrunde und Endspiel zu wenig entgegenzusetzen hatten. Dabei hatte der Trainer die Stammformation keineswegs identisch auf jeden Gegner eingestellt, sondern sowohl in der Tiefenpositionierung des Trios Varane–Umtiti–Kanté als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Positionen, die die Offensivkräfte einnahmen, sehr individuell auf die zu erwartenden Aufgaben reagiert. Letztlich waren es vier Systeme, in denen die Franzosen bei diesen sieben WM-Partien agierten: 4-3-3, 4-4-2, 4-2-3-1 und 4-1-4-1. Aufgrund des Gewinnes eines zweiten „FIFA-Sterns“ rückte Frankreich nach gut anderthalb Jahrzehnten wieder auf die Spitzenposition in der Weltrangliste vor. Les Bleus ab 2018 Einerseits bot das geringe Durchschnittsalter der französischen Weltmeister gute Voraussetzungen dafür, auch in den kommenden Jahren im Konzert der Großen ganz oben mitzumischen. Andererseits zeigen nicht nur die Beispiele der drei Vorgänger Italien (Titelträger 2006), Spanien (2010) und Deutschland (2014), dass die Rolle des „Gejagten“ eine schwierige ist. Auch die zunehmende Dichte des internationalen Terminkalenders für Vereins- und Nationalmannschaften – so hat die UEFA mit der Nations League direkt nach der Sommerpause 2018 einen weiteren Pflichtwettbewerb eingeführt – könnte den Erwartungsdruck und die Belastungen der Franzosen weiter erhöhen. Im Herbst 2018 trafen die Franzosen anlässlich der ersten Austragung der UEFA Nations League je zweimal auf die Niederlande und Deutschland. Diese drei bildeten eine von vier Gruppen der höchsten europäischen Liga (Division A), aus denen sich nur die Gruppensieger für das Endturnier („Final Four“) im Juni 2019 qualifizieren. Für die ersten beiden Partien hatte Trainer Deschamps genau die Spieler, die auch in Russland dabei waren, aufgeboten – mit Ausnahme des verletzten Torhüters Mandanda, dafür aber einschließlich des bereits zurückgetretenen Adil Rami. Die Bleus schlossen in ihrer Gruppe punktgleich mit den Niederländern ab, wiesen allerdings das schlechtere Torverhältnis auf und qualifizierten sich somit nicht für die Runde der letzten vier Mannschaften. Bereits im Frühjahr 2019 begann die Qualifikation für die eigentlich für 2020 geplante Europameisterschaft, die von der UEFA dann aufgrund der COVID-19-Pandemie um ein Jahr verschoben wurde. Dabei musste sich der Weltmeister als Kopf der Gruppe H mit Island, der Türkei, Albanien, Moldawien – gegen das Frankreich noch nie gespielt hat – und Nachbar Andorra auseinandersetzen. Nach einer fast zehnmonatigen, pandemiebedingten Länderspielpause, der auch die um ein Jahr auf 2021 verschobene Europameisterschaft zum Opfer gefallen war, griffen die Bleus im September 2020 ohne große Vorbereitung in die zum zweiten Mal ausgetragene Nations League ein, wo sie sich in ihrer Gruppe unter anderem gegen Europameister Portugal durchsetzten und für die Endrunde qualifizierten, die erst im Oktober 2021 in Italien ausgetragen wurde. Bei der aufgrund der COVID-19-Pandemie auf 2021 verschobenen EM-Vorrunde erwartete die Franzosen in Gruppe F mit Deutschland, gegen das sie siegten, Ungarn und Titelverteidiger Portugal, gegen die sie jeweils remis spielten, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe. Dennoch qualifizierten die Franzosen sich als Gruppensieger für das Achtelfinale. Darin stand es gegen die Schweiz nach 90 wie nach 120 Minuten 3:3, und im Elfmeterschießen unterlag der amtierende Weltmeister knapp, so dass er frühzeitig ausschied. Zu Frankreichs Spielen bei der EM-Endrunde siehe diesen Spezialartikel. Die Saison 2021/22 Die Spielzeit lief für Frankreich schlecht an, weil es gegen zwei nicht eben überragend schwere Gegner (Bosnien-Herzegowina, Ukraine) lediglich zu zwei Unentschieden kam und auch der anschließende Sieg gegen die Finnen keine überzeugende Leistung des amtierenden Weltmeisters bot. Einen Monat später zeigten sich die Bleus von ihrer besseren Seite und setzten sich in einem beiderseits sehr offensiv geführten, dramatischen Halbfinale der UEFA Nations League nach 0:2-Pausenrückstand mit 3:2 gegen Belgien durch. Und auch im Endspiel gegen Spanien gelang es, einen Rückstand noch zu drehen und sich somit den Titel zu sichern. Diesen Titel müssen die Franzosen schon ab Sommer 2022 verteidigen, wenn sie bei der dritten Ausspielung in der Nations-League-Gruppe A1 zunächst auf Dänemark, Kroatien und Aufsteiger Österreich treffen. Vier dieser Spiele fanden – innerhalb von zehn Tagen – im Juni statt, die restlichen beiden in der zweiten Septemberhälfte. Zur Vorbereitung darauf hatte der Verband zwei Freundschaftsbegegnungen gegen die Elfenbeinküste und Südafrikas Bafana bafana vereinbart, für die der Trainer mit Jonathan Clauss, Christopher Nkunku und William Saliba drei potentielle Debütanten in sein 23er-Aufgebot aufgenommen und auch eingesetzt hat. Außerdem nominierte er nach Karim Benzemas verletzungsbedingter Absage Olivier Giroud nach, der nach längerer Absenz sofort wieder zwei Treffer erzielte, für die vier Juni-Begegnungen aber nicht nominiert wurde. Bei diesen Aufeinandertreffen schnitten die Bleus ungewohnt schlecht ab (zwei Heimniederlagen, auswärts zweimal unentschieden) und kämpfen nach der Sommerpause sogar gegen den Abstieg. Dies war die drittschlechteste Serie unter Deschamps’ Ägide; nur 2013 (drei Niederlagen und zwei Unentschieden nacheinander) und 2021 (fünf Remis in Folge) war die französische Bilanz noch erfolgloser ausgefallen. Eingesetzte Spieler e = eingewechselt; Spieler mit einem (N) hatten bisher noch kein A-Länderspiel bestritten. Torhüter: Hugo Lloris (Tottenham, 10), Mike Maignan (AC Mailand, 3) Abwehrspieler: Jules Koundé (FC Sevilla, 8+1e), Raphaël Varane (Manchester United, 7), Presnel Kimpembe (Paris, 7), Benjamin Pavard (Bayern München, 4+3e), Lucas Digne (Aston Villa, 6), Léo Dubois (Lyon, 3+3e), William Saliba(N) (Marseille, 3+2e), Lucas Hernández (Bayern München, 4), Jonathan Clauss(N) (Lens, 1+3e), Kurt Zouma (Chelsea, 3), Dayot Upamecano (Bayern München, 2+1e), Ibrahima Konaté(N) (Liverpool, 2), Clément Lenglet (FC Barcelona, 2e), Nordi Mukiele(N) (Leipzig, 1e) Mittelfeldspieler: Aurélien Tchouaméni(N) (Monaco, 7+5e), Adrien Rabiot (Juventus Turin, 8+2e), Paul Pogba (Manchester United, 6+1e), Theo Hernández (AC Mailand, 6+1e), Mattéo Guendouzi(N) (Marseille, 2+4e), Jordan Veretout(N) (AS Rom, 1+4e), N’Golo Kanté (Chelsea, 3), Boubacar Kamara(N) (Marseille, 2+1e), Thomas Lemar (Atlético Madrid, 1) Angriffsspieler: Antoine Griezmann (Atlético Madrid, 11+2e), Karim Benzema (Real Madrid, 8+2e), Kylian Mbappé (Paris, 8+1e), Kingsley Coman (Bayern München, 5+3e), Moussa Diaby(N) (Leverkusen, 3+5e), Christopher Nkunku(N) (Leipzig, 3+3e), Wissam Ben Yedder (Monaco, 1+4e), Anthony Martial (Manchester United, 2+1e), Olivier Giroud (AC Mailand, 2) Frankreichs 29 Tore erzielten Mbappé (10), Benzema (6), Griezmann (4), Giroud, Rabiot (je 2), Martial, Theo Hernández, Tchouaméni, Ben Yedder und Guendouzi (je 1). Seit 1. April 2022 kennen die Franzosen ihre Gegner in der Weltmeisterschafts-Vorrundengruppe D; im November treffen sie auf Dänemark, Tunesien sowie einen der zum Auslosungszeitpunkt noch nicht feststehenden Interkontinentalqualifikanten (Vereinigte Arabische Emirate, Australien oder Peru, von denen sich im Sommer Australien durchsetzte). Der Zufall wollte es, dass Dänemark, Australien und Peru schon bei der WM 2018 derselben Vorrundengruppe wie Frankreich angehört hatten. Bei der Weltmeisterschaftsendrunde mit dem umstrittenen katarischen Gastgeber überstand die Equipe Tricolore die Gruppenspiele als Tabellenerster, wobei es im brisanten letzten Gruppenspiel gegen Tunesien eine 0:1-Niederlage gab. In der Folge erreichten sie – wie bei der letzten WM-Endrunde auf russischem Boden – das Endspiel, wo der Gegner Argentinien hieß. Dort konnte die französische Nationalmannschaft in der regulären Spielzeit einen 0:2-Rückstand ausgleichen und in der darauffolgenden Verlängerung auch ein 2:3 egalisieren, weshalb das Elfmeterschießen für die Entscheidung herhalten musste; dort behielten die Südamerikaner die Oberhand, weshalb Frankreich die Titelverteidigung nicht gelingen konnte. Näheres siehe hier. Nationaltrainer Von 1904 (1. offizielles Länderspiel) bis 1919 (Gründung des Fußballverbands FFF) wurde die Nationalmannschaft vom Dachverband Comité Français Interfédéral aufgestellt. Gemeinsames Training der Nationalspieler und damit das Amt eines hauptberuflichen Nationaltrainers waren in der Frühzeit des Fußballs nicht nur in Frankreich unbekannt. Ab 1919 gab es zwar zeitweise – für ein einzelnes Spiel oder ein Turnier (Olympische Spiele, Weltmeisterschaftsendrunde) – einen Trainer, ab 1950/51 auch einen festen, der allerdings – wie Albert Batteux – immer noch hauptsächlich bei einem Verein beschäftigt war. Der Mannschaftskader für jedes Länderspiel wurde bis 1964 von einem Auswahlkomitee der FFF festgelegt, das aus einem oder mehreren „Technischen Direktoren“ bestand. Deshalb wird der Nationaltrainer dort auch heute noch oft als Sélectionneur (Auswählender) bezeichnet. Auswahlkomitees der FFF Insbesondere drei Sélectionneurs haben die Geschicke der Nationalelf maßgeblich beeinflusst, auch wenn abschnittsweise das Auswahlkomitee aus bis zu acht Mitgliedern bestand. Das war zunächst von November 1919 bis zu seinem Tod im Sommer 1958 Gaston Barreau, der diese Funktion von Mai 1936 bis April 1945 sogar alleinverantwortlich innehatte. Barreau wurde im Herbst 1956 allerdings „entmachtet“, ohne seinen Sitz im Gremium zu verlieren, und durch Paul Nicolas ersetzt, der bereits von August 1949 bis Dezember 1953 und erneut seit September 1954 dazugehörte. Nach Nicolas' frühem Tod trat Georges Verriest im Juni 1959 zunächst in das Komitee ein und übernahm ab Oktober 1960 bis zum Juli 1964 auch dessen Stellung als Alleinverantwortlicher. Außer diesen dreien gab es in dem Auswahlgremium auch einige weitere, bekannte Ex-Nationalspieler, namentlich Gabriel Hanot (März bis Dezember 1920, April 1945 bis August 1949), Jean Rigal (Juli 1922 bis Mai 1936, August 1949 bis Oktober 1956), Lucien Gamblin (nur im Oktober 1923), Henri Bard (November 1924 bis Februar 1930) und Alex Thépot (Dezember 1953 bis Oktober 1960). Trainer Am längsten als Nationaltrainer im Amt ist Didier Deschamps, der während seiner bisher mehr als zehn Jahre bei 138 Spielen die Verantwortung trug. Ihm folgen Michel Hidalgo (achteinhalb Jahre, 76 Spiele), Albert Batteux (gut sieben Jahre, 56 Spiele) sowie Raymond Domenech (sechs Jahre, 79 Spiele). Deschamps gelang es 2018 als weltweit erst Drittem nach Mário Zagallo und Franz Beckenbauer, sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister zu werden. Zu erwähnen ist, dass mehrere französische Trainer für die Nationalmannschaften anderer Länder – insbesondere aus dem französischsprachigen Afrika, aber auch aus Arabien und Asien – verantwortlich waren beziehungsweise noch sind. Sechs von ihnen haben es dabei sogar auf eine dreistellige Zahl von Länderspielen gebracht, nämlich Claude Le Roy, Hervé Renard, Bruno Metsu und Philippe Troussier, die im Unterschied zu Henri Michel und Roger Lemerre nie mit Frankreichs A-Elf betraut worden sind. (Stand: 18. Dezember 2022) Spieler Siehe auch die Liste sämtlicher Spieler, die in offiziellen A-Länderspielen für Frankreich eingesetzt wurden. Bis einschließlich Juni 2017 hatten knapp 900 Fußballer den Nationaldress getragen. Jüngster Nationalspieler aller Zeiten ist übrigens nicht, wie häufig zitiert, Maryan Wisnieski, und auch nicht René Gérard. Ob Julien Verbrugghe bei seinem Debüt im November 1906 noch jünger als Gérard war, ist bisher nicht zweifelsfrei zu klären, da für Verbrugghe unterschiedliche Geburtsdaten genannt werden; einer Quelle zufolge wäre er ein Jahr jünger als Gérard gewesen. Auch Maurice Gastiger trug 1914 als gerade erst 17-Jähriger bereits den Nationaldress. Auf die längste Karriere bei den Bleus kann Larbi Ben Barek zurückblicken: zwischen seinem ersten (1938) und seinem letzten Einsatz lagen 15 Jahre und zehn Monate. Bei seinem letzten Spiel (1954 gegen Deutschland) war Ben Barek, für den ebenfalls unterschiedliche Geburtsjahrsangaben existieren, 37 oder 40 Jahre alt; je nachdem ist er bis heute auch einer der drei ältesten Spieler, die je den blauen Dress getragen haben. Die beiden anderen sind die Torhüter Bernard Lama (37 Jahre, 5 Monate) und Steve Mandanda (37 Jahre, 8 Monate). Auf die meisten Einsätze in WM-Endrunden kam Hugo Lloris (20 Spiele von 2010 bis 2022), gefolgt von Antoine Griezmann (19, 2014 bis 2022), Olivier Giroud und Raphaël Varane (beide 18, 2014 bis 2022), Fabien Barthez (17, 1998 bis 2006), Lilian Thuram, Thierry Henry (je 16, 1998 bis 2006 bzw. 2010) und Maxime Bossis (15, 1978 bis 1986). Den kürzesten Auftritt im blauen Trikot hat Franck Jurietti zu verzeichnen: im Oktober 2005 gegen Zypern wurde er fünf Sekunden vor dem Schlusspfiff eingewechselt. Chronologie der Rekordnationalspieler Als erster französischer Spieler erreichte Jean Rigal im April 1911 eine zweistellige Zahl von sogenannten Caps, d. h. Einsätzen für die Nationalelf; als erstem Franzosen gelang Didier Deschamps im Sommer 2000 die Aufnahme in den sogenannten „Hunderter-Club“. In der Liste der häufigsten Nationalelfeinsätze folgen hinter Lloris und Thuram Olivier Giroud (124), Thierry Henry (123), Antoine Griezmann (121), Desailly (116), Zinédine Zidane (108), Patrick Vieira (107), Deschamps (103), Laurent Blanc, Bixente Lizarazu, Karim Benzema (je 97), Raphaël Varane (93), Sylvain Wiltord (92) und Paul Pogba (91).Thierry Henry war bis 2022 auch der einzige Franzose, der in vier Weltmeisterschaftsendrunden (1998 sechs, 2002 zwei, 2006 sieben, 2010 zwei Spiele) eingesetzt wurde; mittlerweile gilt dies auch für Lloris (2010, 2014, 2018 und 2022), der Henry hinsichtlich der Zahl von WM-Einsätzen sogar übertroffen hat. – Bei Europameisterschaftsendrunden ist Lilian Thuram der französische Rekordhalter; er hat an vier Turnieren teilgenommen und kam dabei in 16 Begegnungen zum Einsatz (1996 und 2000 je fünf, 2004 vier, 2008 zwei Spiele). Von den aktuellen Nationalspielern haben hinter Giroud, Griezmann und Pogba Kylian Mbappé (70) sowie N’Golo Kanté (53) die meisten Einsätze vorzuweisen. (Stand: 19. Juni 2023) Erfolgreichste Torschützen Erster französischer Torschütze überhaupt war 1904 Louis Mesnier, der in 14 Länderspielen sechsmal traf. Im März 1929 erreichte Paul Nicolas als erster Franzose die Marke von 20 Treffern; ihn übertraf im Juni 1938 sein Namensvetter Jean. Gut zwei Jahrzehnte später, im November 1959, setzte sich Just Fontaine an die Spitze dieser Auflistung, als er gegen Portugal seine Tore Nummer 22 bis 24 erzielte, denen er noch sechs weitere folgen ließ. Ihn löste während der EM 1984 Michel Platini als erfolgreichster Torschütze der Nationalmannschaft ab und erhöhte seine Trefferanzahl bis zum Ende seiner Länderspielkarriere auf 41. Im Oktober 2007 überbot dann Thierry Henry diese Rekordmarke. Während des Spiels Frankreich gegen Australien bei der Fußballweltmeisterschaft 2022 zog Olivier Giroud mit Henry gleich, indem er zwei Treffer erzielte; zwölf Tage danach überholte er ihn dann. Die meisten Tore in einem einzelnen Spiel erzielte bereits 1913 Eugène Maës; seine fünf Treffer gegen Luxemburg sind bis heute unübertroffen. Lediglich Thadée Cisowski gelang eine solche Zahl noch einmal (1956, gegen Belgien). Viermal erfolgreich waren Jean Sécember (1932), Jean Nicolas (1934), Just Fontaine – im Spiel um Platz drei gegen Deutschland bei der WM 1958 – und jüngst (2021) Kylian Mbappé. Torgefährlichster Abwehrspieler der Bleus ist mit seinen 16 Treffern Laurent Blanc, der in den ersten Jahren seiner Karriere allerdings offensiver aufgestellt wurde. Von der Effizienz, also der Zahl der Treffer pro Einsatz, her liegen die drei Top-Schützen Giroud, Henry und Griezmann allerdings nicht einmal unter den besten 15 Nationalspielern (nur solche mit mindestens zehn Toren). Hier führen Fontaine (1,43) und Maës (1,36) deutlich vor Thadée Cisowski (0,85), Jean Nicolas (0,84), Ernest Vaast (0,73), Baratte (0,59), Émile Veinante (0,58), Paul Nicolas, Platini und Mbappé (0,57), Papin (0,56) sowie Hervé Revelli (0,50). Von den derzeit aktuellen Angreifern ist Olivier Giroud mit 54 Toren der erfolgreichste vor Antoine Griezmann (42), Kylian Mbappé (40) und Paul Pogba (11). (Stand: 19. Juni 2023) Spielführer Insgesamt haben bisher über einhundert Mannschaftskapitäne die französische Elf auf das Spielfeld geführt. Von der Zahl der Begegnungen als Spielführer ragen fünf von ihnen heraus: Hugo Lloris trug die Armbinde seit 2010 in mehr als 115 Länderspielen, gefolgt von Didier Deschamps (54, 1994–2000), Michel Platini (50, 1979–1987), Marcel Desailly (49, 1995–2004) sowie Roger Marche (42, 1950–1959). Zwischen den Weltkriegen hatte die Kapitänsrolle Paul Nicolas (18, 1925–1931), vor dem Ersten Weltkrieg Jean Ducret (12, 1910–1914) am häufigsten inne. Jüngster Mannschaftskapitän in der französischen Länderspielgeschichte war Étienne Jourde, der seine Elf 1910 gegen Belgien mit 20 Jahren und drei Monaten auf den Rasen führte. Eine dem deutschen Ehrenspielführer vergleichbare Auszeichnung hat die FFF bisher nicht vergeben. (Stand: 13. Juni 2022) Nationalspieler für zwei Länder Das Thema von Doppelstaatsbürgern betraf auch die französische Nationalelf schon sehr frühzeitig. Erster in einer langen Reihe war Félix Romano, der 1894 als Sohn eines Schweizers und einer Französin in Argentinien zur Welt kam, 1911 nach Frankreich zog und dort 1913 zum Nationalspieler wurde. Ab 1918 spielte er in Italien, erhielt nach drei Jahren die dortige Staatsbürgerschaft, nannte sich fortan Felice und bestritt anschließend fünf Länderspiele für die Azzurri. Nächster in dieser Reihe war Ivan Bek, der ab 1928 beim FC Sète spielte, zwischen 1927 und 1931 sieben Partien für Jugoslawien bestritt (darunter bei der ersten Weltmeisterschaft), 1931 in Frankreich naturalisiert wurde und als Yvan Beck zwischen 1935 und 1937 fünfmal den blauen Dress trug. Im selben Zeitraum kam Pierre Duhart zu sechs Länderspielen, der Anfang der 1930er als Pedro Duhart zweimal für Uruguay aufgelaufen war und zu denjenigen gehörte, die aufgrund eines internationalen Abkommens der französischen mit mehreren südamerikanischen Regierungen nach drei Jahren automatisch Franzosen wurden, wenn sie Nachkommen ehemaliger französischer Auswanderer waren. Dies traf 1937 auch auf Michel Lauri (als Miguel Angel Lauri zuvor zehnmal für Argentinien) und – ebenfalls für die Albiceleste – in den frühen 1960ern auf Héctor De Bourgoing zu. Bereits Ende der 1930er Jahre waren es ehemalige Österreicher, die anschließend für die Bleus spielten, so Rudi „Rodolphe“ Hiden und Heinrich „Henri“ Hiltl, die beide zuvor zum Spielerkreis des Wunderteams gehört hatten. In umgekehrter Reihenfolge gab es gut zwei Jahrzehnte später einige ehemalige französische Nationalspieler, die nach der Unabhängigkeit ihres jeweiligen Heimatlandes auch noch für Marokko (Abderrahman Mahjoub) beziehungsweise Algerien (Rachid Mekhloufi, Mustapha Zitouni, die beide zudem zwischen 1958 und 1962 für die FLN-„Unabhängigkeitself“ aktiv gewesen waren, sowie Mahi Khennane) aufliefen. Ein besonderer Fall ist Michel Platini. Nach 72 Partien in Blau, die letzte 1987, kam er 1988 in einer Freundschaftsbegegnung gegen die UdSSR für Kuwait zum Einsatz, und obwohl er dessen Staatsbürgerschaft nicht besaß, zählt die FIFA dies als offizielle Begegnung.Nachdem der Weltverband die Regeln für Spieler mit zwei Staatsbürgerschaften neu gefasst hat, haben im 21. Jahrhundert zwei weitere Franzosen auch noch ein anderes Nationaltrikot getragen: Geoffrey Kondogbia für die Zentralafrikanische Republik und Paul-Georges Ntep für Kamerun. Austragungsorte und Länderspielgegner Heimstadien Ihre Heimspiele tragen die Franzosen in aller Regel in einem der großen Stadien der Metropolregion Paris aus; das war unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg häufig das Stade Pershing, anschließend das Stade Olympique Yves-du-Manoir in Colombes oder der Parc des Princes. Im Prinzenpark fand auch das erste französische Länderspiel unter Flutlicht statt (am 26. März 1952, 0:1 gegen Schweden), und im November 2021 kehrten die Bleus für eine einzelne Partie dorthin zurück. Seit 1998 ist das Stade de France in Saint-Denis das „Nationalstadion“, in dem die Bleus im September 2019 gegen Andorra zum einhundertsten Mal antraten. Allerdings weicht der französische Verband davon gelegentlich auch ab und vergibt Länderspiele in ein Stadion der anderen Ballungsräume, um so zu verdeutlichen, dass die Équipe Tricolore die Mannschaft des ganzen Landes ist; das Stade Vélodrome in Marseille hat die Bleus 17 Mal empfangen, auch in Nantes, Lyon/Décines-Charpieu (je zehn Spiele), Lens (neun), Saint-Étienne, Toulouse (je sieben), Montpellier, Bordeaux und Nice (Nizza) (je fünf) waren sie schon häufiger Gastgeber. Begegnungen mit weniger attraktiven Teams werden sogar vereinzelt in kleineren „Provinzstadien“ ausgetragen; auch ein Länderspiel in Monaco (1988) wird dazu gerechnet. Im März 2022 kam es zum 110. Heimspiel in einem außerhalb des Großraums Paris gelegenen Stadion. In Frankreichs überseeischen Besitzungen – was in der FFF-Statistik gleichfalls zu den Heimspielen zählt – ist die Équipe Tricolore bisher nur zweimal angetreten, und zwar 2005 gegen Costa Rica in Fort-de-France auf Martinique sowie Anfang Juni 2010 anlässlich eines Testspiels im unmittelbaren Vorfeld der WM in Saint-Pierre auf Réunion gegen China. Mit Abstand häufigster Spielort außerhalb des eigenen Landes ist Brüssel mit 34 Partien, gefolgt von London (16), Luxemburg (11), Genève, Stockholm/Solna, Budapest und Wien (je 10), Sofia (9), Dublin, Moskau und Rotterdam (je 8). Die größte Zuschauerzahl, die einem Spiel der Bleus beiwohnte, fand sich ebenfalls bei einem Auswärtsspiel ein: im April 1949 sahen 125.631 Besucher auf den Rängen des Glasgower Hampden Parks einen 2:0-Sieg Schottlands. Auch zwei weitere Partien zogen über 100.000 Zuschauer an: in Madrids Nuevo Estadio de Chamartín (125.000, März 1955) und in Moskaus W. I. Lenin-Zentralstadion (102.000, Juni 1966). Für ein Spiel auf französischem Boden steht der Rekord bei 80.051 Zuschauern (Juni 2007 im Stade de France, 2:0 gegen die Ukraine). Dagegen wurden nur etwa 300 Menschen Augenzeugen einer französischen 0:7-Niederlage gegen Belgien (Mai 1905 im Brüsseler Stadion Vivier d’Oie). Außerdem spielte während der Corona-Pandemie auch Frankreich 2020 und 2021 wiederholt vor komplett leeren Rängen. (Stand: 13. Juni 2022) Häufigste Gegner Die Nationalmannschaft ist bisher gegen 89 Gegner aus sämtlichen Kontinentalverbänden der FIFA angetreten (siehe die chronologische Liste sämtlicher Länderspiele mit zusätzlichen Statistiken zu allen Kontrahenten und den Austragungsorten). Die letzte Premiere gegen einen neuen Gegner gab es im März 2021 gegen Kasachstan. Am häufigsten trafen die Franzosen auf Belgien (75 Begegnungen), das zugleich auch ihr erster Länderspielpartner war; es folgen England (41), Italien, die Schweiz (je 39), Spanien (36), Deutschland (32), Portugal (28), die Niederlande (27), Jugoslawien (26), Österreich (24), Schweden, Bulgarien, Ungarn (je 23), die Tschechoslowakei (20), UdSSR/Russland (19), Luxemburg (18), Rumänien, Irland und Dänemark (je 17), Polen, Norwegen, Schottland (je 16) sowie Island (15). Bei den außereuropäischen Gegnern liegt Brasilien (15, nach anderer Zählung 16) vor Argentinien (12), Uruguay (10), Israel (9), Mexiko (7), Japan (6), Marokko, Chile und Australien (je 5). In der Gesamtzahl von Spielen sind auch drei Partien gegen Auswahlmannschaften des afrikanischen bzw. nord- und zentralamerikanischen Kontinentalverbands – diese beiden Spiele fanden 1972 anlässlich des brasilianischen Unabhängigkeits-Cups (Taça Independência, auch „Mini-Copa“ genannt) statt – sowie des Weltverbandes (die „FIFA World Stars“ im August 2000) enthalten. Die französische Länderspielbilanz mit diesen häufigsten Gegnern ist gegenüber der Schweiz, Deutschland, Österreich, Portugal, Bulgarien, den Niederlanden, Schweden, Polen, Irland, Norwegen, Rumänien, Luxemburg, Dänemark und Island – wie auch bezüglich Israel, Mexiko, Japan und Marokko – positiv sowie gegenüber Schottland, UdSSR/Russland, Chile und Uruguay ausgeglichen. Eine statistische Besonderheit findet sich bezüglich Belgiens, gegen das die Franzosen zumindest in Freundschaftsbegegnungen vor eigenem Publikum seit Juni 1947 – mithin seit mehr als sieben Jahrzehnten – nicht mehr haben gewinnen können (sieben Unentschieden und fünf Niederlagen). Überraschend selten ist es hingegen bisher zu offiziellen A-Länderspielen gegen die Nationalmannschaften aus dem ehemaligen Französisch-Nordafrika gekommen: außer fünf Spielen gegen Marokko (Unabhängigkeit 1956, erste Begegnung 1988) stehen fünf gegen Tunesien (Unabhängigkeit 1956, erste Begegnung 1978) und sogar erst eins gegen Algerien (Unabhängigkeit 1962, erste Begegnung 2001) zu Buche, wobei gegen Algerien Zuschauerausschreitungen zum einzigen Spielabbruch der französischen Länderspielgeschichte führten. Ähnlich spärlich sind die Aufeinandertreffen mit Frankreichs ehemaligen westafrikanischen Kolonien gesät: drei Spiele sowohl gegen Kamerun als auch gegen die Elfenbeinküste und je eines gegen den Senegal und Togo. Dabei waren eines der Kamerun-Spiele sowie die Begegnungen gegen Togo und den Senegal nicht aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung, sondern als Pflichtspiele bei Interkontinentalturnieren zustande gekommen. (Stand: 13. Juni 2022) Ausrüster, Fernsehübertragungsrechte und Sponsoren Seit 1972 war Adidas der Hauptausrüster der französischen Nationalmannschaften, der für dieses Recht bis Ende 2010 jährlich 10,5 Millionen Euro (zuzüglich Prämien) bezahlte. 2011 trat Nike an dessen Stelle und überwies dafür – zunächst bis 2018 – 42,66 Millionen Euro per annum an die FFF, wozu jeweils noch Ausrüstungsgegenstände im Wert von 2,5 Millionen Euro hinzukamen. Diese Zahlung erhöht sich für den Zeitraum 2018 bis 2026 auf 50 Millionen Euro jährlich. Als erste Fernsehübertragung eines französischen Länderspiels war 1954 die Begegnung in Hannover gegen Deutschland auf ORTF zu sehen. Seit 1987 besitzt der TV-Sender TF1 die Übertragungsrechte, der dafür inzwischen jährlich 45,35 Millionen Euro an die FFF überweist. Außer Nike und TF1 unterstützen weitere Unternehmen die Nationalmannschaft finanziell. Sogenannte Hauptsponsoren mit jährlichen Zahlungen in Höhe von je vier Millionen Euro p. a. sind Crédit Agricole, GDF Suez und PMU, als Nebensponsoren Carrefour, Citroën, SFR und Sport 2000 für je 1,4 Millionen Euro. Dazu kommt ein Pool von vier weiteren Unternehmen mit je 500.000 Euro. Nach dem Fiasko der Bleus bei der WM in Südafrika sind die Verträge allerdings auf Druck der Sponsoren ergänzt worden und enthalten seither eine zusätzliche Malus-Regelung, wonach der Verband bei einem Ansehensverlust der Mannschaft bis zu 10 % der Sponsoringgelder erstatten muss. Mit der regelmäßigen Ermittlung des Images wurde eigens ein Meinungsforschungsinstitut beauftragt. Frankreich bei den Olympischen Spielen Bereits 1900 bei den im Rahmen der Weltausstellung stattfindenden Olympischen Spielen nahm eine französische Mannschaft am Fußballwettbewerb teil, wie auch bei anderen Mannschaftswettbewerben vertreten durch ein Vereinsteam. Dies war der französische Vizemeister von 1900, der Club Français Paris, weil in den Reihen des Meisters Le Havre AC mehrere Briten standen. Im ersten olympischen Fußballspiel am 20. September im Vélodrome de Vincennes wurde gegen die britische Mannschaft von Upton Park F.C. vor 500 Zuschauern mit 0:4 verloren, im zweiten am 23. September konnte die belgische Studentenauswahl vor 1500 Zuschauern mit 6:2 besiegt werden. Ursprünglich als separate Spiele angesetzt, wurde das französische Team vom IOC nachträglich auf den 2. Platz gesetzt. Mit Fernand Canelle spielte auch einer der dabei eingesetzten Spieler beim ersten offiziellen Länderspiel Frankreichs am 1. Mai 1904 mit. Bei den Zwischenspielen in Athen 1906 standen zwar einige französische Spieler im Team aus Smyrna, französische Mannschaften nahmen aber erst 1908 wieder offiziell teil. Da die Böhmische Mannschaft auf Druck der österreichischen Regierung nicht teilnehmen durfte, erreichte die französische A-Mannschaft kampflos das Halbfinale, während die B-Mannschaft Dänemark im Viertelfinale mit 0:9 unterlag. Noch schlechter erging es der A-Mannschaft im Halbfinale gegen Dänemark: Das 1:17 ist bis heute die höchste Niederlage einer europäischen Mannschaft in einem Länderspiel. Nachdem Frankreich 1912 kurzfristig abgesagt hatte, nahm es 1920 wieder teil. Im Viertelfinale wurde Italien mit 3:1 besiegt, im Halbfinale unterlag Frankreich der Tschechoslowakei. Da diese im Finale kurz vor der Halbzeitpause das Spiel verließ und somit disqualifiziert wurde, war die französische Elf wegen des in einer Abwandlung des Bergvall-Systems ausgetragenen Turniers ebenfalls ausgeschieden. Bei den Spielen 1924 startete Frankreich im Achtelfinale im Stade de Paris vor 15.000 Zuschauern mit einem 7:0 gegen Lettland, musste dann aber im Viertelfinale vor 45.000 Zuschauern (höchste Zuschauerzahl bei diesem Fußballturnier) beim ersten Länderspiel gegen eine außereuropäische Mannschaft die Überlegenheit der Uruguayer anerkennen, die mit 5:1 gewannen und später Olympiasieger wurden. 1928 war für Frankreich bereits im Achtelfinale Schluss, als man Italien mit 3:4 unterlag. An den folgenden Spielen nahm nicht mehr die A-, sondern die Amateurmannschaft teil. Diese erreichte noch dreimal das Viertelfinale (1948, 1968 und 1976); 1984 konnte Frankreich durch die Olympiamannschaft als erste Nation in einem Jahr sowohl die Europameisterschaft als auch die olympische Goldmedaille gewinnen. Auszeichnungen Die italienische Sportzeitung Gazzetta dello Sport wählte die französische Nationalmannschaft in den Jahren 1998, 2000 und 2018 zur „Weltmannschaft des Jahres“. Siehe auch Liste der Länderspiele der französischen Fußballnationalmannschaft Liste der französischen Fußballnationalspieler Literatur Julien Bonnefoy: Histoires insolites des Bleus. City Èd., 2020, ISBN 978-2-8246-1774-9 Pierre Cazal: Frankreich (1900–1920). in: International Federation of Football History & Statistics (Hrsg.), Fußball-Weltzeitschrift Nr. 23, 1994 Denis Chaumier: Les Bleus. Tous les joueurs de l’équipe de France de 1904 à nos jours. Larousse, o. O. 2004, ISBN 2-03-505420-6 Matthieu Delahais/Bruno Colombari/Alain Dautel: Le Dico des Bleus. Marabout, Vanves 2017, ISBN 978-2-501-12142-2 Pierre Delaunay/Jacques de Ryswick/Jean Cornu: 100 ans de football en France. Atlas, Paris 1982, 1983², ISBN 2-7312-0108-8 Gérard Ejnès/L’Équipe: La belle histoire. L’équipe de France de football. L’Équipe, Issy-les-Moulineaux 2004, ISBN 2-9519605-3-0 Fédération Française de Football (Hrsg.): 100 dates, histoires, objets du football français. Tana, o. O. 2011, ISBN 978-2-84567-701-2 France Football: Où va l’Équipe de France? Une histoire en chiffres. Heft 3423 vom 15. November 2011 Sophie Guillet/François Laforge: Le guide français et international du football éd. 2009. Vecchi, Paris 2008, ISBN 978-2-7328-9295-5 (mit Supplément 2010, Paris 2009) Jean-Philippe Rethacker/Jacques Thibert: La fabuleuse histoire du football. Minerva, Genève 1996, 2003², ISBN 978-2-8307-0661-1 Weblinks Homepage des französischen Verbandes (französisch) Zahlreiche Statistiken über die jüngere Geschichte der Équipe tricolore seit 1976 (französisch) Anmerkungen und Quellen Fußballnationalmannschaft (UEFA) Fussball
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https://de.wikipedia.org/wiki/Raubw%C3%BCrger
Raubwürger
Der Raubwürger (Lanius excubitor), zuvor Nördlicher Raubwürger, ist eine etwa amselgroße Vogelart aus der Gattung Lanius und der Familie der Würger (Laniidae). Die Neubenennung wurde durch die taxonomische Revision notwendig, die 2016 den Taigaraubwürger (Lanius borealis) mit 6 Unterarten von L. excubitor abtrennte und in Artrang stellte; mit diesem dagegen wurden bis auf die Nominatform alle Unterarten des danach monotypischen Iberienraubwürgers (Lanius meridionalis) zusammengeführt. Mit Stand Ende 2018 ist der Raubwürger eine polytypische Art mit 11 oder nach anderer Einschätzung 12 Unterarten. Der Raubwürger ist die größte und schwerste auch in Mitteleuropa vorkommende Art dieser Würgergattung. Raubwürger sind auffallende, vor allem grau, weiß und schwarz gefärbte Vögel. Männchen und Weibchen sind einander sehr ähnlich. Außer in Mittel-, Nord-, Ost- und Teilen Westeuropas ist die Art in Afrika von der Mittelmeerküste südwärts bis in den Savannengürtel nördlich des Äquators, im Nahen- und Mittleren Osten und in Zentralasien und Südasien, ostwärts bis zum Altai und Tien Shan und südwärts bis Zentralindien verbreitet. In Europa und Asien überschreiten die Brutgebiete von L. excubitor den Nördlichen Polarkreis deutlich. Er gehört damit zusammen mit Taigaraubwürger und Braunwürger zu den Vertretern der Gattung, die am weitesten nach Norden vorgedrungen sind. Diese nördlichsten Populationen des Raubwürgers sind Zugvögel; nach Süden hin nimmt die Zugbereitschaft kontinuierlich ab; die Vögel im südlichen und südöstlichen Verbreitungsbereich sind Standvögel. Raubwürger sind streng territorial und leben in saisonalen Paaren. Wie die Mehrzahl der Würger ist auch L. excubitor ein Ansitzjäger, der von einer erhöhten Warte aus die Umgebung beobachtet und geeignete Beutetiere nach einem kurzen Gleitflug meist am Boden schlägt. Die Art erbeutet Großinsekten und andere Wirbellose sowie unterschiedliche kleine Wirbeltiere. Der Anteil an Wirbeltieren an der gesamten konsumierten Biomasse, insbesondere an Kleinnagern und Vögeln, wird nach Norden hin größer. Der Gesamtbestand der Art ist gemäß der Einschätzungen von IUCN, HBW und anderer Autoritäten ungefährdet (LC=least concern). Diese Bewertung erfolgt vor allem auf Grund des sehr großen Verbreitungsgebietes und des global noch immer sehr großen Bestandes. Dessen ungeachtet ist der Gesamtbestand rückläufig. In Mitteleuropa verschwand der Raubwürger aus sehr vielen Regionen. In Deutschland brüten noch maximal 2000 Paare, die meisten von ihnen in Niedersachsen und Sachsen, in Österreich bestehen zwei Restpopulationen im nördlichen Waldviertel mit einer stark schwankenden Anzahl von einigen 10 Brutpaaren, in der Schweiz brütet die einstmals regional nicht seltene Art seit 1986 nicht mehr. In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2020 wird die Art in der Kategorie 1 als vom Aussterben bedroht geführt. Merkmale Allgemein mini|Weiblicher Raubwürger – deutlich die Sperberung des Bauchgefieders Der Raubwürger ist ein gut amselgroßer, überwiegend grau wirkender, langschwänziger Vogel mit deutlichen schwarzen und – von Unterart zu Unterart unterschiedlich ausgeprägten – weißen Gefiederpartien. Charakteristisch ist der graue Rumpf, wobei die Oberseite immer erheblich dunkler gefärbt ist als der Brust- und Bauchbereich, der bei einigen Unterarten fast weiß sein kann. Von der Basis des kräftigen, dunklen Hakenschnabels ausgehend, zieht sich ein rein schwarzes, schmales Band über die Augen bis zu den Ohrdecken, wo es sich leicht verbreitert. Die Stirn wird bei den meisten Unterarten von dieser Maske jedoch nicht erreicht. Bei der Mehrheit der Unterarten ist diese Gesichtsmaske von einem schmalen, weißen Brauenstreif begrenzt. Die relativ breiten und runden Flügel sind schwarz. Beim sitzenden Vogel erscheint immer ein kleines, weißes Flügelfeld, bei einigen Unterarten zwei, die gegeneinander verschoben sichtbar werden. Sie werden von der basalen Weißfärbung der Handschwingen und einer unterschiedlichen Anzahl der Armschwingen gebildet. Scharf kontrastieren die schwarzen Flügel mit einem hellen, manchmal reinweißen Gefiedersaum im Schulterbereich. Die Armschwingen sind immer deutlich reinweiß gesäumt. Der lange Schwanz ist abgerundet oder gestuft; er ist kontrastreich schwarz-weiß gefärbt, wobei die inneren Steuerfedern schwarz, die äußeren weiß sind; von unten wirkt der Schwanz fast reinweiß. Im Flug wirkt der Raubwürger grau-schwarz-weiß. Charakteristisch in der Oberansicht sind das breite weiße Flügelfeld auf schwarzem Flügelgrund, die weiße Umsäumung der Armschwingen sowie der lange, meist abgerundete, weiß gerandete, schwarze Schwanz. Die Geschlechter unterscheiden sich in der Größe nicht und in ihrer Färbung nur unwesentlich. Weibchen sind meist geringfügig weniger kontrastreich gezeichnet, häufig ist eine leichte Sperberung im Brust-, Flanken- und Nackenbereich erkennbar. Die weißen Gefiederanteile der Flügel und des Schwanzes sind beim Weibchen kleiner als beim Männchen und weniger scharf von den schwarzen abgesetzt. Die bei den Männchen tiefschwarzen Gefiederbereiche können bei den Weibchen ein sehr dunkles Braun aufweisen. Im Flug sind Männchen und Weibchen anhand der Flügelfärbung recht sicher unterscheidbar: Beim Männchen bleibt das weiße, sichelförmige Flügelfeld etwa gleich breit, beim Weibchen wird es zum Körper hin deutlich schmäler. Die Sperberung juveniler Individuen vor allem im Hals-, Brust-, Flanken- und Nackenbereich ist deutlich, aber nicht so markant wie bei einigen anderen Würgerarten; die Handschwingen der Jungvögel sind breiter weiß eingefasst, und der Schnabel ist nicht schwarz, sondern mittelbraun; am Unterschnabel weist er helle Ockertöne auf. Flug Der Flug von Ansitz zu Ansitz verläuft bogenförmig und erinnert etwas an einen Spechtflug, jedoch werden die Flügel niemals eng an den Körper angelegt. Kurz vor dem Erreichen einer neuen Ansitzwarte steilt der Vogel markant auf. Der kräftige und sehr schnelle Distanzflug dagegen ist geradlinig. Der Raubwürger segelt kurze Strecken und rüttelt häufig. Im Flug sind die weißen Flügelabzeichen, der schmale weiße Schulterbereich sowie die schwarz-weiße Schwanzfärbung gute Identifizierungsmerkmale. Lautäußerungen Der Gesang des Raubwürgers, bei dem beide Geschlechter singen, besteht aus kurzen, wohltönend-flötend klingenden Strophen, die sehr variabel sind und in die häufig Elemente anderer Vogelgesänge und Rufe eingebettet werden. Meist beginnt der Gesang mit trrr- oder prrrr-Lautreihen, die später in relativ leise, auf der zweiten Silbe betonte tü-lick…prü-ii Elemente übergehen, die als eigentliche Kontaktrufe gedeutet werden. Dieser Gesang wird von exponierten Warten aus vorgetragen und ist von auffälligen Körperposen begleitet. Auch die Rufe sind sehr vielfältig. Am häufigsten ist der Wächterpfiff, ein scharfer Triller, der vor allem bei der Sichtung eines Flugfeindes zu hören ist. Daneben verfügt der Raubwürger über eine Vielfalt oft rau und heiser klingender Lautäußerungen. In Bedrohungs- oder aggressiv gestimmten Situationen sind aus der Nähe Instrumentallaute, vor allem Schnabelknappen, zu vernehmen. Verbreitung Trotz der Abtrennung der sechs in der borealen Nearktis und der borealen Ostpaläarktis beheimateten Unterarten und ihre Eingliederung in die neue Art Taigaraubwürger Lanius borealis ist das Verbreitungsgebiet des Raubwürgers in Hinblick auf Längen– und Breitenausdehnung enorm. Schwerpunkt der Verbreitung liegt in der eurasischen borealen Zone, nordwärts bis etwa 70°N und ostwärts über den nördlichen Ural hinaus bis in das untere Flusssystem des Ob. Im südwestlichen Randbereich der Verbreitung wird die Art in Zentraleuropa selten; aus vielen Gebieten Mitteleuropas ist sie im Verlauf der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwunden oder kommt nur mehr in Restpopulationen vor. In Westeuropa liegt der Verbreitungsschwerpunkt in französischen Massif central mit einigen weiter westlich vorgeschobenen Verbreitungsinseln. In Großbritannien und Irland brütet die Art nicht. Ebenso fehlt sie auf der Apenninhalbinsel, weiten Teilen der Balkanhalbinsel und auf den großen Mittelmeerinseln. Als Brutvogel verschwunden ist die Art auch aus der Türkei und dem Kaukasusgebiet. Die Iberische Halbinsel, aber auch die Kanaren, sind von der Schwesterart Lanius meridionalis besiedelt. In noch größerer Dichte kommt der Raubwürger im Karpatenbogen und in Siebenbürgen und in angrenzenden Landschaften Rumäniens und Bulgariens vor. In Polen, Belarus und Teilen des Baltikums ist der Raubwürger trotz rückläufiger Brutdichte noch verbreiteter Brutvogel, ebenso im nördlichen und zentralen Teil der Ukraine und im europäischen Teil Nordrusslands, wo die Südgrenze etwa zwischen dem 50. und 54. Breitengrad schwankt. Am südlichen und südöstlichen Verbreitungsrand ist die Brutdichte wieder gering. Seine größte Ostausbreitung erreicht Lanius excubitor im mongolischen Altai und im Tien Shan in Nordwestchina, doch sind diese Regionen von L. pallidirostris bewohnt, dessen taxonomische Stellung unklar ist. Die Brutgebiete der 2016 neu hinzugekommenen Unterarten reichen von den Kanarischen Inseln über die atlantischen Küstengebiete Marokkos, das Territorium Westsahara und Mauretanien entlang der Atlantikküste südwärts bis in den zentralen Senegal, südlich von Dakar. Nach Osten hin erstrecken sie sich vom Küstenland am Mittelmeer bis weit in die Vorberge des Atlas. In Zentrallibyen endet die flächendeckende Brutzone. Weiter ostwärts brütet die Art nur mehr in der küstennahen Kyrenaika, im unteren Niltal sowie an einigen Stellen an der Westküste des Rotes Meeres. In der Sahara sind die meisten größeren und kleineren Oasen besiedelt. Die südliche Verbreitungsgrenze verläuft im Übergangsbereich von Buschsavanne zur Baumsavanne in einer nicht einheitlichen Linie etwa von Dakar nach Djibuti. Weiters ist die Art in Israel und im Libanon Brutvogel und brütet in wenigen Paaren in Syrien und im Irak. Wieder weiter verbreitet ist der Raubwürger auf der Arabischen Halbinsel, auf Sokotra, in den südlichen Küstenregionen des Kaspischen Meeres, im östlichen Iran und im südöstlichen Zagrosgebirge. In Afghanistan kommt die Art nur im östlichen Grenzbereich zu Pakistan vor, Pakistan ist dagegen fast flächendeckend Brutgebiet; dies gilt auch für Indien, wo die Art von den Vorbergen des Himalayas im Norden, südwärts bis in die Bundesstaaten Karnataka und Andhra Pradesh als Brutvogel vorkommt. Die südöstlichsten Brutplätze liegen im westlichen Bangladesch. Wanderungen Der Raubwürger ist sowohl Jahresvogel, fakultativer Kurzstreckenzieher als auch Langstreckenzieher, wobei sowohl die Anteile jener Vögel, die das Brutgebiet im Winter verlassen, als auch die Zugdistanzen von Süden nach Norden zunehmen. Die hochborealen Bereiche werden zur Gänze geräumt, die mittelborealen teilweise. In Norwegen überwintern einzelne Männchen bis etwa 67°N, in Schweden bis zum Polarkreis. Die Winterquartiere der nordischen Vögel liegen meist in den Brutgebieten der etwas südlicher brütenden Populationen, während diese wiederum im weiteren Umkreis des Brutgebietes verharren oder in klimatisch und/oder nahrungsmäßig günstigere Gebiete ausweichen. Die Zugrichtungen sowohl der Unterarten als auch einzelner Populationen sind uneinheitlich: sie liegen im Sektor West-Südwest-Süd-Südost. Die Gebirgsrassen wandern vor allem altitudinal. Zugbewegungen der in gemäßigten Breiten brütenden Vögel werden meist durch Nahrungsengpässe ausgelöst, wobei die Weibchen eher das Brutgebiet verlassen als die Männchen. Skandinavische Vögel scheinen vor allem in Großbritannien zu überwintern, während mitteleuropäische hauptsächlich nach Süd- und Westfrankreich verstreichen. Die russischen Raubwürger überwintern unmittelbar südlich der Brutgebiete, einige Würger aus Osteuropa verstreichen nach Kleinasien oder in das Kaukasusgebiet. Von den in Zentraleuropa brütenden Vögeln verlassen etwa 50 % das Brutrevier. Die zentralasiatischen Würger verbleiben im Brutgebiet oder überwintern südlich davon. Die meisten Populationen von L. (e.) pallidirostris dagegen sind Langstreckenzieher mit Winterquartieren auf der Arabischen Halbinsel oder in Ostafrika. Aufgrund der unterschiedlichen Zugstrategien können die Bestände des Raubwürgers in Mittel- und Westeuropa im Winterhalbjahr größer sein als während der Brutsaison. Lebensraum Aufgrund des sehr großen Verbreitungsgebietes der Art in ganz unterschiedlichen Klima- und Vegetationszonen differieren die bevorzugten Lebensräume in ihrer Detailausstattung, weisen aber wesentliche Gemeinsamkeiten auf: Immer handelt es sich um halboffene oder weitgehend offene, nach Möglichkeit kurzrasige Landschaftstypen mit verstreut stehenden Büschen und Bäumen. Ungefähr 5–15 Ansitze auf einen Hektar sollten vorhanden sein. Wesentlich ist eine gute Rundumsicht sowie eine möglichst unbehinderte Bodensicht. Eingestreute dichtere Gehölze als Ruhezonen sowie Hecken und Dornengestrüpp als Versteck und Spießplatz sind weitere wesentliche Requisiten. Die Höhe der Bäume spielt keine Rolle, auch ihr Alter ist unwesentlich, da diese ohnehin meist nur in Höhen zwischen 4 und 6 Metern genutzt werden. Felder und andere landwirtschaftlich genutzte Flächen sowie möglichst unbefestigte Wege werden durchaus toleriert, stark vom Menschen gestaltete Areale und intensiv genutzte Bereiche werden dagegen gemieden. In Mitteleuropa genügen ausgedehnte Streuobstwiesen, wenn sie zumindest in den Randbereichen Hecken und Gehölzgruppen aufweisen, Heidelandschaften mit Wacholder und anderen Busch- und Baumgruppen, Randbereiche von Mooren mit Busch- und Bruchwaldinseln diesen Habitatanforderungen. Besonders attraktiv werden diese Landschaften, wenn in ihnen Wanderviehwirtschaft betrieben wird, oder sie als Hüteweide genutzt werden. Häufig dienen auch Sekundärlebensräume wie aufgelassene Tagebaugebiete oder Truppenübungsplätze als Lebensraum. Auch Dünenlandschaften und Randbereiche von Riedflächen können sich als Brutrevier eignen. In Nordeuropa und im östlich anschließenden Tundra/Taigagürtel bewohnt die Art noch mit Büschen und einzelnen Birkengruppen bestandenen Fjäll beziehungsweise arktische Tundra, solange sie noch Büsche und Bäume sowie Felsbuckel aufweist, die als Warte dienen können. Als Habitat dienen hier auch Randzonen von zusammenhängenden Wäldern, wenn sie an offene Landschaftsformen angrenzen, ausgedehnte Lichtungen in der ersten Phase der Verbuschung sowie von Waldbränden heimgesuchte Gebiete, ebenfalls in früher Sukzession. Weiter südlich brütet die Art in lichten Kiefernwäldern und in der dichteren Taiga vor allem in offenen Regionen entlang von Fließgewässern, zum Teil auch auf Rodungsflächen am Rande von Siedlungen. Völlig anders stellen sich die Habitatansprüche der Art in Afrika und im zentralen und südlichen Asien dar. Hier dominieren semiaride und aride Lebensräume mit entsprechender Vegetation. In Afrika (bis auf die Regionen am Mittelmeer, wo immergrüne Macchien als Lebensraum dienen) bewohnt die Art mit Büschen und einzelnen Bäumen bewachsene Halbwüsten und Savannengebiete. Besiedelt werden Regionen um Wasserstellen, Oasen, Senken, die eine dichtere Vegetation aufweisen, und Gehölze, die sich entlang von Trockenflüssen halten können. In den Steppen Mittel- und Zentralasiens erscheint L. excubitor in Wermut- und Federgrasvegetation, die von Büschen und Sträuchern unterschiedlicher Art durchsetzt sind (Salzkräuter, Halostachys belangeriana, vor allem aber Saxaul und Pistazie). In den Vorgebirgen des Himalayas kommt die Unterart L. e. lahtora in aufgelockerten, halboffenen, baumbestandenen Habitaten vor, nach Süden zu bevorzugt sie trockene, halbwüstenähnliche Lebensräume. In diesen unterschiedlichen Lebensräumen bewohnen L. e. excubitor, L. e. homeyeri und L. e. leucopterus vor allem die Niederungen und Mittelgebirgslagen bis etwa 1200 Meter. Bis in wesentlich größere Höhen kommen die afrikanischen- (bis 2000 Meter im Ahaggar und im nordäthiopischen Hochland) und die asiatischen Unterarten vor (2300 Meter im Zagrosgebirge und bis 2500 Meter im Altai). Raumbedarf Für einen Vogel in der Größe einer Amsel ist der Raumbedarf außergewöhnlich groß. In Habitaten, die ein optimales Nahrungsangebot aufweisen, kann ein Brutrevier zwar nur an die 10 Hektar umfassen, doch in der Regel sind sie mit etwa 50 Hektar wesentlich größer. Eine noch größere Ausdehnung weisen die Winterreviere auf. Raubwürger brüten bevorzugt in sogenannten Revierklumpen, deren Grenzen zum Teil recht weiträumig überlappen; exakte Angaben zu den Revierausmaßen sind deshalb problematisch. Da zwischen den einzelnen Siedlungsklumpen größere Abstände bestehen (z. B. auf der Schwäbischen Alb 6,4 km), ist die Siedlungsdichte insgesamt gering. In traditionell bewirtschafteten Agrargebieten Russlands wurden bis zu 33 Brutpaare auf 100 km² festgestellt. Nahrung und Nahrungserwerb Die Nahrung des Raubwürgers besteht fast ausschließlich aus Tieren, nur im Herbst werden in sehr geringen Mengen Früchte aufgenommen. Wühlmäuse, vor allem Arten der Gattung Microtus, Echte Mäuse sowie Spitzmäuse (Sorex sp.) überwiegen. Ihr Anteil an der Gesamtnahrungsmasse kann bis zu 90 % betragen. Daneben bilden verschiedene Kleinvogelarten einen weiteren wichtigen Nahrungsanteil. Bei hoher Schneelage können Kleinvögel zur Hauptbeute werden. Während der Jungenaufzucht, vor allem während der ersten Tage, werden verstärkt verschiedene Insektenarten, besonders Laufkäfer, Blatthornkäfer und Rüsselkäfer, aufgenommen, auch Ohrwürmer spielen in dieser Zeit eine Rolle. Selten erbeutet der Raubwürger Fledermäuse, Amphibien, Reptilien oder Fische und gelegentlich wurde die Art an Aas größerer Säugetiere beobachtet. Der Raubwürger ist in der Lage, Vögel bis zur Größe einer Wacholderdrossel und Säugetiere bis zur Größe eines Lemmings zu überwältigen und Beutetiere bis zum eigenen Gewicht im Fluge wegzutragen. Der Raubwürger ist vor allem ein Wartenjäger, der von meist exponierten, mehrheitlich in Höhen zwischen drei und acht Metern liegenden Ansitzen aus insbesondere den Boden seiner Umgebung nach Nahrung absucht. Wird ein Beutetier entdeckt, gleitet er steil abwärts und versucht, es nach einem bodennahen Gleitflug zu schlagen. Die Warten werden häufig gewechselt. Neben dieser Hauptjagdmethode werden Beutetiere auch in einem langsamen Suchflug entdeckt, der häufig von kurzen, relativ bodennahen Rüttelphasen unterbrochen wird. Die Beute wird hauptsächlich am Boden geschlagen, doch wurden auch erfolgreiche Flugjagden auf Kleinvögel und Insekten beobachtet. Auch im Geäst sitzende Vögel werden in einem überraschenden, sperberartigen Angriffsflug erbeutet. Bei sehr schlechter Sicht sucht der Raubwürger auch am Boden hüpfend oder schreitend nach Nahrung. Es bestehen Hinweise, dass Raubwürger UV-Licht reflektierende Urinmarken von Wühlmäusen erkennen können. Das Beutetier wird durch kräftige Schnabelhiebe oder durch einen Nackenbiss getötet und häufig auf Dornen aufgespießt oder in einer Astgabel eingeklemmt, was sowohl der Aufbewahrung und Vorratshaltung als auch der Fixierung der Beute dient, um bei ihrer stückweisen Zerlegung die ganze Kraft einsetzen zu können. Gefüllte Vorratskammern spielen auch bei der Partnerwahl eine Rolle. Eine polnische Untersuchung zeigte deutliche Veränderungen im Verhalten: In der Balz- und Vorbrutzeit wurden mehr Beutetiere aufgespießt und vor allem an den Reviergrenzen in gut sichtbarer Lage deponiert. Viele der Beutetiere wurden nicht gefressen. Während der Brutzeit und danach lagen die meisten Spießplätze relativ versteckt und nestnah und die Beutetiere wurden in der Regel verzehrt. Inwieweit den Gesangsimitationen eine Funktion beim Beuteerwerb zukommt, ist nicht erschöpfend erforscht. Möglicherweise könnten dadurch verschiedene Kleinvogelarten angelockt werden und so leichter zu erbeuten sein. Verhalten Allgemein Der Raubwürger ist tagaktiv, auch in den nördlichsten, während der Sommermonate fast immer taghellen Brutgebieten hält er einen Tag-Nacht-Rhythmus ein. In der Brutzeit reicht die Aktivitätsphase in die Dämmerung, besonders bei der Jagd auf Fledermäuse oder wenn bestimmte Insektenarten schwärmen. Den Tag verbringt er vor allem mit Ansitzjagd, wobei seine Körperhaltung meist etwas waagerechter ist als die anderer Würger. Während der Ruheperioden sucht er dichte Büsche oder junge Nadelbäume auf, oft deuten größere Gewölleansammlungen auf regelmäßig benutzte Schlafplätze hin. Wenn vorhanden, werden Wacholderbüsche (Juniperus communis), oder dichtes Dornengestrüpp als Schlafgehölze bevorzugt. Raubwürger baden oft, wobei sie den Körper ganz unter Wasser tauchen. Anschließend wird das Gefieder mit leicht ausgebreiteten Schwingen getrocknet. Nach den Mahlzeiten reinigt er den Schnabel durch seitliches Reiben an einem Ast. Sozialverhalten Der Raubwürger ist während des gesamten Jahres territorial. Während der Brutzeit behauptet ein Brutpaar ein Territorium, außerhalb der Brutzeit besetzt jedes Individuum ein Revier für sich. Die Winterterritorien sind meist etwas größer als die der Brutsaison. Häufig bilden einige Brutpaare sogenannte Revierklumpen, die relativ weiträumig von Nachbarrevieren getrennt sind, gelegentlich aber auch mit ihnen überlappen. Auch in den Wintergebieten besteht ein loser sozialer Zusammenhang zwischen einzelnen Revieren. Die Bedeutung dieser sozialen Affinität zeigt sich darin, dass Einzelbrutplätze in optimalen Habitaten eher aufgegeben werden als Revierklumpen selbst in suboptimalen Lebensräumen. Die Reviergrenzen werden von den Revierinhabern regelmäßig inspiziert, häufig führen diese Markierungsflüge zu Gruppentreffen mit anderen Mitgliedern des Revierverbandes außerhalb der jeweiligen Reviergrenzen. Obwohl vorhanden, ist das Rivalitäts- und Aggressionsverhalten gegenüber Mitgliedern des Revierverbandes gemäßigter als das gegenüber fremden Artgenossen. Feind- und Aggressionsverhalten Sowohl gemeinsame Brutterritorien als auch außerbrutzeitliche Individualterritorien werden gegenüber Artgenossen energisch verteidigt, wobei es aber fast immer bei Drohgebärden bleibt. Dabei wird abhängig vom Aggressionsgrad der Schwanz gefächert, die Flügel zucken, und der Schnabel ist bei fast waagrechter, stark gebuckelter Körperhaltung vorgestreckt. Bei höchster Erregung ist das Nacken- und Kopfgefieder gesträubt. Begleitet werden diese Körperposen von rauen, kreischenden Rufen. Auf Flugfeinde reagiert die Art sehr unterschiedlich. Naht ein Habicht oder Sperber oder eine bevorzugt Vögel jagende Vogelart (verschiedene Falkenarten, Eulen, Raubmöwen), warnt der Raubwürger intensiv und flieht in dichtes Gestrüpp. Mäusebussarde, Milane, Turmfalken, Raben, Krähen, Elstern und Häher werden während der Brut energisch attackiert und über die Reviergrenzen hinaus verfolgt. Außerhalb der Brutzeit warnt der Würger zwar, greift die Eindringlinge aber nur an, wenn sie einem Spießplatz zu nahe kommen. Vor nahenden Menschen wird während der Brut- und Nestlingszeit schon in Entfernungen von über 200 Metern gewarnt, im Winter kann die Fluchtdistanz unter 50 Meter sinken. Selten wurden auch direkte Angriffe auf Menschen beobachtet, die dem Brut- oder einem Spießplatz zu nahe kamen. Gegenüber anderen Würgerarten besteht kein, oder nur ein mäßiges Rivalitätsverhältnis; Neuntöter brüten regelmäßig in Raubwürgerrevieren, ohne dass Aggressionsreaktionen beobachtet worden wären. Wacholderdrosseln suchen nicht selten die Nähe zu Raubwürgerrevieren und geben gelegentlich ihre Brutplätze auf, wenn die Raubwürger abziehen. Sie profitieren wahrscheinlich von der Luftraumüberwachung durch diese Würgerart. Welchen Nutzen der Raubwürger aus dieser Nähe zieht, ist nicht bekannt, doch ist auffällig, dass die im Revier brütenden Wacholderdrosseln von der Würgerart nicht angegriffen werden, und umgekehrt die Wacholderdrosseln die Würger auch nicht bekoten. Brutbiologie Raubwürger werden gegen Ende des ersten Lebensjahres geschlechtsreif, viele der Vögel brüten aber erst im zweiten Lebensjahr zum ersten Mal. Sie führen eine monogame Brutsaisonehe; bei in einem Revierverband brütenden Paaren wurden jedoch gelegentliche Kopulationen verpaarter Weibchen mit Männchen aus Nachbarrevieren beobachtet. Die Paarbildung der Standvögel beginnt schon Ende Februar, die der Zugvögel – abhängig von der geografischen Breite des Brutgebietes – wesentlich später. Sie dauert fast einen Monat und ist gekennzeichnet durch einen langsamen Abbau der innerartlichen Aggression. Während dieser Anpaarungszeit verliert das Weibchen mehr und mehr seine Selbstständigkeit, bis es zum Zeitpunkt der Eiablage vollständig vom Männchen mit Nahrung versorgt wird. Auch in der Auswahl der Wartenplätze wird diese Dominanzverschiebung deutlich: Bei verpaarten Raubwürgern sitzt das Männchen immer höher und weiter außen als das Weibchen, ein Verhalten, das Bauchzeigen genannt wird. Bei der Nahrungsübergabe zeigt das Weibchen Nestlings- und Beschwichtigungsverhalten: In geduckter Körperhaltung zittert es mit den Flügeln und stößt Bettelrufe aus. In der Zeit der Hochbalz, in der auch mit dem Nestbau begonnen wird, vollführt das Männchen auffällige Hochflüge, aus denen es, langsam abwärts gleitend, zum Neststandort zurückkehrt. Den häufigen Kopulationen gehen meist solche Hochflüge sowie Futterübergaben voraus. Neststandort und Nest Der Neststandort wird vom Männchen ausgewählt. Meist liegt er in Bäumen oder in höheren, bevorzugt mit Dornen bewehrten Büschen. Die Art des Nistgehölzes ist sehr unterschiedlich, ebenso die Höhen, in denen das Nest errichtet wird. Nester können relativ bodennah (unter zwei Meter), aber auch in relativ großen Höhen von 20 Metern und mehr errichtet werden. Baumnester liegen meist in einer besonders dichten Stelle in der Krone, nach Möglichkeit sind sie sowohl von oben als auch von unten gegen Sicht gedeckt. Oft werden sie in Hexenbesen oder in Mistelbüsche gebaut. Der Nistplatz wird häufig von höheren Bäumen überragt, von denen aus das Männchen das Nest bewachen kann. Sonnenexponierte Lagen auf Hügelkuppen oder kleinen Erhebungen zeichnen viele Neststandorte aus. Das Nest wird vom Paar gemeinsam gebaut, das Männchen schafft jedoch das meiste Material herbei. Das voluminöse Nest wirkt von außen unregelmäßig und etwas schlampig gebaut, ist jedoch eine stabile und festgefügte Konstruktion. Verbaut werden Stängel, Zweige, Grashalme und andere Materialien. In die Außenverkleidung werden häufig dornige Zweige eingearbeitet. Für die Nestmulde verwendet diese Würgerart vor allem Federn, Tierhaare oder weiche Pflanzenteile (zum Beispiel Wollgras). Gelegentlich werden Nester mehrmals ausgebessert und über mehrere Jahre hinweg benutzt. Gelege, Brut und Nestlingszeit Das Gelege besteht aus vier bis sieben, in Ausnahmefällen bis zu neun Eiern, die in ihrer Färbung recht variabel, meist aber grünlich- oder bläulichweiß sind und vermehrt am stumpfen Pol eine bräunliche oder purpurne Fleckung aufweisen. Ihre Größe beträgt im Mittel 26,5 × 19,5 Millimeter. Der Raubwürger brütet nur ein Mal im Jahr, nur bei frühem Gelegeverlust kommt es fast immer zu einer Ersatzbrut, meist mit geringerer Eianzahl. Die Eiablage der westeuropäischen Standvögel beginnt frühestens Ende März, die der hochnordischen Populationen wesentlich später; afrikanische Brutvögel beginnen zu Beginn der jeweiligen Hauptregenzeit mit der Brut, die Brutperiode der innerasiatischen Populationen liegt zwischen April und Juni. Vollgelege können bis in den Juni hinein gefunden werden. Die Eier werden im Abstand von 24 Stunden in den Vormittagsstunden gelegt, das Weibchen beginnt erst nach der Ablage des vorletzten Eies zu brüten. Die Brutdauer liegt – abhängig von der Witterung – zwischen 15 und 17 Tagen. Die Jungen schlüpfen im Abstand von zwei Tagen, nackt und blind. In den ersten Tagen versorgt das Männchen Weibchen und Brut mit Nahrung, nach etwa einer Woche beteiligt sich das Weibchen an der Nahrungsbeschaffung, verbringt die meiste Zeit jedoch noch immer am Nest. Gelegentlich wurden sowohl unverpaarte Männchen als auch Weibchen als Bruthelfer beobachtet. Die Jungen sind nach durchschnittlich 19 Tagen flügge; sie werden noch mindestens weitere vier Wochen von den Eltern betreut, bevor sich der Familienverband nach und nach auflöst und die Jungen dismigrieren. Die Zerstreuungswanderungen sind relativ weiträumig. Wiederansiedlungen in 200 km Entfernung vom Brutgebiet wurden festgestellt. Die Paarbindung erlischt bald nach dem Wegfliegen der Jungvögel, und die Eltern wechseln in die getrennten Winterreviere oder verlassen gänzlich das Brutgebiet. Der Bruterfolg ist insgesamt niedrig. Nur aus 32,6 % der Eier werden flügge Junge., bei optimalen Bedingungen kann die Ausfliegerate auf etwas über 50 % ansteigen. Häufigste Ursachen für Brutverluste sind klimatische Einflüsse gefolgt von Prädation, vor allem durch Krähen und Elstern, Habicht, Waldkauz und Mardern. Nicht selten wird der Raubwürger vom Kuckuck (Cuculus canorus) parasitiert, auch intraspezifischer Brutparasitismus kommt vor. Systematik L. excubitor wurde 1758 von Carl von Linné erstbeschrieben. Lanius stellte er gemeinsam mit den Geiern, den Falken und den Eulen zu den Habichtartigen (Accipitres). Bis auf den ostasiatischen Keilschwanzwürger und den schon von Linné erstbeschriebenen Louisianawürger wurden nach und nach alle neu wissenschaftlich beschriebenen holarktischen großen, grauen, Würger als Unterarten L. excubitor zugezählt, sodass eine extrem polytypische Spezies mit mehr als 20 Unterarten und einem riesigen Verbreitungsgebiet entstand. Trotz erheblicher Färbungsunterschiede, unterschiedlicher Habitatpräferenzen und unterschiedlicher Verhaltensdetails zwischen den einzelnen Unterarten, hatte diese systematische Einschätzung bis in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts Bestand. Zweifel an ihrer Validität kamen jedoch schon auf, als Charles Vaurie 1959 vorschlug, den Gesamtkomplex in eine Nord- und in eine Südgruppe zu unterteilen. Dieser Ansatz wurde 1990 von Siegfried Eck in seinem Konzept der Geospezies wieder aufgenommen und 1993 im HBV und 1997 von Lefranc konkretisiert. Vor allem die Tatsache, dass die Brutgebiete von L. excubitor und L. (e). meridionalis in Südfrankreich einander bis auf 30 Kilometer nahe kommen, ohne dass Hybride bekannt geworden wären, nährte Überlegungen, dass es sich um selbständige Arten handeln müsste. Taxonomische Konsequenzen folgten jedoch erst im Jahre 2000, als die südlichen und südöstlichen 8 Unterarten von L. excubitor mit Lanius meridionalis als nominotypischem Taxon in Artrang gestellt wurden. Diese Einschätzung wurde 2016 wieder aufgegeben. Ausgelöst wurde die nun folgende, umfangreiche taxonomische Neubewertung durch die Arbeit von Urban Olsson et al. The Lanius excubitor conundrum, deren Ergebnisse zum Teil zwar nicht eindeutig waren, trotzdem jedoch die bisherige Systematik im Artenkreis der Großen Grauen Würger weitgehend umgestaltete. Bis auf Lanius meridionalis kamen die verbleibenden 7 Unterarten zu L. excubitor, von dem wieder 6 in der nördlichen Nearktis und der nordöstlichen Paläarktis verbreitete Unterarten abgetrennt wurden und mit dem namengebenden Taxon Lanius borealis (Taigaraubwürger) Artrang erhielten. So stellt sich zurzeit (Ende 2018) L. excubitor als polytypische Art mit 11 Unterarten dar, eine Einschätzung, die von allen Autoritäten einhellig als vorläufig bezeichnet wird. Die Unterarten unterscheiden sich sowohl in ihrer Größe als auch in der Färbung des Gefieders, insbesondere in der Ausdehnung und Anzahl der Weißzeichnungen auf den Flügeln und am Schwanz, sowie im Vorhandensein oder Fehlen einer Wellenzeichnung auf Brust und Bauch. Die zwei ersten Unterarten zählten auch vor der taxonomischen Revision 2016 zu L. excubitor. Kennzeichnend ist, dass bei Vögeln in der Reihe excubitor > homeyeri > (leucopterus) das Ober- und Untergefieder heller wird, die Weißabzeichen in der Flügel- bzw. Schwanzfärbung ausgedehnter werden und die Flügellänge zunimmt. Das schmutzigweiße Unterseitengefieder weist weder bei adulten Männchen noch bei adulten Weibchen eine Wellenzeichnung oder Sperberung auf. Lanius e. excubitor , 1758: Das Vorkommen dieser Unterart erstreckt sich über West-, Mittel- und Nordeuropa bis in den nördlichen Teil Westsibiriens. Nord-, Zentral- und Nordosteuropa, ostwärts bis zum Mündungsbereich des Ob, südwärts bis in das Wolgagebiet in Tatarstan; außerbrutzeitlich in Südskandinavien, Großbritannien, Westfrankreich, Kleinasien, dem Kaukasusgebiet und Transkaspien. In diesem Taxon sind die nicht mehr anerkannten Unterarten L. e. galliae und L. e. melanopterus enthalten. Dunkle, bräunliche Vögel, die früher L. e. melanopterus zugeschrieben wurden, erscheinen vor allem im Winter in Teilen des Brutareals von L. e. excubitor. Die Kennzeichen von L. e. excubitor werden im Beschreibungsabschnitt behandelt. L. e. homeyeri , 1873: Teile Südosteuropas (Bulgarien, Südrumänien, Ukraine ostwärts bis zu den westlichen Vorgebirgen des Urals) außerdem Südwestsibirien ostwärts bis Zentralkirgisien bis an den Fluss Naryn. Sie ist heller als die Nominatform mit ausgedehnteren Weißzeichnungen im Flügel. Die sehr hellen Vögel vom Oberen Naryn, die häufig einer Unterart L. e. leucopterus , 1875 zugerechnet wurden, werden hier als klinale Variante von L. e. homeyeri aufgefasst. Bis auf L. e. theresae zählten die folgenden Unterarten bis 2016 zu Lanius meridionalis. Die nordafrikanischen Rassen algeriensis > elegans > leucopygos werden von West nach Ost heller. L. e. koenigi , 1901 ist die Inselrasse der Kanarischen Inseln. Sie kommt auf allen größeren Inseln dieser Inselgruppe vor. Ihr Bestand wird auf etwa 1000–1500 Brutpaare geschätzt. Genetische Untersuchungen vor allem zu dieser Inselrasse zeigten, dass sie verwandtschaftlich vergleichsweise weit von L. meridionalis entfernt ist, der benachbarten Festlandrasse (L. e. algeriensis) genetisch aber sehr nahesteht. Durch diese Erkenntnis wurde die Diskussion zum L. meridionalis s.lat. wieder entfacht. Blassgrau auf der Oberseite, sehr hellgrau auf der Unterseite; schlanker, jedoch stark gekrümmter Schnabel, sonst weitgehend gleich mit algeriensis. L. e. algeriensis , 1839: Das Verbreitungsgebiet dieser Unterart liegt an der Atlantikküste Nordwestafrikas, in Marokko, Westsahara und Westmauretanien sowie an der Mittelmeerküste Marokkos, Algeriens Tunesiens, ostwärts bis Westlibyen. Wie koenigi, aber mit kräftigerem Schnabel und kaum erkennbarem weißen Überaugenstreif L. e. elegans , 1832: In der Sahara vom nordöstlichen Mauretanien ostwärts über Nordwestmali, Südtunesien, Zentral- und Südlibyen, bis nach Ägypten und den Sudan südwärts bis etwa Port Sudan. Außerdem bewohnt die Art die meisten Oasen der Sahara, das südwestliche Israel und die Sinaihalbinsel. Ob elegans im nordöstlichen Niger Brutvogel ist, ist unklar. Entsprechend der steilen Kline der afrikanischen Vögel von West nach Ost ist diese Art wesentlich heller als algeriensis. Große Teile des Schultergefieders, der Flügel und des Schwanzes sind weiß, die Unterseite ist zeichnungslos reinweiß. L. e. leucopygus , 1833: (inklusive der nicht allgemein anerkannten Unterart jebelmarrae aus dem südwestlichen Sudan). Die südlichste Art in Afrika: Zentral- und Südmauretanien, Zentralmali, Zentral- und Südniger, Nordostnigeria, Südtschad und Südsudan (Darfur); vermutet werden auch Brutgebiete im äußersten Norden Kameruns und im Norden der Zentralafrikanischen Republik. Etwas kurzflügeliger als elegans; Bürzel und Oberschwanzdecken sind noch ausgedehnter weiß und zuweilen auch leicht gelblich behaucht. Eine umgekehrte, eher schwache Kline mit dunkler werdenden Vögeln beginnt mit L. e. aucheri im Nordosten Afrikas und setzt sich mit den Unterarten Zentral- und Südasiens fort. L. e. aucheri , 1853: Ostsudan südlich von Port Sudan, Eritrea, Nordäthiopien und Nordwestsomalia; nach Osten über Syrien, Südostisrael, den östlichen Teil der Sinaihalbinsel, große Teile der Arabischen Halbinsel (außer dem Südwesten), Teile Iraks und dem Süden Irans. Die Unterart ist auf der Unterseite geringfügig dunkler, eher grau und nicht weißlich wie elegans und hat weniger Weiß im Flügel. Die schwarze Gesichtsmaske verläuft als schmales Band über den frontalen Schnabelansatz. L. e. theresae , 1953: Oft zu aucheri gestellt und nicht von allen Autoritäten anerkannte Unterart aus dem Südlibanon und aus Nordisrael. Die Unterart ähnelt aucheri sehr stark, ist aber im Durchschnitt dunkler als diese. L. e. lahtora (, 1832): Weite Südostausbreitung umfasst große Teile Pakistans und Indiens ostwärts bis in das zentrale Bangladesch. Gleicht weitgehend aucheri, weist aber ausgedehntere Weißanteile in den Flügeln und auf dem Schwanz auf; der Schnabel ist auffallend mächtig; die Gesichtsmaske verläuft relativ breit über den frontalen Schnabelansatz und zieht sich weit hinter die Ohrdecken. Ältere Männchen mit leicht gelblicher Brust. Außerhalb dieser beiden Klinen stehen zwei Rassen mit kleinen Verbreitungsgebieten im südarabischen Raum. Beide sind auf der Oberseite dunkel schiefergrau, auf der Unterseite deutlich grau behaucht. L. e. buryi & , 1901: Jemen L. e. uncinatus & , 1881: auf Sokotra offenbar sehr häufig (26.000 Individuen); wie buryi jedoch mit längerem Schnabel und eher weißgrauen Schulterfedern. Nicht in diese Unterartenliste aufgenommen ist L. pallidirostris, der von der IOU als Steppe Grey Shrike – Steppenraubwürger Artrang erhielt.; mit Einschränkungen unterstützt auch Panov diese Einschätzung. Nicht unwesentliche Argumente belegen jedoch auch die Nähe zu L. e. lahtora. beziehungsweise L. e. aucheri. Das HBW behandelt 2018 L. e. pallidirostris noch als Unterart von L. excubitor, betont aber seine Sonderstellung. Bestand und Bedrohung Der Bestand der Art ist gemäß einer Neueinschätzung von 2017 nicht gefährdet. Er wird von der IUCN mit LC (=least concern) bewertet. Die Bestandsentwicklung ist uneinheitlich: Die Art verschwand etwa ab den 1950er Jahren sukzessiv aus vielen Gebieten Mitteleuropas, wie zum Beispiel fast flächendeckend aus Baden-Württemberg, aus den Vorarlberger Brutgebieten und der Schweiz, und wurde auch in Tschechien, der Slowakei sowie in Belgien und den Niederlanden sehr selten. Mit Stand 2019 geht der Bestand in Deutschland weiter stark zurück. In Rheinland-Pfalz gab es 2019 nur noch fünf Brutpaare und fünf Reviere mit Beobachtungen, wobei sich alle Reviere auf wieder zuwachsenden Windwurfflächen befanden. Dagegen konnte die Art ihr Brutgebiet in Dänemark, Finnland und zum Teil in Nordwestrussland nicht unbeträchtlich ausdehnen. In den Schwerpunktbereichen der Brutverbreitung in Fennoskandien und im europäischen Teil Russlands brüten zumindest 330.000 Brutpaare. Ein großräumiges Monitoring in Polen 2010 ergab einen Brutbestand von 22.000–25.000 Paaren. Der gesamte europäische Bestand (ohne Russland und Fennoskandien) wird auf 69.000–160.000 Brutpaare geschätzt, davon brüten in Zentral- und Osteuropa (außer Polen) noch etwa 13.000 Paare, in Frankreich an die 1000. Für die Bestandseinbußen verantwortlich gemacht werden sowohl stärker atlantisch beeinflusste Großwetterlagen (die sich bei dieser Art jedoch weniger gravierend auszuwirken scheinen als etwa bei Schwarzstirnwürger, Rotkopfwürger und anderen wärmeliebenden Großinsektenjägern), die Kältewinter am Anfang der 1960er und gegen Ende der 1970er Jahre, auf Pestizideintrag zurückzuführender Mangel an Beutetieren sowie Habitatverluste durch großräumige Intensivierung der Landwirtschaft. Besonders negativ wirkte sich das Verschwinden von Randstrukturen (Hecken, Raine, Gehölzinseln) aus. Für die Bestandszunahmen in einigen nordischen Brutbereichen wurde die Kahlschlagwirtschaft ausgemacht, die in diesen Regionen praktiziert wird; die dadurch entstandenen Offenflächen bieten dem Raubwürger geeignete Lebensräume. Namensherleitung Der Gattungsname Lanius ist lateinisch und bedeutet Fleischer. Im Englischen werden die Würger unter anderem auch Butcher-birds genannt. Die deutsche Übersetzung des ebenfalls lateinischen excubitor ist Wächter und betont die Eigenschaft des Raubwürgers, seine Umgebung sehr sorgfältig zu beobachten und vor herannahenden, als Bedrohung empfundenen Eindringlingen zu warnen. Trivia Der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (8591) Excubitor ist nach dem Raubwürger benannt (wissenschaftlicher Name: Lanius excubitor). Zum Zeitpunkt der Benennung des Asteroiden am 2. Februar 1999 befand sich der Nördliche Raubwürger auf der niederländischen Roten Liste gefährdeter Arten. Literatur Tony Harris, Kim Franklin: Shrikes & Bush-Shrikes. Including wood-shrikes, helmet-shrikes, flycather-shrikes, philentomas, batises and wattle-eyes. Christopher Helm, London 2000, ISBN 0-7136-3861-3. Norbert Lefranc, Tim Worfolk: Shrikes. A Guide to the Shrikes of the World. Pica Press, 1997, ISBN 1-4081-3505-1. Reuven Yosef & International Shrike Working Group (2018): Great Grey Shrike (Lanius excubitor). In: del Hoyo, J., Elliott, A., Sargatal, J., Christie, D.A. & de Juana, E. (eds.). Handbook of the Birds of the World Alive. Lynx Edicions, Barcelona. Hochgeladen von https://birdsoftheworld.org/bow/species/norshr1/cur/introduction am 4. September 2018. Evgenij N. Panov: The True Shrikes (Laniidae) of the World – Ecology, Behavior and Evolution. Pensoft Publishers, Sofia 2011, ISBN 978-954-642-576-8. Urs N. Glutz von Blotzheim (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bearb. u. a. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Aula-Verlag, Wiesbaden 1985 ff. (2. Aufl.), Teilband 13/2, ISBN 3-89104-535-2, S. 1262–1328. Jürgen Haffer: Passeriformes. Sittidae, Laniidae. Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 13,2. Hrsg. von Kurt M. Bauer und Urs N. Glutz von Blotzheim. Aula, Wiesbaden 1993 (2. Aufl.), S. 1262–1328, ISBN 3-89104-535-2. Jochen Hölzinger (Hrsg.): Die Vögel Baden-Württembergs. Band 3.2 Singvögel 2. Eugen Ulmer, Stuttgart 1997, S. 289–321, ISBN 3-8001-3483-7. Viktor Wember: Die Namen der Vögel Europas. Bedeutung der deutschen und wissenschaftlichen Namen. AULA, Wiebelsheim 2005, S. 145, ISBN 3-89104-678-2. Tom J. Cade, Eric C. Atkinson: Northern Shrike (Lanius excubitor). In: The Birds of North America. Bd. 17. Hrsg. v. A. Poole u. F. Gill. The Birds of North America, Philadelphia PA 17.2002,671. . Weblinks Einzelnachweise Würger Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden
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https://de.wikipedia.org/wiki/M1%20Abrams
M1 Abrams
Der M1 Abrams ist ein Kampfpanzer (, MBT) der United States Army und bis Mai 2021 des United States Marine Corps. Er bildet das Rückgrat der Panzertruppen der USA, Ägyptens, Saudi-Arabiens, Kuwaits und Australiens. Die ersten Serienmodelle wurden Anfang 1980 ausgeliefert, wobei er den veralteten M60 ersetzte. Sein Stückpreis betrug 1999 etwa 6,2 Millionen US-Dollar. Bis heute wurden in den USA und Ägypten über 9000 Exemplare gebaut, wobei er mehrfach Kampfwertsteigerungen unterzogen wurde, um ihn technologisch auf dem neuesten Stand zu halten und der geänderten Bedrohungslage anzupassen. Er ist nach dem früheren Chief of Staff of the Army, General Creighton W. Abrams, benannt. War er anfangs mit einer 105-mm-Zugrohrkanone bewaffnet, ist er seit 1984 mit einer in den USA in Lizenz von Rheinmetall gefertigten 120-mm-Glattrohrkanone bestückt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kampfpanzern wird er von einer Gasturbine angetrieben. Geschichte Entwicklung Die US Army nutzte ab Beginn der 1960er-Jahre den M60 als Hauptwaffensystem der Panzertruppe. Bei diesem Modell handelte es sich nicht um eine Neuentwicklung, sondern um ein Fahrzeug, das „hastig aus den Teilen zweier vorhergehender Panzer zusammengeschustert“ worden war. James H. Polk, der Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa, war der Meinung, dass der M60 „beim besten Willen nicht der beste Panzer auf dem europäischen Schlachtfeld“ sein würde. Hinzu kam die Tatsache, dass der Warschauer Pakt bei einem Angriff auf die Bundesrepublik Deutschland doppelt so viele Panzer einsetzen konnte wie die NATO-Staaten. Aufgrund dessen riefen 1963, nur vier Jahre nach der Indienststellung des M60, die Vereinigten Staaten und die Bundesrepublik das Projekt Kampfpanzer 70 ins Leben. Der damalige Verteidigungsminister Robert McNamara war der größte Befürworter des Projekts. Er war der Meinung, dass die Alliierten durch das Teilen von Ideen und Kosten Waffen nicht nur besser und günstiger produzieren könnten, sondern diese auch einfacher und günstiger zu unterhalten wären, als wenn jede Nation ihren eigenen Weg ginge. McNamara und die Army hatten jedoch unterschiedliche Vorstellungen von dem Projekt. McNamaras Vorstellungen waren politisch motiviert, während die der Army taktisch motiviert waren. McNamara wollte in erster Linie die Zusammenarbeit zwischen den Nationen des Bündnisses vorantreiben, um neue Waffen schneller entwickeln zu können. Die Army hingegen wollte lediglich einen neuen Kampfpanzer, der auf dem neuesten Stand der Technik basierte. Trotz der starken Unterstützung schlug das Programm nach acht Jahren fehl. Hauptgrund waren die hohen Stückkosten des neuen Panzers. Ein Exemplar sollte zwischen 850.000 und einer Million US-Dollar kosten. Der US-Kongress stoppte das Projekt, nachdem etwa 250 Millionen Dollar an Forschungs- und Entwicklungskosten investiert worden waren. Im Dezember 1971, kurz nach dem Scheitern des Kampfpanzer-70-Projekts, wurde das XM1 Main Battle Tank Program ins Leben gerufen, um das Konzept für einen neuen Kampfpanzer als Nachfolger des M60 zu entwickeln. Die damit beauftragte Arbeitsgruppe hatte ein Budget von 217.500 Dollar und fünf Monate Zeit zur Verfügung. Ihre Aufgabe war nicht, einen neuen Panzer zu entwickeln, sondern lediglich die Anforderungen an das Fahrzeug festzulegen. Die primären Fragen dabei waren: Wie viel sollte das Fahrzeug wiegen? Wie groß sollte die Besatzung sein? Wie sollte es bewaffnet sein? Die Auflage des Kongresses bei der Evaluierung der Eigenschaften war, dass das Fahrzeug maximal 500.000 Dollar pro Stück kosten dürfte. Ein Großteil der Evaluierungsphase wurde auf die Gewichtsfrage verwendet. Letztendlich empfahl die Arbeitsgruppe ein Gewicht zwischen 46 und 52 t, eine Besatzung von vier Soldaten und eine 105-mm-Hauptbewaffnung. Die Arbeitsgruppe legte im August 1972 ihren Bericht vor. Dieser wurde sodann einer nochmaligen Prüfung durch die Army unterzogen, um überflüssige Eigenschaften zu eliminieren und somit die Kosten zu minimieren, die letztendlich zum Scheitern des Projektes Kampfpanzer 70 geführt hatten. Zu den weggefallenen Eigenschaften zählten unter anderem die Ladeautomatik, der Fahrerplatz im Turm und das hydropneumatische Fahrwerk. Zu diesem Zeitpunkt herrschte allerdings noch Uneinigkeit über das zu realisierende Schutzniveau. Die offizielle Gewichtsobergrenze für das Fahrzeug betrug zu diesem Zeitpunkt 47,2 t bei gleichzeitig hohem Schutzniveau. Diese Auflagen schienen nur schwer erfüllbar zu sein. Viele hohe Offiziere der Panzertruppe, die an der Entwicklung beteiligt waren, sprachen sich für eine Reduzierung der Panzerung und damit des Gewichts aus, um die Beweglichkeit des Fahrzeugs zu erhalten. Andere wiederum befürworteten das hohe Schutzniveau trotz des damit einhergehenden hohen Gewichts. Die endgültige Entscheidung darüber wurde vom späteren Namensgeber Creighton Abrams gefällt, der ein hohes Schutzniveau für die wichtigste Eigenschaft eines Kampfpanzers hielt und gleichzeitig von der Verwendung der Chobham-Panzerung überzeugt war. Das aus diesen Überlegungen resultierende finale Konzept wurde im Januar 1973 vom stellvertretenden Verteidigungsminister Bill Clements bewilligt. Laut Konzeption sollte der Panzer die alternde M60-Flotte ersetzen und den angenommenen Bedrohungen des Jahres 1980 gewachsen sein. Die Leistungen des M60 sollten dabei in allen Bereichen übertroffen werden. In der Folge wurde ein auf sieben Jahre angelegtes Entwicklungsprogramm gestartet, das in drei Phasen untergliedert war. In Phase 1 sollten die Prototypen von zwei Unternehmen verglichen werden. Dabei handelte es sich zum einen um die Chrysler Corporation (heute General Dynamics Land Systems), die schon den M60 entwickelt hatte, und zum anderen um die Detroit Diesel Allison Division. Beide Unternehmen sollten jeweils einen Fahrgestellprototyp für Fahrversuche, einen Turm und eine Wanne für Beschusstests sowie ein komplettes Exemplar liefern. Die Fertigstellung der Prototypen sollte im Februar 1976 erfolgen. Bei der Entwicklung der Prototypen hatten beide Unternehmen lediglich folgende Auflagen: Ein Maximalgewicht von 58 t. Eine Maximalbreite von 3,66 m (144 Zoll), um das europäische Bahnverlademaß einzuhalten. Signifikante Verbesserung in allen Bereichen gegenüber dem M60. Die Verlässlichkeits-, Verfügbarkeits-, Wartungs- und Haltbarkeitsstandards der Army sollten eingehalten werden. Maximale Stückkosten von 507.790 US-Dollar. Innerhalb dieser Grenzen konnten die beiden Unternehmen ihre eigenen Vorstellungen hinsichtlich Schutz, Beweglichkeit und Transportierbarkeit verwirklichen, um die Forderungen zu erfüllen. Kurz nachdem das Projekt bewilligt worden war, schlossen die USA und die Bundesrepublik 1974 ein Memorandum of Understanding ab, in dem vereinbart wurde, dass die Army einen Prototyp des Leopard 2 testen sollte. Das Ziel war, eine größtmögliche Standardisierung zwischen beiden Fahrzeugen zu erzielen. FMC bekundete Interesse daran, den Leopard 2 für die US Army zu fertigen. Die Wahl der Panzerung stand ebenfalls zur Debatte. Anfang 1974 schlugen die USA eine Änderung des Leopard-Designs vor, um die Burlington-Verbundpanzerung zu übernehmen, über deren Existenz die Bundesrepublik bereits im März 1970 informiert worden war, da die Leopard-Prototypen noch mit einer perforierten Panzerung ausgerüstet wurden. Die US Army stand im Sommer 1974 vor der Wahl, die deutsche Panzerung zu übernehmen oder an ihrer Burlington festzuhalten, welche jedoch verglichen mit Panzerstahl keinen Gewichtsvorteil gegenüber Wuchtgeschossen bot. Da sich kein Konsens entwickelte, entschied sich General Creighton Abrams für die Verwendung der Burlington. Diese wurde vom Ballistic Research Laboratory zur „Chobham-Panzerung“ weiterentwickelt, welche speziell auf die Bedürfnisse des XM1 zugeschnitten wurde. Auf deutscher Seite wurde daraufhin 1974 eine eigene Verbundpanzerung entwickelt. Im Rahmen des Memorandum of Understanding sollte auch der Leopard 2 hinsichtlich seiner Eignung als neuer Kampfpanzer getestet werden. Während der Tests zeigte sich, dass dieses Fahrzeug alle Forderungen der Army erfüllte oder übertraf. Aufgrund des höheren Gewichts und des höheren Preises erfolgte jedoch keine Übernahme des Leopard 2 als Kampfpanzer. Stattdessen sollten möglichst viele Baugruppen der beiden Panzer identisch sein. Wesentliche Änderungen waren am Leopard 2 der Einbau des in Lizenz gefertigten Laserentfernungsmessers der US-amerikanischen Firma Hughes, der gegenüber dem EMES 13 billiger und serienreif war, sowie die Verwendung des WBG-Grundgerätes von Texas Instruments für das Wärmebildgerät WBG-X von Zeiss. Der XM1 übernahm die Gleisketten des Leopard 2 und sollte langfristig mit der Rheinmetall 120-mm-Glattrohrkanone ausgerüstet werden. Der Technologietransfer dazu begann 1979. Bei der Entwicklung der ersten Prototypen sahen sich Chrysler und General Motors aufgrund des gestiegenen Gewichts gegenüber dem M60 und den höheren Anforderungen an Höchstgeschwindigkeit und Beschleunigungsvermögen mit der Herausforderung konfrontiert, einen Motor zu entwickeln, der mindestens die doppelte Leistung des alten M60-Triebwerks erbrachte. Chrysler verwendete eine modifizierte Helikopter-Gasturbine, während General Motors einen konventionelleren Weg beschritt und einen neuen Dieselmotor mit variabler Kompression entwickelte. Die Versuche mit den Prototypen waren im Februar 1976 abgeschlossen. Die Fahrzeuge beider Unternehmen erfüllten alle Anforderungen und hatten ihre jeweiligen Stärken und Schwächen in unterschiedlichen Bereichen. Im Juli wurde mit der britischen Regierung vereinbart, dass die bereits im M60 genutzte 105-mm-Kanone verwendet werden sollte. Dabei wurde festgehalten, dass das langfristige Ziel der Entwicklung die Ausrüstung mit einer 120-mm-Kanone war. Nach dieser ersten Testreihe sollte die Auswahl für eines der beiden Modelle erfolgen; Verteidigungsminister Donald Rumsfeld drängte jedoch darauf, dass bereits der Prototyp mit einer 120-mm-Kanone ausgerüstet werden sollte. Trotz der Proteste seitens der Army, die eine Einstellung des Projekts aufgrund der absehbaren Verzögerungen fürchtete, begannen beide Unternehmen, ihre Entwürfe entsprechend zu ändern. Die Türme wurden modifiziert, um sowohl die 105-mm-Kanone als auch die 120-mm-Kanone aufnehmen zu können. Letztendlich erfolgte die Bewaffnung mit der 105-mm-Kanone M68. Der Grund für die Ausstattung des Panzers mit der leistungsmäßig unterlegenen Waffe war, dass eine bewährte Kanone verwendet werden sollte. Den Zuschlag für die Produktion bekam Chrysler, da das Angebot für die Serienproduktion 36 Millionen Dollar unter dem Angebot von General Motors lag. Die als Engineering and Manufacturing Development bezeichnete Phase 2 des Entwicklungsprogramms begann im November 1976. Während dieser Phase baute Chrysler elf Vorserienexemplare, die einem intensiven Testprogramm unterzogen wurden. Gleichzeitig wurde, zusätzlich zur bereits vorhandenen Fabrik in Detroit, mit Lima Army Tank Plant eine weitere Fertigungsstätte für Panzer in Lima (Ohio) errichtet. Auf diese Weise sollten bis zu 60 Panzer im Monat hergestellt werden können. Beide Einrichtungen waren Eigentum der Vereinigten Staaten, wurden aber von Chrysler betrieben und unterhalten, da das Unternehmen am besten mit den Produktionsprozessen vertraut war. Die Testreihen der Vorserienexemplare litten unter massiven Problemen. Der Subunternehmer für die Fertigung der Turbinen, Avco Lycoming, konnte aufgrund von veralteten Produktionsanlagen und schlechtem Management den Zeitplan für die Auslieferungen der Turbinen nicht einhalten, während die bereits gefertigten Turbinen gravierende Qualitätsmängel aufwiesen. Die daraus resultierenden Ausfälle der Turbinen, verbunden mit der geringen Anzahl an Vorserienexemplaren, drohten den knappen Zeitplan zu sprengen. Aufgrund dessen mussten alle Fahrzeuge ständig im Versuchseinsatz bleiben, ohne dass Chrysler die Möglichkeit hatte, die bei den Versuchen gefundenen Mängel ordentlich zu untersuchen und abzustellen. Diese Phase wurde bis April 1976 abgeschlossen, obwohl nach wie vor schwerwiegende Probleme im Bereich des Antriebs vorlagen. Daraufhin gaben das Army Systems Acquisition Review Council sowie das Defense Systems Acquisition Review Council die Fertigung einer Low Rate Initial Production (LRIP) frei. Pläne zum Einbau der AGT1500-Gasturbine in den Leopard 2 wurden durch das Unternehmen Maschinenbau Kiel (MaK) im Jahr 1977 und 1978 an einem Prototyp in Kiel untersucht. Aufgrund des fortgeschrittenen Entwicklungsstadiums wurde dies jedoch für die Serienproduktion verworfen, weil dazu die Wanne noch einmal hätte geändert werden müssen. In der dritten Phase sollten weitere 110 Exemplare in beiden Fabriken hergestellt werden, um weitere Tests im größeren Maßstab durchführen zu können. Diese Vorserie war innerhalb der Army umstritten, da zu diesem Zeitpunkt die Zuverlässigkeit und Strapazierfähigkeit des Fahrzeugs noch zu wünschen übrig ließen. So verstopften die Luftfilter aufgrund des hohen Luftdurchsatzes schnell, die Ketten sprangen oft von den Laufrollen, und die Soldaten taten sich aufgrund mangelhafter Bedienungsanleitungen des Herstellers schwer damit, sich mit dem Panzer vertraut zu machen. Nachdem einige Verbesserungsvorschläge seitens der Army umgesetzt worden waren, konnten diese Probleme teilweise behoben werden, nach wie vor erwiesen sich jedoch insbesondere die Turbine und die Kraftübertragung als sehr störanfällig. Der offizielle Rollout der ersten beiden Exemplare erfolgte im Februar 1980 im Lima Army Tank Plant in Ohio. Im Rahmen dieser Übergabezeremonie wurde der Panzer nach General Abrams benannt. Diese beiden Fahrzeuge wurden letzten technischen und taktischen Truppenversuchen unterzogen. Nach dem Abschluss der Versuche wurde Anfang 1981 die Produktion von 7058 Fahrzeugen genehmigt. Gleichzeitig erfolgte die Klassifizierung als 105 mm Gun Full Tracked Combat Tank M1. Die Serienproduktion erfolgte auf Anweisung des Verteidigungsministers anfangs nur mit einer Rate von 30 Exemplaren pro Monat im Lima Army Tank Plant, da die Zuverlässigkeit der Turbine und der Kraftübertragung nach wie vor nicht den Anforderungen genügte. Nachdem eine vom Verteidigungsministerium beauftragte Expertenkommission jedoch eine optimistische Prognose abgegeben hatte, dass sich die bestehenden Probleme durch einige Modifikationen beheben lassen würden, wurden ab März 1981 auch Fahrzeuge im Detroit Army Tank Plant gefertigt, so dass die Produktion wie geplant auf 60 Exemplare pro Monat anstieg. Bis heute wurden über 9000 Exemplare des Panzers gebaut, darunter auch Fahrzeuge für andere Länder wie Ägypten, Saudi-Arabien, Kuwait und Australien. Seit seiner Einführung wurde der M1 mehrfach verbessert. 1985 wurde eine erste große Kampfwertsteigerung durchgeführt, so dass eine neue Version entstand, der M1A1. Seinen ersten Einsatz hatte der M1A1 im zweiten Golfkrieg 1991. Seit der Operation „Desert Storm“, in der die 2000 eingesetzten M1A1 das Rückgrat der alliierten Streitkräfte in Kuwait bildeten, werden alle neuen Abrams mit einer speziellen Panzerung aus abgereichertem Uran ausgerüstet. Der M1A2 ist ein verbesserter M1A1 mit zusätzlicher Infrarotsichtausrüstung, GPS und weiteren elektronischen Hilfsmitteln; er wird seit 1992 produziert. Mittlerweile wurden fast alle M1- und M1A1-Panzer zum M1A2 umgerüstet. Eine weitere Verbesserung des A2 mit dem Namen SEP (System Enhancement Program) wurde 1999 begonnen, jedoch mit dem Haushaltsjahr 2004 abgebrochen, noch bevor die geplanten 1150 Aufwertungen erfolgt waren. Für die nicht dem SEP unterzogenen M1A1 existiert ein weiterer Plan zur Kampfwertsteigerung, das M1A1-AIM-Programm (Abrams Integrated Management Overhaul Program). Seit 2005, zwei Jahre nach dem erklärten Ende des Irak-Krieges, werden einige Abrams mit dem Tank Urban Survival Kit (TUSK) ausgerüstet, das die Überlebensfähigkeit des Panzers bei Operationen in bebautem Gelände erhöhen soll. Zukunft Die US-Army plant, ihre M1-Flotte mangels verfügbarer Alternativen noch weitere Jahre in Betrieb zu halten. Der M1A1 war bis zum Jahr 2021 im Dienst, der M1A2 soll es voraussichtlich sogar noch bis über das Jahr 2050 hinaus bleiben. Der Bestand soll allerdings von ehemals knapp 8000 auf 2568 Exemplare verringert werden. Ein Einbau der neuen 120-mm-L/55-Glattrohrkanone von Rheinmetall oder der XM291 Advanced Tank Cannon wurde von der Army erwogen, jedoch nicht realisiert, da in absehbarer Zeit keine Bedrohung auftreten könnte, die sich nicht mit der L/44-Kanone und der Munition aus abgereichertem Uran bekämpfen ließe. Einst war auch der Einbau einer XM360-Variante angedacht, um die Bewaffnung mit dem XM1202 Mounted Combat System zu vereinheitlichen. Die Army plant, ab 2014 eine neue Version des M1, den M1A3 zu entwickeln. Dabei sollen Teile des TUSK integraler Bestandteil der Konstruktion sein, um den Schutz des Panzers und der Besatzung weiter zu verbessern, ohne das Gewicht drastisch anzuheben. Die M256-Kanone soll durch ein leichteres Modell einer 120-mm-Kanone ersetzt werden. Weiterhin sollen zusätzliche Laufrollen angebracht werden, die Federung soll verbessert werden und eine neue, länger haltbare Kette verwendet werden. Die Bewaffnung soll durch Langstrecken-Präzisionssysteme ergänzt werden, die es möglich machen sollen, Ziele in bis zu 12 km Entfernung zu bekämpfen. Die Verkabelung des Panzers soll durch eine moderne Glasfaserverkabelung ersetzt werden, welche das Gesamtgewicht um ca. zwei Tonnen reduzieren soll. Die Auslieferung soll ab 2017 erfolgen. Das Marine Corps steht dabei vor der Entscheidung, die bislang vorhandenen M1A1 weiter in Dienst zu halten, eine Kampfwertsteigerung auf die Version M1A2 SEP vorzunehmen, oder sich an der Entwicklung des M1A3 zu beteiligen. Das Marine Corps unternimmt darüber hinaus eigene Anstrengungen zur Weiterentwicklung des M1, da der Panzer, im Gegensatz zu den Exemplaren der Army, nicht hauptsächlich zum Kampf gegen andere Kampfpanzer vorgesehen ist, sondern zur Unterstützung von Infanterie. Dazu wurden 3000 Patronen der MPAT-Munition beschafft, um Einbruchsstellen für Infanteristen in Gebäuden zu schaffen. Zum Schutz gegen RPGs ist die Einführung eines abstandsaktiven Schutzsystems angedacht, das anfliegende Projektile vor dem Einschlag zerstören soll. Da derartige Schutzmaßnahmen jedoch eine erhebliche Gefährdung für die begleitende Infanterie darstellen, besteht noch Widerstand innerhalb des Marine Corps bezüglich der Einführung. Besatzung Die Besatzung des M1 besteht, wie bei den meisten westlichen Kampfpanzern, aus vier Soldaten: dem Kommandanten, dem Fahrer, dem Richtschützen und dem Ladeschützen. Der Kommandant sitzt, in Fahrtrichtung gesehen, hinten rechts im Turm, der Richtschütze vor ihm. Der Ladeschütze hat seinen Platz auf der linken Seite des Turms. Der Fahrer sitzt vorne in der Wanne des Panzers in einer halb liegenden Position. Die im Turm untergebrachten Soldaten können über zwei Luken im Turm ein- und aussteigen; dem Fahrer steht eine eigene Luke in der Wanne zur Verfügung. Technik Bewaffnung Die Bewaffnung des M1 bestand ursprünglich aus einer 105-mm-M68-Kanone mit gezogenem Rohr, die jedoch ab 1984 durch eine Lizenzfertigung der 120-mm-Glattrohrkanone von Rheinmetall, die auch in vergleichbaren westlichen Panzern im Einsatz ist, ersetzt wurde. Die Bezeichnung der US Army für diese Waffe ist M256. Die Hauptwaffe besitzt einen Richtbereich von 360° in der Horizontalen und −10° bis +20° in der Vertikalen. Waffe und Turm sind stabilisiert und werden nach den Vorgaben des stabilisierten Spiegels im Hauptzielfernrohr nachgeführt. Das Schwenken des Turms und das Richten der Waffenanlage erfolgt über einen kombinierten elektro-hydraulischen Antrieb, kann im Notfall jedoch auch manuell erfolgen. Das Schwenken des Turms um 360° dauert neun Sekunden. Der Arbeitsdruck der Hydraulikanlage beträgt 105 bis 119 bar. Zur Vermeidung von ungleichmäßiger Erwärmung bei Wind oder Regen ist das Rohr der Kanone mit einer Wärmeschutzhülle ummantelt. Ein Kollimatorspiegel an der Rohrmündung ermöglicht Korrekturen, um Verwindungen in der Seelenachse des Rohres auszugleichen. Die Sekundärbewaffnung besteht aus einem achsparallel zur Hauptwaffe montierten M240-Maschinengewehr (7,62 × 51 mm), einem weiteren M240, das an der Ladeschützenluke auf einer Lafette montiert ist, und einem schweren Maschinengewehr M48 (12,7 × 99 mm) an der Kommandantenluke. Das M48 ist ein modifiziertes Browning M2. Das M48 kann im M1A1 und M1A2 sowohl manuell als auch aus dem Inneren ferngesteuert abgefeuert werden. Kommandanten des M1A2 SEP verfügen nur über die manuelle Möglichkeit. Der Schwenkbereich beträgt 360°, wird in der Praxis jedoch durch das M240 des Ladeschützen begrenzt. Ab der Version A2 wurde das M48 durch ein M2HB (Heavy Barrel) ersetzt. Weiterhin sind an den Seiten des Turms M250-Nebelmittelwurfanlagen mit jeweils sechs Rohren angebracht. Diese können jeweils drei Nebelwurfkörper gleichzeitig abschießen, um den Panzer hinter einer Nebelwand zu verbergen. Einige M1 wurden mit einer neuen Wurfanlage ausgestattet, deren Bezeichnung M6 lautet. Diese kann neben Nebelwurfkörpern auch Flares abfeuern, um hitzesuchende Raketen abzuwehren. Alle M1 sind außerdem mit einem vehicle-engine-exhaust smoke system (VEESS) ausgestattet, welches das Einnebeln durch die Einspritzung von Diesel in die Abgasanlage ermöglichen soll. Da der Treibstoff jedoch auf JP-8 umgestellt wurde, ist die Anlage nicht mehr funktionsfähig. Munition Aus der Kanone können mehrere Munitionssorten verschossen werden. Alle Munitionssorten verfügen über eine teilverbrennbare Hülse. Gegen stark gepanzerte Ziele wie feindliche Kampfpanzer kommt das Wuchtgeschoss M829A4 Armor Piercing Fin – Stabilized Discarding Sabot – Tracer (APFSDS-T) zum Einsatz. Es handelt sich hierbei um ein Wuchtgeschoss aus abgereichertem Uran. Für Schießübungen wird das Geschoss M865 Target Practice Cone Stabilized Discarding Sabot – Tracer (TPCSDS-T) verwendet. Es handelt sich dabei um ein Übungsgeschoss aus Stahl, das anstatt von Flügeln von einem Lochkegelleitwerk stabilisiert wird. Auf den ersten Kilometern der Flugstrecke weist das Geschoss fast die gleiche Flugbahn wie das M829 auf, der Sicherheitsbereich verringert sich jedoch stark.Gegen schwach gepanzerte und weiche Ziele sowie Feldbefestigungen werden die M830 und M830A1 HEAT-MP-T High Explosive Anti Tank Multi Purpose – Tracer (HEAT-MP-T) eingesetzt. Trotz der ähnlichen Namensgebung handelt es sich bei dem M830A1 nicht um eine Weiterentwicklung des M830, sondern um eine komplette Neuentwicklung. Das M830-Geschoss weist eine Mündungsgeschwindigkeit von 1140 m/s auf und wiegt etwa 24,2 kg. Der Zünder des Geschosses wird nach einer Flugstrecke von 30 m scharf; unter dieser Distanz wirkt das Geschoss lediglich durch seinen Einschlag. Es wird vorzugsweise bei Kämpfen in urbanem Gelände eingesetzt, um Gegner hinter Deckungen und in Gebäuden zu bekämpfen. Das M830A1-Geschoss verfügt über einen einstellbaren Zünder, der die Detonation beim Einschlag oder bei der Annäherung erlaubt. Die Detonation bei der Annäherung wird zur Bekämpfung langsam fliegender Luftfahrzeuge verwendet. Das M830A1 verfügt im Gegensatz zum M830 über einen Treibspiegel. Der Einsatz in urbanem Gelände ist daher eingeschränkt, weil durch die abgelösten Teile des Treibspiegels Kollateralschäden möglich sind. Das M830A1 weist eine Mündungsgeschwindigkeit von 1410 m/s auf und wiegt etwa 22,7 kg. Zur Unterscheidung für den Ladeschützen wird das M830 als HEAT bezeichnet, das M830A1 als MPAT.Um auch Infanterie effektiv bekämpfen zu können, wurde ab August 2002 die Kartätsche M1028 entwickelt, die 1100 Wolframkugeln enthält und damit wie Schrotmunition wirkt. Die etwa 9,5 mm großen Wolframkugeln sind in einem Container untergebracht, der nach dem Verlassen des Rohres aufbricht und die Kugeln freigibt, die sich dann kegelförmig ausbreiten. Die Bekämpfung von Zielen hinter Wänden und das Beseitigen von leichten Straßensperren ist damit ebenfalls möglich. Die effektive Reichweite beträgt etwa 500 m. Eine weitere Neuentwicklung ist das M908 High Explosive – Obstacle Reducing – Tracer (HE-OR-T), das die Beseitigung von Straßensperren ohne die Hilfe von Pionierpanzern möglich machen soll. Bei dem Geschoss handelt es sich um ein modifiziertes Hohlladungsgeschoss M830A1, das mit einer Stahlspitze und einem Verzögerungszünder versehen ist, um tief in ein Hindernis einzudringen und dann im Inneren zu detonieren. Die Munition wird im Heck des Panzers in einem Munitionsmagazin gelagert, das durch ein hydraulisch betriebenes Schott vom Kampfraum getrennt ist. Während des Nachladevorgangs betätigt der Ladeschütze mit seinem Knie einen Schalter, der das Schott öffnet. Nach der Entnahme der entsprechenden Munitionssorte lässt der Ladeschütze den Schalter los und das Schott schließt sich wieder. Laut den Vorschriften der US Army darf das Schott erst geöffnet werden, wenn der Verschluss der Kanone vollständig geöffnet ist. Während eines laufenden Schießvorgangs können sich nicht verbrannte Reste der Treibladung durch den plötzlichen Kontakt mit Sauerstoff, der durch den sich öffnenden Verschluss einströmt, wieder entzünden und in den Kampfraum eindringen (im Jargon der Army „Flashback“ genannt). Ist das Schott während eines solchen Flashbacks geöffnet, kann dieser die verbrennbare Hülse der Munition entzünden und so das Geschoss im Kampfraum zünden, was zum Tod der Besatzung führen würde. Die Oberseite des Munitionsmagazins ist mit Sollbruchstellen versehen, um im Falle einer Munitionsexplosion die Energie nach oben abzuleiten und das Überleben der Besatzung zu ermöglichen. Panzerung und Schutzsysteme Der M1 ist durch eine Kompositpanzerung geschützt, die meist als Chobham-Panzerung bezeichnet wird. Zusätzlich zur äußeren Schutzhülle sind die Treibstofftanks und das Munitionsdepot in eigenen gepanzerten Bereichen untergebracht, um die Gefahr eines Treibstoffbrandes oder einer Munitionsexplosion zu verringern. Der Munitionsbunker im Turmheck verfügt außerdem über Ausblasmöglichkeiten (Blow-out-panels) an der Oberseite, um die Energie einer Explosion der dort gelagerten Munition nach außen abzuleiten. Der Innenraum des Panzers ist ab der Version M1A1 mit Kevlarmatten ausgekleidet, um den Splitterkegel beim Durchschlagen der Panzerung zu reduzieren oder komplett zu verhindern. Zum Schutz vor Bränden ist ein automatisches Feuerlöschsystem im Kampf- und Triebwerksraum installiert. Dieses erkennt Feuer mittels optischer Sensoren innerhalb von 100 Millisekunden und löscht es mit Halon. Ab der Version M1A1 wurde ein ABC-Schutzsystem, ein Strahlungsmessgerät vom Typ AN/VDR-1 sowie ein Sensor für chemische Waffen installiert. Die äußere Schutzhülle besteht hauptsächlich aus Panzerstahl nach MIL-A-11356. Die Wannen- und Turmfront sowie die Turmseiten werden hingegen durch eine Verbundpanzerung geschützt, da diese häufiger gegnerischem Beschuss ausgesetzt sind. Auf der Suche nach einer Verbundpanzerung für den XM815-Panzer besuchte eine amerikanische Delegation im Juli 1973 Chobham, um sich dort über die von den Briten entwickelte Burlington-Verbundpanzerung zu informieren. Beeindruckt von den Ergebnissen, begann das Ballistic Research Laboratory am Aberdeen Proving Ground mit der Entwicklung einer „Chobham-Panzerung“, welche speziell auf die Bedürfnisse des nun XM1 genannten Panzers zugeschnitten war. Im Februar 1978 wurden schließlich die ersten M1-Vorserienmodelle mit Chobham-Panzerung an die US Army übergeben. 1984 wurde die M1-Production auf das Modell M1 IP (Improved Protection) umgestellt. Dabei wurde die Turmfrontpanzerung noch einmal geändert; statt des „kurzen“ Turmes mit einer Frontdicke von etwa 650 mm wurden von da an nur noch M1 mit „langen“ Türmen mit einer Frontdicke von etwa 880 mm gebaut, um mehr Platz für die Verbundpanzerung zu schaffen. Das Fahrzeuggewicht stieg dadurch von 55,7 t auf 57 t. Die Version M1, M1 IP und M1A1 sind wie der Challenger 1 mit der klassischen Chobham-Panzerung ausgestattet, deren exakter Aufbau der Geheimhaltung unterliegt. Allerdings wird der Aufbau der Panzerung des Leopard 2A1-3 ähneln, welche gemäß R.M. Ogorkiewicz von der Jane’s Information Group aus Keramik, gehärteten Stahlplatten und Aluminium bestand. Interessanterweise ist der Aufbau damit einer RARDE-Panzerung ähnlich, welche 1995 im International Journal of Impact Engineering vorgestellt wurde. Diese besteht aus Aluminiumoxid, Stahl und glasfaserverstärktem Kunststoff. Die Aluminiumplatte als „Backing“ würde aufgrund der höheren Dichte auch die etwas besseren Schutzwerte des Leopard 2A1-3 gegen Wuchtgeschosse erklären. Bei der Version M1A1 HA (Heavy Armor), sowie M1A1 HA+ und M1A1 HC (Heavy Common) wurde auf eine Verbundpanzerung der dritten Generation gewechselt, welche eine Zwischenschicht aus abgereichertem Uran enthält. Dieses ist in Stahl eingeschlossen, um die Forderungen nach einem harten und dichten Material zu erfüllen. Die Fahrzeugmasse stieg auf etwa 61,3 t an, allerdings dürfte die Gewichtssteigerung durch die Schwermetallschicht und die größere 120-mm-Kanone durch leichtere Keramiken wie Siliciumcarbid und zeitgemäße Faserwerkstoffe wie Kevlar teilweise ausgeglichen worden sein. Die Versionen M1A1 AIM und M1A1D besitzen ebenfalls diese Panzerung. Die neuesten Versionen M1A2 und M1A2 SEP sollen Gerüchten zufolge wie der Challenger 2 mit einer Dorchester-Panzerung ausgestattet sein. Diese besteht aus Urandioxid-Nuggets und Gummi, Wolfram ist ebenfalls enthalten. Vermutlich wird das „Backing“ aus leistungsfähigeren Dyneemafasern bestehen. Das Gefechtsgewicht stieg hier auf bis zu 63 Tonnen an. Aufgrund der steigenden Ausfälle des Panzers im Irak beim Einsatz in bebautem Gelände wurde das TUSK-Programm ins Leben gerufen. TUSK steht für Tank Urban Survival Kit und ist ein Zurüstsatz für den M1 Abrams zur Steigerung der Überlebensfähigkeit bei Einsätzen in bebautem Gebiet. Dabei wird die ARAT-Reaktivpanzerung (Abrams Reactive Armor Tiles) auf die Seitenschürzen montiert. Eine weitere Reaktivpanzerung, welche als ARAT II bezeichnet wird, soll die Turmseiten besser vor Hohlladungswaffen und projektilbildenden Ladungen schützen. Eine 1360 kg schwere V-förmige Zusatzpanzerung verstärkt die Unterseite der Fahrzeugwanne gegen Minen und Sprengfallen. Der Fahrersitz wird dabei wie im Leopard 2A6M über vier Gurte an der Fahrzeugdecke aufgehängt, durch die Entkopplung des Fahrersitzes vom Wannenboden wird das Risiko einer Verletzung oder Tötung des Fahrers durch die elastische Verformung des Wannenbodens im Fall einer Minenexplosion unter der Wanne verringert. Zusätzlich kann am Heck eine Käfigpanzerung angebracht werden. Seit 1991 steht noch das Softkillsystem AN/VLQ-6 Missile Countermeasure Device (MCD) zur Verfügung, welches auch als HardHat bezeichnet wird. Das System wird auf den Turm vor der Luke des Ladeschützen montiert, beim M1A2 befindet sich an dieser Stelle das unabhängige Wärmebildgerät des Kommandanten. Der Störsender mit einer Elevationsabdeckung von 12° und einer Azimutabdeckung von 40° soll die Infrarotquelle am Heck des Flugkörpers überstrahlen, so dass bei SACLOS-gelenkten Panzerabwehrwaffen die Lenkeinrichtung des Startgeräts gestört wird. Die Überblendung soll dabei ab etwa 50 % der Schussentfernung stattfinden, bei Beschuss von 2000 m Entfernung also auf etwa 1000 m. Da der Störsender beim M1 aus Sicht des Startgerätes oben rechts im Fadenkreuz erscheint, wird die Flugbahn der Lenkwaffe dauerhaft nach unten links korrigiert, was zu Bodentreffern führen kann. Später wurde die verbesserte Version AN/VLQ-8A gekauft. Das System kann auch auf dem M2/M3 Bradley eingesetzt werden und wird nur bei Bedarf eingebaut. Neben der manuellen Vernebelung durch die Nebelmittelwurfanlagen vom Typ M250 (sechs Werfer pro Turmseite) oder M257 (acht Werfer pro Turmseite) kann das System noch mit dem M6-Werfer kombiniert werden, um Nebelwurfkörper und Flares abzufeuern. Alle M1 sind außerdem mit einem vehicle-engine-exhaust smoke system (VEESS) ausgestattet, welches das Einnebeln durch die Einspritzung von Diesel in die Abgasanlage ermöglicht. Bei Fahrzeugen, welche mit JP-8 betrieben werden, ist die Anlage nicht mehr funktionsfähig. Am Panzer kann noch weiteres Zubehör montiert werden, um seine Überlebensfähigkeit zu erhöhen. So können an der Wannenfront beispielsweise ein Minenpflug, Minenwalzen oder eine Räumschaufel befestigt werden, um Sperren zu beseitigen. Australische M1 AIM sind noch mit dem Barracuda-Tarnsystem von Saab ausgerüstet. Schätzungen zufolge verfügen die verschiedenen Ausführungen des M1 Abrams über folgenden Panzerschutz in RHA-Äquivalent gegen HEAT- und KE-Geschosse: Antrieb und Laufwerk Der M1 wird von einer Gasturbine des Typs Lycoming Textron AGT1500 angetrieben, welche von einer Digital Electronic Control Unit (DECU) gesteuert wird. Das Aggregat wurde in den 1970er-Jahren aus der PLT27-Gasturbine entwickelt. Der Vorteil dieses Antriebskonzepts besteht darin, dass eine Gasturbine im Vergleich zu einem Dieselmotor gleicher Leistung wesentlich kleiner und leichter ist. So wiegt die Turbine lediglich 1134 kg (2500 lb). Zudem benötigt die Turbine keine Kühlflüssigkeit und es kann fast jede brennbare Flüssigkeit als Kraftstoff in beliebigen Mischungsverhältnissen verwendet werden. Aus praktischen Gründen kommen hierfür Benzin, Diesel und Kerosin zum Einsatz. Die US-Armee verwendete bis zum Anfang der 1990er-Jahre Diesel als Treibstoff, danach wurde aus logistischen Gründen auf JP-8 umgestellt. Die australische Armee verwendet nach wie vor Diesel. Das komplette Antriebsaggregat besteht aus den Luftfiltern links und rechts der Turbine, der Zweiwellengasturbine mit Rekuperator und Untersetzergetriebe (7,5:1), dem hydromechanischen Schalt-, Wende- und Lenkgetriebe X-1100-3B der Firma Allison Transmission mit sechs Gängen und zwei Kühlern. Die Gasturbine ist längs und mittig im Heck des Panzers eingebaut und bildet mit dem Getriebe ein „T“. Die Gasturbine AGT1500 ist modular aufgebaut und besteht aus vier Teilen: Dem vorderen Teil aus Verdichtern und Brennkammer, dem hinteren Teil aus Turbinen und Rekuperator, dem Untersetzungsgetriebe, sowie den externen Anbauten wie dem Anlasser oder dem Verstellmechanismus der Leitschaufeln. Der Anlasser ist ein Elektromotor mit 5500–9000/min, der die Hochdruckstufen der Gasturbine über ein Hilfsgetriebe auf Drehzahl bringt, bis die Turbine zündet. Die eingesaugte Luft wird durch die Luftfilter von Verunreinigungen befreit und durch den fünfstufigen Axialkompressor der Gasturbine verdichtet. Der folgende Hochdruckverdichter besitzt vier axiale sowie eine abschließende radiale Verdichtungsstufe und komprimiert die Luft weiter auf einen Druck von 14–16 bar. Hier wird auch Zapfluft zur Kühlung von Triebwerksteilen abgeführt. Das Arbeitsgas strömt anschließend durch den Rekuperator im Heck der Turbine und von dort aus in die Brennkammer. Die Brennkammer und Einspritzdüsen sind wie beim Pratt & Whitney JT9D aus einer Nickel-Thoriumdioxid-Legierung gefertigt, wobei der Anteil des radioaktiven Thoriums etwa 2 % ausmacht. Die einstufige Hochdruckturbine ist luftgekühlt und treibt den Hochdruckverdichter an. Die nachfolgende einstufige Niederdruckturbine rotiert gegenläufig und treibt den Niederdruckverdichter an. Danach wird über eine ungekühlte Axialturbine die Antriebswelle angetrieben, wobei der Stator der Stufe mit beweglichen Leitschaufeln ausgestattet ist. Anschließend wird das Abgas nach oben durch den Rekuperator geführt und über einen Abgaskanal oberhalb des Getriebes mittig am Heck ausgestoßen. Die Abgastemperatur beträgt etwa 500 °C, da der Rekuperator die verdichtete Luft vor der Brennkammer möglichst stark erwärmen soll. Die Antriebsleistung der Turbine wird durch ein im Rekuperator eingebautes Untersetzungsgetriebe an das Hauptgetriebe abgegeben, wobei die Drehzahl im Untersetzergetriebe von 22.500/min bei Nennleistung auf 3000/min reduziert wird, während sich das Drehmoment erhöht. Der Massedurchsatz durch die Turbine beträgt bei Nennleistung etwa 5,36 kg/s. Gasturbinen besitzen im Gegensatz zu Dieselmotoren einen anderen Drehmoment- und Leistungsverlauf. Die Leistungskurve ist bei Gasturbinen prinzipbedingt flacher als bei Kolbenmaschinen. Damit steht auch in den unteren Drehzahlbereichen eine hohe Antriebsleistung zur Verfügung. Die Leistungskurve verläuft wie bei allen Turbomaschinen in etwa logarithmisch: Bei 40 % Drehzahl werden etwa 67 % der Leistung (746 kW) bereitgestellt, bei voller Drehzahl von 3000/min 100 % Leistung (1119 kW). Der Drehmomentenverlauf ist linear und absteigend, wodurch der Panzer eine hervorragende Elastizität erhält: Bei etwa 30 % Drehzahl stehen 6000 Nm zur Verfügung, diese sinken auf etwa 5000 Nm bei 65 % der Maximaldrehzahl. Diese wird mit 3000/min angegeben, wobei ein Regler Drehzahlen von über 3100/min verhindert. Im Gefechtseinsatz fährt die Turbine im Tactical-idle-Modus. Dabei wird die Leerlaufdrehzahl von 870–950/min auf 1250–1350/min erhöht und somit das Ansprech- und Beschleunigungsverhalten des Panzers verbessert. Interessanterweise kann die AGT1500 bei 1300/min fast 800 kW Leistung liefern; selbst beim Fahren (unter Last) im Standgas setzt die Gasturbine also 40 % mehr Leistung frei als der Motor des Vorgängermodells M60 bei Volllast. Dies führt allerdings zu einem wesentlich höheren Treibstoffverbrauch, der im Leerlauf fast genauso hoch wie bei Volllast ist. Während der Truppenerprobung für die schwedische Armee (1993/1994) wurde für den M1 ein Durchschnittsverbrauch von 1480 l/100 km im Gelände ermittelt, was mehr als dem Doppelten des Konkurrenzmodells Leopard 2 entsprach. Während bei einem Kolbenmotor das Motorgeräusch durch die Abgasanlage austritt, entsteht das Betriebsgeräusch einer Turbine am Verdichter. Durch den notwendigen Luftfilter vor dem Verdichter wird das Geräusch reduziert – dies und die große Laufruhe brachten dem M1 Abrams bei seinem ersten REFORGER-Manöver den Spitznamen whispering death (dt: flüsternder Tod) ein. Die AGT1500-Turbine sollte ursprünglich durch die LV100-5 ersetzt werden, die für den Block-III-Panzer des ASM-Programms entwickelt wurde. Im Vergleich zur AGT1500 konnte der Treibstoffverbrauch um 33 % im Normalbetrieb und um 50 % im Leerlauf gesenkt werden. Das Leistungsgewicht wurde ebenfalls verbessert sowie die Zahl der Bauteile um 43 % reduziert und die Zuverlässigkeit um über 400 % gesteigert. Nach dem Abbruch des XM2001-Programms wird die LV100-5-Gasturbine nun unter dem PROSE-(Partnership for Reduced Operating and Support Costs, Engine)-Programm der US-Armee von Honeywell und General Electric weiterentwickelt. 2006 wurde das Unternehmen Honeywell International im Rahmen der PROSE Phase 1 mit dem AGT1500-TIGER-Programm beauftragt. Das Programm hat eine Steigerung der Betriebslebensdauer der teilweise 30 Jahre alten Triebwerke von 700 auf 1400 Betriebsstunden zum Ziel. Das hydromechanische Schalt-, Wende- und Lenkgetriebe X1100-3B von Allison Transmission beschleunigt den Panzer auf seine Höchstgeschwindigkeit, welche gemäß der technischen Anleitung der US Army bei 40–50 mph (64–80 km/h) bei 1500 hp und 3000/min liegt. Die exakte Höchstgeschwindigkeit hängt vom Untergrund ab und davon, ob die Turbine „offen“ ist, dabei können Drehzahlen von 3500/min und Geschwindigkeiten über 100 km/h erreicht werden. Das Getriebe ist ebenfalls modular aufgebaut und besteht aus vier Baugruppen: Dem Eingangsmodul mit dem Drehmomentwandler, dem Mittelstück mit dem Schaltgetriebe, der hydrostatischen Pumpe, sowie den Ausgangsmodulen links und rechts, welche Bremse und Summiergetriebe enthalten. Die Kraft wird von der Gasturbine über ein weiteres Getriebe an den Drehmomentwandler abgegeben; bei ähnlichen Eingangs- und Ausgangsdrehzahlen findet eine mechanische Wandlerüberbrückung statt. Das automatische Schaltgetriebe besitzt sechs Gänge, wobei vier für die Vorwärts- und zwei für die Rückwärtsfahrt eingebaut sind. Der Fahrer kann dabei zwischen vier Fahrstufen wählen: R (reverse): Rückwärtsfahrt. Das Getriebe wechselt zwischen den Gängen R1 und R2. N (neutral): Um den Abrams im Stehen um die Hochachse zu drehen. Ein Fahren ist nicht möglich. D (drive): Vorwärtsfahrt, wobei das Getriebe nur die Gänge 2, 3 und 4 verwendet. L (low): Vorwärtsfahrt mit allen Gängen, welche weiter ausgefahren werden. Im Getriebe befindet sich auch eine Hydraulikpumpe, welche den Öldruck für die Lenkung und die Parkbremse aufbaut. Die Kraft des Motors wird links und rechts des Getriebes mit gleicher Drehzahl über die Nullwelle an die Ausgangsmodule weitergegeben, wo ein Summiergetriebe diese mit der Drehzahl eines Hydraulikmotors kombiniert, um Kurvenfahrten und das Drehen um die Hochachse zu ermöglichen. Die Ölflussmenge jedes Hydraulikmotors bestimmt der Fahrer durch das Lenken. Im Gegensatz zum Leopard 2 ist das System wesentlich einfacher aufgebaut, da keine zusätzlichen hydrodynamischen Kupplungen zur Aufteilung des Kraftflusses verwendet werden. Die Bremse ist ebenfalls wesentlich einfacher aufgebaut: Die Ausgangsmodule enthalten ölgekühlte Mehrscheibenbremsen, welche den Panzer verzögern und als Parkbremse wirken können. Um auch bei abgeschalteter Gasturbine den Bremsdruck erzeugen zu können, speist die Hydraulikpumpe auch ein Druckreservoir. Im Gegensatz dazu verwendet der Leopard 2 drei Bremssysteme pro Seite: Eine verschleißfreie hydraulische Strömungsbremse und Bremsscheiben im Getriebe sowie in die Seitenvorgelege integrierte Scheibenbremsen als Parkbremse. Nach den Ausgangsmodulen wird die Kraft der AGT1500 an die Seitenvorgelege abgegeben, welche als Planetengetriebe in die Triebräder integriert sind. Die Abwärme des Getriebes, der Hydraulik und der Scheibenbremsen wird über öldurchflossene Wärmetauscher links und rechts des Abgaskanals nach hinten an die Umgebungsluft abgegeben. Die Ventilatoren der Wärmetauscher werden über das Eingangsmodul angetrieben. Die Wärmetauscher enthalten auch das vehicle-engine-exhaust smoke system (VEESS), um den Panzer durch das Einspritzen von Diesel (wenn dieser als Treibstoff verwendet wird) einzunebeln, da ein Einspritzen in den Abgasstrahl eine Nachbrennerflamme zur Folge hätte. Das komplette Antriebsaggregat kann innerhalb einer Stunde mit Hilfe eines Krans entfernt werden. Durch die modulare Bauweise können jedoch 70 % aller Teile ausgebaut werden, ohne das komplette Aggregat zu entfernen. Bei einem vollständigen Ausbau werden Gasturbine, Getriebe und die beiden Kühler mit Hilfe eines Anschlaggeschirrs aus dem Panzer gehoben. Die drei Luftfilter, welche aus zweistufigen Fliehkraftabscheidern und nachfolgenden Feinfiltern bestehen, bleiben im Fahrzeug. Beim Wiedereinbau muss die Verbindung zwischen den Luftfiltern und der Gasturbine dicht sein, da sonst die Gefahr von Schäden durch Fremdkörper besteht, was in sandigen Gebieten ein Problem darstellen kann. Im zweiten Golfkrieg 1991 wurden viele M1 durch verstopfte Luftfilter außer Gefecht gesetzt, da diese in den staubigen Wüstengebieten schnell an ihre Grenzen stießen. Aufgrund dieser Erfahrungen wurde ein integriertes Luftfilter-Reinigungssystem entworfen, das den Lufteinlass zu einem Filter sperrt und diesen dann durch rückwärtig eingeblasene Luft reinigt, während die beiden anderen Luftfilter weiterarbeiten. Auf diese Weise können nacheinander alle Filter gereinigt werden, ohne die Turbine abzustellen. Die Wiederbeschaffungskosten eines Luftfilters liegen bei lediglich 120 US-Dollar, der Wechsel dauert etwa eine halbe Stunde. Der Kraftstoffvorrat des M1 beträgt insgesamt 1911 Liter, verteilt auf vier Tanks. Der M1A2 SEP hat lediglich eine Kapazität von 1680 Litern, da einer der Tanks entfernt wurde, um Platz für einen Generator zu schaffen. Deshalb wurden im Irakkrieg 2003 teilweise Gummiblasen (engl. Collapsible Fuel Bags) mit einer Kapazität von 303 Litern an den Panzern mitgeführt, um den Kraftstoffvorrat zu erhöhen. Diese Maßnahme wurde jedoch nur in relativ sicheren Situationen wie bei Truppenverlegungen durchgeführt, in Gefechtssituationen wurden die Blasen nicht verwendet.Die Federung des Panzers erfolgt über ein hydromechanisches Federungssystem, das aus sieben Schwingarmen auf jeder Seite besteht. Die Schwingarme sind mit Torsionsstäben aus hochfestem Stahl verbunden, die quer durch die Wanne laufen und an der gegenüberliegenden Seite fixiert sind. Der maximale Federweg für die Laufrollen beträgt 381 mm. An jeder Seite befinden sich zusätzlich drei drehbare Stoßdämpfer, die mit der ersten, zweiten und siebten Laufrolle verbunden sind. An der Oberseite des Laufwerks befinden sich zwei Stützrollen auf jeder Seite, die das Durchhängen der Kette verhindern sollen. Als Gleiskette dient eine „lebende“ Verbinderkette des Unternehmens Diehl vom Typ 570 N oder 570 P3/P6. Das Fahrzeug ist bis zu einer Gewässertiefe von 1,2 m watfähig. Das United States Marine Corps beschaffte zusätzlich das Deep Water Fording Kit (DWFK) zum Tiefwaten, welches aus einem Auspuffschacht und zwei Lufteinlassrohren besteht. Während des Landmarsches werden die Schächte ineinander geschoben im Staugitter am Heck des Turmes transportiert. Bei der Watfahrt befinden sich die Lufteinlassschächte auf dem Lüftergitter auf dem linken Wannenheck, der Auspuffschacht wird mittig auf dem Auspuffgräting befestigt. Damit kann eine Wattiefe von 2,37 m erreicht werden. Nach erfolgter Durchwatung können die Schächte durch eine Drehbewegung des Turmes abgestreift werden. Optik und Sensoren Dem Kommandanten stehen insgesamt sechs Winkelspiegel zur Verfügung, die ihm eine 360°-Rundumsicht ermöglichen, sowie eine dreifach vergrößernde Optik für das M2-Maschinengewehr. Weiterhin kann über eine optische Verbindung auf das Hauptzielfernrohr des Richtschützen zurückgegriffen werden. Ihm stehen dadurch alle Möglichkeiten der Feuerleitanlage für Bordkanone und Turm-MG zur Verfügung. In den Betriebsstufen Normal und Notbetrieb kann er den Richtschützen übersteuern. Ab der Version A2 steht dem Kommandanten zusätzlich ein eigenes unabhängiges Wärmebildgerät zur Verfügung, das die Bekämpfung von Zielen im Hunter-Killer-Verfahren ermöglicht. Dem Richtschützen steht mit dem Hauptzielfernrohr (Gunner’s Primary Sight – GPS) ein Tagsichtkanal und der Wärmebildkanal des Wärmebildgerätes (Thermal imaging sight – TIS) zur Verfügung, das zusammen mit dem Laserentfernungsmesser im gepanzerten Ausblickkopf auf der rechten Turmseite gebündelt wird. Der Tagsichtkanal wie auch das Wärmebildgerät besitzen eine dreifache und eine zehnfache Vergrößerung. Die Erfahrungen aus dem zweiten Golfkrieg zeigten, dass die effektive Reichweite der Hauptwaffe größer war als die Entfernung, auf die noch Ziele mit dem Wärmebildgerät ausgemacht werden konnten. Das TIS des M1A2 SEP besitzt deshalb eine dreifach, sechsfach, 13-fach, 25-fach und 50-fach vergrößernde Optik. Das Strichbild im GPS wurde bis zum M1A2 zusätzlich in der horizontalen Achse nachstabilisiert, um die aus Kostengründen fehlende Vollstabilisierung des Sichtfeldes auszugleichen. Diese erfolgte lediglich durch den Turm. Das als Line of Sight Compensation bezeichnete System führt zu einem seitlichen Zittern des Strichbildes, was sich auf größere Entfernungen durch eine geringere Bildauflösung im Okular bemerkbar macht. Mit dem M1A2 erfolgte eine Stabilisierung der Sichtlinie in beiden Achsen. Beim Ausfall der Primäroptik steht dem Richtschützen noch ein Hilfszielfernrohr (Gunner’s Auxiliary Sight – GAS) mit einfacher oder achtfacher Vergrößerung zur Verfügung. Dieses ist nicht stabilisiert, der Ausgang befindet sich jedoch in der Kanonenblende unterhalb des achsparallelen Maschinengewehrs, so dass die Optik immer auf die Achse der Kanone ausgerichtet bleibt. Dem Ladeschützen steht als Beobachtungsmittel ein einzelner, um 360 Grad drehbarer Winkelspiegel mit einfacher Vergrößerung zur Verfügung. Der Fahrer verfügt über drei Winkelspiegel, die nach vorne, links vorne und rechts vorne gerichtet sind. Feuerleitsystem Das Feuerleitsystem besteht aus einem Nd:YAG-Laserentfernungsmesser der Raytheon Systems Company, einem digitalen Feuerleitrechner der Firma General Dynamics Canada und den stabilisierten Optiken des Richtschützen. Der Laser misst Entfernungen bis 7990 Meter auf 10 Meter genau, wobei lediglich Entfernungen zwischen 200 und 4000 Metern vom Feuerleitrechner berücksichtigt werden. Zum Vermeiden von Mehrfachechos kann mit ARM 1ST RTN beziehungsweise ARM LAST RTN zwischen Erst- und Letztechoverwertung gewählt werden. Kampfpanzer des US Marine Corps sind dagegen mit dem augensicheren Laser-Entfernungsmesser (ELRF – eyesafe laser rangefinder) von Carl Zeiss Optronics ausgestattet. Bei einer Messgenauigkeit von 5 Metern beträgt die maximale Reichweite 9995 Meter. Die Stabilisierung erlaubt es dem Richtschützen, ein Ziel auch während der Fahrt präzise anzuvisieren und mit dem Laserentfernungsmesser die Entfernung zu bestimmen. Aus der ermittelten Entfernung, den Daten eines auf dem Turmdach installierten Querwindsensors, der Temperatur der Treibladung, eines Verkantungssensors und dem Kollimatorspiegel an der Rohrmündung wird dann die notwendige Rohrerhöhung und der Vorhaltewinkel berechnet und dem Richtschützen in seinem Display angezeigt. Diese Art der Datenermittlung zur Feuerleitung ermöglichen sowohl beim Kampf aus Stellungen als auch aus der Fahrt eine sehr hohe Erstschusstrefferwahrscheinlichkeit. Nach Angaben der US Army ist die Hauptwaffe auf Entfernungen von mehr als 1200 Metern präziser als ein Scharfschützengewehr. Technische Daten Einsatz Einsatzprofil Die ursprüngliche Hauptaufgabe des M1 bestand darin, im Gefecht der verbundenen Waffen im Zusammenwirken mit dem Schützenpanzer M2 Bradley schnelle Vorstöße durchzuführen und feindliche Panzer zu vernichten. Während der Operation Desert Storm wurden Kampfbataillone aus zwei Kompanien M2 Bradley und zwei Kompanien M1 Abrams gebildet. Die M1 bildeten während des Angriffs aufgrund ihrer besseren Panzerung die Spitze, während die M2 den Flankenschutz übernahmen und beim Zusammentreffen mit gegnerischen Kräften Angriffe auf deren Flanken durchführen konnten. Seit dem Ende des Irakkriegs wurde der M1 weiterhin von den dort stationierten Truppen eingesetzt. Sein Aufgabenschwerpunkt verschob sich jedoch von der Bekämpfung feindlicher Panzer zur Unterstützung eigener Infanterie in bebautem Gelände. Einsätze Der M1 war seit seiner Indienststellung an allen großen Militäroperationen der USA beteiligt, unter anderem an der Operation Desert Storm und dem Irakkrieg. Zu Beginn des zweiten Golfkrieges befanden sich insgesamt 3113 Abrams in der Golfregion, wobei 2024 aktiven Einheiten zugeordnet waren und 1089 Panzer in Reserve gehalten wurden. In den aktiven Einheiten waren 94 % der Panzer vom Typ M1A1 und 6 % vom Original-Typ M1. Allgemein zeichnete sich der Abrams durch seine hohe Verfügbarkeit (90 % und mehr während der Bodengefechte), Mobilität und Feuerkraft aus, wobei das raue Klima der irakischen Wüste auch zu Problemen bei der Wartung führte. Insbesondere die Luftfilter und Kraftstoffpumpen erwiesen sich als fehleranfällig und mussten häufig ausgetauscht werden. Auch der hohe Treibstoffverbrauch bereitete Probleme beim Nachschub und reduzierte die operative Reichweite. Neben der sehr guten offensiven Leistung des Abrams wies auch dessen Panzerung und Sicherheitsdesign kaum Schwächen auf. Es wurden insgesamt neun Fahrzeuge zerstört, davon sieben durch den Beschuss eigener Truppen und zwei durch absichtliche Sprengung, um festgefahrene Panzer nicht dem Feind zu überlassen. Darüber hinaus wurden 14 Abrams durch Minen oder Feindfeuer beschädigt, wobei irakische T-72 mindestens sieben Volltreffer erzielten. Während der gesamten Operation wurde kein einziger Abrams durch feindliches Feuer zerstört, auch nicht bei Mehrfach-Treffern. Während des Konfliktes zeigte sich eine große Überlegenheit gegenüber den durch die Iraker eingesetzten T-72M1, die den Kern der irakischen Panzerstreitkräfte bildeten. Durch die leistungsfähigeren Wärmebildgeräte und Feuerleitanlage war der M1 in der Lage, die irakischen Panzer auch bei schlechten Sichtbedingungen, verursacht durch Nebel oder den Rauch der brennenden Ölquellen, auf Entfernungen über 3000 m effektiv zu bekämpfen. Auch die eingesetzte Wuchtmunition vom Typ M829 erwies sich als effektiv bei der Durchdringung der T-72-Panzerung. So konnten zwei Panzer dieses Typs mit einem einzigen Schuss ausgeschaltet werden, da der Penetrator den ersten Panzer komplett durchschlug und dann noch einen zweiten dahinterstehenden Panzer ausschaltete (insgesamt wurde die T-72-Panzerung damit dreimal hintereinander durchdrungen). In einem anderen Fall konnte auch eine zehn Meter dicke Sandbarriere den dahinter stehenden T-72 nicht vor der Zerstörung schützen. Aufgrund der hohen Leistung des M829-Geschosses bekam es den Spitznamen „Silberkugel“ (). Im Zuge seines Einsatzes im Irak und der naturgemäßen Verwundbarkeit von Kampfpanzern in bebautem Gelände sind die Verlustzahlen durch IEDs und massiven Nahbereichsbeschuss durch RPGs mittlerweile deutlich angestiegen. Seit dem Beginn der Operation Iraqi Freedom wurden 80 M1 so stark beschädigt, dass sie in die Vereinigten Staaten zurückgebracht werden mussten. Von diesen 80 wurden 63 repariert und wieder in Dienst genommen; die restlichen 17 waren so stark beschädigt, dass eine Reparatur nicht mehr wirtschaftlich vertretbar war. Am 24. Januar 2023 erklärte US-Präsident Joe Biden, dass die USA 31 M1-Abrams-Panzer an die Ukraine schicken würden. Präsident Biden sagte, die Entsendung von Panzern solle „die Fähigkeit der Ukraine verbessern, ihr Territorium zu verteidigen und ihre strategischen Ziele zu erreichen“ und sei „keine offensive Bedrohung für Russland“. Am 25. Januar 2023 genehmigte US-Präsident Biden die Lieferung von 31 Abrams-Panzern an die Ukraine als Teil eines größeren Unterstützungspakets. Pentagon-Sprecherin Sabrina Singh erklärte, dass es sich bei den Panzern um die Variante M1A2 handeln würde, und da sie in den US-Beständen nicht im Übermaß vorhanden seien, würden sie über die Ukraine Security Assistance Initiative (USAI) beschafft werden. Am 21. April 2023 informierte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, Pat Ryder, darüber, dass jetzt die Variante M1A1 an die Ukraine geliefert werden solle, da dies bereits zum Herbst 2023 möglich sei. Der M1A1 sei für die ukrainischen Streitkräfte leichter zu bedienen und zu warten und hätte „sehr ähnliche Fähigkeiten wie der M1A2“. Nutzerstaaten Neben den USA, die 2022 eine Flotte von 2645 (eingelagert: 3450) M1 in verschiedenen Versionen unterhalten, sind die nachstehenden Staaten ebenfalls Nutzer des M1, allerdings in wesentlich geringerem Umfang. Die relativ geringen Exportzahlen sind auf verschiedene Gründe zurückzuführen. Viele NATO-Staaten unterhalten eigene Kampfpanzerentwicklungen, so dass der Kauf von M1 nicht nötig ist. Vielfach gab auch der hohe Treibstoffverbrauch den Ausschlag gegen den Erwerb, da gleichzeitig die Logistikkapazitäten ausgebaut werden müssten. Aus diesem Grund wurde auch eine Variante des M1 entwickelt, die mit einem Dieselmotor von MTU Friedrichshafen ausgestattet ist. Bislang fanden sich jedoch keine Käufer für diese Variante. Viele Staaten sehen aufgrund der hohen Kosten von einem Erwerb des M1 ab. Australien 2004 gab das australische Verteidigungsministerium bekannt, dass im Rahmen des Vorhabens Land 907 Tank Replacement Projekt der Kauf von 59 M1A1 geplant sei, um den Leopard 1 AS1 zu ersetzen. Dieser ist trotz der vielen Kampfwertsteigerungen technologisch nicht mehr konkurrenzfähig zu Kampfpanzern der dritten Generation. Zudem wollte das australische Militär eine Systemgleichheit mit den US-Streitkräften erreichen, um die Logistik bei gemeinsamen Einsätzen zu vereinfachen. Die Lieferung der Fahrzeuge erfolgte bis 2007, wobei die ersten 18 im September 2006 eintrafen. Von den 59 erworbenen Fahrzeugen des Typs M1A1 AIM sind 41 im 1st Armoured Regiment eingesetzt, die restlichen sind für Übungs- und Trainingszwecke vorgesehen. Alle Panzer stammen aus den Reservebeständen der 7. US-Armee. Der Auftrag umfasste ein Volumen von 475 Millionen US-Dollar. Darin waren neben den Kampfpanzern noch sieben Bergepanzer vom Typ M88A2 HERCULES, acht Treibstoff-LKWs, 14 Schwerlasttransporter, Ersatzteile und Ausbildungssimulatoren enthalten. Die ursprüngliche Einheits-Tarnfarbe „Sandgelb“ der Kampfpanzer wurde ab November 2009 auf den australischen Dreifarb-Tarnanstrich umgestellt. Das Umtarnen erfolgte während der Depotinstandsetzungszyklen, sodass es in diesem Zeitraum beide Varianten gab. Ab voraussichtlich 2024 ist geplant, die 59 Panzer vom Typ M1A1 durch 75 vom Typ M1A2 aus amerikanischen Beständen zu ersetzen. Der Anfang 2022 abgeschlossene Auftrag, der noch weitere 45 gepanzerte Fahrzeuge umfasst, hat ein Volumen von 3,5 Milliarden US-Dollar (rund 3,06 Milliarden Euro bzw. 3,2 Milliarden Schweizer Franken). Australien verfügt 2022 über 59 Panzer vom Typ M1A1. Ägypten Ägypten wurde 1989 von den USA in die Liste ihrer wichtigsten Verbündeten außerhalb der NATO aufgenommen. Damit bekam das Land bevorzugten Zugang zu ausgewählten Rüstungsprogrammen. Zudem wollte das Heer die vorwiegend sowjetische Ausrüstung ausmustern und durch modernere ersetzen. So wurde Ägypten zum ersten Exportkunden für den M1; bis 1998 wurden 555 M1A1 ausgeliefert. Die Endmontage erfolgte in Ägypten, wobei 35 % aller Teile in Ägypten gefertigt wurden und der Rest aus den USA geliefert wurde. 2002 bekam General Dynamics den Auftrag, die ägyptische Rüstungsindustrie bei der Produktion eigener M1 zu unterstützen. Seitdem wurden weitere 325 Panzer in Ägypten gefertigt beziehungsweise endmontiert. Bis 2011 folgten weitere 125 Exemplare, was den Bestand auf 1.005 Fahrzeuge erweiterte. Insgesamt plant Ägypten, seine M1-Flotte auf 1500 Fahrzeuge auszubauen. Die ägyptischen M1A1 sind fast identisch mit den in den USA gefertigten Exemplaren, verfügen jedoch nicht über die verbesserte Frontpanzerung. 2022 verfügt Ägypten über 1130 M1A1. Irak Da ein großer Teil der Panzerverbände während des Golfkriegs 1991 und des Irakkriegs vernichtet wurde und die vorhandenen Kampfpanzer veraltet sind, stellte der Irak 2008 einen Antrag auf Versorgung mit neuem Material, um die bislang schwache Panzerbekämpfungsfähigkeit zu erhöhen. Insgesamt erhielten die irakischen Streitkräfte von August 2010 bis August 2011 140 M1A1M (abgerüstete Variante ohne die Uranpanzerung). Zusätzlich umfasst die Lieferung Bergepanzer, Versorgungs- und Sanitätsfahrzeuge, Schwerlasttransporter und Ersatzteile. Im Oktober 2012 wurde bekannt, dass sechs zusätzliche Panzer geliefert wurden. Während des Bürgerkrieges in Syrien konnte der Islamische Staat nach Aussagen der Peschmerga mehrere Panzer des Typs M1 Abrams erbeuten, die von der fliehenden irakischen Armee zurückgelassen wurden. Der Irak verfügt 2022 über rund 100 M1A1. Kuwait Die Streitkräfte Kuwaits erlitten während der irakischen Invasion schwere Verluste an Mensch und Material. Nach der Befreiung wurden die Landstreitkräfte schnell wieder aufgebaut, wobei ein Schwerpunkt auf der Modernisierung der Panzertruppe lag. Aufgrund des Erfolgs des M1 entschied sich Kuwait dafür, 218 M1A2 aus US-amerikanischen Beständen zu erwerben. Diese wurden in drei Losen bis 1996 ausgeliefert, sodass 2022 218 M1A1 aktiv sind. Marokko Im Jahr 2015 bestellten die Königlich marokkanischen Streitkräfte 222 Panzer der Ausführung M1A1 SA (situational awareness). Diese Fahrzeuge stammten aus dem Bestand der United States Army und wurden vor der Auslieferung bei General Dynamics generalüberholt und modernisiert. Dort erhielten sie neue Optiken sowie eine verbesserte Panzerung. Die Panzer wurden zwischen 2016 und 2018 in zwei Losen an Marokko ausgeliefert, sodass 2022 222 M1A1 SA aktiv sind. Polen Im Jahr 2021 bestellten die polnischen Streitkräfte 250 Panzer der Ausführung M1A2 SEPv3 (System Enhanced Package Version 3). Der Kaufpreis für die Fahrzeuge beträgt rund 6 Milliarden US-Dollar. Die Auslieferung der Panzer soll ab dem Jahr 2022 erfolgen. Bei den polnischen Landstreitkräften wird der M1 Abrams die Panzer der Typen PT-91 und T-72 ersetzen. Saudi-Arabien Saudi-Arabien wollte nach der Beendigung des Golfkrieges seine Panzertruppe mit dem Leopard 2 modernisieren. Ein Argument dafür war die 120-mm-Glattrohrkanone. Auf Grund von Exportbeschränkungen zum Leopard 2 konnte er jedoch nicht erworben werden. Daher wurden 315 M1A2 zwischen 1994 und 1996 mit einer in Lizenz gefertigten Glattrohrkanone erworben. Die saudischen Panzer verfügen über eine andere Funkanlage und ein neues Fahrzeuginformationssystem, die Bezeichnung lautet M1A2S. Saudi-Arabien besitzt 2022 rund 500 M1A2/A2S. Ukraine Im Januar 2023 gab die US-Regierung bekannt, dass sie zunächst mindestens 31 M1-Panzer an die ukrainischen Streitkräfte liefern werde, um diese in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Angriffskrieg zu unterstützen. Die Ausbildung ukrainischer Panzersoldaten an Fahrzeugen desselben Typs begann im Mai 2023 auf dem deutsch-amerikanischen Truppenübungsplatz Grafenwöhr. Varianten Improved M1 Da die Konstruktion des M1 von Anfang an darauf ausgelegt war, die 120-mm-Glattrohrkanone aufzunehmen, entschied die Army sich 1981 dazu, 14 Panzer probeweise mit der neuen Waffe auszustatten. Daneben wurden weitere Modifikationen vorgenommen, diese umfassten unter anderem eine verbesserte Panzerung an Turm und Wanne, geänderte Munitionshalterungen für die neue Munition, den Einbau einer integrierten ABC-Schutzanlage mit neuen Luftfiltern, einen Staukasten am Turmheck und einen neuen Turmantrieb. Die Bezeichnung der Versuchsexemplare lautete M1E1. Während der Erprobung der Kanone entschied die Army, dass die bereits serienreifen Veränderungen in die laufende Produktion übernommen werden sollten. Aufgrund dessen wurden ab 1984 einige Änderungen an neu produzierten Fahrzeugen vorgenommen. Die Änderungen betrafen die Verbesserung der Panzerung und die Anbringung des Staukastens am Turmheck, um der Besatzung mehr Raum zur Unterbringung der persönlichen Ausrüstung zu geben. Insgesamt wurden 894 Exemplare gefertigt, bevor die Produktion auf das Modell A1 umgestellt wurde. Fahrzeuge dieser ersten Kampfwertsteigerung befinden sich heute nicht mehr im Dienst der US Army, einige wenige Exemplare waren noch bis 1997 bei der Nationalgarde in Gebrauch. Alle anderen Fahrzeuge wurden umgerüstet oder für spätere Umrüstungen eingelagert. M1A1/M1A1D Der erste M1A1 wurde im August 1985 hergestellt. Diese Variante enthält bereits die Änderungen des Improved M1. Die wesentlichen Neuerungen waren der Austausch der 105-mm-Kanone durch eine Lizenzfertigung der 120-mm-Glattrohrkanone von Rheinmetall und die Umsetzung des Product improvement program (PIP). Dieses umfasste den Einbau eines ABC-Schutzsystems, das gleichzeitig als Klimaanlage und Heizung fungiert. Weitere kleine Änderungen wurden an den Kettenschürzen des Laufwerkes, am Getriebe sowie an den Sitzen für Ladeschütze und Kommandant vorgenommen. Insgesamt wurden 2388 M1A1 neu hergestellt, bereits produzierte M1 wurden nachgerüstet. Die Produktion der M1A1-Serie endete 1993, nachdem insgesamt 4796 Fahrzeuge hergestellt oder umgerüstet wurden. Eine Variante des M1A1, die seit 2000 mit dem digitalen Führungs- und Informationssystem des M1A2 ausgestattet ist, wird als M1A1D bezeichnet. M1A1 HA 1988 stellte die Army die Forderung nach einer Version des M1A1 mit verbesserter Panzerung. Um innerhalb akzeptabler Gewichtsgrenzen zu bleiben, wurde abgereichertes Uran als Panzerungsmaterial ausgewählt. Dieses wird zwischen zwei Lagen aus Stahl in der Turmfront verbaut. Aufgrund dieser Bauweise und der niedrigen Strahlung des abgereicherten Urans wurde diese Art der Panzerung von der US Nuclear Regulatory Commission als unbedenklich eingestuft. Diese bis 1993 produzierte Variante wird als M1A1 HA (Heavy Armour) bezeichnet, 1328 Exemplare wurden hergestellt. Weitere 834 Kampfpanzer trugen die Kennung HA+ und verfügten über eine erneut verbesserte uranhaltige Panzerung. Diese Versionen sind äußerlich nicht von einem Fahrzeug ohne Uranpanzerung zu unterscheiden. M1A1 HC Dieser Typ des Abrams war auf die Anforderungen des United States Marine Corps zugeschnitten und basierte auf dem M1A1 HA+. Die als Heavy Common bezeichnete Variante verfügte zudem über technische Änderungen, die für den Einsatzraum der Marineinfanterie erforderlich sind. So wurden die Kampfpanzer mit einer Tiefwatausstattung, einem Fahrzeugnavigationssystem und einem besseren Korrosionsschutz versehen. Insgesamt wurden durch General Dynamics 329 M1A1 HC gefertigt. M1A1 AIM Im Rahmen dieses Programms wurden M1A1-Panzer der U.S. Army komplett in ihre Einzelteile zerlegt und danach unter Verwendung generalüberholter Teile wieder zusammengesetzt. Deshalb wurden diese Fahrzeuge mit null Betriebsstunden als „fabrikneu“ eingestuft. Das Ziel war es, den Konstruktionsstand der unterschiedlichen M1A1-Rüststände anzugleichen. Weiterhin wurden einige Neuerungen eingebaut, mit denen die Führbarkeit des Panzers verbessert werden sollte. Zu den Neuerungen gehörte der Einbau digitalisierter Kommunikationseinrichtungen (intern und extern) sowie neuer Bediengeräte für den Kommandanten. Ein Stromerzeugungsaggregat am Heck sollte den Treibstoffverbrauch im Stillstand verringern. Weiterhin wurde ein eigenes Wärmebildgerät zur Bedienung des schweren MGs des Kommandanten installiert. Für die Umrüstung wurden M1A1 älterer Baulose herangezogen. Ab 2000 wurden jedes Jahr 45 M1A1, später 135 auf den Stand M1A1 AIM gebracht und den US-Streitkräften wieder zugeführt. Die Ausstattung eines Bataillons erfolgte immer komplett und beinhaltete 44 Kampfpanzer mit neuen Vorschriften, Ersatzteilen und Rüstsätzen. Panzer für den Export durchliefen ebenfalls das AIM-Programm. M1A2 Ende 1988 wurde General Dynamics Land Systems mit einem weiteren Kampfwertsteigerungsprogramm betraut. Dabei sollten ein nochmals erhöhter Panzerschutz, eine erhöhte Überlebensfähigkeit und verbesserte Führbarkeit des Fahrzeugs im Vordergrund stehen. Aufgrund des auf 61,7 t angestiegenen Gewichts konnten nicht alle Wünsche der Army hinsichtlich zusätzlicher Panzerung umgesetzt werden. Zur Verbesserung der Führbarkeit wurde ein unabhängiges Wärmebildgerät für den Kommandanten eingebaut (Commander’s Independent Thermal Viewer – CITV), sämtliche vorhandenen Wärmebildgeräte wurden auf Exemplare der 2. Generation umgerüstet, die Elektronik wurde überarbeitet und ein Inter Vehicular Information Systems (IVIS) in das System integriert, das den Austausch von Lagedaten zwischen den einzelnen Fahrzeugen erlaubt. Das CITV erlaubt dem Kommandanten bei schlechter Sicht eine vom Wärmebildgerät des Schützen unabhängige Beobachtung. Weiterhin wurde die Waffenstation des Kommandanten verbessert und eine Hull Power Distribution Unit zur besseren Energieversorgung der elektrischen Systeme in die Wanne eingebaut. Um die Ausdauer des Fahrzeugs zu steigern, wurde ein Stromerzeugungsaggregat mit 6,2 kW Leistung am Heck angebracht. Vor dieser Maßnahme musste die Turbine im Leerlauf weiterlaufen, um die Stromversorgung sicherzustellen. Das Munitionsmagazin im Turmheck wurde ebenfalls überarbeitet, so dass zwei zusätzliche Patronen dort gelagert werden können. Die ersten Fahrzeuge des M1A2 wurden 1992 ausgeliefert; die Produktion endete 1996, nachdem Exportkunden wie Saudi-Arabien beliefert worden waren. Derzeit erfolgt noch die Umrüstung älterer Varianten auf das Modell A2. Der M1A2 unterscheidet sich äußerlich durch das CITV vor der Ladeschützenluke von den früheren Versionen. Nach Angaben der Army kann der M1A2 Ziele um 45 % schneller aufklären, die Zielübergabe vom Kommandanten an den Schützen erfolgt um bis zu 70 % schneller und die Positionsbestimmung von Zielen erfolgt bis zu 32 % präziser als beim M1A1. M1A2 SEP Das SEP (System Enhancement Program) umfasst einige Punkte, die sowohl die Führbarkeit, die Ausdauer im Gefecht als auch die Kampfkraft verbessern sollen. Dazu wurde ein neues Wärmebildgerät der 2. Generation für den Kommandanten eingebaut, ein neuer augensicherer Laserentfernungsmesser installiert sowie digitalisierte Karten auf einem Farb-Display für den Kommandanten in das System integriert. Die Leistung des Computersystems wurde ebenfalls verbessert, der Speicher wurde erweitert und ein neues Betriebssystem mit Upgradepotential für zukünftige Kampfwertsteigerungen installiert. Die Panzerung an der Turmfront und an den Seiten wurde ein weiteres Mal erhöht. Laut Angaben der Army stieg die maximale Schussentfernung auf 4000 Meter. Im Kampfraum wurde eine Klimaanlage für die Elektronik und die Besatzung installiert. Der M1A2 verfügt über kein Stromerzeugeraggregat, jedoch besteht die Möglichkeit, ein solches im Heck unter Panzerschutz einzubauen. Um die Funktionsfähigkeit der elektrischen Systeme auch bei abgeschalteter Turbine sicherzustellen, wurden an dieser Stelle zusätzliche Hochleistungsbatterien eingebaut. M1 TUSK Aufgrund der steigenden Ausfälle des Panzers im Irak beim Einsatz in bebautem Gelände wurde das TUSK-Programm ins Leben gerufen. TUSK steht für Tank Urban Survival Kit und ist ein Zurüstsatz für Kampfpanzer zur Steigerung der Überlebensfähigkeit bei Einsätzen in bebautem Gebiet. Der von General Dynamics Landsysteme gefertigte Rüstsatz besteht zum Großteil aus eingeführten Komponenten bestehender Systeme. Im August 2006 wurden vom U.S. Army Tank-Automotive and Armaments Command (TACOM) in einem ersten Los 505 Rüstsätze für einen Gesamtpreis von 45 Millionen US-Dollar bestellt. Von Sommer 2007 bis April 2009 wurden damit die M1 Abrams im Irak nachgerüstet. Die Dauer der Montage des kompletten TUSK-I-Rüstsatzes beträgt zwölf Stunden. Wegen der unterschiedlich genutzten Varianten wurden ebenfalls unterschiedliche Rüstsätze eingeführt. Der als TUSK I bezeichnete Rüstsatz steht sowohl für den M1A1 als auch den M1A2 SEP zur Verfügung und umfasst folgende Komponenten: Reaktivpanzerung ARAT I (Abrams Reactive Armor Tiles) ARAT basiert auf der Reaktivpanzerung des M2/M3 Bradley und nutzt handhabungssicheren Sprengstoff. ARAT I besteht aus 64 Segmenten, die je Seite zu zwei Reihen mit je 16 Stück auf den Kettenschürzen angebracht werden. Die als XM19 bezeichneten Kacheln schützen gegen Hohlladungen. Schutzschild an der Lafette des Ladeschützen (Loader′s Armor Gun Shield – LAGS) Das aus einem 200 mm hohen Ring und einem Schutzschild bestehende LAGS schützt den Ladeschützen beim Bedienen seines Maschinengewehres. Der um die Ladeschützenluke herumlaufende Ring und der Schild bestehen aus Panzerstahl und Panzerglas. Wärmebildgerät für den Kommandanten (Remote Thermal Sight – RTS) Das ungekühlte Wärmebildgerät (WBG) der 2. Generation ermöglicht dem Kommandanten des M1A1 erstmals, Ziele bei Nacht und bei jeder Wetterlage mit seinem Maschinengewehr zu bekämpfen. Das von dem WBG erzeugte Bild wird auf dem Monitor (DCM; Display Control Module) des Kommandanten angezeigt. Es ist achsparallel zum M2HB auf der Lafette montiert. Wärmebildgerät für den Ladeschützen (Loader′s Thermal Weapon Sight – LTWS) Das Wärmebildgerät des Ladeschützen entstammt dem Land-Warrior-Programm der US-Armee. Das von Raython Network Centric Systems hergestellte AN/PAS 13 wird auf der Picatinny-Schiene des M240B montiert. Das über ein Kabel an den Stromverteiler (PDB) angeschlossene Gerät erlaubt dem Ladeschützen, Ziele bis zu einer Entfernung von 550 Metern aufzuklären und zu bekämpfen. Ein Helmdisplay (Helmet-Mounted-Display – HMD) mit einer Auflösung von 800 × 600 Pixeln projiziert die Bilder vor das Auge des Benutzers. Wärmebildgerät für den Fahrer (Driver′s Vision Enhancer – DVE) Das DVE ermöglicht dem Fahrer eine bessere Sicht bei Nacht sowie bei Staub- und Rauchentwicklung. Das aus einem Sensormodul (SM) und einem Kontrollbildschirm (DCM) bestehende Wärmebildgerät verfügt über ein 10,4-Zoll-Display mit einer Auflösung von 800 × 600 Pixeln. Das Sensormodul besteht aus einem 640 × 480, 8–12-µm-Mikrobolometer-Detektor, mit dessen Hilfe Fahrzeuge bis auf Entfernungen von 1790 m erkannt werden können. Unter Gefechtsbedingungen kann eine Person bis auf 190 m erkannt werden. Das im Austausch zum mittleren Winkelspiegel genutzte DVE kann im Temperaturbereich von −37 °C bis +49 °C eingesetzt werden. Außenbordsprechstelle (Tank Infantry Phone – TIP) Das TIP ist eine Außenbordsprechstelle am rechten Fahrzeugheck des Abrams. Das in die Bordverständigungsanlage integrierte Gerät ist ein zusätzlicher Wahlschalter der Anlage und ermöglicht dem Benutzer, mit der Panzerbesatzung zu sprechen, den Funkverkehr mitzuhören oder selbst einen Funkspruch abzusetzen. Stromverteilerkasten (Power Distribution Box – PDB) MG-Lafette auf der Bordkanone (Counter Sniper/Anti Material Mount (CS/AMM)) Das Counter Sniper/Anti Material Mount ist eine schwere MG-Lafette für das Browning M2HB oder M240B. Die Lafette ermöglicht es, ein zweites MG koaxial zur Bordkanone auf deren Blende zu installieren und gegen Scharfschützen, Panzervernichtungstrupps und weitere Ziele im Nahbereich einzusetzen. Trägt die Lafette das M2HB, können Ziele bis auf Entfernungen von 2000 Metern bekämpft werden. Zum Richten und Zielen wird die Feuerleitanlage des Panzers genutzt, das Bedienen der Waffe erfolgt komplett unter Panzerschutz. Ebenfalls zur Ausstattung gehört ein Xenon-Suchscheinwerfer, der durch einen gepanzerten Kabelkanal mit dem Stromverteilerkasten verbunden ist. Das Blenden-MG sowie das CS/AMM-MG können gleichzeitig genutzt werden. Minenschutz der Wanne (Abrams Belly Armor) Die V-förmige Zusatzpanzerung verstärkt die Unterseite der Fahrzeugwanne gegen Minen und IED. Die 1360 kg schwere Zusatzpanzerung reduziert die Bodenfreiheit um 200 mm. minengeschützer Fahrersitz (Mine Resistant Driver Seat) Der Sitz des Fahrers entspricht im Aufbau dem des deutschen Leopard 2A6M. Aufgehängt über vier Gurte an der Fahrzeugdecke und mit Retraktoren (Gurtaufroller) ausgestattet, kann der Fahrer seine individuelle Sitzhöhe (Augenpunkt) über und unter Luke nahezu stufenlos einstellen. Durch die Entkopplung des Fahrersitzes vom Wannenboden wird das Risiko einer Verletzung oder Tötung des Fahrers durch die elastische Verformung des Wannenbodens im Fall der Explosion einer Mine unter dem Panzer verringert. RPUSA (Rear Protection Unit Slat Armour) Die Slat Armor oder Käfigpanzerung am Fahrzeugheck wurde während der Entwicklung des TUSK-Programms für den Abrams vorgesehen und bereits 2004 im Irak eingesetzt. Gemäß den veröffentlichten Dokumenten des Programm Executive Office Ground Combat Systems (PEO GCS) ist sie seit 2007 nicht mehr Bestandteil der Umrüstung. TUSK II verbessert nochmals den Panzerschutz und den Schutz gegen projektilbildende Minen. Offiziell ist dieser auf den M1A2 SEP beschränkt und besteht aus folgenden Komponenten: Reaktivpanzerung ARAT II ARAT II verstärken die ARAT-I-Panzerung an den Seiten und werden im Bereich des Turmes direkt auf der Panzerung angebracht. Die als XM32 bezeichneten Segmente besitzen die Form eines Dachziegels und werden leicht abgewinkelt zum Boden angebracht. Sie verbessern den Schutz gegen unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (IED) und projektilbildende Ladungen. 360°-Schutzschild für den Kommandanten Das Schutzschildsystem besteht aus Panzerstahl und Panzerglas und umschließt die Kommandantenkuppel. Es ermöglicht dem Kommandanten des M1A2 SEP einen besseren Überblick über das Gefechtsfeld, ohne auf den Panzerschutz zu verzichten. Das nur im TUSK II vorgesehene System wurde ebenfalls leicht modifiziert an einigen M1A1 verbaut. Rückfahrkamera für den Fahrer Die Rückfahrkamera (Rear Camera) ermöglicht dem Fahrer das Rückwärtsfahren ohne Anweisungen des Kommandanten oder des Ladeschützen. Die von BAE Systems entwickelte Kamera verfügt über einen Tagsicht- und einen Wärmebildkanal. Die Darstellung des Bildes erfolgt auf einem Bildschirm des Fahrers und wahlweise auf der Anzeigetafel des Kommandanten. Neben den M1A2 SEP werden auch die M1A1 damit ausgestattet. TUSK III ist wieder für den M1A1 und M1A2 SEP geplant und beinhaltet das abstandsaktive Schutzsystem TRAPS (Tactical Rocket Propelled Airbag Protection System), eine minensichere Anordnung der Sitze und für den Kommandanten und Richtschützen eine separate fernbedienbare Waffenstation. Fahrzeuge auf Basis des M1 M1 Grizzly Der M1 Grizzly ist ein Pionierpanzer, der auf der Wanne des M1 aufgebaut ist. Er wurde nach dem zweiten Golfkrieg konstruiert, weil ersichtlich wurde, dass es der Army an Pionierpanzern mangelte, die den M1A1 im Angriff folgen konnten. Der 64 t schwere Grizzly verfügt über die gleiche Beweglichkeit wie der M1A1 und bietet Schutz gegen Splitter von Artilleriegeschossen. Seine Aufgabe ist das Öffnen von Minensperren und das Beseitigen von Hindernissen wie beispielsweise Gräben, Stacheldraht und Schutt. Dazu stehen ihm Hilfsmittel wie ein keilförmiger Minenpflug am Bug mit automatischer Tiefenkontrolle und ein drehbarer Teleskoparm mit Tieflöffel zur Verfügung der auch als Kran einsetzbar ist. Der Grizzly ist in der Lage, einen Panzergraben innerhalb von fünf Minuten für einen Panzer wieder überquerbar zu machen und eine 600 m breite Minensperre innerhalb von 21 Minuten zu öffnen. Die Besatzung besteht aus zwei Soldaten (Fahrer und Kommandant), die Bewaffnung aus einem fernbedienbaren M2-Maschinengewehr. Aufgrund fehlender Geldmittel wurde die Weiterentwicklung der zwei Prototypen im Jahr 2000 eingestellt. M1 Abrams Panther II Der Panther II ist ein Minenräumpanzer, ähnlich dem Keiler der Bundeswehr. Er besteht aus einem M1, dessen Turm zur Gewichtsreduzierung entfernt wurde, und einem am Bug angebrachten Minenräumsystem. Der Panzer benötigt aufgrund eines Fernsteuerungssystems keine Besatzung und kann bis zu einer Entfernung von 800 m ferngesteuert werden. Das Minenräumsystem besteht entweder aus einem Minenpflug oder aus einem Minenroller, der durch mehrere schwere Rollen einen höheren Bodendruck ausübt als der Panzer selbst und so Panzerabwehrminen, die in der Fahrbahn des Panzers liegen, zur Detonation bringt. Der Panther II kann ein 5000 m² großes Minenfeld innerhalb einer Stunde räumen. Der Minenräumpanzer wird bei den Streitkräften der KFOR genutzt und seit 2003 auch im Irak eingesetzt. M104 Wolverine Hauptartikel: M104 Wolverine Der M104 Wolverine ist ein mit der deutschen Panzerschnellbrücke Leguan ausgerüsteter Brückenleger. Zwischen 1997 und 2003 wurden insgesamt 44 Exemplare von General Dynamics Land Systems gebaut und eingeführt. Die ursprünglich geplante Gesamtstückzahl von 465 Fahrzeugen wurde nach einer Etatkürzung gestrichen. Joint Assault Bridge Das USMC begann 2005, das Titan-Brückensystem von BAE Systems auf der Wanne eines M1A1 zu verwenden. Nach einer umfangreichen Truppenerprobung und zwei Prototypen erhielt der Rüstungskonzern 2007 den Auftrag, sechs Brückenleger zu fertigen. Mit diesen Fahrzeugen ist es möglich, die Scherenbrücke des Brückenlegers M60A1 zu verlegen. Assault Breacher Vehicle Der Pionierpanzer Assault Breacher (ABV) basiert auf dem M1A1 und ist eine Entwicklung für das USMC. Gemäß den Planungen ist er zum Räumen von Hindernissen und zum Schlagen von Minengassen vorgesehen. Für die neuen Aufgaben wurde der Kampfpanzerturm entfernt und durch eine neue Turmkonstruktion ersetzt, die mit einer Reaktivpanzerung versehen wurde. Die Besatzungsstärke beträgt zwei Personen. Zum Minenräumen verfügt der Panzer auf dem Turmdach über zwei 107 m lange mit C4-Sprengstoff (2,3 kg pro 30 cm) versehene „Minenräumschnüre“ (M58 Mine Clearing Line Charges – MICLIC) sowie über verschiedene Anbaugeräte für die Wannenfront. Durch den Einsatz eines Schnellwechseladapters (High-Lift Adapter – HLA) kann in kurzer Zeit ein V-förmiger Minenpflug für offen verlegte Minen (Surface Mine Plough – SMCD), ein Räumschild (Combat Dozer Blade), ein Spezialminenräumschild vom M1 Abrams (Rapid Ordnance Removal System – ROPS) oder ein Minenpflug für die gesamte Fahrzeugbreite (Full Width Mine Plough – FWMP) montiert werden. Die geräumte Gasse wird für nachfolgende Fahrzeuge durch ein am Heck montiertes Markierungssystem (Clear Lane Marking System) gekennzeichnet. Wie beim Panther II besteht die Möglichkeit der Fernsteuerung. Insgesamt werden 52 Fahrzeuge vom USMC eingesetzt, weitere 187 Fahrzeuge wurden von der US Army geordert, die das System seit 2010 einsetzen. Der erste Gefechtseinsatz erfolgte durch das USMC am 4. Dezember 2009 während der Operation Cobra’s Anger bei der Erstürmung von Now Zad in Afghanistan. Die Sprengschnüre wurden im Verlauf der Operation ebenfalls gegen befestigte Stellungen eingesetzt. Abrams RV90 Armoured Recovery Vehicle Bei diesem Fahrzeug handelte es sich um einen Bergepanzer auf einem M1A1-Fahrgestell. Von General Dynamics wurde ein mit einem Kran auf der linken Wannenfront und einem Räumschild ausgestatteter Prototyp gefertigt. Nach einer erfolglosen Vergleichserprobung zwischen dem ARV und dem kampfwertgesteigerten M88A2 HERCULES wurde das Projekt Anfang 1990 eingestellt. Siehe auch Liste von Panzermodellen nach 1945 Ground Combat Vehicle Literatur Kevin C. Millspaugh: The M1 Abrams Tank: A Case Study in Major Weapon Systems Acquisition and Program Management. Naval Postgraduate School, Monterey 1995. Michael Green, Greg Stewart: M1 Abrams at War. Zenith Press, St. Paul, MN 2005, ISBN 0-7603-2153-1. Rolf Hilmes: Kampfpanzer heute und morgen: Konzepte – Systeme – Technologien. Motorbuch, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-613-02793-0. Christopher F. Foss: Jane’s Armour & Artillery 2009–2010. Jane’s Information Group Inc, 2009, ISBN 978-0-7106-2882-4. Weblinks US Army M1 Abrams Fact file (englisch) Offizielle Seite des Herstellers (englisch) M1 Details – Ausführliche Seite zum M1 (englisch) The Armor Site – Ausführliche Seite zum M1 Abrams (englisch) Einzelnachweise Kampfpanzer US-amerikanisches Militärfahrzeug Gasturbinenkraftfahrzeug General Dynamics Kettenfahrzeug
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https://de.wikipedia.org/wiki/Texas%20Instruments%20TI-99/4A
Texas Instruments TI-99/4A
Der Texas Instruments TI-99/4A (kurz TI-99/4A, umgangssprachlich „Neunundneunziger“) ist ein Heimcomputer des US-amerikanischen Technologiekonzerns und zu Beginn der 1980er-Jahre weltweit führenden Halbleiterherstellers Texas Instruments (TI). Der Rechner verfügt über einen für damalige Verhältnisse sehr leistungsstarken 16-Bit-Hauptprozessor, 16 Kilobyte Arbeitsspeicher (RAM), 26 Kilobyte Festspeicher (ROM) sowie Spezialbausteine für die Bild- und Tonausgabe. Er wurde auf der vom 31. Mai bis 3. Juni 1981 in Chicago abgehaltenen Summer Consumer Electronics Show vorgestellt. Wie die meisten zeitgenössischen Heim- und Kleincomputer verfügt auch der TI-99/4A über einen Interpreter, mit dem er in TI BASIC oder TI Extended BASIC programmiert werden kann. Gegenüber seinem Vorgängermodell TI-99/4 – dem ersten in Serie hergestellten 16-Bit-Heimcomputer – zeichnet sich der farb- und spritefähige TI-99/4A vor allem durch verbesserte Grafikfähigkeiten, eine komfortablere Tastatur und einen günstigeren Preis aus. Der mit diesen Leistungsmerkmalen intensiv beworbene Rechner war bei seiner Markteinführung 1981 in Nordamerika für 525 USD erhältlich, in der Bundesrepublik kurz darauf für 1490 DM. Ende 1982 errang der TI-99/4A vorübergehend die Marktführerschaft in seiner Geräteklasse. Die zunehmende Konkurrenz durch Hersteller wie Commodore, Atari und Sinclair, eine verfehlte Vermarktungsstrategie und überdurchschnittlich hohe Produktionskosten führten jedoch bereits ab Sommer 1982 zu stetig wachsenden finanziellen Verlusten beim Hersteller. Daraufhin verkündete TI am 28. Oktober 1983 seinen Rückzug vom Heimcomputermarkt und stellte die Produktion des TI-99/4A ein. Insgesamt wurden weltweit etwa 2,8 bis 3 Millionen Geräte verkauft. Damit gilt der TI-99/4A als erster 16-Bit-Rechner mit einer nennenswerten Verbreitung unter Privatanwendern. Geschichte Schwächen des Vorgängermodells TI-99/4 Das Vorgängermodell TI-99/4 wurde bereits Ende 1979 zur Serienreife gebracht, konnte aber erst Anfang 1980 in größeren Stückzahlen geliefert werden. Zudem war der TI-99/4 zunächst nicht zum Betrieb mit handelsüblichen Fernsehern zugelassen, da TI nicht in der Lage war, die strengen Auflagen der US-amerikanischen Federal Communications Commission (FCC) zur Funkentstörung von HF-Modulatoren zu erfüllen. Der daraufhin nur im Paket mit einem teuren Zenith-Farbmonitor angebotene Rechner blieb mit einem Paketpreis von anfänglich 1150 USD in Nordamerika, der bis Herbst 1980 auf 1400 USD angehoben wurde, und mit 2700 DM in der Bundesrepublik für die meisten Privatanwender unerschwinglich. Darüber hinaus litt der TI-99/4 an technischen Mängeln. Hierzu zählte insbesondere die nicht alle Standardzeichen umfassende, schwergängige und daher für die Eingabe größerer Datenmengen ungeeignete Kaugummitastatur. Auch die Grafikfähigkeiten waren beschränkt. Beispielsweise kann der Rechner weder Bitmapgrafiken noch Kleinbuchstaben darstellen, was ihn für die Textverarbeitung unbrauchbar machte. Weitere Produktionsverzögerungen, ein Ende 1980 lediglich 30 Titel umfassendes Softwareangebot, eingeschränkte BASIC-Programmiermöglichkeiten sowie teils abschätzige Kritiken in der Fachpresse verschafften dem TI-99/4 ein eher mäßiges Image. Schleppende Verkäufe brachten TI schließlich dazu, den Rechner einzeln zum deutlich geringeren Preis von 600 USD bzw. 1500 DM anzubieten – ohne Erfolg, der TI-99/4 blieb ein Ladenhüter. Die Verantwortlichen bei TI veranlassten daraufhin im Herbst 1980 eine gründliche Überarbeitung und Weiterentwicklung des Vorgängermodells zum TI-99/4A, um endlich einen konkurrenzfähigen Heimcomputer anbieten zu können. Weiterentwicklung des Vorgängermodells zum TI-99/4A Der Leiter der Abteilung für Unterhaltungselektronik namens Peter Bonfield empfahl im Zuge der Überarbeitung des Vorgängermodells die Ersetzung der aus konzerneigener Produktion stammenden 16-Bit-CPU TMS9900 durch die im Ankauf 11 USD billigere 8-Bit-CPU Z80 von Zilog. Geschäftsführer Mark Shepperd wollte jedoch nicht auf den technisch rückständigen Mikroprozessor eines Fremdherstellers zurückgreifen. Außerdem erhoffte sich die Halbleiterabteilung von TI beim Verkauf des in der Produktion lediglich 2,25 USD teuren TMS9900 große, innerhalb des Konzerns verbleibende Gewinne. Im November 1980 wurde Bonfield durch Don Bynum ersetzt, der die technische Leitung der Überarbeitung des TI-99/4 (Codename „Ranger“) übernahm und am TMS9900 festhielt. Weitgehend unverändert blieben auch Soundchip, I/O-Baustein und Systembus. Zwecks Reduktion der Produktionskosten auf 340 USD wurden allerdings höher integrierte Versionen der Schaltkreise verwendet. Der Expansionsport wurde zur Erweiterung seiner Funktionalität modifiziert. Durch das Weglassen der Taschenrechnerfunktion Equation Calculator wurde der umfangreiche Festspeicher um 5 KB abgespeckt. Auch der Arbeitsspeicher wurde um 256 Bytes verkleinert, wobei damit verbundene mögliche Probleme bei bereits existierenden Programmen in Kauf genommen wurden. Der entscheidende Unterschied zum Vorgängermodell bestand indessen in Verbesserungen am Grafikchip TMS9918, die das Darstellen von Kleinbuchstaben, Bitmapgrafik und den Betrieb mit SECAM- und PAL-Fernsehern ermöglichen. Im Gegensatz zum Vorgänger konnte somit das neue Modell auch auf Märkten außerhalb Nordamerikas angeboten werden. Der in der US-Version des neuen Rechners verbaute Grafikchip erhielt die Bezeichnung „TMS9918A“. Der angehängte, für englisch „advanced“ (deut. „weiterentwickelt“) stehende Großbuchstabe „A“ wurde im Zuge der Suche nach einem geeigneten Namen für das Nachfolgemodell kurzerhand auch der Modellbezeichnung des TI-99/4 hinzugefügt. Auch äußerlich gab es Veränderungen: Auf Lautsprecher und Mikrofonanschluss wurde beim TI-99/4A verzichtet. Dafür besaß die Konsole nun eine Schreibmaschinentastatur mit zusätzlicher Funktionstaste und Autowiederholungsfunktion. Außerdem gab TI die Entwicklung neuer Peripheriegeräte in Auftrag. Durch den Nachweis der elektromagnetischen Verträglichkeit von Rechner und HF-Modulator gegenüber der FCC gelangte der TI-99/4A schließlich im Sommer 1981 zur Marktreife. Vermarktung und Preisentwicklung Anders als im Fall der meist in den Billiglohnländern Südostasiens hergestellten, weltweit erfolgreichen Heimcomputer von Commodore und Atari blieb eine nennenswerte Verbreitung des in den texanischen Städten Lubbock, Abilene und Austin, im niederländischen Almelo sowie italienischen Rieti gefertigten TI-99/4A auf Nordamerika, Großbritannien, Westdeutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande beschränkt. TI verfügte bei Markteinführung über bereits etablierte Vertriebsstrukturen in den Vereinigten Staaten und der TI-99/4A war sowohl in eigenen Filialen als auch unabhängigen Fachgeschäften, Kaufhäusern und Supermärkten erhältlich. Alternativ konnte der Rechner über den Versandhandel direkt ab Werk bezogen werden. Anfängliche Verkaufserfolge und Marktführerschaft Für einen TI-99/4A mussten die Zwischenhändler im Sommer 1981 ca. 340 USD bezahlen, während der tatsächliche Verkaufspreis mit 550 USD anfänglich etwas höher ausfiel als die unverbindliche Preisempfehlung von 525 USD. Die Wochenproduktion belief sich zu diesem Zeitpunkt auf knapp 8.000 Einheiten. Auf der Grundlage optimistischer Verkaufsprognosen veranlasste Vertriebsleiter William J. Turner bis Ende 1981 eine schrittweise Absenkung des Listenpreises auf zunächst 450 USD, dann 375 USD. Die Gewinnmarge konnte dabei durch Verringerung der Produktionskosten auf einem stabilen Niveau von 40 Prozent pro Rechner gehalten werden. Im Februar 1982 musste TI den TI-99/4A wegen schadhafter Netzteile vorübergehend vom Markt nehmen. Dem Konzern entstanden daraus finanzielle Schäden in Höhe von 50 Millionen USD. Zur Überwindung dieser Krise, d. h. zur Ankurbelung der Verkäufe, setzte Turner auf eine aggressivere Vermarktung und senkte daraufhin den Preis auf 300 USD, begleitet von einer Werbekampagne mit dem Slogan „TI's Home Computer. This is the one“, für die der bekannte Komiker Bill Cosby verpflichtet und mit 1 Million USD pro Jahr entlohnt wurde. Auf Geheiß des im August 1982 zum Direktor der Abteilung für Unterhaltungselektronik beförderten Turner trat TI in einen offenen Preiskrieg mit dem Hauptkonkurrenten Commodore und dessen Heimcomputer VC20 ein. Turner hoffte dabei zu Recht auf Großbestellungen der wichtigsten Handelsketten wie J.C. Penney, Sears Roebuck, K-Mart oder Toys “R” Us. Rabatte von 100 USD verringerten den effektiven Verkaufspreis am 1. September 1982 auf unter 200 USD und nährten das Gerücht, TI sitze auf Lagerbeständen von bis zu 50.000 unverkauften Einheiten. TI-Werbepartner Cosby scherzte mit Blick auf diese Rabattaktionen für den TI-99/4A in der Öffentlichkeit darüber, wie einfach das Verkaufen eines Heimcomputers sei, wenn man den Kunden nur eine Belohnung von 100 USD dafür zahle. Turners aggressive Marketingstrategie führte im Herbst 1982 zu einer deutlichen Vergrößerung der Nachfrage und Ausweitung der Produktion. Auf jeden verkauften VC20 kamen zu diesem Zeitpunkt drei Exemplare des technisch überlegenen TI-99/4A. Die Monatsproduktion belief sich zwischen Juli und Dezember 1982 auf ca. 150.000 Einheiten, während das Vertriebsnetz nunmehr 12.000 Verkaufsstellen umfasste. Zu Spitzenzeiten wurden bis zu 5.000 Einheiten pro Tag hergestellt. Eine weitere Verminderung der Produktionskosten gelang allerdings nicht und die Gewinne pro verkauftem Rechner gingen um 50 Prozent zurück. Der Umsatz der Abteilung für Unterhaltungselektronik wuchs auf 200 Millionen USD und hatte sich damit innerhalb kurzer Zeit verzehnfacht. Insgesamt wurden 1982 rund 500.000 Exemplare abgesetzt. Mit 575.000 Benutzern und damit einem Marktanteil von rund 35 Prozent galt der TI-99/4A zum Jahreswechsel 1982/83 als der am weitesten verbreitete Heimcomputer in den Vereinigten Staaten. Auch im folgenden Jahr blieb die Nachfrage zunächst hoch. Wöchentlich rund 30.000 Einheiten wurden allein im Januar 1983 abgesetzt. Die Bestellungen der Händler blieben ebenfalls auf hohem Niveau. Im April 1983 erreichte die Zahl der verkauften Einheiten die Millionengrenze. In Europa jedoch konnte an diesen Erfolg nicht angeknüpft werden; in Westdeutschland gelang es TI, bis Ende 1983 lediglich einen Marktanteil von 8 Prozent zu erobern. Wolfgang Glöckle von der deutschen TI-Niederlassung gab daraufhin in einem Interview an, der Konzern habe nunmehr „den Durchbruch des Home-Computers auch in Deutschland geschafft.“ Absatzkrise und Produktionseinstellung Insbesondere mit dem Commodore 64 (C64) und Sinclair ZX Spectrum erwuchs dem TI-99/4A ab Sommer 1982 neue Konkurrenz. Daraufhin erwog TI die Entwicklung eines verbesserten TI-99/4A mit 64 KB Arbeitsspeicher und CP/M-Fähigkeit, um insbesondere mit dem leistungsstärkeren C64 gleichzuziehen. Nach dem Rücktritt von Chefentwickler Bynum im April 1983 wurden diese Pläne jedoch fallengelassen. Mit Blick auf den mittlerweile nur noch 99 USD teuren VC20 senkte TI ebenfalls den Preis für den TI-99/4A im Juni 1983 auf 150 USD und 550 DM. Damit lag der Verkaufspreis nur noch 25 USD über den Herstellungskosten in Höhe von 125 USD. Die Produktion lief unterdessen weiterhin auf Hochtouren. Die Verkaufsprognosen Turners sollten sich jedoch als illusorisch erweisen. Ab April 1983 wurden immer größere Stückzahlen von den US-amerikanischen Vertriebsstellen an die Konzernzentrale zurückgeschickt, da sie sich als unverkäuflich herausgestellt hatten. Turner wurde daraufhin seines Postens enthoben und im Mai durch J. Fred Bucy ersetzt, der die Zusammenarbeit mit Cosby beendete und eine neue Werbekampagne mit stärkerem Zuschnitt auf den Bildungsmarkt initiierte. Für den westdeutschen Markt wurde beispielsweise der Slogan „Mit dem lernen Sie spielend“ verwendet. Die Vertriebsleitung wurde Jerry Junkins übertragen, der daraufhin sofort mehrere Produktionsstätten schloss, eine erneute Überarbeitung der Elektronik anordnete und den Verkaufspreis auf 99 USD reduzierte. Angesichts des dramatischen Preisverfalls des TI-99/4A sprach Everett Purdy, stellvertretender Geschäftsführer der Handelskette Service Merchandise, in der angesehenen New York Times von einem in der Computer-Branche noch nie dagewesenen „Selbstzerstörungsmuster“ (englisch „self-destruct pattern“). Aus der Überarbeitung ging im Juni 1983 die beige Version des TI-99/4A ohne Aluminiumverkleidung und Statusanzeige hervor. Mit den zeitgleich auf den Markt gebrachten Rechnern der Atari-XL-Serie erhielt der TI-99/4A weitere ernstzunehmende Konkurrenz. Bis August 1983 gelang eine Verringerung der Anzahl der verbauten integrierten Schaltkreise von 42 auf 35. Zudem erhielt der Rechner ein Netzteil mit verbessertem Wärmemanagement. Daneben wurde diese letzte, den inoffiziellen Namenszusatz „QI“ (englisch „quality improved“) tragende Modellversion des TI-99/4A mit einem leicht modifizierten Betriebssystem versehen, das zum Versagen der ausschließlich mit EPROM-Chips bestückten Steckmodule von Atarisoft sowie einiger anderer ungeliebter Drittanbieter führte und damit die Verkäufe der TI-eigenen Programmveröffentlichungen fördern sollte. Im Rahmen dieser Vermarktungsbemühungen wurden auch die Preise für Peripheriegeräte um 50 Prozent gesenkt. An der nachlassenden Attraktivität des Rechners änderten diese Maßnahmen jedoch nichts – die Kunden wendeten sich verstärkt dem C64 zu. Bereits im Juli hatte TI die Markteinführung des für das untere Marktsegment konzipierten TI-99/2 abgesagt. Auf Geheiß Bucys wurde auch die Entwicklung des als Nachfolger des TI-99/4A gedachten TI-99/8 (Codename „Armadillo“) eingestellt, als im Herbst Gerüchte über einen Einstieg von IBM ins Heimcomputergeschäft und einen Low-End-Rechner von Apple aufkamen. Schon im Sommer 1983 belief sich der Schuldenstand der Abteilung für Unterhaltungselektronik auf 119 Millionen USD. Bis zum Jahresende stieg dieser Betrag auf fast 223 Millionen USD. Da der Preiskrieg mit Commodore den ganzen Konzern in die Insolvenz zu treiben drohte, gab die Konzernleitung mit Berufung auf die durch ausbleibende Nachbestellungen und volle Lagerhallen in die Höhe getriebenen Verluste am 28. Oktober den Rückzug aus dem Heimcomputermarkt bekannt. Zur Wahrung des Unternehmensimages wurde der Kundendienst noch über längere Zeit hinweg aufrechterhalten und auch die Produktion neuer Software angekündigt. Neugeräten wurden Briefe der Firmenleitung beigelegt, die einen Hinweis auf die Aufrechterhaltung der einjährigen Gewährleistung seitens TI sowie eine Hotline-Telefonnummer (800–TI–CARES) enthielten, über die mit der Produktionseinstellung des TI-99/4A verbundene Kundenfragen beantwortet wurden. Lagerabverkäufe zu Schleuderpreisen Zum Weihnachtsgeschäft 1983 erfolgte noch einmal eine vorübergehend den Verkaufserfolg des C64 schmälernde Preissenkung auf 50 USD. In Großbritannien fiel der Preis auf 100 £ und damit auf das Niveau des einheimischen, technisch weniger leistungsfähigen und als Tastatur lediglich mit Gummitasten ausgestatteten Billigrechners Sinclair ZX Spectrum 16K. In Westdeutschland sank der Preis bis September 1983 auf 475 DM. Um zusätzliche Kaufanreize zu schaffen, verlängerte TI ab Oktober die Garantie auf Neugeräte von sechs Monaten auf ein ganzes Jahr. Überdies wurde der Rechner weiterhin beworben. Anfang November kostete der TI-99/4A nur noch 398 DM bei weiter stark fallender Tendenz, was Vobis-Geschäftsführer Theo Lieven zu dem Kommentar veranlasste, „billiger und besser“ könne „man nicht in die Computertechnik einsteigen.“ In den letzten beiden Monaten des Jahres 1983 wurden weltweit ca. 150.000 Einheiten verkauft. Pro verkauftem Rechner machten die Texaner dabei einen Verlust von nicht weniger als 50 USD. Im Januar 1984 erreichte die Zahl der insgesamt verkauften Exemplare die Marke von 2,5 Millionen. Mit Beginn des Jahres 1984 setzte sich der Ausverkauf des TI-99/4A mit unverminderter Geschwindigkeit fort. In Westdeutschland stürzte der Preis bis auf 150 DM. TI-Deutschland verscherbelte im Zuge der Lagerabverkäufe für 298 DM sogar seine nicht mehr benötigten Heimcomputer-Messeverkaufsstände inklusive eines TI-99/4A sowie eines 17 Titel umfassenden Game-Bundles. Während in den Vereinigten Staaten die Warenlager von TI sowie diversen Drittanbietern noch reichlich Peripheriegeräte, Zubehör und Software aufwiesen, kam es auf dem vergleichsweise kleinen westdeutschen Markt schon bald zu Versorgungsengpässen. Dadurch entstand im deutschsprachigen Raum der kuriose Fall einer Angebots- und Preisanomalie: Die hohe Zahl der im Zuge der Abverkäufe zu Schleuderpreisen noch zu Besitzern des TI-99/4A gewordenen Kunden ließ die Nachfrage nach Software und Zubehör sprunghaft ansteigen. Da beides aufgrund der Produktionseinstellung im Herbst 1983 jedoch kaum noch erhältlich war, wurden für Gebrauchtware bald über denen für Neuware liegende Preise gezahlt. Am 28. März 1984 stellte TI den Vertrieb jeglicher mit dem TI-99/4A verbundener Produkte offiziell ein. Das Versandhaus Triton aus San Francisco übernahm die noch übrigen Lagerbestände. Die zu Schleuderpreisen erfolgten Lagerabverkäufe, die teilweise über das Jahr 1984 hinausgingen, brachten die Gesamtzahl der verkauften Einheiten in die Nähe der Drei-Millionen-Grenze. Rund 150.000 Geräte entfielen dabei auf Westdeutschland, Österreich und die Schweiz. Mit diesen Verkaufszahlen gilt der TI-99/4A als erster 16-Bit-Mikrocomputer mit einer nennenswerte Verbreitung unter Privatanwendern. Aufgrund seines fortschrittlichen 16-Bit Hauptprozessors erfreute sich der TI-99/4A noch einige Jahre großer Beliebtheit, auch in Westdeutschland. Ende 1985 kostete ein gebrauchter, funktionsfähiger TI-99/4A dort im Durchschnitt ca. 130 DM. * nicht verfügbar Nachfolgemodell Mit dem Desktop-Computer Geneve 9640 erschien Anfang 1987 für 998 DM ein inoffizieller, vom US-amerikanischen Hersteller Myarc produzierter Nachfolger des TI-99/4A. Beim Nachfolgemodell handelt es sich im engeren Sinne um einen technisch verbesserten Klon des TI-99/8-Prototypen. Der Geneve 9640 war mit einem zum TMS9900 zu 95 Prozent softwarekompatiblen 16-Bit-Hauptprozessor des Typs TMS9995, dem zum TMS9918A softwarekompatiblen, RGB-fähigen und die Darstellung von 512 Farben gestattenden Grafikchip Yamaha V9938, 512 KB RAM, 128 KB dediziertem VRAM und einem im Festspeicher residierenden, 64 KB ROM umfassenden Software-Emulator des Vorgängermodells ausgestattet, mit dessen Hilfe die Steckmodule des TI-99/4A auf dem Geneve 9640 verwendet werden konnten. Als Betriebssystem diente das eigens für den Rechner programmierte, grafische Benutzeroberflächen unterstützende MDOS (kurz für englisch Myarc Disk Operating System). Der zur Darstellung von 80 Zeichen pro Zeile fähige und mit einer Taktfrequenz von 12 MHz arbeitende Geneve 9640 verfügte außerdem über eine Echtzeituhr, Sprachausgabe, einen Mausanschluss, TI-99/4A-kompatible Joystickanschlüsse und eine abgesetzte, IBM-PC-kompatible Tastatur. Hardware Die Elektronik des TI-99/4A besteht im Wesentlichen aus einem Hauptprozessor, mehreren Spezialbausteinen, einem Arbeitsspeicher sowie einem Festspeicher. Diese Systemkomponenten sind auf einer Hauptplatine befestigt und über die Leiterbahnen des Systembusses miteinander verbunden. Von einigen Speicherchips abgesehen stammen sämtliche elektronischen Baugruppen aus hauseigener Produktion. Das entspricht der damaligen Unternehmensphilosophie von TI, die sich auf den bei der Entwicklung und dem Vertrieb von Taschenrechnern gemachten Erfahrungen gründete. Außerdem zählen Gehäuse, Tastatur, Schnittstellen und Netzteil zur Hardware des Rechners. Hauptplatine mit Hauptprozessor (1), Grafikchip (2), I/O-Baustein (3), GROM-Chips (4), Soundchip (5), DRAM-Chips (6),Taktbaustein (7), ROM-Chips (8), SRAM-Chips (9), Steckmodulanschluss (10), Kassettenschnittstelle (11),Videoausgang (12), Joystickanschluss (13), Tastaturanschluss (14), Expansionsport (15) Hauptprozessor Mit dem TMS9900 verfügt der TI-99/4A über einen komplexen 16-Bit-Hauptprozessor mit DIP-Gehäuse und 64 Anschlusspins, der als „Quantensprung“ in der Geschichte der Mikroelektronik gilt. So war der TMS9900 der weltweit erste auf nur einem Chip realisierte 16-Bit-Mikroprozessor. Der 1976 zur Serienreife gebrachte TMS9900 gehört zur zweiten Generation der von TI entwickelten Mikroprozessoren und löste die erfolgreichen, meist zu Steuerungszwecken in elektronischen Geräten eingesetzten 4-Bit-Mikroprozessoren wie etwa den TMS1000 ab. Der TMS9900 kam nicht nur im Heimcomputerbereich, sondern auch in den hochpreisigen Minicomputern der TI-990-Serie zum Einsatz – etwa in den frühen Modellen TI-990/4 (1976) sowie TI-990/5 (1979). Neben dem zivilen Bereich wurde der TMS9900 auch im militärischen Bereich eingesetzt. Der TMS9900 ist mit einer als fest verdrahtetes elektronisches Rechenwerk fungierenden arithmetisch-logischen Einheit ausgestattet, die auf eine Verarbeitung von 16-Bit-Datenwörtern und die Berechnung von Adressen ausgerichtet ist. Die CPU ist ferner mit NMOS-Logik ausgestattet und kann mit Frequenzen von bis zu 3,3 MHz getaktet werden. Im TI-99/4A läuft der TMS9900 aber aus Gründen der Synchronisation mit dem Grafikchip nur auf 3 MHz. Generiert wird diese Taktfrequenz vom Taktbaustein TIM9904 bzw. dem baugleichen TIM9904A, der mit einem externen Schwingquarz verbunden ist und mit vier phasenverschobenen Taktsignalen in Form von Rechtecksignalen arbeitet. Diese werden über Transistor-Transistor-Logik aus einer Grundfrequenz von 40 MHz erzeugt. Der TMS9900 benötigt für die Ausführung eines Befehls 2–31 Mikrosekunden (µs). Daraus resultiert eine durchschnittliche Arbeitsgeschwindigkeit von etwa 0,3 Millionen Instruktionen pro Sekunde (MIPS). Die Anzahl der im TMS9900 realisierten Transistoren liegt bei rund 8.000. Der TMS9900 verfügt über einen Befehlssatz von 69 Instruktionen inklusive Multiplikation und Division. Dazu zählt auch der damals ungewöhnliche, bereits eine schrittweise Fehlersuche (englisch „Single-Step-Debugging“) auf reiner Softwarebasis erlaubende X-Sprungbefehl. Der Befehlssatz weist fünf funktionelle Gruppen auf: Befehle für den Datentransfer, arithmetische Befehle, logische Befehle, Prozessorsteuerbefehle und Programmsteuerbefehle. Die Befehlswörter des TMS9900 können 2–6 Bytes umfassen. Für Datentransfers und Speicherzugriffe besitzt die in Speicher-Speicher-Architektur ausgeführte CPU außerdem separate, über Speicherdirektzugriff sowie Memory Mapping das Verwalten eines Adressraums von 64 KB erlaubende 16-Bit-Busstrukturen. Darüber hinaus verwendet der TMS9900 drei interne 16-Bit-Hardwareregister für die schnelle Zwischenspeicherung von Daten. Dazu zählen der Programmzähler (PC), das Statusregister (ST) sowie der sogenannte „Workspace Pointer“ (WP). Der im Deutschen auch als „Arbeitsbereichzeiger“ oder „Zeigerregister“ bezeichnete WP stellt insofern eine Besonderheit dar, als er seine Registerinhalte nicht auf der CPU selbst, sondern extern in einem besonderen Bereich des Arbeitsspeichers ablegt (englisch „Workspace“). Dieses CPU-RAM gestattet die Verwendung einer hohen Zahl von bis zu 16 Softwareregistern, zwischen denen ohne Datenverlust hin- und hergesprungen werden kann. Dazu zählen neben den Inhalten von PC, ST und WP die Basisadresse des CRU-Steuerbusses, die XOP-Adresse sowie elf frei verwendbare Register für Daten, Adressen oder einen Shift-Befehlszähler. Die Möglichkeit des Hin- und Herspringens zwischen den Softwareregistern erleichtert die Verarbeitung von Interrupts sowie den schnellen Kontextwechsel zwischen verschiedenen Registersätzen, also z. B. zwischen diversen Unterprogrammen. Der WP befähigt den Rechner damit prinzipiell sogar zum Multitasking. Erkauft wird dies allerdings mit einer geringfügigen Geschwindigkeitseinbuße, da beim Zugriff auf das CPU-RAM zunächst die entsprechende Speicheradresse vom WP übermittelt sowie ein Schreib-/Lese-Befehl vollzogen werden muss. Der TMS9900 bietet 17 Hardware- und 16 Software-Interrupts, also insgesamt 33 Interruptebenen. Grafikchip Der 8-Bit-Grafikchip des TI-99/4A wurde in drei verschiedenen Varianten gefertigt: TMS9918A sowie TMS9928A für das 525-Zeilen-Format des NTSC- bzw. SECAM-Standards und der TMS9929A für das 625-Zeilen-Format der PAL-Norm. Zum Betrieb des Rechners mit PAL-Fernsehern ist jedoch die Verwendung eines zusätzlichen, separaten HF-Modulators vonnöten. Der TMS9918A erreicht eine Maximalauflösung von 256 × 192 Pixeln, verfügt über eine Palette von 15 Farben (plus Transparenz) und ist in der Lage, bis zu 32 Sprites gleichzeitig darzustellen. Aufgrund dieser hohen Anzahl von Sprites und der damit verbundenen Fähigkeit zur Kollisionserkennung gehörte der TMS9918A seinerzeit zu den leistungsfähigsten Grafikchips. Die Größe und Auflösung der zusätzlichen Speicherplatz benötigenden Sprites kann variiert werden. Nativ möglich sind 8 × 8, 16 × 16 und 32 × 32 Bildpunkte jeweils in monochromer Darstellung. Durch Übereinanderlegen von Sprites in unterschiedlichen Farben können mehrfarbige Objekte mit Sprite-Eigenschaften generiert werden. Der mit 40 Anschlusspins ausgestattete Grafikchip erzeugt nicht nur das Videosignal, sondern verwaltet auch den für Speicherung, Abruf und Aktualisierung der Bildschirmdaten benötigten Grafikspeicher von bis zu 16 KB. Dazu zählt auch der für die bis zu 256 alphanumerischen Schriftzeichen, Satzzeichen und Grafiksymbole des frei programmierbaren Zeichensatzes benötigte Speicherplatz. Die voreingestellten alphanumerischen Schriftzeichen entsprechen den 95 druckbaren Zeichen des ASCII-Codes (Zeichencodes 32–127 der ASCII-Zeichentabelle). Die Grafiksymbole können zu einfachen Blockgrafiken kombiniert werden. Da für den Grafikspeicher ein Teil des Arbeitsspeichers verwendet wird, hängt die Größe des zur Verfügung stehenden Programmspeichers vom verwendeten Grafikmodus ab. Insgesamt vier Grafikmodi stehen je nach Bedarf zur Verfügung: Im Textmodus sind 40 × 24 Zeichen mit einer Größe von 6 × 8 Pixeln darstellbar. Für Hintergrund und Text steht jeweils eine Farbe zur Verfügung. Sprites sind nicht möglich. Für den Textmodus werden rund 3 KB an Grafikspeicher benötigt. Im Vielfarbenmodus ist die Darstellung aller 15 Farben und die Verwendung von Sprites, nicht aber von Text möglich. Der Bildschirm wird dabei in 32 × 24, also 768 Areale aufgeteilt. Diese bestehen jeweils aus vier 4 × 4 Pixel großen Blöcken, deren Farben frei gewählt werden können. Vom Vielfarbenmodus werden 1.728 Bytes als Grafikspeicher benötigt. Im text- und spritefähigen Graphics-I-Modus wird ein Bild in Maximalauflösung generiert, wobei der Bildschirm wieder in 32 × 24, also 768 Areale mit einer Größe von 8 × 8 Pixeln aufgeteilt wird. Diese können jeweils zwei Farben annehmen und entweder mit Schriftzeichen oder Grafiksymbolen gefüllt werden. Dafür werden bis zu 2.848 Bytes an Grafikspeicher benötigt. Dieser Grafikmodus ist der einzige in TI BASIC programmierbare. Im text- und spritefähigen Graphics-II-Modus wird der Bildschirm bei maximaler Auflösung in drei Bereiche mit jeweils 256 Arealen unterteilt. Jedes Bildschirmdrittel verfügt über einen eigenen Zeichensatz mit bis zu 256 Einträgen. Bei Bedarf kann jedes der 8 × 8 Pixel großen 768 Areale somit individuell als Bitmapgrafik programmiert werden, was allerdings die Verwendung von Maschinensprache oder GPL voraussetzt. Jede der acht Zeilen eines Areals kann zwei unterschiedliche Farben annehmen. Es können also alle 15 Farben innerhalb eines Areals verwendet werden. Dabei werden bis zu 12 KB an Grafikspeicher beansprucht. Die Farbpalette des TMS9918A/TMS9928A/TMS9929A umfasst inklusive der auf dem Bildschirm schwarz dargestellten Transparenz folgende unveränderbaren Farbtöne: Soundchip Der TMS9919 stellt den für die Tonausgabe zuständigen 8-Bit-Soundchip des TI-99/4A dar. Der auch als „Complex Sound Generator“ bezeichnete TMS9919 verfügt über drei individuell programmierbare Tongeneratoren und einen Rauschgenerator, die gleichzeitig vier Töne bzw. Geräusche auf 16 unterschiedlichen Lautstärkeniveaus erzeugen können. Die Abstände zwischen den jeweils wählbaren Lautstärkepegeln liegen bei 2 Dezibel, die maximale Lautstärke beträgt 28 Dezibel. Die drei Tongeneratoren arbeiten mit Rechteckschwingungen, der Rauschgenerator mit Pseudozufallsrauschen (englisch „periodic noise“) und weißem Rauschen (englisch „white noise“). Die Tongeneratoren erzeugen hörbare Töne innerhalb eines Spektrums von fünf Oktaven, das von 110 Hertz bis 44 Kilohertz reicht. Die Tonlänge kann zwischen 1 Millisekunde und 4,25 Sekunden betragen. Der TMS9919 besitzt 16 Anschlussstifte und verwendet die DIN-Buchse auf der Rückseite für die Übermittlung des Audiosignals an den Lautsprecher des angeschlossenen Ausgabegerätes. I/O-Baustein Beim TMS9901 handelt es sich um einen multifunktionalen I/O-Baustein mit 22 Anschlusspins. Er unterstützt die CPU bei Ein- und Ausgabeoperationen, etwa bei Eingaben über die Tastatur, der Verwendung von externen Speichergeräten oder Joysticks. Ausgelesene Daten können über Speicherdirektzugriff an jede Stelle des Arbeitsspeichers weitergeleitet werden. Intern verfügt der TMS9901 über einen Prioritätsscheduler, einen Codierer, eine Echtzeituhr, ein Steuerwerk für die Kommunikation mit dem Steuerbus und drei Puffer für die Zwischenspeicherung von Daten. Speicherchips und Speicherorganisation Der Arbeitsspeicher des TI-99/4A besteht aus acht 1-Bit-DRAM-Chips des Typs TMS4116 mit 16 Anschlusspins und einer Speicherkapazität von jeweils 2 KB. Hinzu kommen zwei nichtflüchtige 8-Bit-SRAM-Chips von Motorola mit jeweils 128 Byte Speichervolumen und 24 Anschlusspins. Sie werden auch als „Notizblockspeicher“ (englisch „Scratchpads“) bezeichnet und dienen als CPU-RAM. Aufgrund ihrer hohen Zugriffsgeschwindigkeit gelten die SRAM-Chips als Schnellspeicher. Der Festspeicher des TI-99/4A besteht ausschließlich aus maskenprogrammierten ROM-Chips. Er weist zwei u. a. den Betriebssystemkern (englisch „System Monitor“) sowie den Interpreter der sogenannten „Graphics Programming Language“ (GPL) enthaltende 16-Bit-ROM-Chips mit 24 Anschlusspins und einem Speichervermögen von jeweils 4 KB auf. Außerdem besitzt der Rechner drei ladungsgekoppelte 8-Bit-GROM-Chips (englisch „Graphics Read-Only Memories“) mit 16 Anschlusspins und einem Speichervolumen von jeweils 6 KB. Diese ausschließlich von TI produzierten Festspeicherchips dienen primär zur Aufnahme von in der GPL geschriebenen Unterprogrammen und sind in Memory-Map-Technik ausgeführt. Die GROM-Chips verfügen neben einem 8-Bit-Datenbus über einen Nur-Lese-Speicher, der mit Hilfe von maskenprogrammierter Firmware einen bordeigenen Befehlszähler (englisch „program counter“) emuliert. Dieser übernimmt intern anstelle des entsprechenden CPU-Registers die Aufgabe des Setzens und Zählens von Speicheradressen. Ermöglicht wird dadurch der Verzicht auf das ansonsten bei ROM-Chips übliche zentrale Auslesen der Speicherzellen durch die CPU über Speicherdirektzugriff. Stattdessen setzt der Adresszeiger des bordeigenen Befehlszählers zunächst einmalig eine bestimmte Adresse, ab der dann fortlaufend Speicherinhalte ausgelesen werden. Abgelegt werden diese Speicherinhalte in einem lokalen Pufferspeicher zur weiteren Verwendung durch die CPU. Nach jeder Leseoperation wird der Adresszähler des GROM-Chips automatisch ohne die Notwendigkeit eines neuen Setzens der Adresse erhöht. Auf diese Weise kann relativ schnell auf ein großes Datenvolumen über nur einen Eingang zugegriffen werden. TI ermöglichte das den Verzicht auf eine Verwendung der damals üblichen, aber teuren Hochgeschwindigkeits-ROMs. Daher ließ sich TI die Erfindung des automatisch hochzählenden, in die Firmware des GROM-Chips eingebauten Adresszählers (englisch „auto-incrementing memory“) eigens patentieren. Die 64 KB Adressraum sind in acht vom Betriebssystem für unterschiedliche, vorabdefinierte Aufgabenbereiche reservierte Blöcke mit jeweils 8 KB unterteilt. Das Betriebssystem-ROM ist u. a. für die Steuereinheit des Diskettenlaufwerks, die RS232-Schnittstellen des PES sowie die Druckersteuerung reserviert. Es wird gelegentlich auch als „Konsolen-ROM“ bezeichnet. Das Gerätetreiber-ROM (englisch „DSR-ROM“ für „Device Service Routines“) ist insofern für damalige Verhältnisse ungewöhnlich, als es die Verwendung von Peripheriegeräten ohne Inanspruchnahme des Arbeitsspeichers oder Veränderungen am Rechner gestattet. Es wird bisweilen auch als „Peripherie-ROM“ bezeichnet. Systembus Die Rechnerarchitektur des TI-99/4A unterscheidet sich wesentlich von der anderer zeitgenössischer Heimcomputer, denn sie stellt eine Mischform aus klassischer 8-Bit-Architektur (8-Bit-Datenbusbreite für Spezialbausteine und RAM) und im Heimcomputerbereich damals noch nicht üblicher 16-Bit-Architektur (16-Bit-Hauptprozessor, 16-Bit-Datenbusbreite für SRAM und ROM) dar. Der Hauptprozessor kommuniziert mit den verschiedenen elektronischen Bausteinen über die Datenleitungen des Systembusses, der aus den drei Komponenten Datenbus, Adressbus und Steuerbus besteht. Datenbus Der Datenbus dient der Übertragung von Daten zwischen den einzelnen Systemkomponenten. Mit den beiden SRAM-Chips sowie den beiden ROM-Chips ist nur ein kleiner Teil der Systemkomponenten über einen bidirektionalen 16-Bit-breiten Datenbus direkt mit dem Hauptprozessor verbunden. Jenseits dieses Kernbereichs sorgt ein als Busconverter fungierender Multiplexer für eine Reduktion der Datenbusbreite auf 8 Bit. Auf diese Weise können alle 8-Bit-Systemkomponenten wie Grafikchip, Soundchip oder GROM-Chips von der CPU mit der entsprechenden Wortbreite angesteuert werden. Durch diese Serialisierung wird jedoch die Ausführungsgeschwindigkeit des Gesamtsystems im Vergleich zu Rechnern mit reiner 16-Bit-Architektur deutlich verringert. Expansionsport und Modulschacht sind für den Hauptprozessor ebenfalls nur über den langsameren 8-Bit-Bereich des Datenbusses erreichbar. Hinzu kommt eine weitere Einschränkung bei den DRAM-Chips: Auf die gerade nicht für Videosignal und Bildwiederholung verwendeten Bereiche des Arbeitsspeichers kann die CPU bei der Ausführung von Programmen in TI BASIC oder Maschinensprache nur auf dem zeitraubenden Umweg über den 8-Bit-Grafikchip zurückgreifen. Adressbus Der Adressbus überträgt unidirektional Speicheradressen zwischen Hauptprozessor und Speicherchips zwecks Weitergabe der Information, welche Speicherzelle als nächste ausgelesen oder beschrieben werden soll. Die CPU legt dabei die gewünschte Adresse vor dem Versenden als Binärmuster auf dem Adressbus ab, der mit der für 8-Bit-Architekturen typischen Busbreite von 16 Bit arbeitet. Die verschiedenen Systemkomponenten werden mit variabler Wortbreite vom Adressbus angesteuert. Die 16 Adressleitungen des Expansionsports ermöglichen der CPU das Verwalten eines auf max. 48 KB RAM erweiterten Arbeitsspeichers sowie von Peripheriegeräten mit bis zu 16 KB Gerätetreiber-ROM. Die am Modulschacht anliegenden 13 Adressleitungen gestatten den Betrieb von Steckmodulen mit einem Adressraum von 8 KB. Dieser zusätzliche Speicher kann wahlweise von ROM- oder RAM-Chips geliefert werden. Weit häufiger wurden jedoch GROM-Chips verwendet, deren Speicher über einen Adressdecoder (englisch „Memory Address Decoder“) gemanagt wird. Mit zwölf Adressleitungen sind die 4 KB der beiden 16-Bit-ROM-Chips abgedeckt. Für die 256 Bytes der beiden SRAM-Chips reichen gar acht Adressleitungen. Eine Besonderheit besteht bei den GROM-Chips. Obwohl es sich um Speicherchips handelt, sind sie nicht über eigene Leiterbahnen mit dem Adressbus verbunden. Stattdessen ist der Adressdecoder eingangsseitig mit den sechs höherwertigen Bits des Adressbusses verknüpft und teilt den beiden Koprozessoren für Grafik und Sound sowie den GROM-Chips über Chipselect-Signale mit, wer an den gerade anlaufenden Speicheroperationen teilnimmt. Steuerbus Das Entwicklerteam von TI bezeichnete den unidirektionalen Steuerbus des TI-99/4A als „Communications Register Unit“ (CRU). Dieses synchrone 1-Bit-Schieberegister dient der CPU zur Steuerung sowohl interner als auch externer Systemkomponenten über serielle Datenübertragung. Zu diesem Zweck werden Steuerinformationen Bit für Bit an die entsprechenden Systemkomponenten gesendet, etwa um die Datenflussrichtung auf dem Systembus zu regeln. Neben der Lese-Schreib-Steuerung werden auch Interrupts und Buszugriffe vom Steuerbus aus geregelt. Mit Hilfe der Statusleitung können zwecks Prüfung der Betriebsbereitschaft einzelne Statusbits an jede einzelne Systemkomponente gesendet werden. Systemkomponenten können auf diese Weise auch aktiviert oder deaktiviert werden. Darüber hinaus ist die CRU mit der Aufgabe der Synchronisierung von Rechner und Peripheriegeräten betraut, was über Halte-, Unterbrechungs- und Quittungssignale bewerkstelligt wird. Der TMS9900 besitzt drei eigens für die Verwendung der CRU konstruierte Leiterbahnen mit eigenen Anschlusspins: CRUIN zum Auslesen von Speicherzellen, CRUOUT zum Versenden von Daten sowie CRUCLK zum Einschreiben von Daten. Zusätzlich werden noch zwölf Leiterbahnen des Adressbusses für den Steuerbus in Anspruch genommen. Gehäuse Die Urversion des TI-99/4A besitzt ein rechteckiges Kunststoffgehäuse „im Metallic-Look mit schwarzer Tastatur“, das auf der Oberseite mit gebürstetem Aluminium verkleidet und im futuristischen Space-Age-Design gehalten ist. Die ins Gehäuse eingelassenen Schlitze wurden vom Design des TI-99/4 übernommen. Bei diesem befand sich dahinter ein Lautsprecher, der beim TI-99/4A weggelassen wurde. Deswegen dienen sie bei ihm als Lüftungsschlitze zur Kühlung der Elektronik. Außerdem besitzt der Rechner einen Hauptschalter, eine Statusanzeige sowie einen Schacht zur Aufnahme von Steckmodulen, jedoch keine Resettaste. Der Rechner wiegt 2,3 kg ohne Netzteil und misst 25,9 cm × 38,1 cm × 7,1 cm (Länge × Breite × Höhe). Der unter der freien Fläche vor dem Modulschacht befindliche Leistungsregler neigt bei Dauerbetrieb zu recht hohen Temperaturen. Dieser Teil des Gehäuses wurde deshalb scherzhaft als „Kaffeetassenwärmer“ bezeichnet. Tastatur Die mechanische QWERTY-Schreibmaschinentastatur des TI-99/4A weist 48 alphanumerische Tasten sowie ein weit von heutigen Standards entferntes Layout auf. Eine Version mit deutscher Tastaturbelegung gibt es nicht. Die Tasten des Hauptblocks sind in fünf Reihen angeordnet. Lediglich eine rechts neben der Leertaste zu findende Funktionstaste gehört zur Ausstattung. Abgesehen von der sehr breiten Leertaste und der rechten Shifttaste besitzen alle weiteren Sondertasten dieselbe Größe wie die einfachen alphanumerischen Tasten. Ein Ziffernblock zur Eingabe größerer Zahlenmengen fehlt ebenso wie eine Tabulatortaste im Hauptblock. Dafür wartet der Rechner mit einer feststellbaren Umschaltsperre auf. Die Funktionstaste dient nicht den heute üblichen Funktionen wie Hilfe, Suchen oder Löschen, sondern ebenso wie die Steuerungstaste der Mehrfachbelegung einzelner Tasten. Während die Buchstabentasten meist doppelt belegt sind, weisen die numerischen Tasten fast alle sogar Dreifachbelegungen auf. Zwecks Erleichterung der Bedienung sind die Mehrfachbelegungen auf einer Tastaturschablone oberhalb des Tastenfeldes verzeichnet. Die wichtigsten Editierfunktionen sowie einige häufig verwendete Befehle des TI BASIC lassen sich durch gleichzeitiges Betätigen der Funktionstaste und bestimmter Zifferntasten aktivieren. Die Pfeiltasten sind insofern ungewöhnlich, als sie nicht in einem abgesetzten Cursorblock liegen, sondern ebenfalls nur über doppelbelegte Buchstabentasten im Hauptblock aktivierbar sind. Über einen 15-poligen Pfostenstecker und ein entsprechendes Kabelbündel ist die Tastatur mit der Hauptplatine verbunden. Schnittstellen Der TI-99/4A verfügt über sechs Schnittstellen. Auf der linken Seite befindet sich eine neunpolige Sub-D-Buchse, mit deren Hilfe Joysticks, Paddles oder vergleichbare digitale Steuergeräte angeschlossen werden können. Trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeit ist die Belegung der neun Pole jedoch nicht mit dem damals von den Atari-Joysticks gesetzten Standard kompatibel. Im Gegensatz zu den meisten Heimcomputern gibt es nur einen Joystickanschluss. Auf der rechten Seite befindet sich der Expansionsport. Dabei handelt es sich um einen ins Gehäuse eingelassenen Platinenstecker mit 44 Kontakten, der im unbenutzten Zustand mit einem Schutzdeckel versiegelt wird. Der Expansionsport ermöglicht eine direkte Verbindung mit dem Systembus. So lassen sich Diskettenlaufwerke, Drucker und Modems, aber auch Speichererweiterungen usw. an den Rechner anschließen. Auf der Rückseite findet sich links eine weitere neunpolige Sub-D-Buchse, die auf den Anschluss handelsüblicher Kassettenrekorder ausgerichtet ist. Rechts neben der Kassettenschnittstelle befindet sich ein vierpoliger Anschluss für das Netzteil. Auf der rechten Seite weist der Rechner eine fünfpolige (NTSC) bzw. sechspolige DIN-Buchse (PAL/SECAM) auf. Mittels dieser Buchse kann der Rechner mit einem Monitor, über einen zusätzlichen HF-Modulator aber auch mit einem Fernsehgerät betrieben werden. Das Audiosignal wird ebenfalls über die DIN-Buchse ausgegeben. Der Modulschacht weist 18 zur Aufnahme der in den Steckmodulen verwendeten Platinenstecker gedachte Kontakte auf. Peripheriegeräte Neben den von TI speziell für den TI-99/4A entwickelten Peripheriegeräten lassen sich auch die sogenannten „Sidecars“ (deut. „Seitenwagen“ oder auch „Beiwagen“) des Vorgängermodells TI-99/4 verwenden. Darüber hinaus existieren weitere Zusätze von Fremdherstellern wie A/D Electronics, Axiom, Boxcar Peripherals, CorComp, Doryt Systems, Horizon, ISC, Millers Graphics, Myarc, Navarone, Newport Controls, Percom Data sowie Triton, die teilweise auch erst nach der Produktionseinstellung des TI-99/4A im Jahr 1983 ausgeliefert wurden. Der Herstellungszeitpunkt und -ort sämtlicher in den frühen 1980er-Jahren hergestellter TI-Produkte lässt sich anhand ihrer Seriennummern feststellen: Diese bestehen jeweils aus einer Zahl mit bis zu sechs Stellen gefolgt von einer Kombination aus drei Buchstaben mit einer vierstelligen Zahl. Die Buchstaben ATA bezeichnen dabei das TI-Zweigwerk in Abilene, ATD steht für Austin, LTA für Lubbock, ACH für Almelo (Niederlande) und RCI für Rieti (Italien). Die ersten beiden Ziffern der sich anschließenden vierstelligen Zahl beziehen sich auf die Kalenderwoche des durch die letzten beiden Ziffern gekennzeichneten zugehörigen Produktionsjahres. Peripheral Expansion System Die Sidecars stellten sich bereits bei der Nutzung mit dem TI-99/4 aufgrund ihres hohen Platzbedarfs und der Fülle an Kabeln auf dem Schreibtisch als unpraktisch heraus. Als Alternative entwickelte TI daraufhin das auf der Winter Consumer Electronics Show 1982 vorgestellte „Peripheral Expansion System“ (PES) mit der Typennummer PHP1200. Das Gerät mit eigener Stromversorgung verfügt über acht Steckplätze für die Erweiterungskarten der anzuschließenden Peripheriegeräte, einen Schacht zur Unterbringung von bis zu zwei 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerken einfacher Bauhöhe, einen Ventilator zur Kühlung sowie einer mitgelieferten Schnittstellenkarte zum Anschluss an den Computer. Das PES kam in zwei fast identischen, jeweils kompatiblen Versionen in einem stabilen Metallgehäuse auf den amerikanischen Markt. Für die europäischen Absatzgebiete und die dort üblichen Netzspannungen wurden entsprechend angepasste Varianten produziert. Die deutsche Version war im September 1983 im Paket mit dem TI-99/4A für 1.500 DM erhältlich. Insgesamt wurden 250.000 Exemplare des rund 250 USD teuren PES abgesetzt. Die damals in dieser Form neuartigen Erweiterungskarten besitzen solide Metall- bzw. Kunststoffgehäuse nebst Statusanzeige und verfügen auf der Unterseite über einen 30-poligen Platinenstecker, über den die Verbindung mit dem PES hergestellt wird. Sie funktionieren ähnlich unkompliziert wie heutige Plug-and-Play-Karten und können ohne vorherige Treiberinstallation sofort nach dem Einstecken verwendet werden. Die folgende Auflistung liefert eine Übersicht der von TI produzierten Erweiterungen: PHP1220 RS-232-Schnittstellenkarte (englisch „RS-232 Interface“) PHP1240 Laufwerksteuerungskarte (englisch „Disk Controller“) PHP1250 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerk (englisch „Disk Memory Drive“) PHP1260 32-KB-RAM-Speicherkarte (englisch „32 Kilobyte Memory Expansion“) PHP1270 P-Code-Interpreterkarte (englisch „P-Code Version 4.0“) PHP1280 P-Code-Interpreterkarte mit UCSD-Pascal-Integrierte Entwicklungsumgebung (englisch „Pascal Development System“) RS-232-Schnittstellenkarte Die seinerzeit für 174,95 USD angebotene RS232-Schnittstellenkarte besitzt zwei Anschlussbuchsen: Eine nach dem namengebenden RS232-Standard ausgeführte Buchse mit 25 Anschlusspins und zwei seriellen Schnittstellen zur Verbindung mit RS232C-kompatiblen Peripheriegeräten und eine als parallele Schnittstelle ausgeführte Buchse mit 16 Anschlusspins. Die Treibersoftware zur Umsetzung der Übertragungsprotokolle ist in einem 4-KB-ROM-Chip auf der Platine der RS232-Schnittstellenkarte untergebracht und gestattet über entsprechende TI-Extended-BASIC-Befehle eine Steuerung der Datenübertragung sowohl zwischen lokalen als auch fernvernetzten Rechnern. An die RS232-Buchse können mit Hilfe eines sogenannten Y-Kabels maximal zwei Peripheriegeräte gleichzeitig angeschlossen werden, wobei die softwareseitig einstellbaren Datenübertragungsraten von 110, 300, 600, 1.200, 2.400, 4.800 und 9.600 Baud relativ gering sind. Höhere Datenübertragungsraten lassen sich über die parallele, jedoch nicht zum damals weit verbreiteten Centronics-Standard pinkompatible 8-Bit-Schnittstelle realisieren. Bei Benutzung eines entsprechenden Adapterkabels können beispielsweise mit Centronics-Schnittstelle ausgestattete Drucker, Plotter und Terminals von Fremdherstellern angeschlossen werden. Mit dem PES lassen sich maximal zwei RS232-Schnittstellenkarten gleichzeitig betreiben. Laufwerksteuerungskarte Bei der Laufwerksteuerungskarte handelt es sich um eine mit einem Floppy-Disk-Controller des Typs FD1771 von Western Digital sowie einem 8-KB-ROM-Chip ausgestattete Steuereinheit zum Verwalten von bis zu drei 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerken. Der Floppy-Disk-Controller führt alle Diskettenoperationen aus und übernimmt die Steuerung der Motoren und magnetischen Schreib-Lese-Köpfe der angeschlossenen Laufwerksmechaniken. Der Festspeicher enthält die hierfür benötigten vier Gerätetreiberroutinen. Darüber hinaus verwaltet die Steuereinheit auch die Disketten-Inhaltsverzeichnisse mit ihren indizierten Dateien. Abgelegt werden die Inhaltsverzeichnisse in den Sektoren 0 und 1 der ersten Spur. Der Betrieb der Laufwerksteuerungskarte ist nur mit dem achten Steckplatz, der sich direkt neben dem Laufwerksschacht befindet, möglich. Die Verbindung mit der Laufwerksmechanik erfolgt über ein entsprechendes Kabel, das mit dem 34-poligen Anschluss auf der Rückseite verbunden wird. Weitere zwei Laufwerke können im Daisy-Chain-Verfahren an das erste Diskettenlaufwerk angeschlossen werden. Für eine Laufwerksteuerungskarte inklusive des für die Inbetriebnahme unverzichtbaren Steckmoduls mit dem Diskettenbetriebssystem Disk Manager mussten seinerzeit rund 300 USD investiert werden. 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerk Das seinerzeit rund 400 USD teure 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerk besitzt auf der Vorderseite ein Disketteneinschubfach nebst Klappverschluss sowie eine Statusanzeige. Auf der Rückseite befindet sich ein Kabel zwecks Anschluss an die interne Stromversorgung des PES sowie ein weiteres 34-poliges Kabel für die Verbindung mit der Laufwerksteuerungskarte. Die Laufwerksmechanik verwendet einen magnetischen Schreib-Lese-Kopf mit einer mittleren Zugriffszeit von 463 Millisekunden. Das Laufwerk gestattet das Abspeichern eines Datenvolumens von bis zu 89 KB auf einer Diskettenseite (englisch „Single Sided“) in einfacher Dichte (englisch „Single Density“). Pro Diskettenseite werden dabei 40 Spuren mit jeweils neun Sektoren verwendet. 32-KB-RAM-Speicherkarte Die 32-KB-RAM-Speicherkarte weist 16 vom Unternehmen Mostek stammende 1-Bit-DRAM-Chips des Typs MK4116 mit 16 Anschlusspins und einer Kapazität von jeweils 2 KB auf. Die zusätzlichen DRAM-Chips vergrößern den frei programmierbaren Arbeitsspeicher des TI-99/4A auf 48 KB RAM. Damit erreicht der Rechner in Bezug auf die Speicherkapazität seine höchste Ausbaustufe. Mittels des Mini Memory-Steckmoduls können dem System allerdings noch weitere 4 KB SRAM hinzugefügt werden, die den Arbeitsspeicher insgesamt sogar auf 52 KB bringen. Der zusätzliche Arbeitsspeicher ist mit dem Datenbus des PES über acht Datenleitungen verbunden. Wie beim ab Werk eingebauten Arbeitsspeicher können Daten also nur mit 8-Bit-Wortbreite in die Speicherzellen der Erweiterungskarte eingeschrieben oder dort ausgelesen werden. Die Speicherkarte besitzt zwecks Hardwarefehlerlokalisierung eine automatische Selbsttestfunktion und wird zur Inbetriebnahme einfach in einen der Steckplätze des PES eingesteckt, bevor der Rechner eingeschaltet wird. Der Neupreis lag seinerzeit bei 300 USD. P-Code-Interpreterkarte Mit Hilfe der P-Code-Interpreterkarte kann die Compiler-Hochsprache UCSD-Pascal mit dem TI-99/4A betrieben werden. Statt einer tatsächlichen besitzt die P-Code-Interpreterkarte lediglich eine virtuelle CPU mit eigenem hardwareunabhängigen Befehlssatz, die sogenannte „Pseudo-Maschine“, und einen aus einem 2-KB-ROM-Chip, einem 4-KB-ROM-Chip sowie acht 6-KB-GROM-Chips bestehenden Festspeicher von insgesamt . Dieser enthält neben der Software-Emulation der auf keinem tatsächlich verwendeten Mikroprozessor basierenden hypothetischen CPU einen komfortablen P-Code-Interpreter, der für andere Systeme entwickelte UCSD-Pascal-Software verarbeiten kann. Die P-Code-Interpreterkarte kann nur verwendet werden, sofern neben einer 32-KB-RAM-Speichererweiterung auch ein Diskettenlaufwerk oder Kassettenrekorder an den Rechner angeschlossen ist. Mit Hilfe eines Schalters auf der Rückseite kann sie vor Inbetriebnahme des Rechners aktiviert werden. Bei aktivierter Karte wird nach dem Einschalten innerhalb von 30–60 Sekunden zunächst der P-Code-Interpreter initialisiert. Danach wird der Befehlsmodus des P-Code-Interpreters ausgeführt. In Ergänzung zur P-Code-Interpreterkarte wurde 1982 ein UCSD-Pascal-Softwarepaket für 499,95 USD auf den Markt gebracht. Es besteht aus folgenden Komponenten: PHD5063 UCSD Pascal Compiler (überführt in Pascal geschriebene Programme in Pseudocode, der dann vom P-Code-Interpreter in Maschinensprache übersetzt wird) PHD5064 UCSD Pascal System Assembler/Linker (Softwarepaket mit Programmierumgebung für Assemblersprache und Linker) PHD5065 UCSD Pascal System Editor/Filer/Utilities (Softwarepaket mit 40-Zeichen-Texteditor und modernem Diskettenbetriebssystem inklusive Zeitstempeln sowie Hilfsprogrammen) Sonstige Speichergeräte und Speichermedien Programmrekorder Der TI-99/4A konnte mit handelsüblichen Kassettenrekordern betrieben werden; TI brachte aber trotzdem einen speziell auf den Rechner zugeschnittenen Programmrekorder (englisch „TI Program Recorder“) mit einer Datenübertragungsrate von 450 Baud heraus. Das Gerät mit der Typennummer PHP2700 verfügt über alle üblichen Eigenschaften eines Kassettenrekorders, ist aber für zusätzlich für den Gebrauch als Speichergerät optimiert. Der Preis lag bei 70 USD. Der Programmrekorder ist auf Kompaktkassetten des Formats C60 mit 30 Minuten Abspielzeit pro Seite zugeschnitten und wurde in zwei an das Design der beiden Versionen des TI-99/4A angepassten Varianten angeboten. Er verfügt neben Tasten für Aufnahme, Abspielen, Rückwärts- und Vorwärtsspulen, Anhalten und Auswerfen über zwei Drehregler für Lautstärke (englisch „Volume Control“) und Klang (englisch „Tone Control“), einen eingebauten Lautsprecher, ein serienmäßiges Mikrofon sowie eine Pausetaste. Darüber hinaus ist der Programmrekorder mit einem Zählwerk ausgestattet und besitzt drei Anschlüsse für eine Verbindung mit der Konsole (englisch „Ear Phone Jack“, „Mic Jack“ und „Remote Jack“). Die Stromversorgung erfolgt intern über vier Babyzellen mit insgesamt 6 Volt oder extern wahlweise über einen Gleichstromadapter (englisch „DC Adapter“) oder das Stromnetz (englisch „AC Input“). Das Gerät war für seine Zuverlässigkeit, aber auch seine Langsamkeit bekannt. Beide Eigenschaften ergeben sich aus dem vom Kansas-City-Standard abweichenden redundanten Aufzeichnungsverfahren. Sämtliche Datensätze werden dabei gleich zweimal aufgenommen und überdies Prüfsummenbytes zur Erkennung von Datenübertragungsfehlern verwendet. Zum Einlesen der Daten werden vom Timer des TMS9901 die genauen Längen der Halbwellen des Audiosignals vermessen und in für den Computer verständlichen Binärcode übertragen. Eine lange Halbwelle (689,37 Hz) bedeutet dabei eine Null, zwei kurze Halbwellen (1379 Hz) stehen dagegen für eine Eins. Beim Aufnehmen einer neuen Datei wird das Magnetband zunächst einige Sekunden vorgespult und dann ein Dauerton mit konstanter Frequenz aufgezeichnet. Der aus diesem Verfahren resultierende typische TI-Sound war jedem Benutzer wohlvertraut und fand sogar im damaligen Leitmedium Fernsehen Verwendung. Der Fachbuchautor und TI-99/4A-Experte Rainer Heigenmoser arbeitete als technischer Berater in der Computerkriminalität thematisierenden dreiteiligen deutschsprachigen ARD-Fernsehserie Bastard (1989) mit. Darin wird an einer Stelle ein Faxgerät gezeigt. Das bei der Faxübertragung verwendete Overdub für das Betriebsgeräusch stammt jedoch nicht von einem Faxgerät, sondern von einem Daten auf Kassette speichernden TI-99/4A. Steckmodule Im Gegensatz zu den damals vorherrschenden Speichermedien wie Kompaktkassette oder Diskette entfallen bei den Steckmodulen (englisch „Solid State Software Cartridges“ bzw. „Command Modules“) durch die Verwendung von Nur-Lese-Speichern die lästigen Ladezeiten. Allerdings können die Steckmodule im Gegensatz zu diesen Datenträgern nicht kopiert und nur bei Verwendung von EPROM- oder batteriegepufferten RAM-Chips beschrieben werden. Aufgrund der relativ hohen Produktionskosten von ca. 6 USD pro Einheit waren die Steckmodule überdies relativ teuer. Die von rechteckigen Kunststoffgehäusen geschützten Steckmodulplatinen besitzen einen Platinenstecker mit 18 Kontakten und enthalten meist einen 6-KB-GROM-Chip. Dieser wird im Gegensatz zur herkömmlichen Praxis nicht in den vergleichsweise kleinen Arbeitsspeicher des TI-99/4A kopiert, sondern als zusätzliche Speicherbank verwendet. Die sogenannten „Multimodule“ besitzen mehrere GROM-Chips mit weiteren Programmen, zwischen denen mit Hilfe des Adressdecoders gewählt werden kann. Insgesamt können bis zu 30 KB GROM hinzugefügt werden. Daher befinden sich auf den Steckmodulplatinen fünf Steckplätze. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit des Hinzufügens von bis zu 8 KB EPROM bzw. 4 KB RAM. TI schloss mit einer Reihe von Drittanbietern wie Imagic, Milton Bradley, Walt Disney oder Addison-Wesley Verträge ab, die diesen Unternehmen die Entwicklung eigener Steckmodul-Software gestattete, wobei die Herstellung der patentierten GROM-Chips und der Vertrieb der fertigen Steckmodule in den Händen von TI verblieben. Sonstige Ausgabegeräte Farbmonitor TI produzierte eigens für den TI-99/4A einen an das Design des PES angepassten 10-Zoll-Farbmonitor (englisch „TI Color Monitor“) mit einer Maximalauflösung von 720 × 300 Pixeln. Das Gerät mit der Typennummer PHA4100A verfügt über eine eigene Stromversorgung sowie zahlreiche Regler, etwa zur Einstellung von Farbintensität, Kontrast oder Helligkeit. Es wurde in jeweils eigenen Versionen für die Standards NTSC, PAL und SECAM hergestellt. Es kostete rund 400 USD. Sprachmodul TI entwickelte bereits 1979 ein Sprachmodul (englisch „Solid State Speech Synthesizer“) für den Vorgänger TI-99/4, das den Rechner bei einem Preis von rund 100 USD mit der Fähigkeit zur künstlichen Sprachausgabe ausstattete und auch mit dem TI-99/4A verwendet werden kann. Die Sprachsynthese war eine Spezialität von TI und wurde in einer eigens hierfür gegründeten Abteilung erforscht. Allerdings steckte sie damals noch in den Kinderschuhen. Im Sprachmodul verbaut ist ein 8-Bit-Sprachchip des Typs TMS5200, der zur zweiten Generation der von TI entwickelten Spezialchips für Sprachsynthese gehört. Der TMS5200 besitzt einen Puffer für Sprachdaten sowie 4-Bit-Steuerbusstrukturen. Daneben verfügt das Sprachmodul über zwei speziell entwickelte 16-KB-Sprach-ROM-Chips des Typs TMS6100 mit hochkomprimierten Sprachdateien. Diese setzen sich aus immer wieder abrufbaren und somit speichersparenden digitalen Repräsentationen stimmhafter wie stimmloser Phoneme zusammen, was von den TI-Entwicklern als „Linear Predictive Coding“ bezeichnet wurde. Vom Sprachchip können diese Sprachdateien über direkten seriellen Zugriff eingelesen werden. Der Sprachchip simuliert dabei ein Filtermodell des Vokaltraktes und speist dieses mit den eingelesenen Daten, um eine synthetische Wellenform zu generieren. Der Output dieses Filtermodells durchläuft einen Digital-Analog-Umsetzer, der abschließend als Audiosignal verwendet und an die Tonausgabe des Rechners weitergeleitet wird. Die Sprach-ROM-Chips verfügen zudem über 373 vorprogrammierte, vom TI BASIC aus direkt abrufbare Wörter, die zu einfachen Sätzen miteinander kombiniert werden können. Einige Arcadespiele wie Parsec machen zwecks Schaffung einer realistischen Spielatmosphäre von den Fähigkeiten des Sprachmoduls Gebrauch. Drucker TI brachte im Herbst 1982 für ca. 750 USD einen Schwarzweiß-Matrixdrucker (englisch „TI 99/4 Impact Printer“) mit der Typennummer PHP2500 auf den Markt. Dabei handelt es sich um einen das TI-Logo tragenden Standarddrucker des Typs Epson MX80. Das Gerät beherrscht vier Schrifttypen und druckt wahlweise 40, 66, 80 oder 132 Zeichen pro Zeile bei einer Druckgeschwindigkeit von 80 Zeichen pro Sekunde. Grafiken können wahlweise in zwei unterschiedlichen Auflösungen zu Papier gebracht werden: 480 Pixel pro Zeile (englisch „normal density“) oder 960 Pixel pro Zeile (englisch „dual density“). Auf der Oberseite finden sich Bedientasten für Blattvorschub, Zeilenvorschub und Direktdruck. Auf der Rückseite weist das Gerät eine serielle RS-232-Buchse sowie eine parallele Schnittstelle auf. Sonstige Eingabegeräte TI produzierte duale Joysticks (englisch „Wired Remote Controllers“) mit der Typennummer PHP1100 für den TI-99/4A, die ohne Adapter an keinen anderen Rechner angeschlossen werden konnten. Zwei im Paket angebotene Joysticks wurden dabei über ein gemeinsames Kabel mit dem Joystickanschluss des Rechners verbunden und ihre Signale fortlaufend unter Inkaufnahme verminderter Reaktionszeiten im stetigen Wechsel vom I/O-Baustein abgefragt. Diese Steuergeräte besitzen jeweils einen Steuerknüppel mit acht möglichen Einstellungen und einen breiten Feuerknopf. Sie kosteten rund 35 USD. Datenfernübertragung Für die Datenfernübertragung entwickelte TI bereits 1979 eigens ein als Akustikkoppler ausgeführtes Modem (englisch „TI Telephone Coupler“), das Daten mit einer Geschwindigkeit von 300 Baud übertragen kann. Das Gerät mit der Typennummer PHP1600 besitzt einen Stromanschluss und zwei Schiebeschalter zum Ein-/Ausschalten, Initialisieren des Testlaufs sowie Einstellen der Datenübermittlungsweise. Möglich sind Wechselbetrieb (englisch „Half-duplex“) sowie Gegenbetrieb (englisch „Full-duplex“). Zum Betrieb muss über eine der RS-232-Schnittstellen eine Verbindung zum Rechner hergestellt werden. Der Akustikkoppler kostete seinerzeit ca. 200 USD. Software Für den TI-99/4A waren Ende 1983 etwa 800 verschiedene Programmtitel auf verschiedenen Datenträgern erhältlich, darunter Programmiersprachen, Anwendungssoftware, Lernsoftware und Computerspiele. Der Großteil dieser Programme (ca. 700) wurde von Lizenznehmern bereitgestellt, der Rest stammt von Texas Instruments selbst. Da nur ungefähr jeder zehnte Besitzer des TI-99/4A das teure PES mit dem dazu passenden Diskettenlaufwerk erwarb, wurde die Software hauptsächlich auf Steckmodulen veröffentlicht. Auch nach der offiziellen Produktionseinstellung wurden noch einige Jahre neue Spiele für den Rechner veröffentlicht, beispielsweise von Atarisoft. Die gesamte zum Betrieb des TI-99/4A benötigte Systemsoftware nebst BASIC-Interpreter befindet sich auf im Gerät verbautem Festwertspeicher und ist deshalb ohne Booten direkt nach dem Einschalten einsatzbereit. Systemprogramme Betriebssystemkern und Systemroutinen Die Konfiguration der Hardware des TI-99/4A sowie des eingebauten TI BASIC übernimmt das aus dem für die Daten-, Geräte- und Prozessverwaltung verantwortlichen Betriebssystemkern sowie zahlreichen Systemroutinen bestehende Betriebssystem. Dazu zählen die Initialisierungsroutine nach dem Einschalten (englisch „power up“) und verschiedene auf den GROM-Chips untergebrachte mathematische Funktionen. Die ROM-Chips enthalten die Systemprogramme zur Ausführung von Interrupts für Bildschirmaufbau, Tastaturabfrage und Betrieb von Peripheriegeräten, zur Steuerung der Kassettenschnittstelle sowie verschiedene Hilfsroutinen, beispielsweise zur Berechnung von Fließkommazahlen. Nach dem Einschalten des Rechners werden sämtliche Einsprungpunkte (Zeiger) und alle vorhandenen GROM-Bausteine initialisiert, der Gerätetreiber für den Kassettenrekorder konfiguriert und danach der Startbildschirm nebst Startmenü erzeugt. Diskettenbetriebssysteme Zum Betrieb des TI-99/4A mit 5¼-Zoll-Diskettenlaufwerken wurde das nicht zum Lieferumfang der Diskettenlaufwerke gehörende und auf Steckmodul ausgelieferte Diskettenbetriebssystem Disk Manager entwickelt. Mit Hilfe dieses Diskettenbetriebssystems lassen sich Disketten formatieren und Dateien verwalten (speichern, löschen, kopieren und umbenennen). Pro Diskettenseite lassen sich dabei bis zu 127 Dateien unterbringen. Weiterhin ist es möglich, Dateien mit einem Schreibschutz zu versehen und Funktionstests für die Diskettenlaufwerke durchzuführen. Eine spätere Version der Diskettensystemsoftware, die im März 1983 unter dem Titel Disk Manager 2 herausgebracht wurde, gestattet die Benutzung beider Diskettenseiten ohne manuelles Wenden des Datenträgers. Zum Ausschöpfen dieser Möglichkeit musste der Anwender über entsprechende Geräte von Drittherstellern verfügen, da TI selbst keine Laufwerke mit der benötigten Anzahl von zwei Schreib-Lese-Köpfen anbot. Native Programmiersprachen TI BASIC TI BASIC fungiert sowohl als Benutzerschnittstelle als auch als Programmierumgebung und verfügt über 82 Befehle, Anweisungen, Funktionen und Variablen. Wird es im Startmenü angewählt, erscheint auf dem Bildschirm die Einschaltmeldung TI BASIC READY sowie der auf Eingaben wartende Prompt des Befehlsmodus (englisch „Command Mode“). Daneben kennt TI BASIC noch den Programmiermodus (englisch „Edit Mode“) sowie den Programmausführungsmodus (englisch „Run Mode“). Durch Betätigen der Entertaste wird der Interpreter zur Ausführung von Befehlen veranlasst. Der Programmiermodus lässt sich durch Verwendung von Zeilennummern am Anfang der Kommandozeile aktivieren. Mit Hilfe der Pfeiltasten kann der Cursor an jede beliebige Stelle des Bildschirms manövriert werden. Die Programmausführung wird durch Eingabe des RUN-Befehls eingeleitet. Laufende Programme können durch Drücken der Breaktaste angehalten werden. Der Rechner befindet sich dann wieder im Befehlsmodus. Verlassen werden kann TI BASIC entweder durch den QUIT-Befehl, der den Programmspeicher unwiederbringlich löscht, oder den BYE-Befehl, der das spätere Wiederaufrufen von Programmspeicherinhalten gestattet. Beide Befehle führen den Anwender wieder zum Startbildschirm. TI-BASIC-Programme können nur in den nicht als Grafikspeicher genutzten Bereichen des Arbeitsspeichers abgelegt werden. Der Kern des TI-BASIC-Interpreters liegt im ROM-Speicherbereich von $18C8 bis $1C9A. Außerdem enthalten die ROM-Chips eine Sprungtabelle für die in den GROM-Chips befindlichen TI-BASIC-Routinen. Zusammen besitzen TI-BASIC-Interpreter und -Routinen ein Festspeichervolumen von 14 KB. Graphics Programming Language Bei der Graphics Programming Language (GPL) handelt es sich um eine von TI entwickelte höhere Anweisungssprache mit einem Befehlsvorrat von insgesamt 59 Instruktionen. Die Hauptaufgabe der GPL besteht im Bereitstellen einer professionellen Programmierumgebung zur Ausnutzung sämtlicher, in TI BASIC teils nicht zugänglicher Hardwareeigenschaften des bordeigenen Chipsatzes. So können mit Hilfe der GPL etwa hochauflösende Bitmapgrafiken programmiert und die Klangerzeugungsmöglichkeiten des Soundchips TMS9919 vollumfänglich ausgeschöpft werden. Weniger komfortabel als TI BASIC, aber benutzerfreundlicher als Assemblersprache, verwendet die über einen speziellen Puffer Direktzugriffe auf den Grafikspeicher zulassende GPL viele mit dem Befehlssatz des TMS9900 identische Befehle. Sie ist daher als „sehr prozessornahe Zwischensprache“ erheblich schneller bei der Ausführung von Programmen als der TI-BASIC-Interpreter. Allerdings kommt diese Eigenschaft bei alltäglichen Anwendungen kaum zum Tragen, denn die im Benutzerhandbuch des TI-99/4A unerwähnt bleibende GPL, für die es auf dem freien Markt kein von TI autorisiertes Programmierhandbuch gab, war nicht als Benutzerschnittstelle vorgesehen. In der Basiskonfiguration kann der Rechner ausschließlich mit über Kommandozeilen eingegebenen TI-BASIC-Befehlen bedient werden. Trotz seiner Prozessornähe kann der insgesamt 12 KB ROM umfassende GPL-Code nicht unmittelbar vom TMS9900 ausgeführt werden, sondern nur mittels des eingebauten GPL-Interpreters. Dieser belegt den ROM-Speicherbereich von $0024 bis $08FF. Der GPL-Interpreter ist in Assemblersprache programmiert. Um das Anfertigen von Raubkopien und die Produktion unautorisierter Software durch Drittanbieter zu unterbinden, kopiert er GPL-Unterprogramme vor der Ausführung nicht in den frei zugänglichen Arbeitsspeicher, sondern führt sie speichersparend und vor unbefugtem Zugriff geschützt direkt im GROM aus. Die Grenzen zwischen GPL- und TI-BASIC-Interpreter sind fließend, da einzelne GPL-Befehle wie etwa PARSE, CONT oder RTNB nur für den BASIC-Interpreter, nicht aber den Hauptprozessor verständlich sind. Da TI BASIC ausschließlich im GPL-Code programmiert ist und BASIC-Programme vor der Ausführung mit hohem Zeitaufwand sowohl vom TI-BASIC- als auch vom GPL-Interpreter verarbeitet werden müssen, ist der BASIC-Dialekt des TI-99/4A im Vergleich zu denen anderer Heimcomputer eher langsam. Optionale höhere Programmiersprachen TI Extended BASIC Schon kurz nach Markteinführung des TI-99/4A erkannte TI die Langsamkeit des doppelt interpretierten TI BASIC als Problem. Noch im Sommer 1981 wurde daher die BASIC-Erweiterung TI Extended BASIC herausgebracht. In Westdeutschland war sie erst ab 1984 erhältlich und wurde in Lizenz von Mechatronic in Sindelfingen vertrieben. Das weitgehend abwärtskompatible TI Extended BASIC wartet mit einer Reihe zusätzlicher Fähigkeiten und einem gegenüber der Basisversion um 35 Befehle, Anweisungen, Funktionen, Subroutinen und logische Operatoren erweiterten Befehlssatz auf. So besitzt es eine Autoboot-Funktion, gestattet die Verwendung von Unterprogrammen in Maschinensprache und die Darstellung von bis zu 28 Sprites. Strings können bis zu 154 Zeichen enthalten, Variablen bis zu 15 Zeichen lang sein. Darüber hinaus erlaubt TI Extended BASIC eine recht komfortable Fehlerbehandlung, erhöht die Zahl der für Felder (englisch „Arrays“) zur Verfügung stehenden Dimensionen von drei auf sieben und stellt sogar Befehle für Kopierschutzmaßnahmen zur Verfügung. Außerdem können mehrere Befehle speichersparend in einer einzigen Programmzeile eingegeben werden. Da der Großteil des TI Extended BASIC statt im GPL-Code in Maschinensprache geschrieben ist, beschleunigt sich die Ausführung von Programmen merklich. Die Geschwindigkeitszunahme liegt ungefähr beim Doppelten des TI BASIC. Aufgrund dieser Eigenschaften wurde das TI Extended BASIC vom Fachbuchautor Rainer Heigenmoser auch mit einem Luxusmodell des britischen Automobilherstellers „Rolls Royce“ verglichen, während das ursprüngliche TI BASIC den Autor eher an einen Kleinwagen wie den „VW-Käfer“ erinnerte. Mit 32 KB ROM ist TI Extended BASIC ausgesprochen umfangreich und belegt weitere 2 KB des Arbeitsspeichers. Damit stehen für Grafik- und Programmspeicher nur noch 14 KB zur Verfügung, was zu einer spürbaren Einschränkung der Programmiermöglichkeiten führt. Für den Betrieb ist eine Speichererweiterung aber dennoch nicht zwingend erforderlich, sofern auf speichersparende Programmiertechniken geachtet wird. TI FORTH TI FORTH ist ein von TI entwickelter Dialekt der stackbasierten, assemblernahen und daher schnellen Compiler-Hochsprache Forth. Neben einem Betriebssystem stellt TI FORTH eine diskettenbasierte Integrierte Entwicklungsumgebung mit 64 Zeichen pro Zeile, hochauflösender Bitmapgrafik und Interruptroutinen zur Verfügung. TI FORTH benötigt neben einer 32-KB-RAM-Speichererweiterung zusätzlich das Editor/Assembler-Steckmodul. Eine weitere Forth-Version wurde von Wycove Systems entwickelt. TI LOGO TI LOGO sowie die mit einem erweiterten Befehlssatz, Druckerfunktionen und zusätzlichen Grafikfähigkeiten aufwartende Fortsetzung TI LOGO II sind ebenfalls von TI fabrizierte Dialekte der gleichnamigen funktionalen Interpreter-Hochsprache. Sie dienen der Vermittlung von mathematischen, logischen und kommunikativen Fähigkeiten an Kinder sowie deren Übung im Umgang mit Computern. Zum Betrieb mit Kompaktkassette, Diskette oder Steckmodul ist eine 32-KB-RAM-Speichererweiterung notwendig. Eine stark vereinfachte Schnupperversion mit begrenzten Programmiermöglichkeiten namens Early Learning LOGO Fun konnte auch ohne Speicherausbau betrieben werden. TI PILOT Auch TI PILOT ist ein von TI realisierter Ableger der gleichnamigen Interpreter-Hochsprache und ermöglicht die Entwicklung von Übungen, Tests und interaktiven Lernprogrammen für computergestütztes Lernen. Diese Programmiersprache kann nur mit 32-KB-RAM-Speichererweiterung, Diskettenlaufwerk und P-Code-Interpreterkarte betrieben werden. UCSD-Pascal Assemblersprache Eine optimale Ausnutzung der Hardware des TI-99/4A ist nur durch die Verwendung von Assemblersprache nebst Übersetzungsprogramm (englisch „Assembler“) möglich, das die Programmanweisungen des Quelltextes (englisch „Sourcecode“) in Maschinensprache überführt. TI bot ein entsprechendes Softwarepaket namens Editor/Assembler an, das ein Steckmodul, zwei Disketten und ein umfangreiches Bedienungshandbuch umfasste. Die Software enthielt neben dem Editor und dem Assembler noch einen Debugger zur Beseitigung von Programmierfehlern. Programme in Assemblersprache sind wesentlich schneller als solche in höheren Programmiersprachen und bieten gegenüber der noch schnelleren Maschinensprache den Vorteil, dass sich ihr Befehlsvorrat durch die Verwendung von verständlichen und leicht erinnerbaren Abkürzungen (englisch „Mnemonics“) leichter handhaben lässt. Allerdings bevorzugten die meisten Programmiereinsteiger die zwar leistungsschwächeren, aber einfacher zu bedienenden höheren Programmiersprachen wie etwa Pascal oder BASIC. Anwendungsprogramme Für den TI-99/4A wurden einige Anwendungsprogramme aufgelegt, von denen viele jedoch nur mit einer 32-KB-RAM-Speichererweiterung und einem Diskettenlaufwerk betrieben werden können. Das gilt für Dateiverwaltungsprogramme wie Personal Report Generator und Personal Tax Plan ebenso wie für das Textverarbeitungsprogramm TI Writer oder das Tabellenkalkulationsprogramm Microsoft Multiplan. Zu den beliebtesten Steckmodulen zählte die Speichererweiterung Mini Memory, die zusätzlich Hilfsprogramme wie etwa einen Maschinensprachemonitor enthält. Mini Memory stattet den Rechner mit 14 KB Zusatzspeicher aus, von denen 6 KB auf das GROM und 4 KB auf das einfache ROM entfallen. Darüber hinaus ist es mit 4 KB batteriegepuffertem SRAM bestückt. Kürzere BASIC- und Maschinenspracheprogramme können so ohne weitere Speichergeräte direkt auf dem Modul gesichert werden. Alternativ können aber auch TI-BASIC-Unterprogramme sowie ein Fehlersuchprogramm gestartet werden. Bei Verwendung einer 32-KB-RAM-Speicherkarte erlaubt Mini Memory direkten Zugriff auf deren zusätzliches RAM. Ebenfalls große Popularität genoss das ebenfalls auf Steckmodul veröffentlichte Telekommunikationsprogramm Terminal Emulator II, das eine Vernetzung des Rechners über einen Akustikkoppler ermöglicht. Darüber hinaus erweitert die Telekommunikationssoftware die Einsatzmöglichkeiten des Sprachmoduls um zusätzliche Funktionen. Lernprogramme Zu den beliebtesten Lernprogrammen für den TI-99/4A gehörte die Miliken Home Math Series mit Titeln, die sich etwa der Vermittlung der Grundrechenarten, der Prozentrechnung oder den Dezimalbrüchen widmeten. Auch Addison-Wesley setzte auf Lernsoftware zum Thema Mathematik und brachte die Steckmodule der Computer Math Games-Serie heraus. Das Minnesota Educational Computing Consortium entwickelte Lernprogramme für geistes-, sozial- und naturwissenschaftliche Disziplinen. Die Control Data Corporation brachte für Highschool-Absolventen aller Altersstufen und Fachrichtungen die Plato Courseware-Serie heraus. Der auf Grundschüler spezialisierte Verlag Scott Foresman veröffentlichte Lernprogramme mit künstlicher Sprachausgabe, die vor allem auf eine Verbesserung der Lesekompetenz abzielten. TI selbst konzentrierte sich auf die Rechtschreibung und brachte eine sechs Teile umfassende Serie mit dem Titel Scholastic Spelling, ein damals futuristisch wirkendes Programm für künstliche Sprachausgabe namens Text-to-Speech und ein Übungsprogramm namens Touch Typing Tutor für das Erlernen des Zehnfingersystems heraus. Eine Mischung aus Arcadespiel und Lernprogramm stellt der grafisch aufwändige Titel Microsurgeon mit seiner ungewöhnlichen Spielmechanik dar. Spiele Die rund 40 auf Steckmodulen erschienenen Arcadespiele bildeten das populärste Spielegenre für den TI-99/4A. Zu den beliebtesten Arcadespielen, die in der Regel zwischen 11 und 45 USD kosteten, gehörten von TI selbst produzierte Titel wie Alpiner, The Attack, Blasto, Car Wars, Chisholm Trail, Choplifter, M*A*S*H, Munchman, TI Invaders, TI Trek sowie Tombstone City. Das Shoot ’em up Parsec aus dem Jahr 1982 gilt als bestes Spiel oder gar „Killerapplikation“ für den Rechner. Einige besonders gefragte Titel wurden für knapp 20 USD zusätzlich auch auf Diskette veröffentlicht, setzten aber neben einem Diskettenlaufwerk die 32-KB-RAM-Speichererweiterung voraus. Zu den erfolgreichsten Spielen von Drittanbietern gehörten portierte Titel wie Dig-Dug, Donkey Kong, Jungle Hunt, Moon Patrol, Pac-Man und Pole Position von Atarisoft (mit alternativem Gehäusedesign), Q-Bert von Parker Brothers, Buck Rogers und Star Trek von Sega, Space Bandits von Milton Bradley, der Frogger-Clone Princess & Frog von Romox sowie Super Demon Attack von Imagic. Das erfolgreichste Strategiespiel war Hunt the Wumpus. An Brettspielen standen Backgammon, Blackjack and Poker sowie Video Chess zur Verfügung. Sportfans konnten sich mit Titeln wie Football oder Indoor Soccer vergnügen. Als erste Flugsimulation erschien Dow-4 Gazelle von John T. Dow. Mit Bankroll wurde von Not Polyoptics außerdem eine Wirtschaftssimulation veröffentlicht. Aus demselben Haus stammt auch die erst 1987 veröffentlichte Doppeldecker-Luftkampfsimulation Spad XIII, die die erste echte 3D-Flugsimulation für den TI-99/4A darstellt. Adventures stellten ebenfalls ein beliebtes Spielegenre dar. Vor allem die auf einer Kompaktkassette bzw. Diskette Platz findenden Titel von Scott Adams wie Ghost Town, Mystery Fun House oder Voodoo Castle wären in diesem Zusammenhang zu nennen. Das grafisch üppige Rollenspiel-Adventure Tunnels of Doom war dagegen so umfangreich, dass es auf gleich zwei Datenträgern geliefert werden musste. Siehe auch: :Kategorie:TI-99/4A-Spiel. Magazine Mehrere Zeitschriften im In- und Ausland beschäftigten sich mit allen Fragen rund um den TI-99/4A und versorgten ihre Leser mit Testberichten, Kaufberatungshinweisen, Bauanleitungen, Reparaturtipps, Kleinanzeigen und Programmausdrucken für Spiele, Anwendungen und Hilfsprogramme. Englischsprachige Welt Das 99’er-Magazin war die bedeutendste Zeitschrift für den TI-99/4A und erschien ab Mai 1981 zunächst alle zwei Wochen, ab November 1982 dann einmal pro Monat unter dem vollen Titel 99’er Home Computer Magazine. Inhaltliche Schwerpunkte bildeten die Programmiersprachen TI LOGO und TI PILOT. Für Auflockerung sorgten eingestreute Kreuzworträtsel und Cartoons. Bereits im November 1983 wurde das 99’er-Magazin vom Markt genommen. Das zunächst unter dem Titel Home Computer Compendium veröffentlichte Magazin MICROpendium erschien monatlich von Februar 1984 bis Juni 1999 in Round Rock (Texas). Damit füllte es die vom 99’er-Magazin hinterlassene Lücke aus. Mit seiner betont neutralen Berichterstattung, einem schlichten Schwarzweiß-Layout und einem günstigen Preis von 1,50 USD konnte sich das MICROpendium 15 Jahre lang behaupten, musste aber schließlich aufgrund zu geringer Verkaufszahlen eingestellt werden. Deutschsprachiger Raum Von 1983 bis 1987 erschien im Wiener Fiedler-Verlag monatsweise das TI-99 Journal. Für 11 DM wartete es mit einer mehrfarbigen Titelseite auf und enthielt auch Artikel über andere Produkte von TI. Von Anfang 1984 bis 1987 erschien außerdem zunächst im TI-Aktuell-Verlag in Lohhof, später dann bei der München-Aktuell-Verlags-GmbH die in unregelmäßigen Abständen ungefähr alle zwei Monate veröffentlichte Zeitschrift TI-Revue: Das Magazin für TI PC & TI-99/4A für anfänglich 4,80 DM. Der Fachverlag Reinhold Hasse aus Bendorf gab überdies das neben dem TI-99/4A auch den programmierbaren Taschenrechner TI-59 behandelnde TI-Fachmagazin heraus. Daneben erschien ab 1981 im Selbstverlag das Periodikum TI-99 Software mit Berichten über aktuelle Entwicklungen auf dem Gebiet der Software für sämtliche TI-Heimcomputer. Im Jahr 1982 wurde das Magazin zunächst in TI Software Home-Computer Magazin - Fachzeitschrift für Anwender des TI-99/4A umbenannt. Ab 1983 wurde der umständliche Zusatz aus dem Titel der Zeitschrift entfernt. Emulation Im Laufe der Zeit sind auf unterschiedlichen Hardwareplattformen zahlreiche Emulatoren des TI-99/4A erschienen. In den 1990er-Jahren waren sie auf dem IBM PC oder dem Commodore Amiga, aber auch auf anderen Rechnern populär. Nachdem diese Trägersysteme technisch veraltet waren, wurden neue Emulatoren für modernere Rechner entwickelt. Es gibt im Internet vier regelmäßig gepflegte Emulatoren des TI-99/4A, die teils auf aktuellen, teils etwas älteren Versionen der weit verbreiteten Betriebssysteme MS-Windows, OS X und Linux laufen. Aktuelle Emulatoren Der Emulator PC99 bzw. PC99A wurde von Greg Hill, Mark van Coppenolle und Mike Wright von der US-amerikanischen Firma CaDD Electronics für IBM-PC-Kompatible geschrieben. Sowohl die Standardversion PC99 als auch die beschleunigte Version PC99A laufen unter den Betriebssystemen PC DOS 5.0 (oder höher), Windows 95 und Windows 98. Empfohlen wird die Verwendung mindestens eines Intel 80486 mit 66 MHz Taktfrequenz. Überdies können Rechner mit CPUs der Typen Pentium II, III, und IV oder AMD K6-III verwendet werden. Zu den weiteren Systemvoraussetzungen gehören eine VGA-Videokarte, ein freier Festplattenspeicher von mindestens 10 MB und ein 3½-Zoll-Diskettenlaufwerk. Der Emulator V9t9 wurde von Edward Swartz im Java-Code programmiert und ist als Freeware im Internet herunterladbar. Zum Leistungsumfang gehören u. a. UCSD-Pascal, ein P-Code-Interpreter und eine Emulation des TI-Matrixdruckers. Der V9t9 läuft unter den Betriebssystemen MS-Windows, OS X oder Linux. Der Win994a-TI-99/4A-Simulator stammt von Cory Burr und ist ebenfalls als Freeware erhältlich. Er arbeitet auf modernen PCs unter MS-Windows. Das Emulatorsystem M.E.S.S. schließlich unterstützt sowohl den TI-99/4 als auch den TI-99/4A inklusive Sprachmodul und Erweiterungskarten, für deren Emulation allerdings die entsprechenden ROM-Inhalte benötigt werden. Rezeption Zeitgenössisch In der Fachpresse wurde der TI-99/4A überwiegend positiv bewertet und sogar als „einer der besten Heimcomputer“ beschrieben, die „es bislang auf dem Markt gab.“ Lob erfuhr der Rechner dabei für seine Benutzerfreundlichkeit, seine Hardware-Erweiterbarkeit, seine gegenüber dem Vorgängermodell verbesserte Tastatur, seine überzeugenden Farb- und Klangfähigkeiten, seine Fähigkeit zur Sprachsynthese, sein „kompakte[s], schlanke[s]“ Design, seine Robustheit, seine Vielseitigkeit sowie das umfangreiche Softwareangebot. Überdies wurde die Existenz gleich mehrerer exklusiv auf den TI-99/4A bezogener Computerzeitschriften wie dem 99’er-Magazin oder dem TI-Fachmagazin und die daraus abgeleitete leichte Verfügbarkeit von Informationen über den Rechner positiv hervorgehoben. Bemängelt wurde indessen die immer noch zu geringe Größe der neuen Tastatur sowie deren zahlreiche Mehrfachbelegungen, das Wärmemanagement des internen Leistungsreglers, die unterdurchschnittlichen Klangfähigkeiten, der begrenzte Befehlsvorrat des TI BASIC sowie die an den britischen Billigrechner Sinclair ZX81 erinnernde niedrige Arbeitsgeschwindigkeit des TI-BASIC-Interpreters. Retrospektiv In fast allen technikgeschichtlichen Überblicksdarstellungen wird der TI-99/4A als bedeutsamer Heimcomputer erwähnt. Viele Technikmuseen stellen den Rechner aus und er ist auch auf vielen Webseiten mit Bezug zur Geschichte der Heimcomputer zu finden. Außerdem besteht eine aktive, sich für die Bewahrung gut erhaltener Exemplare sowie weiterer mit dem Rechner verbundener Produkte einsetzende Retrocomputing-Szene. Damit hat der TI-99/4A einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis, obwohl er nicht die gleiche hohe Wertschätzung erfährt wie etwa der C64, Apple II, Sinclair ZX Spectrum oder die Atari-Heimcomputer. Typisch für die technikgeschichtliche Einordnung des TI-99/4A sind drei Aspekte. Erstens gilt er als technologisch fortschrittlich, was vornehmlich auf seine 16-Bit-CPU sowie die „für damalige Verhältnisse ausgezeichnete[n] Grafikeigenschaften“ zurückgeführt wird. Zweitens erfährt der Rechner aufgrund der Eigentümlichkeiten seiner Rechnerarchitektur häufig eine Einschätzung als exotischer „Außenseiter“, dessen Entwicklung in einer evolutionären Sackgasse geendet habe. Drittens gilt der TI-99/4A trotz insgesamt respektabler Verkaufszahlen als letztlich am Markt gescheitert und ist sogar als das „vielleicht glückloseste System auf dem Heimcomputermarkt“ bezeichnet worden. Mit dieser Feststellung einher geht eine intensive Forschung nach den Ursachen für dieses Scheitern, das Erinnerungen an den das Ende des Wirtschaftswunders einläutenden Konkurs eines Bremer Automobilherstellers aus dem Jahr 1961 weckte: Die vergleichsweise kurze Marktpräsenz des TI-99/4A lässt sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Vielmehr führte ein ganzes Bündel unterschiedlicher Verfehlungen zur vorzeitigen Produktionseinstellung des Rechners. Dazu gehören Marketingfehler, Designfehler, eine mangelhafte Systemdokumentation, bestimmte Eigenheiten der Unternehmenskultur von TI sowie die Favorisierung von Steckmodulen als Hauptspeichermedium. Marketingfehler TI beging einige schwere Marketingfehler. Vertriebsleiter Turner setzte fast ausschließlich auf Preisreduktionen, anstatt etwa durch geeignete Werbemaßnahmen potenziellen Käufern die zweifellos vorhandenen technischen Vorzüge des TI-99/4A wie etwa den leistungsstarken 16-Bit-Hauptprozessor zu erklären. Eingedenk der Verwendung des im Vergleich zu gängigen 8-Bit-CPUs mit 20 USD rund fünfmal teureren TMS9900 und den damit einhergehenden hohen Produktionskosten ist dies umso erstaunlicher. Trotzdem ließ TI sich auf einen riskanten Preiskrieg mit dem von Jack Tramiel geführten Billiganbieter Commodore ein und musste dabei eine bittere Niederlage einstecken. Berühmt geworden ist in diesem Zusammenhang ein eher umgangssprachlicher Kommentar des damaligen Spectravideo-Geschäftsführers Harry Fox: „TI got suckered by Jack“ (deut. Übersetzung: „TI ist von Jack ausgetrickst worden“). Designfehler Der TI-99/4A litt an einigen Designfehlern, zu denen an erster Stelle das doppelt interpretierte und daher langsame TI BASIC zählt. Bei den damals üblicherweise in BASIC durchgeführten Benchmarktests schnitt der Rechner trotz 16-Bit-CPU entsprechend schlecht ab und landete hinter Konkurrenzmodellen wie dem VC20, C64 oder Apple II. Auch die Speicherorganisation hatte ihre Nachteile. So dienten die 16 KB Arbeitsspeicher gleichzeitig als Grafik- und Programmspeicher. Im hochauflösenden und damit grafikspeicherintensiven Graphics-II-Modus etwa standen nur 4 KB für den Programmspeicher zur Verfügung. Umfangreichere TI-BASIC-Programme ließen sich daher nur im leistungsschwächeren Graphics-I-Modus realisieren. Ein Programmieren in Maschinensprache setzte darüber hinaus eine recht kostspielige Speichererweiterung voraus. Außerdem konnten solche externen Speicher von dem 16-Bit-Prozessor nur mit 8 Bits angesprochen werden. Der als Busconverter agierende Multiplexer wandelte dazu jeden entsprechenden 16-Bit-Zugriff des TMS9900 in zwei 8-Bit-Zugriffe auf den externen Speicher um. Die dabei generierten Waitstates reduzierten die Arbeitsgeschwindigkeit des Rechners spürbar. Wegen des für das Eintippen mit dem Zehnfingersystem ungeeigneten Tastatur-Layouts konnte sich der TI-99/4A nicht als Bürocomputer etablieren. Überdies wurde versäumt, den in die Konsole integrierten Leistungsregler mit einer elektrischen Sicherung auszustatten, wodurch das Risiko von Stromschlägen stieg. Obendrein war der Joystickanschluss nicht Atari-kompatibel und entsprach damit nicht dem damaligen De-facto-Standard. Umsteiger von anderen Systemen mussten neue Joysticks erwerben, was die Attraktivität des Rechners verringerte. Systemdokumentation und Softwareentwicklung TI wollte zwecks Gewinnmaximierung die alleinige Kontrolle über die Softwareentwicklung behalten. Die Konzernspitze betrieb daher gegen den ausdrücklichen Rat von Chefentwickler Bynum eine geschäftsschädigende Heimlichtuerei und verzichtete auf eine offene Dokumentation von Betriebssystem, GPL und Rechnerarchitektur. Fremdanbietern erschwerte das die Softwareproduktion, sofern sie mit TI keine kostspieligen und profitminimierenden Kooperationsverträge aushandelten. Wem trotzdem die Entwicklung kommerzieller Programme für den TI-99/4A gelang, wurde mit rechtlichen Schritten gedroht. Diese Vorgehensweise schreckte professionelle Softwarehäuser ebenso wie die kreative Hackerszene von einer Beschäftigung mit dem Rechner und seiner ohnehin wenig verbreiteten CPU ab. Zwar wurde das Konzept einer geschlossenen Architektur im Sommer 1981 zunächst gelockert, nach Einsetzen des Preiskriegs mit Commodore im September 1982 aber wieder aufgenommen. Erst 1985 erschien schließlich in einem westdeutschen Verlag ein vollständiges, jedoch nicht von TI unterstütztes Listing des Betriebssystems inklusive der GPL-Routinen. Die Unternehmensleitung glaubte überdies, alle Programmwünsche der Kunden im Alleingang erfüllen zu können. Rund 20 Millionen USD wurden jedes Jahr in die Softwareentwicklung investiert. Auf die damals übliche, von den Kunden erwartete Lizenzierung und Portierung bereits bewährter Anwendersoftware wie Microsoft BASIC,Visicalc, WordStar sowie vieler Spiele wurde dagegen verzichtet. Daher blieb die für den TI-99/4A entwickelte Software mit Ausnahme der Lernprogramme insgesamt eher mittelmäßig. 1983 wurden Umsetzungen von Steven Spielbergs weltweit erfolgreichem Kinofilm E.T. – Der Außerirdische für verschiedene Hardwareplattformen entwickelt, darunter der TI-99/4A sowie die marktführende Spielekonsole Atari 2600. Als Spielberg zufällig von der deutlich niedrigeren Qualität der Atari-2600-Version erfuhr, entzog er aus Furcht vor finanziellen Einbußen TI kurzerhand wieder die Lizenz. Die Atari-2600-Version von E.T. the Extra-Terrestrial wurde zu einem der größten Flops der Videospielgeschichte und gilt heute als Inbegriff des noch im gleichen Jahr einsetzenden Video Game Crashs. Unternehmenskultur Die zu diesem Zeitpunkt von Konservatismus und Selbstbezüglichkeit geprägte Unternehmenskultur von TI trug ebenfalls zum Misserfolg des TI-99/4A bei. Aus Überheblichkeit verzichtete der Technologiegigant auf die Entwicklung eines herkömmlichen 8-Bit-Mikroprozessors nach dem Vorbild kleinerer, aber hochinnovativer Hersteller wie Zilog, MOS Technology oder Intel, obwohl der Trend klar in die Richtung der 8-Bit-Architekturen ging. Da die Unternehmensphilosophie eine Verwendung von Mikroprozessoren aus Fremdherstellung ausschloss und sich die eigene 16-Bit-CPU am Markt nicht durchsetzen konnte, wurde bei der Planung des TI-99/4A nicht von zu erreichenden Leistungsmerkmalen oder Kundenwünschen ausgegangen, sondern ein zum TMS9900 passender Rechner entworfen, obwohl TI zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geeignete 16-Bit-Koprozessoren entwickelt hatte. Auch gelang es TI nicht, in den konzerneigenen Halbleiterfabriken kostengünstigere Chips für den TI-99/4A herzustellen und damit eine Verringerung der Produktionskosten zu erreichen. Die Unternehmensspitze war außerdem davon überzeugt, auf das Abwerben erfahrener Computertechniker verzichten zu können. Dieser Aspekt der damaligen Unternehmenskultur zeigt sich in der 1977 erfolgten Verlegung des Hauptquartiers der Abteilung für Unterhaltungselektronik von der Millionenstadt Dallas in die verschlafene Baumwollmetropole Lubbock. Für etablierte Computerexperten aus dem liberalen Milieu des kalifornischen Silicon Valley war der Ausblick auf ein Leben in der tiefsten texanischen Provinz meist kein Anreiz für einen Wechsel zu TI. Bei der Entwicklung des TI-99/4A fehlte daher ein von außen kommender, die eingefahrene Unternehmensphilosophie kritisch hinterfragender Geist. Steckmodule und Raubkopien Nach Markteinführung bot TI monatelang keine externen Speichergeräte für den TI-99/4A an, nicht einmal einen Programmrekorder. Stattdessen setzte der Konzern zunächst fast ausschließlich auf die relativ teuren Steckmodule. Die eine wichtige Käuferschicht bildenden Jugendlichen konnten sich diese oft nicht leisten und bevorzugten daher Heimcomputersysteme, deren Software auf den günstigeren Kompaktkassetten oder Disketten erschien. Diese Speichermedien boten auch den Vorteil, dass sich die unter Jugendlichen damals üblichen Raubkopien leichter anfertigen und untereinander tauschen ließen. Steckmodule dagegen unterbanden diese Praxis. Literatur (Auswahl) Englisch Ronald G. Albright: The Orphan Chronicles. San Dimas: Millers Graphics 1985, ISBN 0-931831-01-6. Raymond J. Herold: Compute!’s Guide to TI-99/4A Sound and Graphics. Greensboro: Compute!-Publications 1984, ISBN 0-942386-46-9. Gary Phillips u. David Reese: The Texas Instruments User’s Encyclopedia. Los Angeles: The Book Company 1984, ISBN 0-912003-15-4. C. Regena [d. i. Cheryl R. Whitelaw]: Programmer’s Reference Guide to the TI-99/4A. Greensboro: Compute!-Publications 1983, ISBN 0-942386-12-4. William B. Sanders: The Elementary TI-99/4A. Chatsworth: Datamost 1983, ISBN 0-88190-247-0. Brian Starfire: The Best Texas Instruments Software. New York: Beekman House 1984, ISBN 0-517-42476-2. Brian Starfire: The User’s Guide To Texas Instruments TI-99/4A Computer, Software & Peripherals. New York: Beekman House 1983, ISBN 0-517-41450-3. Deutsch Heiner Martin: Das Betriebssystem des TI-99/4A intern. Baden-Baden: Verlag für Technik und Handwerk 1985, ISBN 3-88180-008-5. Alma u. Johann Peschetz: 99 Special I: Programmierhandbuch für fortgeschrittene Benutzer der Texas Instruments Home Computer. Freising: TI Learning Center 1983, ISBN 3-88078-043-9. Georg-Peter Raabe u. Klaus-Jürgen Schmidt: Spielen, lernen, arbeiten mit dem TI-99/4A. Düsseldorf: Sybex 1984, ISBN 3-88745-039-6. Karl P. Schwinn: TI-99 Tips & Tricks: Eine Fundgrube für den die TI-99 Anwender. Düsseldorf: Data-Becker 1983, ISBN 3-89011-006-1. Guido Pahlberg: TI-99/4A: Farbe, Grafik, Ton, Spiele. Vaterstetten: IWT Verlag 1983, ISBN 3-88322-045-0. Texas Instruments Deutschland GmbH (Hg.): TI-99/4A: Spielprogramme selbst erstellen. Teil 1. Freising: Texas Instruments Deutschland GmbH Learning Center 1984, ISBN 3-88078-047-1 Texas Instruments Deutschland GmbH (Hg.): TI-99/4A: Spielprogramme selbst erstellen. Teil 2. Freising: Texas Instruments Deutschland GmbH Learning Center 1984, ISBN 3-88078-048-X Weblinks Allgemeine Informationen 8-Bit-Nirvana Hardwaredokumentation mit technischen Details 99er.net Ausführliche Hard- und Softwaredokumentation (englisch) Win994a-TI-99-Simulator Emulator für das Betriebssystem MS-Windows Homecomputermuseum.de Rechnerarchitektur mit Blockschaltbild Mainbyte’s Home of the Texas Instruments Computers Ausführliche, umfangreich bebilderte Hardware- und Softwaredokumentation (englisch) TI-99/4A Stuff Ausführliche Hard- und Softwaredokumentation (englisch) TI-99 Infospot Ausführliche, umfangreich bebilderte Hard- und Softwaredokumentation (englisch) Ninerpedia.org Online-Enzyklopädie (englisch) Oldcomputers.net Bilddokumentation mit technischen Details (englisch) PC-History.org Technikgeschichtlicher Übersichtsartikel (englisch) Spiele-Enzyklopädie TI-99/4A Videogame House Ausführliche Videospiel-Dokumentation (englisch) Aktuelle Emulatoren PC99/PC99A Emulator für IBM-PC-Kompatible V9t9 Emulator für die Betriebssysteme MS-Windows, OS X und Linux M.E.S.S. Multisystem-Emulator für die Betriebssysteme MS-Windows, OS X und Linux TI-99/SIM Emulator für Linux, OS X und MS-Windows Einzelnachweise Heimcomputer Texas Instruments
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https://de.wikipedia.org/wiki/El%20Al
El Al
El Al (, ) ist die größte Fluggesellschaft Israels; sie hat ihren Sitz und ihre Basis auf dem Flughafen Ben Gurion in Lod bei Tel Aviv. Der Ausdruck El Al „basiert auf einem Abschnitt im Buch des biblischen Propheten Hosea“ und bedeutet nach oben, zu Gott hin. Das IATA-Kürzel LY leitet sich vom ehemaligen Namen der Stadt Lod (Lydda) ab, in deren Nähe sich der Ben-Gurion-Flughafen befindet. Aufgrund der ständigen Bedrohung durch Terroranschläge werden Flüge der El Al unter besonders strengen Sicherheitsvorkehrungen durchgeführt. Geschichte Erste Jahre Im September 1948 besuchte der spätere erste Präsident Israels, Chaim Weizmann, eine Konferenz in Genf. Geplant war, ihn durch ein Flugzeug der Regierung zurückzufliegen. Doch die europäischen Staaten und die USA hatten ein Waffen- und Munitionsembargo gegen die Konfliktparteien des Ersten Arabisch-Israelischen Kriegs beschlossen, also auch gegen Israel. Die einzige verfügbare zivile viermotorige Maschine in Israel war eine bei der United States Overseas Airlines geleaste Douglas DC-4 mit dem US-amerikanischen Luftfahrzeugkennzeichen NC58021, die auf den Luftbrückenflügen zwischen der Tschechoslowakei und Israel eingesetzt wurde. Diese DC-4 (eine umgebaute militärische Douglas C-54B mit der Seriennummer 43-17195) wurde in kürzester Zeit in eine Maschine einer gar nicht existierenden Fluggesellschaft El Al verwandelt. Hierzu wurde das Flugzeug mit der Aufschrift der El Al/Israel National Aviation Company sowie zusätzlichen Tanks für einen Non-Stop-Flug von Genf nach Israel versehen. So täuschte man einen zivilen Rückflug vor und konnte das Embargo umgehen. Die Maschine hob am 29. September mit dem Luftfahrzeugkennzeichen 4X-ACA von der Tel Nof Airbase ab und kehrte am nächsten Tag nach Israel zurück. Dies war damit der erste Flug, der unter dem Namen El Al durchgeführt wurde. Nach dem Flug wurde das Flugzeug wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Mit geleasten Flugzeugen nahm El Al am 15. November 1948 den regulären Flugbetrieb auf und wurde somit Israels erste staatliche Fluggesellschaft. Der erste Kauf von eigenen Maschinen, zwei Douglas DC-4, wurde im Februar 1949 mit American Airlines vereinbart. Die erste DC-4 nahm El Al am 3. April 1949 in Empfang. Finanziert wurde der Kauf durch die israelische Regierung, die Jewish Agency und andere israelische Organisationen. Als Vorsitzenden des Unternehmens wählte Israel den aus Südafrika stammenden Rechtsanwalt Aryeh Pincus. Pincus war bis zu diesem Datum ein Mitarbeiter des israelischen Verkehrsministeriums. Mit der Route von Tel Aviv nach Paris (Zwischenstopp in Rom) begann El Al den internationalen Flugdienst. Weitere Ziele im Ausland wie zum Beispiel Johannesburg oder London flog El Al im Jahr 1949 nur vereinzelt an. Dies änderte sich 1950, als El Al London per Linienflug ins Streckennetz nahm. Im selben Jahr kaufte El Al die südafrikanische Fluggesellschaft Universal Airways und nahm den Flugdienst nach Südafrika auf. Diese Maßnahme ist vor allem auf die Existenz einer großen jüdischen Gemeinde vor Ort zurückzuführen. Um den regionalen Flugbetrieb zu stärken, gründete die israelische Regierung die Fluggesellschaft Israel Inland Airlines, an der El Al mit 50 Prozent beteiligt war. Erste Frachtverbindungen nahm El Al ebenfalls 1950 mit einem ehemaligen Militärflugzeug des Typs Curtiss C-46 auf. Im Passagierbetrieb konnten vereinzelt Charterflüge in die Vereinigten Staaten von Amerika geflogen werden, die anschließend zu Linienverbindungen ausgebaut wurden. Die israelische Regierung nutzte die Fluggesellschaft Anfang der 1950er Jahre, um von arabischen Übergriffen und Pogromen betroffene Juden nach Israel zu transportieren. Bekannte Operationen sind die Operation Magic Carpet in Jemen und der Transport irakischer Juden in der Operation Ezra and Nehemiah. Eine weitere politische Aktion war der Transport des nationalsozialistischen Kriegsverbrechers Adolf Eichmann von Argentinien, wo er von Geheimagenten überwältigt und entführt worden war, nach Israel. Nach jahrelanger Nutzung von Lockheed Constellation vereinbarte El Al den Kauf von zwei Bristol Britannia. Somit war El Al nach British Overseas Airways Corporation die zweite Fluggesellschaft weltweit, die diesen Typ einsetzte. Für Aufsehen in den USA sorgte 1958 eine Werbeanzeige, die Reklame für die Non-Stop-Flüge über den Atlantik machte. Gezeigt wurde der Atlantik mit der Werbebotschaft: Bis zu diesem Datum nutzte die Reisebranche keine Bilder von Meeren zu Werbezwecken, da befürchtet wurde, dass Flugpassagiere bei solchen Bildern an Flugzeugunfälle denken. Doch El Al verschaffte unter anderem diese Reklame eine Verdreifachung der Verkaufszahlen. Expansion während der 1960er Jahre El Al blieb unrentabel, obwohl neue Bristol Britannias gekauft und die schnellsten planmäßigen transatlantische Nonstop-Flüge eingeführt wurden. Als Efraim Ben-Arzi in den späten 1950er Jahren die Leitung übernahm, wurden die Britannias daher durch Boeing 707 ersetzt. Das erste Jahr, in dem El Al einen Gewinn vermelden konnte, war 1960. In diesem Jahr reisten über 50 Prozent aller Passagiere Israels mit den Flugzeugen der El Al. Am 15. Juni 1961 startete El Al den damals längsten Flug der Welt, er führte von New York nach Tel Aviv über 9269 Kilometer, wofür die eingesetzte Boeing 707 neun Stunden und 33 Minuten benötigte. Früher war für diese Strecke eine Zwischenlandung in London geplant. Zu dieser Zeit transportierte El Al durchschnittlich 56.000 Passagiere pro Jahr, ähnlich wie Qantas und mehr als damals bekannte Fluggesellschaften wie zum Beispiel Loftleiðir. 1961 erreichte El Al weltweit den 35. Platz der größten Passagiermeilen-Werte (Passagiere multipliziert mit geflogenen Meilen). Die Frachtsparte der Fluggesellschaft erweiterte 1968 ihr Streckennetz mit Flügen nach Europa und in die USA mit überzähligen Curtiss C-46 des israelischen Militärs. Mit der Teshet Tourism and Aviation Services Ltd. gründete El Al eine Catering-Tochtergesellschaft. Ende der 1960er Jahre erwirtschaftete El Al durchschnittlich einen Gewinn von zwei Millionen Dollar jährlich. 1970er und 1980er Jahre Die erste Boeing 747 stieß 1971 in Form der Boeing 747-200 zur Flotte. Der Kauf war umstritten, da einerseits die Kosten für das Flugzeug hoch waren und es aufgrund der Größe ein beliebtes Anschlagsziel für Terroristen sein könnte. Doch El Al war es durch die Flottenerweiterung möglich, ihr Streckennetz erfolgreich zu erweitern. Die zweite Boeing 747-200 wurde ab 1973 auf dem Direktflug von Tel Aviv nach New York City eingesetzt. Durch Gegenwind kam es zeitweise zu 13 Stunden Flugzeit, damit waren es die längsten kommerziellen Flüge weltweit zu dieser Zeit. Mitte der 1970er begann El Al, im Ausland Flüge am Sabbat durchzuführen. Die religiösen Parteien Israels verurteilten dies, da sie die jüdischen Gesetze gebrochen sahen und El Al die freiwillige Verpflichtung, nicht an diesem Tag zu fliegen, bei der Unternehmensgründung unterschrieben hatte. An dieser Verpflichtung wollte der gerade wiedergewählte Ministerpräsident Menachem Begin 1981 festhalten. Darauf hin drohte die nichtjüdische Gemeinschaft in Israel, die Fluggesellschaft zu boykottieren. Mitarbeiter hinderten aus Protest gegen das am Sabbat bestehende Flugverbot im August 1982 orthodoxe und chassidische Juden am Betreten des Tel Aviver Flughafens. Im Jahr 1977 gründete El Al eine Charterfluggesellschaft mit dem Namen El Al Charter Services Ltd., später erhielt sie den Namen Sun d’Or International Airlines. Zwei Jahre zuvor meldete El Al seit den späten 1950er Jahren zum ersten Mal, vor allem wegen der globalen Rezession, ein negatives Betriebsergebnis. Bis zum Ende der 1970er Jahre wechselte die Geschäftsführung noch drei Mal, bis Itzhak Shander als Geschäftsführer ernannt wurde. Als sich die politische Lage im Iran für Juden verschlechterte, übernahm El Al die Überführung iranischer Juden nach Israel. Daraufhin wurde die ganze Infrastruktur der El Al im Iran zerstört. Im April 1980 war es El Al das erste Mal möglich, Flüge nach Ägypten anzubieten, da Ägypten einem Friedensvertrag mit Israel zugestimmt hatte. Ende 1982 musste El Al nach mehreren Gewerkschaftsstreiks den Flugbetrieb einstellen. Von der Regierung wurde Amram Blum als Zwangsverwalter bestimmt. Er begann seine Tätigkeit im Jahr 1983, als El Al einen Verlust von 123,3 Millionen Dollar vermeldete. Im selben Jahr wurden die Anteile an der Fluggesellschaft Arkia Israeli Airlines veräußert. Unter der Zwangsverwaltung begann der Flugbetrieb wieder im Januar 1983. Die Regierung veranlasste den Kauf von zwei neuen Boeing 737 und verkündete Pläne, vier Boeing 767 für 200 Millionen Dollar zu kaufen. Innerhalb von vier Jahren konnte El Al durch die Zwangsverwaltung der Regierung wieder profitabel gemacht werden. Im Mai 1988 wurde erneut der Rekord über die längste Flugzeit mit dem Flug von Los Angeles nach Tel Aviv gebrochen. Für die rund 13.000 Kilometer lange Strecke wurden 13 Stunden und 45 Minuten benötigt. Im Jahr 1989 waren Polen, als einer der wenigen Staaten hinter dem eisernen Vorhang, und Jugoslawien neue Ziele im Streckennetz der El Al. 1990er Jahre und Anfang des 21. Jahrhunderts Seit dem Januar 1990 bot North American Airlines Anschlussflüge von den Zielen, die El Al in den Vereinigten Staaten anflog, an. El Al hielt auch einen 24,9-prozentigen Anteil an der Fluggesellschaft, welcher aber im Juli 2003 zurück an Dan McKinnon verkauft wurde. Zu dieser Zeit besaß El Al eine Flotte von 20 Flugzeugen, welche unter anderem aus neun Boeing 747 bestand. Damals wurden auch die Boeing 707 schrittweise durch moderne Boeing 757 ersetzt. Durch den Zerfall der Sowjetunion konnte El Al erstmals Flüge nach Moskau anbieten. Die Evakuierung der jüdischen Bevölkerung in Russland wurde El Al durch die Regierung erst 1991 genehmigt, weshalb El Al erst ab August 1991 für jüdische Emigranten Charterflüge nach Israel anbieten konnte. Schließlich wurden aber auch freie Plätze auf Linienflügen von den Emigranten genutzt; somit transportierte El Al in Kooperation mit Aeroflot über 400.000 Emigranten in einem Zeitraum von drei Jahren nach Israel. Am 24. Mai 1991 beförderte eine Frachtmaschine des Typs Boeing 747 der El Al statt der geplanten 760 insgesamt 1.137 äthiopische Juden von Addis Abeba nach Israel im Rahmen der Operation Salomon. Dies ist bis heute ein ungebrochener Rekord, denn die Boeing 747 ist nur für rund die Hälfte der Passagiere ausgelegt. Während des Fluges wurden zwei Kinder geboren. In weniger als 36 Stunden wurden insgesamt 14.500 Äthiopische Juden nach Israel evakuiert. Im Jahr 1995 unterzeichnete die Fluggesellschaft ein Codeshare-Abkommen mit American Airlines. Im Februar desselben Jahres endete die seit 1982 bestehende Zwangsverwaltung des Staates. Im Jahr 1996 vermeldete El Al einen Verlust von rund 83,1 Millionen Dollar; begründet durch die steigenden Kosten der Sicherheitsvorkehrungen und aufkommende Konkurrenz von anderen Fluggesellschaften, die Flüge nach Israel anboten. Um den Flugbetrieb aufrechtzuerhalten, erfand man die „Flüge ins Nirgendwo“: Es wurden Rundflüge über das Mittelmeer mit besserem In-flight Entertainment angeboten. Außerdem bewarb man Tagesflüge zum Einkaufen nach London oder zu verschiedenen religiösen Orten in Osteuropa. Seit 1997 operiert die Frachtabteilung El Al Cargo unter eigener Betriebslizenz. Die erste Boeing 777 absolvierte ihren Jungfernflug für die El Al im März 2000. Die Auseinandersetzung über die Flüge am Sabbat flammte ebenfalls 2000 wieder auf, als El Al kritisierte, dass die Fluggesellschaft durch das Flugverbot an den Samstagen rund 80 Millionen Dollar Erträge jährlich verliere. Der erste Schritt der verspäteten Privatisierung wurde im Juni 2003 getätigt, als Israel 15 Prozent des Unternehmens auf dem Tel Aviv Stock Exchange gelistet hat. Gleichzeitig gab Israel das Versprechen, das Sabbat-Flugverbot zu ändern, was aber bis heute nicht geschehen ist. Der weitere Verkauf von Anteilen bewirkte, dass El Al seit dem 6. Juni 2004 kein staatliches Unternehmen mehr ist. Im Jahr 2005 transportierte El Al rund 3,5 Millionen Passagiere, was eine kontinuierliche Steigerung, im Vergleich zu 2004 mit 2,4 Millionen und 2,8 Millionen im Jahr 2003, bedeutete. Circa 60 Prozent aller Passagiere waren israelischer Herkunft. Für das Jahr 2006 vermeldete die Fluggesellschaft einen Verlust von 44,6 Millionen US-Dollar (circa 33,7 Millionen Euro) bei einem Umsatz von 1,665 Milliarden US-Dollar (circa 1,258 Milliarden Euro). Im Jahr 2007 beschäftigte El Al 5417 Mitarbeiter bei einer Flotte von über 30 Flugzeugen. Im selben Jahr investierte die Fluggesellschaft circa eine Milliarde israelische Schekel (circa 179,7 Millionen Euro) für den Kauf von zwei neuen Boeing 777-200. Für 2007 vermeldete die Fluggesellschaft einen Umsatz von 1,93 Milliarden US-Dollar (circa 1,31 Milliarden Euro) und einen Nettogewinn von 31,7 Millionen US-Dollar (circa 21,5 Millionen Euro). Der Staat Israel veräußerte den größten Teil seiner Anteile der Fluggesellschaft zwischen 2003 und 2007 an der Börse und hält heute 1,1 Prozent am Unternehmen. Des Weiteren schritt die Flottenerneuerung auch 2008 voran, indem El Al dem Kauf von einer Boeing 747-400 (Auslieferung im Dezember 2008) und dem Leasing von vier weiteren Boeing 737-800 (Auslieferung im Jahr 2009) zustimmte. El Al unterzeichnete außerdem bei dem amerikanischen Flugzeughersteller Boeing am 16. März 2008 einen Vertrag über den Kauf von vier Boeing 777-200ER mit der Option, die Bestellung zu Gunsten der größeren Boeing 777-300ER zu ändern. Die Maschinen werden in den Jahren 2012 und 2013 ausgeliefert. Mit Stand März 2009 sind die größten Anteilseigner der El Al die Knafaim Holdings (39,33 Prozent), Pinchas Ginzburg (6,85 Prozent), die eigenen Mitarbeiter (6,26 Prozent) und der Staat Israel (1,1 Prozent). Außerdem besitzt der Staat einen Special State Share, an welches bestimmte Anweisungen gekoppelt sind. So darf El Al zum Beispiel nur israelische Mitarbeiter beschäftigen, muss die Sicherheitsmaßnahmen, die vom Staat ausgearbeitet sind, durchführen und hat bestimmte Voraussetzungen, was Flugrouten betrifft. Zum Beispiel müssen auf dem Flug Tel Aviv–New York täglich drei Flugzeuge eingesetzt werden und es müssen mindestens 1000 Sitzplätze täglich auf dieser Strecke verfügbar sein. Des Weiteren besitzt der Staat ein Vetorecht, wenn es um neue Anteilseigner geht. Mitte 2012 wurde bekannt, dass das israelische Transportministerium eine Verstaatlichung der El Al prüft. Im Jahr 2008 beförderte El Al rund 3,824 Millionen Passagiere (Sitzauslastung: 82 Prozent) und 111.000 Tonnen Fracht. Im Jahr 2018 gab das israelische Postunternehmen anlässlich des 70. Jahrestages von El Al eine Sonderbriefmarke mit Flugzeugen aus verschiedenen Epochen heraus. Als Auswirkung der COVID-19-Pandemie musste El Al am 1. Juli 2020 ihren gesamten Betrieb auf unbestimmte Zeit einstellen. Die verbleibenden Piloten wurden in unbezahlten Urlaub geschickt, Leasingvereinbarungen gekündigt und Flugzeuge an ihre Leasinggeber zurückgegeben. Tochtergesellschaften El Al besitzt insgesamt elf Tochtergesellschaften; jede davon ist in der Luftfahrtbranche tätig. Sun d’Or Sun d’Or ist eine Charterfluggesellschaft und eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der El Al. Sie wurde am 1. Oktober 1977 als El Al Charter Services gegründet. Der Hauptsitz befindet sich in Tel Aviv und vom Flughafen Ben Gurion werden vor allem Ziele in Europa angeflogen. El Al Cargo El Al Cargo ist die Frachtsparte der El Al und seit 1997 eine hundertprozentige Tochtergesellschaft derselbigen. Als staatliche Frachtfluggesellschaft bietet sie Ziele in Asien, Europa und Nordamerika. Als zusätzliches Drehkreuz nutzt die Tochtergesellschaft den belgischen Flughafen Lüttich. Bis 2001 besaß El Al Cargo ein gesetzliches nationales Monopol, was sie aufgeben musste. Seitdem steht sie in Konkurrenz zu der CAL Cargo Airlines. El Al Cargo verfügt über ein Frachtflugzeug des Typs Boeing 747-400F. Einsatzbereiche sind vor allem Europa, der Nahe Osten, Indien, Kasachstan und die USA, wobei Maschinen auch ad hoc verchartert werden. Die Einnahmen aus dem Frachtbetrieb bildeten 2008 einen Anteil von 7 % am Gesamterlös der El Al. Up Unter der Marke UP hat El Al bis 2018 Billigflüge vor allem nach Osteuropa angeboten. Tamam und Borenstein Caterers Die zwei Cateringlieferanten Tamam (Israel) und Borenstein Caterers (USA) haben sich ausschließlich auf die Lieferung von koscherem Essen spezialisiert. Borenstein Caterers ist der größte nordamerikanische Produzent von koscherem Catering für Fluggesellschaften. Von New York aus werden täglich bis zu 15.000 Gerichte an 52 Fluggesellschaften geliefert. El Al ist für beide Unternehmen der größte Kunde. Tamam und Borenstein Caterers sind hundertprozentige Tochtergesellschaften der El Al. Der Umsatz beträgt bei Tamam 15,27 Millionen Euro und von Borenstein Caterers 7,342 Millionen Euro bei einer Mitarbeiterzahl von 294 bei Tamam und 89 bei Borenstein. Katit Katit ist ein Restaurant, welches sich zu 100 Prozent im Besitz der El Al befindet; es wurde 2002 in Kfar Ruth eröffnet. Der Koch Meir Adoni mischt die mediterrane Küche mit Produkten aus Nordafrika und nutzt dabei französische Kochmethoden. Im September 2006 zog das Restaurant in das Tel Aviver Stadtviertel Neve Tzedek. Das Gebäude beherbergte früher das erste Hotel Tel Avivs. Des Weiteren besitzt Katit eine Filiale in der Hauptverwaltung der El Al und mehrere am Tel Aviver Flughafen zur Verpflegung der Mitarbeiter. Das Essen in der King David Lounge wird auch von Katit gestellt. Sabre Israel Travel Technologies Sabre Israel Travel Technologies ist ein zehnjähriges Joint Venture der El Al (49 %) und der Sabre Holding (51 %), das 2001 gegründet wurde. Ziel ist es, den 600 Reisebüros in Israel, die das Buchungssystem Carmel der El Al nutzen, Zugang zum internationalen Computerreservierungssystem Sabre zu bieten. Andere Beteiligungen El Al besitzt den britischen Reiseveranstalter Superstar Holidays und ist an den israelischen Reiseveranstaltern Air Tour Israel (50 %) und Kavei Hufsha Israel (20 %) beteiligt. Außerdem besitzt El Al einen Anteil von 50 % an dem Zusammenschluss der israelischen Frachtdienstleister am Tel Aviver Flughafen Ben Gurion. Sicherheitsmaßnahmen Wegen der vielfachen terroristischen Anschläge in den letzten Jahrzehnten entwickelte El Al gemeinsam mit dem israelischen Inlandsgeheimdienst Schin Bet strikte Sicherheitsmaßnahmen sowohl bei der Abfertigung am Boden als auch in der Luft. Die jährlich 100 Millionen US-Dollar Kosten verursachenden Maßnahmen brachten der Fluggesellschaft des Öfteren Kritik, da viele Ökonomen bis zu den Terroranschlägen des 11. September 2001 die Sicherheitsmaßnahmen für unverhältnismäßig hielten. Keine andere Fluggesellschaft setzt weltweit auf solch strenge Vorkehrungen. In den hohen Kosten sehen Luftfahrtanalysten einen betriebswirtschaftlichen Nachteil gegenüber Konkurrenzgesellschaften, die aus mehr als zwanzig Ländern auf dem Ben Gurion Airport in Tel Aviv landen. Am Boden Passagiere der El Al sind verpflichtet, sich drei Stunden vor Abflug zum Check-in zu melden. Dieser wird von Sicherheitskräften in Zivilbekleidung und bewaffneten Polizisten beziehungsweise Soldaten überwacht. Sie achten auf Gegenstände, die explosive Mittel beinhalten könnten, aber auch auf eventuelles verdächtiges Verhalten der Passagiere. Vor dem Check-in müssen alle Passagiere in einem Interview einen Fragenkatalog beantworten, wodurch trainierte El-Al-Mitarbeiter mögliche Attentäter zu erkennen versuchen. Oft beinhaltet das Interview Fragen nach der Herkunft des Passagiers, welchen Beruf sie ausüben, aber auch ob sie ihr Gepäck selbst gepackt haben. Neben den Antworten wird auch auf das Verhalten des Befragten geachtet. Experten gehen davon aus, dass es einem Attentäter kaum möglich ist, in einer solchen Situation ruhig zu bleiben. An die Befragung schließt sich eine persönliche Kontrolle der Passagiere, ihres Gepäcks und der Reisepapiere an. Dabei werden die Namen auf eventuelle Einträge beim FBI, CSIS, Scotland Yard, Schin Bet und der Interpol geprüft. Das Gepäck wird durchleuchtet und bei Verdacht durchsucht. Einzigartig ist die Methode, wie El Al möglichen Sprengstoff schon am Boden zu erkennen versucht: Das Gepäck wird in einer Dekompressionskammer den im Flug herrschenden Druckverhältnissen ausgesetzt, damit druckabhängige Zünder schon am Boden detonieren. Diese Kontrolle wird auch auf ausländischen Flughäfen von El-Al-Mitarbeitern durchgeführt, wo die Sicherheit durch die jeweilige Regierung oder beauftragte Sicherheitsunternehmen sichergestellt ist. In der Luft An Bord jedes internationalen Fluges der El Al befinden sich versteckt bewaffnete Sicherheitskräfte, so genannte Flugsicherheitsbegleiter. Außerdem sind die meisten Piloten ehemalige Angehörige der israelischen Luftwaffe und somit geschult im Umgang mit Waffen und in der Selbstverteidigung. Alle Flugzeuge der El Al sind mit einer doppelten Tür zum Cockpit ausgestattet, um nicht berechtigten Personen den Eintritt zu erschweren. Der Zugang zu den Türen ist mit einem Zahlencode gesichert. Die zweite Tür kann nur geöffnet werden, wenn die erste Tür geschlossen wurde und die Person die Erlaubnis des Cockpitpersonals erhält. Als weitere technische Maßnahme ließ El Al die Bodenplatten zwischen Passagier- und Frachtraum verstärken, um das Flugzeug vor großen Schäden, verursacht durch eine Bombenexplosion, zu schützen. Nachdem eine Maschine der israelischen Charterfluggesellschaft Arkia im Jahr 2002 fast durch zwei infrarotgelenkte Raketen vom Typ Strela-2 abgeschossen wurde, entschloss sich El Al, alle Flugzeuge in der Flotte mit dem Infrarotraketenabwehrsystem Flight Guard (entwickelt durch die Israel Aerospace Industries) auszustatten, das hitzesuchende Lenkwaffen mittels Radar erkennt und mit Täuschkörpern ablenken kann. Obwohl mittlerweile verschiedene Raketenabwehr-Systeme existieren, nutzt keine weitere Fluggesellschaft diese Technologie. Das System wurde von einigen europäischen Staaten, insbesondere der Schweiz, kritisiert und verboten, da ein Abschuss der Täuschungskörper zu einem Brand am Boden führen könnte. Kritik Kritiker bemängeln die Kontrolle der Passagiere nach vermeintlich rassistischen Kriterien und verurteilen diese als eine unfaire, absurde und entwürdigende Behandlung. Befürworter hingegen sehen keinen Rassismus in der Profilerstellung durch die Sicherheitskräfte und meinen, dass die genauere Untersuchung von arabischen Passagieren aus Sicherheitsgründen oft notwendig sei. Um dies zu klären, wurde El Al in einem Zivilprozess am 19. März 2008 vor dem Obersten Gericht Israels angeklagt. In Ungarn ist die Fluggesellschaft angeklagt, wo das Gericht bemängelt, dass die Kontrolle des Gepäcks der Passagiere nicht im Beisein der Besitzer stattfinde, was gegen das ungarische Gesetz verstößt. Laut diesem dürfen nur befugte Beamte das Gepäck durchsuchen. In Deutschland stand die Abfertigung von El Al 2009 in der Kritik, weil Schabak-Agenten auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld wiederholt Personenkontrollen außerhalb des Check-in-Bereichs vorgenommen haben, die in ihrer Art und Weise nur von deutschen Sicherheitsbehörden im Rahmen der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse durchgeführt werden dürfen. Im Juni 2011 verbot Dänemark israelischem Sicherheitspersonal, wofür El Al zuständig ist, das Tragen von Waffen und die Durchführung spezieller Personenkontrollen. Daraufhin stellte die israelische Luftfahrtgesellschaft Arkia Israeli Airlines den Flugbetrieb mit Dänemark ein. Der inoffiziellen Praxis, auf Wunsch von ultraorthodoxen jüdischen Männern Frauen umzuplatzieren, wurde nach einer Online-Petition 2014 und einem Boykottaufruf im Juni 2018 ein Ende gemacht. Passagiere, die sich weigern, neben anderen Fluggästen zu sitzen, müssen das Flugzeug nun verlassen. Solche Zwischenfälle hatten lange Verspätungen zur Folge. Flugziele El Al fliegt vom Flughafen Ben Gurion rund 35 Ziele an; diese befinden sich hauptsächlich in Europa. Des Weiteren werden Ziele in Afrika sowie in Nordamerika bedient. Im deutschsprachigen Raum werden Berlin, Frankfurt, Genf, München, Wien und Zürich angeflogen. Codesharing Codeshare-Abkommen unterhält El Al mit folgenden Fluggesellschaften: Flotte Aktuelle Flotte Mit Stand Januar 2023 besteht die Flotte der El Al aus 45 Flugzeugen mit einem Durchschnittsalter von 11,9 Jahren: Ehemalige Flugzeugtypen Zuvor wurden von El Al auch folgende Flugzeugtypen eingesetzt: Boeing 707 Boeing 720 Boeing 737-200 Boeing 737-700 Boeing 747-100 Boeing 747-200 Boeing 747-400 Boeing 747-400F Boeing 757-200 Boeing 767-200 Boeing 767-200ER Boeing 767-300ER Bristol Britannia Curtiss C-46 Commando Douglas DC-3 Douglas DC-4 Lockheed Constellation Zwischenfälle Flugunfälle Von 1949 bis Mai 2023 kam es bei El Al zu sechs Totalschäden von Flugzeugen. Bei drei davon kamen 103 Menschen ums Leben. Auszüge: Am 13. Juni 1949 wurde eine Douglas DC-3 der El Al (Luftfahrzeugkennzeichen 4X-unbekannt) bei der Landung in Kolunda (Israel) irreparabel beschädigt. Alle 10 Insassen, zwei Besatzungsmitglieder und 8 Passagiere, überlebten den Unfall. Am 5. Februar 1950 rutschte eine Douglas DC-4 (C-54A) der El Al (4X-ACD) während des Starts auf dem Flughafen Tel Aviv-Lod von der Startbahn und fing Feuer. Alle 50 Insassen überlebten den Vorfall. Am 24. November 1951 stürzte eine Douglas DC-4 der El Al (4X-ADN) auf einem Frachtflug von Rom mit Textilien an Bord kurz vor der Landung drei Kilometer nordöstlich des Flughafens Zürich in einen Wald. Es kamen sechs der sieben Besatzungsmitglieder zu Tode. Am 27. Juli 1955 wurde eine Lockheed L-149 Constellation (4X-AKC) auf dem Flug von Wien nach Tel Aviv von bulgarischen Kampfflugzeugen abgeschossen. Die El Al-Piloten dachten irrtümlich, sie wären über Skopje, doch die Navigationssysteme zeigten auf Grund eines Gewitters falsche Daten und das Flugzeug befand sich in Wirklichkeit über bulgarischem Staatsgebiet. Durch eine Explosion nach dem Abschuss zerbrach das Flugzeug und stürzte kurz hinter der Grenze nördlich von Petritsch ab. Alle sieben Besatzungsmitglieder und 51 Passagiere kamen ums Leben (siehe auch El-Al-Flug 402). Am 4. Oktober 1992 stürzte eine Boeing 747–200F der El Al (4X-AXG) auf dem Weg von New York über Amsterdam nach Tel Aviv nahe dem Flughafen Amsterdam Schiphol ab. Es kamen vier Besatzungsmitglieder und 39 Personen am Boden zu Tode. Im späteren Verlauf wurde bekannt, dass auch 240 Kilogramm der Chemikalie Dimethylmethylphosphonat (DMMP) an Bord des Flugzeuges waren. Diese Chemikalie wird vor allem als Flammschutzmittel und Kraftstoffadditiv verwendet, ist aber auch Ausgangsstoff bei der Erzeugung des Nervengases Sarin (siehe auch El-Al-Flug 1862). Attentate gegen El Al El Al war in ihrer Geschichte ein häufiges Ziel terroristischer Anschläge und Geiselnahmen, jedoch kam es seit 1985 zu keinem weiteren Vorfall. Am 23. Juli 1968 ereignete sich die erste und längste Entführung in der Geschichte der Luftfahrt und die einzige erfolgreiche Entführung in der Geschichte der El Al. Drei Mitglieder der Volksfront zur Befreiung Palästinas kaperten eine Boeing 707 mit 38 Passagieren und zehn Besatzungsmitgliedern auf dem Flug von Rom nach Lod. Die Entführer zwangen die Piloten zum Flug nach Algier in Algerien. Die letzten sieben Besatzungsmitglieder und fünf männliche Passagiere kamen 40 Tage später, am 1. September, gegen die Entlassung von 19 in Israel verurteilten Arabern frei. Am 26. Dezember 1968 war wieder die Volksfront zur Befreiung Palästinas für einen Anschlag auf ein El-Al-Flugzeug auf dem Flughafen Athen verantwortlich. Dabei kam ein israelischer Mechaniker ums Leben. Als Vergeltungsschlag von Seiten der israelischen Streitkräfte gilt der nächtliche Angriff am 28. Dezember auf dem Beiruter Flughafen (Libanon). Dabei wurden am Boden insgesamt 14 Flugzeuge zerstört, die den Fluggesellschaften Middle East Airlines, Trans Mediterranean Airways und Lebanese International Airways gehörten. Am 18. Februar 1969 griffen am Flughafen Zürich palästinensische Terroristen eine Boeing 720 an, wobei ein Pilot starb. Sicherheitsbeamte erschossen einen Attentäter, die drei anderen wurden verhaftet und in der Schweiz vor Gericht gestellt. Zur Freipressung der Gefangenen wurde später eine Maschine der Swissair entführt. Zwischen September und Dezember 1969 kam es zu Anschlägen auf Büros der El Al in Athen, West-Berlin und Brüssel. Am 10. Februar 1970 kam es bei einer Zwischenlandung eines El-Al-Linienfluges von München-Riem nach London zu einem Angriff palästinensischer Terroristen. Drei Attentäter drangen in den Transitraum des Flughafens ein. Nach erfolglosen Versuchen, die dort befindliche Crew und Passagiere zu überwältigen, zündeten sie zwei Handgranaten. Ein israelischer Fluggast wurde getötet und neun weitere Personen wurden teilweise schwer verletzt. Die Attentäter wurden im September in den arabischen Raum abgeschoben, ohne weiter strafverfolgt zu werden. Am 17. Februar 1970 fielen die drei Palästinenser (Ghana Tabr del Hey, William George und Haddi Hassan) wegen ihrer ausgebeulten Manteltaschen dem Flugkapitän einer jugoslawischen Maschine auf. Sie wurden daraufhin vom Bundesgrenzschutz verhaftet. Auch sie wollten eine El-Al-Maschine entführen. Am 6. September 1970 befand sich eine Boeing 707 mit dem Luftfahrzeugkennzeichen 4X-ATB auf dem Flug Tel Aviv–New York mit Zwischenlandung in Amsterdam. Nach dem Start vom Flughafen Amsterdam Schiphol kurz vor der Küste Englands versuchten die Palästinenserin Leila Chaled und ihr Komplize Patrick Argüello, das Flugzeug zu entführen. Während sich die Terroristen in Richtung Cockpit begaben, brachte der Pilot das Flugzeug zu einem plötzlichen starken Sinkflug, was die Folge hatte, dass die Terroristen stürzten. In dem darauf folgenden Handgemenge gelang es dem Komplizen, eine Handgranate zu werfen. Kurz darauf erschoss ein Flugsicherheitsbegleiter den Komplizen. Die Handgranate zündete nicht und Leila Chaled wurde überwältigt, so dass die Piloten sicher in London außerplanmäßig landeten. Die Attentäterin konnte dann der lokalen Polizei übergeben werden. Einigen Passagieren und Besatzungsmitgliedern gelang es, die Entführer zu überwältigen und in London der Polizei zu übergeben. Am 16. August 1972 explodierte eine Bombe, versteckt in einem mobilen Plattenspieler, im hinteren Gepäckraum einer Boeing 707 auf dem Flug Rom–Tel Aviv. Die Maschine konnte trotz eines Lochs im Rumpf sicher in Rom notlanden. Am 27. Dezember 1985 verübte ein palästinensisches Terrorkommando einen Anschlag auf dem Flughafen Wien-Schwechat. Drei Terroristen stürmten kurz nach neun Uhr über die östliche Treppe in die Abflughalle und rollten drei Handgranaten in die Passagierschlange, die an den Schaltern Drei und Vier auf die Abfertigung des El-Al-Flugs warteten. Anschließend schossen sie mit Maschinenpistolen um sich. Die Polizei erwiderte das Feuer. Bei dem Anschlag und dem anschließenden Feuergefecht starben zwei Menschen, 47 weitere wurden verletzt. Unter den Toten war auch einer der Attentäter, seine beiden Komplizen wurden nach einer Verfolgungsjagd auf der Autobahn von der Polizei gestellt. Gleichzeitig verübte eine zweite Terrorgruppe auf dem Flughafen Rom-Fiumicino einen ähnlichen Anschlag, dem 16 Menschen zum Opfer fielen und bei dem 67 verletzt wurden. Die Abu-Nidal-Organisation bekannte sich zu beiden Anschlägen. Am 17. April 1986 konnte man einen Anschlag auf dem Flug London–Tel Aviv verhindern, als eine Bombe im Gepäck der irischen Staatsbürgerin Anne Mary Murphy bei der Sicherheitskontrolle gefunden wurde. Es stellte sich heraus, dass diese von ihrem Verlobten Nezar Hindawi dort deponiert wurde. Es gab Hinweise, dass syrische Geheimagenten an dem geplanten Anschlag beteiligt waren; das Vereinigte Königreich beendete die diplomatischen Beziehungen mit Syrien. Am 4. Juli 2002 schoss Hesham Mohamed Hadayet, ein aus Ägypten stammender Mann, der 1992 in die USA migriert war und dort den Flüchtlingsstatus beantragt und erhalten hatte, auf sechs Israelis, die in einer Schlange vor dem Ticketschalter auf dem Los Angeles International Airport standen. Zwei von ihnen starben. Eine Sicherheitskraft der El Al erschoss Hadayet. Hadayet unterstützte anti-israelische Ansichten und war gegen die damalige Außenpolitik der USA im Nahen Osten. Das FBI klassifizierte den Anschlag, als einen der wenigen nach dem 11. September 2001 („9/11“), als terroristischen Anschlag. Service Matmid Das Vielfliegerprogramm Matmid existiert seit 2004, als die früheren Programme vereint wurden. Matmid beinhaltet fünf verschiedene Ränge: Matmid, Matmid Silver, Matmid Gold, Matmid Platinum und Matmid TOP Platinum. Die gesammelten Punkte können durch die Teilnehmer für Flüge und Hochstufung in eine bessere Kabinenklasse eingelöst werden, aber auch in Vergünstigungen bei der Miete von Autos, Übernachtungen oder beim Einkauf genutzt werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Punkte für einen guten Zweck zu spenden. Neben der Möglichkeit die Punkte auf den El-Al-Flügen zu sammeln, erhält man auch Punkte bei Partner-Fluggesellschaften, bestimmten Hotels und beim Einkauf mit einer speziellen Kreditkarte. Zu den Partnerfluggesellschaften gehören American Airlines (mit ihrer Regionaltochter American Eagle Airlines), South African Airways, Sun d’Or und Qantas. Auch auf Codeshare-Flügen der El Al und auf Flügen mit Aeroméxico nach Madrid, Miami, New York, Paris und Mexiko-Stadt können Passagiere Punkte für Matmid sammeln. King David Lounges Für Passagiere der höheren Kabinenklassen bietet El Al unter dem Namen King David Lounge auf den fünf Flughäfen Tel Aviv, Paris-Charles de Gaulle, New York City John F. Kennedy International Airport, London-Heathrow und Los Angeles Lounges an. Diese bieten Getränke, kleine Snacks, ausländische sowie israelische Zeitungen und Magazine und an manchen Orten drahtlosen Zugang zum Internet. Auf dem Ben Gurion Flughafen in Tel Aviv befindet sich die Lounge im Terminal 3 und besitzt einen gesonderten Bereich für Passagiere der ersten Klasse, welcher mit Telefon, Duschen und einem Spa-Bereich ausgestattet ist. Der Name King David leitet sich vom König David ab, dem zweiten König Israels. Siehe auch Liste von Fluggesellschaften Literatur Weblinks Webpräsenz der El Al (u. a. hebräisch, englisch, deutsch) Einzelnachweise Fluggesellschaft (Israel) Lod Gegründet 1948
194023
https://de.wikipedia.org/wiki/Pamir%20%28Schiff%29
Pamir (Schiff)
Die Pamir war eine 1905 für die Hamburger Reederei F. Laeisz gebaute Viermastbark (Viermastsegelschiff). Sie wurde traditionsgemäß auf einen mit „P“ beginnenden Namen getauft, auf den des zentralasiatischen Pamir-Gebirges und gehörte zu den wegen ihrer Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit berühmten Flying P-Linern. 1932 gewann sie die Weizenregatta, eine Wettfahrt von Großseglern auf Frachtfahrt von Australien nach Europa. 1949 umrundete die Pamir als letzter Windjammer ohne Hilfsmotor Kap Hoorn auf Frachtfahrt. In den 1950er Jahren wurde sie, ebenso wie die Passat, als frachtfahrendes Segelschulschiff für die deutsche Handelsschifffahrt eingesetzt. Die beiden Schiffe waren die letzten frachtfahrenden Großsegler Deutschlands und gehörten (mit der Omega) zu den letzten drei dieser Art weltweit. Die Pamir sank am 21. September 1957 in einem Hurrikan. Dabei kamen 80 der 86 Besatzungsmitglieder, unter ihnen viele jugendliche Kadetten, ums Leben. Der Untergang und die nachfolgende Rettungsaktion fanden große Beachtung in den internationalen Medien. Die Unglücksursache ist bis heute umstritten: Das Seeamt Lübeck entschied auf eine falsche Stauung der Gersteladung, die verspätete Reduzierung der Segelfläche im Sturm und einkommendes Wasser durch unverschlossene Schiffsöffnungen. Horst Willner, Anwalt des Eigners, der Stiftung Pamir und Passat, der Reederei Zerssen und ab dem Berufungsverfahren auch der Witwe des Kapitäns Diebitsch, die jedoch in der Seeamtsverhandlung alle nur auf gestellte Fragen antworten durften, argumentierte dort und in einem erstmals 1991 erschienenen Buch für ein Leckschlagen des Schiffes im Sturm. Otto Hebecker, der von der Reederei für die Verhandlung beauftragte Sachverständige, vertrat den Standpunkt, dass die Pamir im Sturm auf jeden Fall gesunken wäre, egal welche Sicherheitsmaßnahmen die Besatzung ergriffen hätte. Hebecker wurde jedoch vom Vorsitzenden Ekhard Luhmann, der andere Gutachter berief, nicht angehört. Der Verlust der Pamir führte zum Ende der Frachtfahrten mit Segelschulschiffen. Außerdem leitete das Unglück eine internationale Verschärfung der Sicherheitsvorschriften für Großsegler und Schulschiffe ein. Der letzte frachtfahrende Rahsegler, die Omega, ging nur neun Monate später ebenfalls unter. 1959 wurde die Passat außer Dienst gestellt. Die Schiffsgeschichte Stapellauf und Salpeterfahrten Die Pamir wurde von der Hamburger Werft Blohm & Voss unter Bau-Nr. 180 als Dreiinselschiff in Stahl gebaut (d. h.: der genietete Rumpf, die Decks und die Masten waren aus Stahl). Am 29. Juli 1905 lief sie nach der Schiffstaufe um 15 Uhr in Hamburg vom Stapel. Das Schiff maß damals 3.020 Bruttoregistertonnen, führte bis 4.000 Quadratmeter Segel und wurde am 14. September 1905 von der Reederei F. Laeisz in Dienst gestellt. Sie war die kleinste und stabilste der letzten acht für F. Laeisz gebauten Viermastbarken, die wegen ihrer ähnlichen Größe und Formgebung „Die acht Schwestern“ genannt wurden, obwohl streng genommen nur zwei Paare von echten Schwesterschiffen darunter waren (Peking und Passat sowie Pola und Priwall). Am 31. Oktober 1905 lief die Pamir unter Kapitän Carl Martin Prützmann, nachdem dieser auch den Bau überwachend begleitet hatte, aus dem Hamburger Hafen zu ihrer ersten Reise nach Südamerika aus. 1905–1906 absolvierte sie zwei Fahrten von Lizard Point nach Valparaiso in 70 bzw. 64 Tagen. Nach Prützmann übernahm von 1908 bis 1911 Heinrich Horn das Kommando über das Schiff. Neun Jahre lang wurde die Pamir auf Salpeterfahrten nach Nord-Chile (Südamerika) eingesetzt, auf denen sie den damals für Düngemittel und Pyrotechnik wichtigen Grundstoff Chilesalpeter nach Europa transportierte. In dieser Zeit umrundete sie achtzehnmal das wegen seiner extremen Wetterbedingungen gefürchtete Kap Hoorn. Die Mannschaftsstärke auf den Viermastbarken der Reederei Laeisz lag damals normalerweise bei 32 bis 34 Mann, doch wurde zumindest ein Fall bekannt, dass für die (allerdings etwas weniger gefürchtete) West-Ost-Umsegelung von Kap Hoorn nur 18 Mann zur Verfügung standen. Dem damals geäußerten Verlangen der Matrosen, die Mannschaft um eine Frau aufzustocken, entsprach der Schiffsführer indes nicht – die harte Arbeit im Rigg wurde als für das weibliche Geschlecht unzumutbar angesehen; zudem galt die Anwesenheit lediger Frauen als potentielle Gefahr für den Frieden an Bord. Von Mai 1911 bis März 1912 lief die Pamir unter dem Kommando von Robert Miethe, 1912–1913 unter Gustav A. H. H. Becker und dann bis 1914 unter Wilhelm Johann Ehlert. Erster Weltkrieg Nach bestandener Inspektion (Antwerpen, Anfang Februar) in See gegangen von Hamburg nach Valparaiso am 1. März und seit dem 17. Juli 1914 von Taltal in Chile aus heimwärts unterwegs, traf die Pamir am 1. September 1914 in Äquatorhöhe auf ein französisches Segelschiff, das mittels Flaggensignalen den Kriegszustand meldete. Erst am 15. September erfuhr die Pamir-Besatzung mehr von dem ihr im Nordatlantik auf 27° N, 32° W begegnenden deutschen Dampfer Macedonia, der, auf dem Weg von New Orleans Richtung Cadiz, sich zunächst als holländische Sommelsdijk II ausgegeben hatte. Da aufgrund der zu erwartenden Blockade des Ärmelkanals die Pamir mit ihrer Besatzung von 36 Mann nicht sicher nach Deutschland hätte zurückkehren können, führte Kapitän Jürgen Jürs das Schiff am 1. Oktober 1914 auf die Reede vor Santa Cruz auf der kanarischen Insel La Palma, wo man wieder mit der vom 15. Oktober bis 18. November dort ankernden Macedonia zusammentraf, die im Weiteren wegen ihrer von England nun als „kriegswichtig“ angesehenen Ladung (zur Versorgung der zum Hilfskreuzer umfunktionierten Kronprinz Wilhelm) noch einiges an diplomatischen Bewegungen verursachte. Nach Information von Zeitzeugen wurde der Pamir mit Einverständnis der Hafenverwaltung der geeignetste Ankerplatz zur Verfügung gestellt. Offizielles wurde unter Hinzuziehung eines Dolmetschers ausgehandelt, der Kontaktmann zum Deutschen Afrika-Dienst und Angestellter des vor Ort gewählten Schiffsagenten war. Das Ende des Krieges sollte in Gewässern des seit dem 7. August neutralen Spanien abgewartet werden. Im Laufe der folgenden sechs Jahre entwickelte sich, ungeachtet gewisser Spannungen kurz vor Kriegsende, ein herzliches Verhältnis zur ansässigen Bevölkerung. Zwei der Besatzungsmitglieder heirateten denn auch während des Aufenthaltes Frauen aus La Palma. Das Andenken an Schiff und Mannschaft wird in La Palma bis heute wachgehalten: Im Archivo General de La Palma sind Fotos von der Zeit des Aufenthaltes zu finden, in der Hemerothek der Real Sociedad Cosmológica werden lokale Presseberichte dazu aufbewahrt, und im Marinemuseum Santa Cruz de la Palma (Museo Naval) sind sowohl Fotos als auch Erinnerungsstücke ausgestellt. Der Dichter (und spätere kommunistische Politiker) José Miguel Pérez (1896–1936) schrieb über das Schiff ein Gedicht, das im Januar 1919, kurz nach Kriegsende, in der örtlichen Zeitschrift Verdún abgedruckt wurde. Wo am südlichen Ende der Stadt die Straße ins Hafengelände führt, liegt noch heute ein Anker mit zwei Schäkeln, den die Mannschaft Anfang März 1918 vom Meeresgrund geborgen hatte. Zum 60. Jahrestag des Untergangs der Pamir wurde am 19. September 2017 in der Empfangshalle des Hafengebäudes eine Gedenktafel enthüllt. Zwischen den Weltkriegen Erst 1920 erlaubten die Siegermächte, dass die Pamir den noch immer geladenen Salpeter nach Hamburg transportierte, bevor sie als Reparationsleistung an Italien abgetreten werden sollte. Von der Mannschaft vor Beginn des Krieges waren allerdings nur 17 Seeleute übrig, (vgl. und ), und die Schiffsausrüstung benötigte dringend eine Instandsetzung. Die Pamir verließ Santa Cruz de La Palma am 4. März 1920 nach einem Abschiedsfest mit Honoratioren im Hotel Cuba in Richtung Santa Cruz de Tenerife auf Teneriffa, wo sie am 6. März 1920 eintraf. Mit erneuertem Material und verstärkter Mannschaft, darunter mehreren Seeleuten aus La Palma und Teneriffa, trat das Schiff, zur Reise nunmehr abgefertigt vom deutschen Konsul Jacob Ahlers, schließlich am 10. März 1920 die Weiterfahrt an und erreichte Hamburg am 10. April 1920. Schon am 22. April fand die seeamtliche Verhandlung des Todes zweier Matrosen (H. Madsen und A. Grymel) statt, die auf dem Hinweg von Hamburg nach Chile über Bord gegangen waren. Kapitän Jürs ließ es sich dann später im August, während der ersten Reise der Priwall (begonnen am 24. Juli 1920 mit 200 Mann nach Chile, um für die dort internierten und rückzuführenden Laeisz-Segler Mannschaften bereitzustellen) nicht nehmen, La Palma mit einem Gruß zu ehren. Die Pamir wurde nach Löschen der Ladung und den darauf folgenden Reparaturarbeiten in „Stülckens Dock“ an Italien ausgeliefert. Zwischen dem 5. und dem 7. Juli 1921 verließ sie ihren Liegeplatz in Hamburg. Angeblich soll sie von Schleppern via Rotterdam weiter ins Mittelmeer gezogen und dann vor Castellammare di Stabia aufgelegt worden sein, was jedoch bisher nicht dokumentarisch belegt ist. Im November 1923 gelang es der Reederei F. Laeisz auch, nachdem sie zwischenzeitlich schon die Peiho, Parma, Passat, Pinnas und die Peking für Beträge zwischen 3.000 und 13.000 Pfund Sterling wieder in Besitz gebracht hatte, die Pamir für nur 7.000 £ zurückzuerwerben. Nachdem sie von Ende 1918 bis Februar 1924 nicht mehr in Lloyd’s Register geführt war, verließ die Viermastbark den Hafen von Genua am 29. Februar und erreichte am 26. März 1924 unter Ballast wieder ihren Heimathafen Hamburg. Nach den entsprechenden Reparaturen wurde sie ab 12. Mai erneut im Salpetertransport zwischen Chile und Europa eingesetzt. Auf der zweiten Reise nach dem Krieg geriet die Pamir am 20. Dezember 1925 von Hamburg kommend bei einem schweren Wintersturm im Ärmelkanal in arge Bedrängnis. Bei auflandigem Wind musste sie sich von Land freikreuzen und nach Verlust von drei Mann, beiden Ankern und zahlreichen Segeln am 7. Januar 1926 Falmouth als Nothafen anlaufen. 1927 erhielt sie noch die Genehmigung für die Nutzung der Innenkammern als Mannschaftslogis. Auch im Januar 1929, als das Schiff querab von Folkestone ankern musste, brachen die Ankerketten, und in orkanartigen Böen kämpfte es sich schließlich unter großen Mühen von Land frei und lief dann Rotterdam an. Als die Salpeterfahrten durch die Möglichkeit, Kaliumnitrat (mittels Haber-Bosch- sowie Ostwald-Verfahren) für Stickstoffdünger und Sprengstoff in Europa selbst zu produzieren, zunehmend unrentabel wurden, war auch das Ende der großen Segelschiffe in diesem Geschäft gekommen, und so löschte die Pamir 1931 im französischen Bordeaux ihre letzte Salpeterladung und traf anschließend am 28. Juli unter Ballast im Hamburger Hafen ein. Für 60.000 Reichsmark wurde die Pamir danach an den Reeder Gustaf Erikson aus dem finnischen Mariehamn (Ålandinseln) verkauft und ging am 6. November 1931 in dessen Besitz über. Der Finne gehörte zu den letzten großen Segelschiffsreedern und schaffte es aufgrund extrem knapper Kalkulation, seine Frachtsegler noch rentabel zu betreiben. Die Funkanlage wurde ausgebaut, das sparte die Kosten für den Funker. Da die Versicherungsprämien pro Jahr dem Kaufpreis von ein bis zwei Schiffen entsprochen hätten, fuhren die Schiffe denn auch in vielen Fällen unversichert. Am 20. November 1931 verließ die Pamir unter finnischer Flagge den Hamburger Hafen mit Kurs auf Australien, um hier eine Weizenladung zu übernehmen und sie nach Europa zu transportieren. 1932 gewann die Pamir die Weizenregatta, eine Wettfahrt von Großseglern auf Frachtfahrt von Australien nach Europa. Nach mehreren weiteren Weizentransporten und Teilnahme an insgesamt sieben Weizenregatten wurde sie ab 1937 für Transporte von Guano und Nickelerz, Wolle, Kohle und anderen Ladungen eingesetzt. Zweiter Weltkrieg Im Jahr 1939 griff die Sowjetunion Finnland an und verhängte eine Blockade über die finnischen Gewässer, woraufhin die Pamir in Göteborg (Schweden) aufgelegt wurde. Unmittelbar nach Finnlands Waffenstillstand mit der Sowjetunion am 14. März 1940 konnte das Schiff wieder in Fahrt gebracht werden. Es segelte für einen Charter unter Ballast nach Bahía Blanca in Argentinien, doch bei der Ankunft dort war der Auftrag widerrechtlich aufgehoben worden. Die Pamir lag daraufhin vor dem Hafen von Bahía Blanca auf Reede, um danach erneut zwei Guanotransporte zwischen den Seychellen im Indischen Ozean und Neuseeland durchzuführen. Nach dem Kriegseintritt Finnlands auf Seiten des Deutschen Reichs Anfang 1941 beschlagnahmte Großbritannien alle finnischen Schiffe in seinen Hoheitsgewässern und bat auch Neuseeland um ein entsprechendes Vorgehen. Am 3. August 1941 wurde die damals von Kapitän Verner Björkfelt geführte Pamir daraufhin im Hafen von Wellington (Neuseeland) von einem neuseeländischen Zollbeamten als Prise beschlagnahmt. Von nun an segelte die Bark unter neuseeländischer Flagge und wurde während des Krieges zu einer Art „maritimem Maskottchen“ des Landes. Das Heck des Schiffes trug in dieser Zeit weiterhin den Schriftzug Mariehamn, den Namen seines letzten Heimathafens. Im Februar 1942 kam eine neuseeländische Besatzung an Bord, allerdings blieben auch einige der Besatzungsmitglieder aus Finnland und von den Ålandinseln in den folgenden Jahren dabei. Am 30. März 1942 verließ die Pamir den Hafen von Wellington, um für die Reederei Union Steam Ship Company of New Zealand Transporte zwischen Neuseeland und den USA durchzuführen. Auf insgesamt neun Fahrten, die die Pamir auf dieser Route unternahm, fuhr sie jeweils 30.000 Pfund Sterling Gewinn ein. Neben dem Transportgeschäft diente sie – wie auch schon unter finnischer Flagge – zur Ausbildung des Seemannsnachwuchses. Auf einer Fahrt von Wellington nach San Francisco begegnete die Pamir am 12. November 1944 zwischen Hawaii und der Westküste der USA auf Position einem U-Boot, das zunächst gerade auf den Windjammer zuhielt. Weder U-Boot noch Großsegler zeigten ihre Nationalität, wodurch unklar war, ob es sich um einen Feind handelte. Die unbewaffnete Pamir bot ein leichtes Ziel, und die Besatzung machte bereits die Rettungsboote klar. Der damalige Kapitän, Roy Champion, wollte wenigstens versuchen, das U-Boot durch einen Kurswechsel zu rammen, wenn es noch etwas näher gekommen wäre. Doch in zwei Meilen Entfernung drehte es ab und verschwand. Ungeklärt blieb, warum es weder das Feuer eröffnete noch freundlichen Kontakt aufnahm, zumal laut US-Angaben kein amerikanisches U-Boot zu diesem Zeitpunkt in dem Gebiet war – das könnte auf ein U-Boot unter der Flagge Japans schließen lassen, mit dem sich Neuseeland im Kriegszustand befand. Einer der Erklärungsversuche geht dahin, dass das U-Boot unvorbereitet gewesen sei – immerhin ist ein unmotorisiertes Segelschiff von einem Sonar kaum zu entdecken. Vielleicht waren die Torpedos nicht gefechtsbereit gewesen und übergehende See hätte den Gebrauch eines Deckgeschützes verhindert. Eine andere Möglichkeit ist, dass der U-Boot-Kommandant den Windjammer freiwillig ziehen ließ. Das U-Boot wird dabei zum Teil als die japanische I-12 unter dem Korvettenkapitän Kudo Kaneo (工藤兼男) identifiziert, der selbst Kadett auf einem Segelschulschiff gewesen war. Zumindest könnte dies erklären, warum die Begebenheit von japanischer Seite nie bestätigt werden konnte, da Kudo und I-12 von dieser Reise nicht mehr zurückkehrten. Nach dem Zweiten Weltkrieg Auch nach Beendigung des Krieges wurden die Transportfahrten weiter fortgesetzt, obwohl der Reeder Gustaf Erikson seine Ansprüche auf das Schiff geltend machte. Im Jahr 1947 war die Pamir im Hafen von Sydney als ältestes Schiff das Flaggschiff der Regatta, die zum 111. Geburtstag des australischen Bundesstaates New South Wales veranstaltet wurde. Aufgrund des immer größeren Konkurrenzdrucks war es zu dieser Zeit kaum noch möglich, kostendeckende Transportaufträge für das Schiff zu finden. Da erreichte das Schiff ein Auftrag, eine Ladung Wolle nach London zu bringen und so brachte erstmals seit einem Vierteljahrhundert wieder ein Großsegler Wolle aus Neuseeland um Kap Hoorn nach Europa. Beim Einlaufen in britische Gewässer (Dezember 1947) erlebte die Pamir einen triumphalen Empfang. In London kamen am 3. März 1948 sogar Prinzessin Elisabeth, die spätere Königin Elisabeth II. und ihr Ehemann Philip, Duke of Edinburgh, an Bord. Am 20. April 1948 verließ die Pamir London wieder und segelte am 1. Mai 1948 von Antwerpen ab, um schließlich am 18. August 1948 den Hafen von Auckland zu erreichen, nachdem sie einmal die Erde umrundet hatte. Es war die zehnte und letzte Reise der Pamir unter neuseeländischer Flagge. Am 27. September 1948 gab der neuseeländische Ministerpräsident Peter Fraser bekannt, dass der Segler an die Reederei des 1947 verstorbenen Erikson zurückgegeben werde. Offiziell sollte Neuseeland damit einen Teil der Tonnageverluste ausgleichen, die Finnland im Krieg erlitten hatte. Nochmals finnische Flagge, „Rat Ship“, nach Belgien Am 12. November 1948 wurde die Pamir feierlich wieder unter finnische Flagge und Kommando von Kapitän Verner Björkfelt gestellt, der sie bis zur Prisennahme geführt hatte und jetzt wieder nach Europa zurücksegeln sollte. Trotz der schwierigen Zeiten für Segelfrachtschiffe gelang es der Reederei, noch einmal einen Auftrag für eine Getreideladung nach Europa zu bekommen. Die Pamir verließ Wellington unter Ballast am 31. Januar 1949 Richtung Port Victoria, wo sie am 6. März zwei Meilen von Land in der Bucht vor Anker ging. Nachdem der Ballast entladen war, gab die Inspektion das Schiff zur Beladung mit Gerste in Säcken frei, woraufhin die Pamir ebenso wie die auch der Reederei Erikson gehörende Passat ihre Fracht für eine Brennerei in Schottland übernahmen. Mit dem Auslaufen der Pamir am 28. Mai begann die letzte Weizenregatta, wobei sie bald in einen Sturm geriet und von der Passat überholt wurde. Am 11. Juli 1949 um 1:00 Uhr nachts umrundete die Pamir, beladen mit 60.000 Sack, zum 36. Mal Kap Hoorn und war damit der letzte Windjammer ohne Hilfsmotor, der das Kap auf Frachtfahrt umfuhr (sog. Kap Hoornier). Am 2. Oktober 1949 erreichte sie Falmouth, das sie am 5. Oktober dann Richtung Penarth (Wales) verließ, wo sie schließlich am 7. Oktober eintraf und sodann für sechs Monate vom britischen Ernährungsministerium als Getreidedepot genutzt wurde. Am 4. April 1950 wurde sie zwecks Entladen zu den „Rank Mills“ im nahegelegenen Barry Docks verlegt, nachdem die zuständigen Inspektoren in Penarth Ratten an Bord vermutet hatten. Auf der Passat war beim Löschen der Ladung nur eine einzige Ratte an Bord gefunden worden. Am 18. April wurden schließlich erstmals die Ladeluken der Pamir geöffnet, aber wegen der großen Anzahl von Ratten direkt wieder verschlossen. Während des bis zum 9. Mai dauernden Leerens wurden alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, damit die Ratten nicht auf die Docks kamen. Mit Schaufeln, Hunden und auch freiwilligen Helfern wurden sie nun bekämpft; nach drei Wochen waren so exakt 4501 erwachsene Tiere erlegt. Durch anschließendes Vergasen mit Blausäure wurden weitere 3395 zur Strecke gebracht, insgesamt also 7896 – Hunderte von Nestern mit Jungtieren nicht gerechnet. Penarth war danach die letzte Station dieser Reise. Für die Reederei Erikson lohnte sich der Betrieb beider Schiffe nicht mehr. Im Dezember 1950 wurde die Pamir ebenso wie die bauähnliche Passat, die die letzte Wettfahrt für sich hatte entscheiden können, für je 20.000 Pfund an belgische Abwracker (Werft Van Loo, Antwerpen) verkauft. Wieder unter deutscher Flagge In Deutschland warb vor allem Kapitän Helmut Grubbe, der selbst einmal auf der Pamir gefahren war, mittlerweile dafür, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Segelschulschiffe einzusetzen. Er konnte den Lübecker Reeder Heinz Schliewen für die Idee gewinnen, die traditionsreichen Großsegler Pamir und Passat zu erhalten und auf ihnen zugleich angehende Schiffsoffiziere auszubilden. Schliewen kaufte die beiden Schiffe am 1. Juni 1951 für 1,2 Millionen DM von den belgischen Abwrackern und holte sie nach Travemünde, wo sie am 10. Juni eintrafen. Kapitän Grubbe wurde bei der Reederei zum „Inspekteur für Segelfahrt“. Das Bundesverkehrsministerium hatte indes einen „Arbeitsausschuss Segelschulschiffe“ gegründet, der für den Betrieb der beiden Viermastbarken zeitgemäße Sicherheitsgrundsätze ausarbeitete. Mit Unterstützung der Bundesregierung wurden umfangreiche Umbauarbeiten durchgeführt, die in erster Linie dem sicheren Betrieb der Schiffe dienen sollten. So wurden für die Reederei Breyer & Co (im Alleinbesitz von H. Schliewen) unter anderem eine Antriebsmaschine eingebaut, um die Manövrierfähigkeit zu verbessern, eine zeitgemäße Funkanlage installiert und außerdem mehr Platz für Unterkünfte geschaffen. Am 15. Dezember 1951 fanden die ersten Probefahrten statt. Am 10. Januar 1952 legte die Pamir von Hamburg zu ihrer ersten Reise – mit dem Ziel Ostküste Südamerikas – ab. Im Atlantik versagte allerdings die Maschine, so dass die Pamir die Reise allein unter Segeln fortsetzen musste. Schon nach ihrer zweiten Südamerikareise stand die Pamir im September 1952, zusammen mit der Passat, in Hamburg zum Verkauf. Im Februar 1953 meldete die Reederei Schliewen Konkurs an. Im April 1954 wurden beide Segler an den Hauptgläubiger, die Landesbank und Girozentrale Schleswig-Holstein, übereignet. Inzwischen hatten sich aber 40 deutsche Reeder zu einem Konsortium zusammengefunden, das auch weiterhin die Ausbildung auf Segelschiffen ermöglichen wollte und daher als Stiftung Pamir und Passat im Dezember 1954 beide Schiffe für zusammen 650.000 DM erwarb. Nach einer erneuten Überholung lief die Pamir am 11. Februar 1955 aus dem Hamburger Hafen aus und wurde wieder für Südamerikafahrten eingesetzt. Auf fünf Fahrten unter Kapitän Herrmann Eggers transportierte sie Gerste von Buenos Aires nach Hamburg und diente zugleich als Segelschulschiff. Sie war in dieser Zeit unter Seekadetten beliebter als die Passat. Die Ausbildung wurde zum Teil über die Frachten-Treuhand-Gesellschaft mit Getreidekäufen für Deutschland finanziert. Partner auf argentinischer Seite waren die Schiffsmakler der Agencia Marítima Sudocean, die, gegründet 1952 durch Albert von Appen, nun unter Leitung von Herbert Huthoff und Thilo Martens auch für die Kontakte der Mannschaften zur einheimischen Bevölkerung sorgten. Anfang 1956 lud die Pamir in Antwerpen für eine ihrer Fahrten 2.500 Tonnen Methanol in Fässern. Noch vor Anker wurden die oberen Rahen abgenommen und auf Deck gestaut, um die Stabilität (d. h. das Aufrichtungsvermögen) des Schiffes zu verbessern. Auf See verursachte das geringe Gewicht der Fässer wegen des fehlenden Ballastes bereits im Ärmelkanal ungewöhnlich Schlagseite, woraufhin Kapitän Eggers entschied, die Pamir unter Motor ins englische Falmouth, den nächstgelegenen Hafen, einlaufen zu lassen. Dort wurde durch Krängungsversuche bestätigt, dass die Stabilität des Schiffes stark beeinträchtigt war. Ein Teil der Fässer wurde daraufhin zurückgelassen und durch Ballast ersetzt; die Fracht wurde wenig später von der Passat aufgenommen, die zum gleichen Bestimmungsort fuhr. Im Mai 1956 war die Pamir wieder zu Gast in Santa Cruz de Tenerife, wo sie auch Besuch von Nachfahren der im Ersten Weltkrieg auf der Nachbarinsel La Palma verbliebenen Besatzungsmitglieder erhielt. Aus dem versprochenen Wiedersehen im nächsten Jahr dort sollte jedoch nichts mehr werden. Als Eggers 1957 aus gesundheitlichen Gründen die Pamir nicht weiter führen konnte, übernahm Kapitän Johannes Diebitsch das Kommando. Als junger Seemann war Diebitsch bereits kurz auf dem Schiff gesegelt, bis es im Ersten Weltkrieg vor La Palma vor Anker ging. Später hatte Diebitsch jahrelang auf Segelschiffen gearbeitet, unter anderem als Erster Offizier der Deutschland, des Segelschulschiffs der Reichsmarine und zu Beginn der 1950er Jahre (am 10. Oktober 1953 in Teneriffa) als Kapitän der Xarifa, einem Dreimast-Topsegelschoner des österreichischen Tauchpioniers und Unterwasserfilmers Hans Hass. Das Kapitänspatent besaß Diebitsch seit 1925. 1941 überlebte er den Untergang des Hilfskreuzers Kormoran und geriet als Prisenoffizier in australische Gefangenschaft. Die sechste Reise der Pamir unter Eignerschaft der Stiftung führte ab dem 1. Juni 1957 unter Ballast wieder nach Buenos Aires. Dabei wurde 346 Stunden lang der Hilfsmotor eingesetzt, um die Geschwindigkeit zu erhöhen, so dass die Fahrt insgesamt nur 25 Tage dauerte. Im gleichen Jahr noch entstanden bei den Dreharbeiten zum Cinemiracle-Film Windjammer von Bord des norwegischen Schulschiffes Christian Radich aus die letzten Filmaufnahmen der Pamir. Der Untergang Geschehensablauf Am 11. August 1957 kurz nach 15 Uhr begann die Pamir unter Kapitän Diebitsch mit einer – zu mehr als 90 % lose gestauten – Ladung Gerste die Rückreise aus Buenos Aires mit Ziel Hamburg. Die Schiffsroute folgte dem üblichen S-förmigen Kurs über den Atlantik, der für Windjammer aufgrund der Passatwinde schneller als eine direkte Route ist. Am 21. September 1957 geriet die Pamir etwa 600 Seemeilen (ca. 1.100 km) westsüdwestlich der Azoren in den Hurrikan Carrie, der sich nach dreifacher Richtungsänderung in den vorhergehenden Tagen plötzlich direkt aus westlicher Richtung auf die Pamir zubewegte. Noch bevor genügend Segel geborgen waren, erreichte der Hurrikan gegen 09:30 Uhr Ortszeit (12:30 Uhr Greenwich-Zeit/GMT) das Schiff. Der Wind nahm so stark zu, dass einige Segel rissen und die übrigen von der Stammbesatzung nur noch von den Rahen abgeschnitten („geschlachtet“) wurden. Um 10:36 Uhr gab Funkoffizier Wilhelm Siemers von der Position mit den Koordinaten eine Dringlichkeitsmeldung, in der er andere Schiffe um ihre Positionsangabe bat. Die Pamir hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ca. 30° Schlagseite nach Backbord („links“) und trieb ohne Segel im Sturm. Um 11:00 Uhr setzte die Pamir ihren ersten SOS-Ruf ab. Weil alle Funksprüche auf Englisch abgegeben wurden, identifizierte sich die Pamir als „fourmast bark“ (dt.: Viermastbark). Das wurde mindestens einmal als „foremast broken“ (dt.: Fockmast gebrochen) missverstanden und führte zu irrtümlichen Darstellungen, denen zufolge einer oder gar mehrere Masten gebrochen seien. Tatsächlich aber standen diese auf der Pamir bis zuletzt. Die Meldung wurde vier Minuten später erneut gesendet. Währenddessen gingen bei Windgeschwindigkeiten von bis zu 130 km/h die Wellen 12 bis 14 Meter hoch. Der Kapitän ordnete an, Schwimmwesten anzulegen. Die Schräglage der Pamir erreichte 45°, so dass die Rahnocken (Rah-Enden) wiederholt in die hochgehende See eintauchten. Nach einer Funkpause bat die Pamir um 11:54 Uhr in ihrem nächsten SOS-Ruf um Eile und drei Minuten später funkte sie: „Now speed, ship is making water, danger of sinking“. Gegen 12 Uhr Bordzeit kenterte die Pamir: Für etwa eine halbe Minute lag sie flach im Wasser. Um 12:03 Uhr wurde der letzte, nicht mehr dechiffrierbare Notruf gesendet. Danach kenterte sie weiter und schwamm noch ca. 20 bis 30 Minuten kieloben, bevor sie sank. Vorher war es aufgrund der Schlagseite nicht mehr möglich gewesen, Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Nur drei beschädigte Rettungsboote, die sich vor oder während des Kenterns losgerissen hatten, trieben in der aufgewühlten See. Es gelang zunächst mindestens 30 Besatzungsmitgliedern, sich in zwei der Boote zu retten. Überlebende berichteten später von Leuchtsignalen, so dass möglicherweise noch ein drittes Boot bemannt worden war. Aufgrund ihrer Schäden hatten die zwei bezeugten Boote bereits Teile ihres Proviants und Trinkwassers verloren, bevor die Schiffbrüchigen sie erreichten. Die verbliebenen Vorräte gingen in den nächsten Stunden großenteils verloren, als die Boote aufgrund ihrer Schäden und der schweren See wiederholt kenterten. An Bord gab es keine trockenen – d. h. funktionierenden – Seenotraketen. In der Folge lief unter großem internationalem Medieninteresse die umfangreichste Suchaktion an, die es bis dahin zur Rettung von Schiffbrüchigen gegeben hatte: 78 Schiffe aus 13 Ländern suchten sieben Tage lang nach den Vermissten. Ab dem Mittag des zweiten Tages, nachdem der Hurrikan in der Unglücksgegend ausreichend abgeflaut war, unterstützten elf Flugzeuge während insgesamt 550 Flugstunden die Suche. Am 23. September um 05:38 Uhr wurde vom New Yorker Dampfschiff Saxon eines der schwer beschädigten Rettungsboote mit fünf Überlebenden gefunden. Sie wurden später von dem US-Truppentransporter Geiger übernommen und über Casablanca von einer US-amerikanischen Militärmaschine nach Hamburg (Ankunft am 29. September) gebracht. Am 24. September um 13:41 Uhr fand die Absecon, ein Schiff der US-Küstenwache, einen weiteren Überlebenden auf der Reling eines ebenfalls schwer beschädigten, vollgelaufenen Rettungsbootes. Noch 24 Stunden vorher waren nach seinem Bericht in dem Boot mehr als zehn Personen am Leben gewesen. Nach der Rettung des einen Überlebenden wurde aufgrund des Hörfehlers eines Funkers am Abend in Deutschland vorübergehend von 45 und sogar 71 Geretteten berichtet, bevor das Missverständnis aufgeklärt wurde. Ein drittes Rettungsboot wurde, ebenfalls stark beschädigt, unbemannt gefunden. Am 25. September wurden in einem Gebiet mit fünf Seemeilen Durchmesser eine Vielzahl von Wrackteilen sowie zusammengebundene Schwimmwesten entdeckt. Laut der späteren Untersuchungen wurden in zwei der Westen noch „Spuren von menschlichen Körpern gefunden (...). Viele Haie wurden gesichtet.“ Insgesamt kamen 80 der 86 Besatzungsmitglieder der Pamir ums Leben, darunter alle Offiziere und der Kapitän. Die sechs Überlebenden waren ein Kochsmaat, drei Leichtmatrosen und zwei Decksjungen. 51 der 86 Besatzungsmitglieder waren Kadetten, insgesamt 45 Besatzungsmitglieder waren zwischen 16 und 18 Jahre alt. Die Pamir wurde am 17. Mai 1958 aus dem Lübecker Schiffsregister gelöscht. Ursachen des Untergangs Obwohl von der Schiffsleitung niemand überlebte und damit keiner direkt für seemännisches Verschulden belangt werden konnte, wurde der Pamir-Untergang so eingehend untersucht wie nur wenige andere Seeunfälle. Die Aufarbeitung übernahm, wie in solchen Fällen üblich, das zuständige Seeamt. In der Folge wurde an dessen Spruch allerdings Kritik laut, die vor allem durch den Anwalt der Reederei der Pamir und der Stiftung Pamir und Passat vorgebracht wurde; dem Anwalt wiederum wurde mangelnde Objektivität vorgeworfen. Grundlage der Kontroverse ist vor allem, dass das Seeamt und die Befürworter seines Spruches im Rahmen der Aufarbeitung Entscheidungen der Schiffsführung in Zweifel gezogen haben. Kritiker sehen darin eine Anschuldigung gegen die Schiffsführung, von der niemand überlebt hat und sich daher auch niemand verteidigen konnte; Beschuldigungen seien damit eine Beschmutzung der Ehre der Verstorbenen und außerdem im konkreten Fall nicht gerechtfertigt, da das Seeamt Fakten übersehen oder nicht ausreichend beachtet habe. Der Spruch des Seeamtes Lübeck Vom 6. Januar bis 10. Januar 1958 und vom 14. Januar bis 20. Januar 1958 fand in einer öffentlichen Sitzung des Seeamtes Lübeck die mündliche Verhandlung zum Untergang der Pamir statt. Neben dem Vorsitzenden, Amtsgerichtsrat Ekhard Luhmann, waren vier Kapitäne als Beisitzer und mit dem Kapitän zur See a. D. Friedrich-Karl Wesemann der Bundesbeauftragte für das Seeamt für die Verhandlung eingesetzt. Unterstützt wurde dieses Gremium durch einen Schriftführer. Die sechs Überlebenden wurden als Zeugen befragt. In seiner schriftlichen Begründung des in der öffentlichen Verhandlung ergangenen Seeamtsspruches zum Untergang der Pamir gab der Vorsitzende Luhmann mehrere Gründe dafür an, warum das Schiff nach Ansicht des Gerichts den Sturm nicht überstehen konnte: Die Ladung hatte nicht festgelegen, der Tieftank war nicht geflutet, es waren nicht kleinste Segel gesetzt und die Aufbauten nicht ausreichend gegen das Eindringen von Wasser geschützt gewesen. Hauptursache des Untergangs der Pamir war nach dem Spruch des Seeamtes Lübeck die falsche Lagerung der geladenen 3.780 Tonnen Gerste. Anstelle der traditionell üblichen Stauung in Säcken war die Gerste fast vollständig lose gelagert worden, was gefährlich sein kann, da Gerste von allen Getreidearten die höchste Fließgeschwindigkeit hat (d. h. sie verrutscht am leichtesten). 254 Tonnen Gerste waren in Säcken geladen und in fünf Lagen auf die lose Gerste gestaut worden, um ein Verrutschen zu verhindern. Das entsprach den damaligen Vorschriften für Motorschiffe, die auch für die Pamir und Passat angewendet worden waren. Bis wenige Jahre zuvor waren Segelschiffe allerdings nie mit Schüttgut beladen worden. Erst 1952 hatte unter Schliewen die Beladung mit losem Getreide begonnen, und damals wurde das lose Getreide zudem noch mit größeren Mengen Sackgut beschwert als 1957. Beispielsweise beschrieb Kapitän Niels Jannasch, der die unter den gleichen Eigentümern fahrende Passat 1948–49 auf dem letzten Weizentransport von Australien und 1952 auf der ersten Fahrt nach Südamerika kommandierte, dass das Schüttgut 1952 noch mit bis zu 20 Lagen Getreidesäcken beschwert wurde – also etwa dem Vierfachen der Sackschichten auf der letzten Fahrt der Pamir. Pamir und Passat verfügten allerdings über ein Längsschott, das durch das ganze Schiff verlief und ein Verrutschen der Ladung von einer auf die andere Schiffsseite verhindern sollte. Andererseits wurde zumindest auf der Passat später festgestellt, dass das Längsschott nicht absolut dicht war; im Laufe einer Seereise konnte also loses Getreide durchsickern. Aufgrund eines Streiks der Hafenarbeiter – einschließlich der Stauer – in Buenos Aires hatte die Pamir-Besatzung die Gerste selbst, nur unterstützt von nicht fachkundigen argentinischen Soldaten, verladen müssen. Im Ladebericht wurde zwar festgehalten, dass die Ladung „seefest verstaut“ und die Getreideschotten vorschriftsmäßig gesetzt worden seien; aufgrund der Reaktion der Pamir auf die Ladung kritisierte jedoch der Zweite Offizier Buschmann, der als Ladungsoffizier für die Beaufsichtigung des Stauens zuständig war, dass ein Dampfschiff „so nicht auslaufen“ würde. Im Sturm verschob sich die Ladung so, dass sich das Schiff auch nach der Verringerung der Segelfläche nicht mehr aufrichten konnte. Auch waren die Tieftanks, als Stabilitätsreserve für ein Fluten bei Sturm vorgesehen, ebenfalls mit Gerste beladen. Unklar blieb, warum sie nicht trotzdem zusätzlich im Sturm geflutet wurden. Sehr spät wurde die Segelfläche verringert: Bei Windstärke 9 und 10 lief die Pamir noch unter einem Drittel ihrer Segelfläche. Ein möglicher Grund war, dass der Kapitän durch zusätzliche Geschwindigkeit dem Auge des Hurrikans zu entkommen versuchte. Allerdings blieben auch Schiffsöffnungen im Sturm unverschlossen, wodurch überkommendes Wasser eindringen konnte und die Schlagseite noch erhöhte. Es wurde vom Seeamt daher die Möglichkeit erörtert, dass die Schiffsführung sich nicht fortwährend über die Großwetterlage informiert und damit vom Hurrikan Carrie zu spät erfahren habe. Tatsächlich gaben aufgrund der häufigen und starken Richtungswechsel von Carrie nicht alle Wettervorhersagen bereits frühzeitig und kontinuierlich Hurrikanwarnungen heraus. Warnungen für ihr Fahrtgebiet hätte die Pamir ein bis zwei Tage vor dem Durchzug von Carrie empfangen können. Vor allem aufgrund des zu dieser Zeit gewählten Kurses der Pamir, der späten Reduzierung der Segelfläche und unverschlossener Schiffsöffnungen wurde die Frage aufgeworfen, ob die Schiffsführung tatsächlich bereits die frühen Hurrikanwarnungen erhalten hatte. Da nur Besatzungsmitglieder niedrigeren Ranges überlebten, ließ sich das nicht mehr feststellen. Die niederen Mannschaftsgrade sowie die Kombüse, die auf einen Sturm besonders vorbereitet sein müssen, waren dies jedenfalls nicht. Der Kurs der Pamir sowohl vor Eintreffen des Hurrikans als auch in den letzten Stunden vor dem Untergang wurde vom Seeamt eingehend erörtert: In ihren letzten Tagen lief die Pamir einen nördlichen Kurs, der sie über die Bahn des Hurrikans und letztlich sehr nahe ans Auge des Hurrikans führte. Allerdings gelangte die Pamir dadurch von der rechten auf die linke Seite der Hurrikanbahn – diese gilt als weniger gefährlich, weil auf ihr die Rotationsgeschwindigkeit des (linksdrehenden) Hurrikans um die Zugbewegung desselben vermindert wird („navigierbares Viertel“). Da Carrie mehrfach die Richtung wechselte und niemand von der Schiffsleitung überlebte, lässt sich heute nicht mehr beurteilen, ob aufgrund der an Bord tatsächlich verfügbaren Wetterinformationen die optimale Entscheidung zwischen Überqueren der Hurrikanbahn und schnellstmöglicher Entfernung vom Hurrikanzentrum (Kurswechsel nach Osten oder Südosten) getroffen wurde. Nachträglich betrachtet, war die Wahl der Schiffsführung verhängnisvoll, weil Carrie sich letztlich näher zum Schiffsstandort hinbewegte als ursprünglich erwartet und die Windgeschwindigkeiten zudem ausnahmsweise aufgrund einer nicht voraussehbaren Unregelmäßigkeit des Hurrikanzentrums auf der linken Seite der Zugbahn am höchsten waren. Zum Schiffskurs während des Hurrikans merkte das Seeamt an, dass die Pamir ihren Nordkurs beibehielt, ohne ihn dem Drehen der Windrichtung anzupassen. Anfangs lief das Schiff daher vor dem Wind ab („Rückenwind“), später kamen der Wind sowie der Seegang jedoch zunehmend von der Seite und schließlich schräg von vorn, was die Schlagseite der Pamir erhöhte. Auch hier ließ sich mangels Zeugen keine Aussage machen, aus welchem Grund die Schiffsführung den Kurs festlegte. Schließlich wurde auch die Eignung der Stammbesatzung thematisiert: Kapitän Diebitsch hatte zwar viel Segelerfahrung, kannte aber vermutlich die Segel- und Stabilitätseigenschaften der Pamir noch nicht sehr eingehend. Der Erste Offizier hatte nur eingeschränkte Segelerfahrung, da eine Besatzung mit Großseglererfahrung in den 50er Jahren nicht mehr so leicht zu finden war. Und der Erste Bootsmann war schon 68 Jahre alt und – nach später zurückgenommenen Aussagen eines Überlebenden – so krank, dass er in den letzten Stunden der Pamir auf fremde Hilfe angewiesen war. Laut Spruch des Seeamts Lübeck am 20. Januar 1958 war für den Untergang der Pamir daher der Hurrikan Carrie allenfalls ein mittelbarer Auslöser: Ohne „menschliches Versagen“, das zu den obengenannten Problemen führte, hätte die Pamir nach Ansicht des Seeamts indessen Windstärken von bis zu 100 Knoten (185 km/h) aushalten können – Geschwindigkeiten, die der Hurrikan nach Ansicht des Seeamts nicht erreichte. Kontroverse des damaligen Anwalts: Leckschlag Seerechtsanwalt Horst Willner kam in seinem Buch Pamir: Ihr Untergang und die Irrtümer des Seeamtes zu einem anderen Schluss als das Seeamt Lübeck in seinem Spruch. Willners Ansicht nach ging die Pamir vermutlich unter, weil sie infolge der enormen Belastungen des Rumpfes im Hurrikan leckgeschlagen war. Willner nimmt an, dass der genietete Rumpf der Pamir bei den Überholungen in den 1950er Jahren mit Schweißarbeiten ausgebessert und deshalb anfälliger geworden sei. Als Beleg für seine Lecktheorie führt er unter anderem an, dass nach Aussagen von Überlebenden in einigen Teilen des Schiffsrumpfes, die keinem überkommenden Wasser ausgesetzt gewesen sein konnten, das Wasser dennoch bis zum Türgriff stand. Auch habe ein Überlebender von Geräuschen aus dem Schiffsrumpf berichtet, die auf einen Wassereinbruch schließen ließen. Die Aussage eines Überlebenden, vor dem Untergang sei aus dem gekenterten Schiffsrumpf mit pfeifendem Geräusch eine gelblich gefärbte Luftfontäne entwichen, wertet Willner als Beweis für die Beschädigung des Rumpfes, aus dem mit Teilen der Gerste vermischte Luft geströmt sei. Willner zufolge war außerdem die Zeit zwischen Durchkentern und Untergang der Pamir zu kurz für ein Schiff ohne Rumpfschäden. Nicht unerwähnt bleiben sollten hierbei die Untersuchungen und Aussagen von Otto Hebecker, Studienrat an der ehemaligen Seefahrtschule Hamburg sowie Mitarbeiter der Schiffbauversuchsanstalt und damals seit mehr als 30 Jahren amtlich anerkannter Experte für Fragen der Schiffsstabilität und -festigkeit. Hebecker hatte sich bereits Ende 1957, d. h. noch vor Beginn der Lübecker Seeamtsverhandlung, über den Verdacht eines Leckschlagens am Schiffsrumpf der Pamir geäußert. Den Spruch des Seeamts kritisiert Willner als voreingenommen: Das Urteil habe bereits vor der Verhandlung festgestanden. Das Seeamt habe mehr Interesse daran gehabt, die Verantwortlichen an Land freizusprechen als den Untergang aufzuklären. Willner kritisierte ferner, dass dem Seeamt kein Rahseglerkapitän beisaß. Die Entscheidung des Seeamtes sei von Motorschiff-Kapitänen getroffen worden, die die besonderen Bedingungen eines Großseglers nicht ausreichend hätten beachten können. Gutachten von Rahseglerkapitänen seien vernachlässigt worden, wobei das Protokoll der öffentlichen Sitzung vermerkt, dass sechs Rahsegelkapitäne vom Seeamt als Sachverständige gehört worden sind. Das Seeamt habe nicht die besonderen Windverhältnisse des Hurrikans Carrie berücksichtigt, der mehrfach stark die Richtung wechselte. So habe der Kapitän der Pamir die übliche Segelsetzung und die richtige Fahrtrichtung gewählt, um sich von dem Hurrikan zu entfernen. Erst durch die extremen und außergewöhnlichen Richtungsänderungen, mit denen sich das Auge des Sturms direkt auf die Pamir zubewegte, hätten die Maßnahmen des Kapitäns nicht ihr Ziel erreicht. Ein weiterer Vorwurf besteht darin, dass das Seeamt der Witwe des letzten Kapitäns der Pamir keine Anhörung zugestand, obwohl das in seinem Ermessen gestanden hätte. 1985 wurde die Verfahrensordnung geändert, so dass die Witwe nach heutiger Regelung ein Recht auf Gehör hätte. Willner wird vorgeworfen, dass er als früherer Vertreter der Reederei nicht neutral sei und ein Interesse daran habe, diese und die Schiffsleitung von der Verursachung des Untergangs freizusprechen. Inhaltlich wurde Willner entgegnet, dass es keine sicheren Belege für ein Leck der Pamir gab: Der Rumpf des Schiffes war in den Jahren vor dem Untergang regelmäßig untersucht und bei Bedarf ausgebessert worden. Dass der Rumpf der Pamir bei den allfälligen Reparatur- und Wartungsarbeiten zum Teil geschweißt und nicht genietet wurde, sei nicht notwendigerweise problematisch, da viele Schiffe so ohne Zwischenfälle über die Weltmeere führen. Das eingedrungene Wasser ließe sich auch dadurch erklären, dass nicht alle Schiffsöffnungen verschlossen wurden. Die – nur von einem einzigen Augenzeugen belegte – Luftfontäne aus dem gekenterten Schiff könne ebenso dadurch entstanden sein, dass der Rumpf erst während des Kenterns Schaden nahm. Und eine bestimmte Zeit zwischen Durchkentern und Untergang ließe sich aufgrund des herrschenden Hurrikans kaum bestimmen, da die Takelage des Schiffes unter der Oberfläche der aufgewühlten See selbst in relativ kurzer Zeit nicht abschätzbare Schäden hätte hervorrufen können. Manche Gegner Willners halten seine Ansicht deswegen für falsch, andere Kritiker bewerten sie als grundsätzlich möglich, aber nicht beweisbar. Argument beider Seiten: Beinaheunglück der Passat Argumentiert wurde von beiden Seiten auch damit, dass die fast baugleiche Passat nur wenige Wochen nach dem Untergang der Pamir einen schweren Sturm überstand und einen Nothafen anlaufen konnte, obwohl sie nach Verrutschen ihrer Gersteladung ebenfalls sehr starke Schlagseite bekommen hatte. Allerdings war auf der Passat bereits frühzeitig ihre Segelfläche reduziert und kurz vor dem Zusammentreffen die Ladung nachgetrimmt worden. Noch während des Sturms wurde ein Tieftank, der ebenfalls zum Teil mit Gerste gefüllt war, geflutet. Das Seeamt Lübeck wertete den Zwischenfall auf der Passat als Anzeichen dafür, dass die Pamir dem Sturm eigentlich gewachsen gewesen wäre. Der Anwalt Willner zog den Fall hingegen heran, um zu argumentieren, dass nur ein Leckschlag den Untergang der Pamir verursacht haben konnte. Ursachen der geringen Zahl Überlebender Neben den Ursachen für den Untergang der Pamir stand die Frage im Vordergrund, weshalb trotz schnellen Anlaufs der intensiven Rettungsaktion so wenige Besatzungsmitglieder überlebten. Dabei wurde vor allem das kurzfristige und wenig planvolle Verlassen der sinkenden Pamir kritisiert. Die Rettungsboote Ein großes Problem waren offenbar die Rettungsboote: Erst relativ kurz vor dem Untergang der Pamir wurde versucht, die Boote ins Wasser zu lassen. Zu dieser Zeit befanden sich die Rettungsboote an Backbord aufgrund der starken Schlagseite jedoch bereits unter Wasser, während die Boote auf der Steuerbordseite aufgrund der starken Schräglage nicht mehr zu Wasser gelassen werden konnten. So standen der Besatzung später nur drei Rettungsboote zur Verfügung, die sich vor oder beim Kentern losgerissen hatten und stark beschädigt waren; in der stürmischen See trieben sie zudem nicht in unmittelbarer Nähe des Schiffes. Die Pamir war außerdem mit drei aufblasbaren Rettungsinseln ausgerüstet, von denen aber zwei vor dem Untergang an Bord nicht aufzufinden waren. Nach widersprüchlichen Angaben wurde die dritte Rettungsinsel zunächst von mehreren Besatzungsmitgliedern benutzt; als sie später eines der drei Rettungsboote sahen, gaben sie die Rettungsinsel auf und schwammen zum Boot. In anderen Angaben, gestützt auf ein Interview mit dem Überlebenden Karl-Otto Dummer, wird die Rettungsinsel in diesem Zusammenhang hingegen nicht erwähnt: Nach Dummer hielten sich ca. 20 Schiffbrüchige an schwimmenden Wrackteilen fest; zehn von ihnen sei es gelungen, zu dem treibenden Rettungsboot zu gelangen. Es scheint keine weiteren Angaben von Überlebenden dazu zu geben, dass die Rettungsinsel noch von anderen Schiffbrüchigen benutzt worden wäre. Der Überlebende Karl-Otto Dummer gab an, dass „wahrscheinlich schon viele [der Besatzungsmitglieder] ertrunken“ seien, als die Pamir kenterte und die Seeleute von Deck ins Wasser stürzten. Nach anderen Berichten sollen zudem mehrere Besatzungsmitglieder im Schiff geblieben oder beim Kentern unter das Schiff geraten sein. Etwa fünf Seeleute kletterten nach dem Kentern auf den Rumpf der Pamir, vermutlich im Glauben, dass das Schiff nicht sinken könne. Andere Seeleute verwickelten sich im Tauwerk und wurden von der Pamir unter die Wasseroberfläche gerissen. Die starken Schäden an den drei verfügbaren Rettungsbooten verringerten in mehrfacher Weise die Überlebenschancen der Männer, die die Boote überhaupt erreichten. So waren die Rettungsboote aufgrund der Schäden weitgehend mit Wasser vollgelaufen und lagen dadurch sehr tief im Wasser; sie schwammen überhaupt nur noch aufgrund von wenigen nicht zerstörten Lufttanks. Nach Aussagen des Überlebenden Dummer stand das Wasser den Männern im Rettungsboot Nr. 5 bis zur Brust; der Überlebende von Boot Nr. 2 harrte auf der Reling des vollgelaufenen Boots aus. Die niedrige Lage der Boote führte einerseits dazu, dass einige der Männer in den Booten ertranken (so mindestens zwei Männer im Boot Nr. 5). Andererseits waren die niedrig liegenden Boote mit den wenig über die Wasseroberfläche herausragenden Oberkörpern der Schiffbrüchigen in der noch immer „tobenden See“ kaum zu sehen: Mehrere Schiffe fuhren in Sichtweite an den Booten vorbei, ohne sie zu entdecken. Die Männer von Rettungsboot Nr. 5 richteten darin am Morgen des 23. September schließlich einen Mast auf, um ihre Rettungschancen zu verbessern. Erschwerend kam hinzu, dass durch die Schäden an den Rettungsbooten die Seenotrettungsmittel (Leuchtraketen) nass und unbrauchbar geworden oder verloren gegangen waren. Dadurch hatten die Überlebenden in den Booten später keine Möglichkeit, vorüberfahrende Suchschiffe und -flugzeuge auf sich aufmerksam zu machen. Vor allem nachts wurde ein Sucherfolg dadurch praktisch unmöglich. Dazu kam noch die unauffällige Farbe der Boote: Die Holzrümpfe waren, wie damals verbreitet, nicht farbig lackiert und dadurch auch bei Tage schon auf kurze Entfernungen nur noch sehr schwer zu entdecken. An der Suchaktion Beteiligte gaben später an, dass die deutlich kleineren, aber auffällig gefärbten Schwimmwesten noch auf sehr viel weitere Distanz gesehen werden konnten. Ein weiteres Problem war, dass auch die in den Booten gelagerten Vorräte einschließlich des Trinkwassers größtenteils verloren gegangen waren. So verfügten die zehn Besatzungsmitglieder, die sich zunächst in das Rettungsboot Nr. 5 hatten retten können, nach Aussagen des Überlebenden Dummer nur über „wenige Dosen Büchsenmilch“. In einer anderen Darstellung ist nicht von Büchsenmilch, sondern von einem im Boot gefundenen Frischwasser-Fass und wenigstens einer mitgebrachten Schnapsflasche die Rede; beides sei jedoch verloren gegangen, als das beschädigte Boot einmal in der stürmischen See kenterte. Übereinstimmend wird jedenfalls Durst als eines der größten Probleme der Schiffbrüchigen dargestellt. Zwei der zehn Männer im Rettungsboot Nr. 5 tranken schließlich Salzwasser und verließen halluzinierend das Boot; ein weiterer schwamm nur zwei Stunden vor dem Eintreffen des rettenden Schiffs Saxon fort und konnte nicht mehr gefunden werden. Ähnliche Szenen sollen sich im Rettungsboot Nr. 2 abgespielt haben, in dem zunächst 20 bis 22 Menschen Schutz gefunden hatten und nach Aussagen des einzigen Überlebenden Günther Haselbach 24 Stunden vor Eintreffen der Retter noch zehn Menschen am Leben waren. Weitere Ursachen Diese Situation ist nach Ansicht mancher Kommentatoren durch Fehlen an Essen und insbesondere Trinkbarem auf der Pamir direkt vor dem Untergang noch verschärft worden. Unter anderem waren kurz vor dem Kentern anstelle des Mittagessens nur Zigaretten und mehrere Flaschen Schnaps ausgegeben worden. Zwar war ein ausgefallenes Essen auf einem durch Sturm fahrenden Großsegler nicht ungewöhnlich. Es wurde aber darauf hingewiesen, dass beispielsweise die Besatzungsmitglieder der im Falklandkrieg mit einem Torpedo versenkten General Belgrano, die ebenfalls zwei oder drei Tage ohne Essen und praktisch ohne Wasser ausharrten, direkt vor dem Untergang sehr gut ernährt waren. Daneben wurde über die mentale Verfassung, vor allem aufgrund des Alters der Pamir-Besatzung, spekuliert. 51 der 86 Besatzungsmitglieder waren Kadetten in der Ausbildung, 45 unter 18 Jahre alt. Dazu kam, dass das Verlassen der Pamir nicht vom Kapitän in organisierter Weise veranlasst worden sei. Daher wird angenommen, dass viele in dieser Extremsituation schneller aufgegeben haben als dies bei einer professionellen Schiffsbesatzung mit besserer mentaler Vorbereitung geschehen wäre. Nachträglich schwer einzuschätzen ist, welchen Anteil Haie am Schicksal der Schiffbrüchigen hatten. In dem Gebiet, in dem die Pamir unterging, gab es nach übereinstimmenden Angaben viele Haie und vom Seeamt Lübeck wurden auch Zusammenhänge zu den „Spuren von menschlichen Körpern“ hergestellt, die am 25. September in zusammengebundenen Schwimmwesten gefunden worden waren. Auch fielen möglicherweise einige Insassen der Rettungsboote Haien zum Opfer, als sie von den Booten fortschwammen. Dennoch kann offensichtlich nur spekuliert werden, ob bzw. wie viele Schiffbrüchige durch Haie starben und wie viele bereits vorher ertrunken oder an Unterkühlung gestorben waren. Nahe der Wasseroberfläche kann allein die Gischt inmitten eines schweren Sturms bei einem schwimmenden Menschen zum Einatmen so vieler kleiner Wasserpartikel führen, dass diese von der Lunge nicht schnell genug abgebaut werden und nach etwa einer Stunde den Tod durch Ertrinken auslösen können. In diesem Zusammenhang ist dann auch zu sehen, dass einige Seeleute geborgen wurden, die trotz Tragen einer Schwimmweste mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieben. Anders als moderne „ohnmachtssichere“ Rettungswesten, die selbst einen Schlafenden oder Ohnmächtigen in Rückenlage mit dem Gesicht über Wasser halten, hätten die damaligen Westen die Besatzungsmitglieder nicht genügend vor dem Ertrinken schützen können. Allerdings bestand dieses Problem offenbar bei den damals üblichen Schwimmwestenmodellen allgemein, nicht nur bei den auf der Pamir vorhandenen. Angesichts der wiederholt betonten Haigefahr ist generell unklar, ob die Angaben über die in Bauchlage geborgenen Leichen wirklich zutreffen. Aber selbst dann wäre aus den obengenannten Gründen nicht sicher, ob die Seeleute tatsächlich der Schwimmwesten wegen ertrunken sind. Zusammenfassung Insgesamt wird daher davon ausgegangen, dass die hohe Zahl an Opfern beim Untergang der Pamir maßgeblich durch das späte und wenig vorbereitete Verlassen des Schiffes bzw. das Fehlen ausreichender und gut ausgestatteter Rettungsboote und Rettungsinseln verursacht worden sei. Inwieweit das Kentern der Pamir für Kapitän und Offiziere aber überhaupt rechtzeitig voraussehbar war, ist aufgrund der strittigen Ursache des Untergangs schwer zu beurteilen. Nicht zuletzt muss die Opferzahl außerdem vor der Tatsache gesehen werden, dass die Pamir im Auge eines starken Hurrikans – des stärksten des Jahres 1957  – und in einer Gegend sank, in der es viele Haie gab. Folgen des Untergangs Der Untergang der Pamir hatte zur Folge, dass nur wenig später auch das andere deutsche Segelschulschiff, die Passat, aus dem Dienst genommen wurde. Die Passat war, wenige Tage nach dem Untergang der Pamir, ebenfalls mit Gerste beladen, nahe der Azoren knapp einem Hurrikan entkommen. Bestehende Absichten, weitere Schiffe – insbesondere die Moshulu (ex Kurt) und den Flying P-Liner Pommern – als zusätzliche frachtführende Segelschulschiffe wieder in Dienst zu stellen, wurden ersatzlos fallen gelassen. Bereits nach dem Auslaufen der Pamir zur letzten Fahrt – vor ihrem Untergang – hatten zehn von 41 Mitgliedsreedereien in der „Stiftung Pamir und Passat“ ihre Mitgliedschaft fristgerecht gekündigt. Damit endete weltweit die Ära der großen Segelschulschiffe unter Fracht. Bereits seit 1952 bestand für angehende Nautiker in der Handelsschifffahrt keine Verpflichtung mehr, Fahrzeit auf Segelschiffen abzuleisten. Dagegen wurde es für zukünftige Nautiker ab 1952 in der Deckslaufbahn Vorschrift, an einer der sechs Seemannsschulen (Hamburg-Falkenstein, Finkenwerder und Bremervörde; Travemünde Priwall; Bremen Schulschiff Deutschland und Elsfleth) einen zweimonatigen, ab 1956 dreimonatigen Ausbildungslehrgang zu besuchen. 1963 flossen die Versicherungsentschädigungen aus der Pamir, die nur für ein neues Schulschiff verwandt werden durften, zusammen mit anderen Geldern in den Erwerb der deutlich kleineren Gaffel-Ketsch Seute Deern (Zweimaster, nicht mit dem ehemaligen Museumsschiff Seute Deern in Bremerhaven zu verwechseln). Aufgrund der Erfahrungen aus dem Untergang der Pamir und dem Beinaheunglück der Passat wurde bei der Auswahl der Seute Deern und bei umfangreichen Umbauten vor dem ersten Einsatz besonderer Wert auf die Stabilität des Schiffes gelegt, d. h. auf dessen Fähigkeit, nicht zu kentern: Der Ballast des Schiffes wurde sehr großzügig ausgelegt, damit es auch bei starkem Wind wenig krängte. Fast drei Jahre lang wurde die Seute Deern für Ausbildungsfahrten verwendet. Anders als zu Zeiten der Pamir wurde allerdings keine Fracht mehr transportiert, auch waren die Fahrten lediglich wenige Wochen lang und führten nur noch in die Nord- und Ostsee. Bis heute bietet die Jade Hochschule die Möglichkeit, auf einem Schulschiff in Vereinsbesitz Fahrzeit abzuleisten. Die Großherzogin Elisabeth ist das letzte Segelschulschiff, auf dem sich angehende Offiziere der deutschen Handelsmarine ausbilden lassen können. Aufgrund des Untergangs der Pamir wurden außerdem die Pläne für den Bau des schon genehmigten Segelschulschiffs Gorch Fock (Stapellauf 1958) der Bundesmarine noch einmal geändert und weitere Sicherheitsvorkehrungen getroffen. In Belgien waren Pläne zum Neubau einer Bark als Segelschulschiff ebenfalls bereits genehmigt und die Finanzierung gesichert. Das Projekt wurde jedoch nach Bekanntwerden der Untersuchungsergebnisse des Seeamtes Lübeck vollständig aufgegeben. Gedenkstätten und Verbleib der geborgenen Rettungsboote In der Lübecker Jakobikirche wurde die frühere Witte-Kapelle zur Pamirkapelle umgestaltet: Sie beherbergt das leckgeschlagene Rettungsboot Nr. 2 der Pamir, von dem ein Überlebender gerettet wurde, sowie Informationen zum Unglück einschließlich Aufzeichnungen eines Überlebenden. Die Kapelle erinnert außerdem an den Verlust weiterer Lübecker Schiffe und ihre Besatzungen. An den Kapellenwänden hängen Kränze und Schleifen von deutschen und ausländischen Seeleuten sowie von Abordnungen, die die Kapelle besuchten. Am 21. September 2007 wurde die Kapelle zur Nationalen Gedenkstätte der zivilen Seefahrt erklärt. In der Hamburger Katharinenkirche erinnert ein Mahnmal an den Untergang der Pamir. Die Reste des Rettungsbootes Nr. 6 der Pamir sind im Erweiterungsbau des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven ausgestellt. Ein Stück Bordwand des Rettungsbootes Nr. 5, auf dem fünf Besatzungsmitglieder überlebten, ist im Schiffahrtsmuseum in Brake zu sehen. Der Verbleib des übrigen Rettungsbootes soll nach Angaben des Hamburger Abendblatts ungeklärt sein und wird vom Überlebenden Dummer in Minneapolis (USA) vermutet. Am Ewigkeitssonntag eines jeden Jahres wird am St.-Pauli-Fischmarkt bei einer Gedenkfeier der auf See verstorbenen und vermissten Seeleute gedacht. Kränze und Blumen werden am Denkmal der Madonna der Meere niedergelegt. Verfilmung des Untergangs Bereits 1959 drehte Heinrich Klemme unter Verwendung älteren Filmmaterials eine Dokumentation über die Pamir und ihren Untergang (siehe Filme). Im Sommer und Herbst 2005 wurde der Fernsehfilm Der Untergang der Pamir gedreht. Nach der Premiere am 8. Oktober 2006 im Rahmen des Hamburger Filmfests wurde der Film im deutschen Fernsehen erstmals im November 2006 gezeigt. Nach Aussagen des Überlebenden Dummer wich der Drehbuchautor Fritz Müller-Scherz für den Film allerdings stark von den Tatsachen ab. „Schwestern“ der Pamir Siehe ausführliche Darstellung im Artikel Passat (Schiff, 1911) im Abschnitt „Die acht Schwestern“ Die Pamir gehörte zu den letzten acht für die Reederei F. Laeisz gebauten Viermastbarken, die von 1903 (Pangani) bis 1926 (Padua) vom Stapel liefen. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit wurden diese acht Schiffe „Die acht Schwestern“ oder irreführend auch „Die acht Schwesterschiffe“ genannt. Schwesterschiffe im engeren Sinne (also mit gleichen Bauplänen) waren von den acht Schiffen jedoch nur die Passat und die Peking sowie die Pola und die Priwall. Die beiden Schiffspaare wurden jeweils nach fast identischen Plänen in engem Zeitraum gebaut. Die ein paar Jahre ältere Pamir war zwar ähnlich gebaut, hatte jedoch keine Schwesterschiffe im engeren Sinne. Sie war nach Bruttoregistertonnen und Länge der kleinste der acht Segler, galt aber als das robusteste Schiff von ihnen. Die häufig vorgenommene Einordnung der Passat als Schwesterschiff der Pamir könnte neben ihrer baulichen Ähnlichkeit auch darauf zurückgehen, dass die beiden Schiffe bis zum Untergang der Pamir die meiste Zeit denselben Eigentümern gehörten. Vor allem der Einsatz beider Schiffe in den 1950er Jahren als letzte große Segelschulschiffe der deutschen Handelsschifffahrt dürfte zu der Einschätzung beigetragen haben. So wird selbst von ehemaligen Besatzungsmitgliedern berichtet, sie sprächen von den beiden Schiffen als Schwesterschiffen. Alle Rekorde der Pamir Nach „internen Unterlagen unserer Reederei“ (Laeisz): 1905 English Channel – Valparaiso 70 Tage 1925 Ushant – Talcahuano 71 Tage 1926 Iquique – Prawle Point 86 Tage 1928 Talcahuano – Ipswich 83 Tage 1928/9 Iquique – Prawle Point 86 Tage 1929 Iquique – Brügge 87 Tage 1930 Rotterdam – Talcahuano 90 Tage 1930 Iquique – Gent 85 Tage 1930/1 Lizard – Corral 79 Tage 1931 Iquique – Bordeaux 108 Tage 1932 Wallaroo – Queenstown 103 Tage 1933 Australien – England 92 Tage (einschließlich 4 Tage Windstille und Nebel bei den Scilly-Inseln) Sonstiges Wie auch viele andere mehr ehrten die Åland-Inseln (1988) und die Falklandinseln (1989) die Pamir mit einer eigenen Briefmarke. Ebenso gibt es zahlreiche Münzprägungen, die an das Schiff und sein Schicksal erinnern. Siehe auch Kapitäne und Besatzungsmitglieder der Pamir Bruderschaft der Kap Hoorniers Liste großer Segelschiffe Filme Bill Colleran, Louis De Rochemont III: Windjammer (1957) Heinrich Hauser: Die letzten Segelschiffe (1930) Kaspar Heidelbach: Der Untergang der Pamir (2006), 178 Minuten, als Fernsehzweiteiler produziert. Karsten Wohlrab, Andreas Vennewald: Die Pamir – Untergang eines Großseglers. Dokumentarfilm des NDR (2006) Die Pamir im Hafen von Wellington 1942. Ngā Taonga Sound & Vision. Westwärts um Kap Hoorn (BRD 1976) Ein Film von Carsten Diercks (mit Filmmaterial von H. Hauser, 43 Min.) Heinrich Klemme: Die Pamir (1959). Unter Verwendung von Filmmaterial von W. P. Bloch (1952) und Heinrich Hauser (1930). 88 Minuten. ISBN 3-9807235-9-3 (Inzwischen auch als DVD, schwarzweiß und Color-Szenen) Literatur Rudolf Andersch: Die weißen Schwingen. Leben und Sterben des Schiffes Pamir. Verlag Schlichtenmayer, Tübingen 1958. Erich R. Andersen: Pamir und Passat – die letzten deutschen Handelssegler. Pro Business Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-939533-53-5. Jochen Brennecke, Karl-Otto Dummer: Viermastbark Pamir – ihr Schicksal im Zentrum des Hurrikans „Carrie“. Koehlers VG, Herford 1986, ISBN 3-548-23531-X. Jochen Brennecke, Karl-Otto Dummer: Pamir – ein Schicksal. Koehlers VG, Herford 1977, ISBN 3-7822-0141-8. Heinz Burmester: Mit der Pamir um Kap Horn. Gerhard Stalling, Hamburg 1974. Heinz Burmester: Die Viermastbark Pamir, ein Frachtsegler des 29. Jhdts. Deutsches Schiffahrtsarchiv, 2 (1978), S. 61–84. Karl-Otto Dummer, Holger Husemann: Viermastbark Pamir. Die Geschichte eines legendären P-Liners. Geschildert von einem Überlebenden des Untergangs. Hrsg.: Deutsches Schifffahrtsmuseum. Convent, Hamburg 2001, ISBN 3-934613-17-9 (illustriertes Sachbuch. Dummer hat seine Bücher auf Grundlage seines kleinen privaten, weltweit recherchierten Text- und Bild-Archivs zur Pamir veröffentlicht) Heinrich Hauser: Die letzten Segelschiffe. Einhundertzehn Tage auf der „Pamir“. Koehlers VG, Herford 1958, ISBN 3-7822-0123-X. Jens Jensen: Das Schicksal der Pamir. Biografie eines Windjammers. Europa-Verlag, Hamburg/ Wien 2002, ISBN 3-203-75104-6. (dokumentarische Darstellung der Schiffsgeschichte in Form eines Romans) Klaus Reinhardt: Der Untergang der Pamir. Das letzte Kapitel in der Geschichte eines deutschen Segelschiffes. Die Verhandlung vor dem Lübecker Seeamt. Veröffentlicht in den „Kieler Nachrichten“ vom 7. bis 21. Januar 1958. Kieler Nachrichten, Kiel 1958. Seeamt Lübeck (Hrsg.): Der Untergang des Segelschulschiffes „Pamir“. Bericht. Hamecher Verlag, Kassel 1973, ISBN 3-920307-13-5. (NEU: Book-on-Demand, Bremen 2011, ISBN 978-3-8457-0028-1) Johannes K. Soyener: Sturmlegende. Die letzte Fahrt der Pamir. Lübbe, Bergisch Gladbach 2007, ISBN 978-3-7857-2287-9. (nach eigenen Angaben „Tatsachen-Roman“, der Originaldokumente der Reederei über Schiffsführung und -zustand kritisch verarbeitet) Website zum Buch William F. Stark: Das letzte Mal ums Horn. Das Ende einer Legende, erzählt von einem, der dabei war. Piper, München 2003, ISBN 3-492-24085-2. (Stark war Besatzungsmitglied der Pamir während des letzten Teils der Weizenregatta und der letzten Fahrt um Kap Hoorn) Eigel Wiese: Pamir – Glanz und Untergang eines Segelschiffes. 2. Auflage. Koehler Verlag, Hamburg 2007, ISBN 978-3-7822-0964-9. Horst Willner: Pamir. Ihr Untergang und die Irrtümer des Seeamtes. Mittler & Sohn, Herford/ Bonn 1991, ISBN 3-7822-0713-0. (Perspektive des Anwalts, der nach dem Untergang der Pamir die Reederei vertrat) Armin Peter (Pitt): Die Pamir, der Kapitän und der Kadett. Roman. Norderstedt 2017, ISBN 978-3-7448-2675-4. (Aus der Perspektive der Hinterbliebenen; die Ehefrau des Autors hat dort ihren Bruder verloren) Hilary Tunstall-Behrens: Pamir – A Voyage To Rio In A Four-Masted Barque, , Publisher: Routledge and Kegan Paul – First Ed. 1-1-1956. Alston Kennerley: Sail Training, Vocational Socialisation and Merchant Seafarer Careers: The German Initiative in the 1950s, https://www.cnrs-scrn.org/northern_mariner/vol20/tnm_20_385-405.pdf weitere deutsch- und englischsprachige Literaturangaben gibt es zum Beispiel auf der Internetseite der finnischen Kaphoorniers Weblinks Umfangreiche Website zur Pamir (französisch sowie – zum Teil automatische – Übersetzungen ins Deutsche und Englische) Website von Hinterbliebenen zum Segelschiff Pamir Informationen zur Funkausrüstung der Pamir sowie zu den Funksprüchen vor ihrem Untergang. seefunknetz.de 21. September 1957: Segelschulschiff Pamir sinkt. Deutsche Welle: Sendung aus der Reihe „DW-Kalenderblatt“ (21. September 2005) In: Kölner Stadtanzeiger. 24. September 1977. Kurz-Überblick über die Geschichte der Pamir mit ihren Fahrtzeiten für verschiedene Langstrecken-Routen. esys.org (PDF), Februar 2006 Abdrucke bislang unveröffentlichter Dokumente aus den Akten der Stiftung „Pamir und Passat“ aus dem Bremer Staatsarchiv über Finanzprobleme, Führungsprobleme und Schiffszustand (zusammen mit Werbung für einen Roman und den nicht neutralen Kommentaren des Autors) „Pamir“ sinkt im Hurrikan. In: Die Welt, 19. November 1999. Kapitel Seefahrt: Großer Nachruf auf den sechsten Überlebenden Günter Haselbach. Pamir, 1914-21 im Spiegel zeitgenössischer Presse Agenzia Bozzo: Archivio vecchie vele: Alle Reisen der Pamir Lloyds Register: Dokumente Andreas Gondesen: Die letzten Weizensegler 1921–1949. (2005), Social Science Open Access Repository Der Spiegel, 24. September 1952: „… setzte auf Deutschland“ (zur Person Heinz Schliewen) Archivportal zu Stiftung Pamir und Passat Letter from Landesbank und Girozentrale to Lloyd’s Register Secretary on settlement of accounts for Passat and Pamir, 7 July 1955 Nachruf in Kehrwieder, der Zeitschrift der Reeder für die Schiffsbesatzungen segelschiff-pamir.de Fotos aus dem Nachlass von Rolf-Dieter Köhler, beim Untergang 1. Offizier Fußnoten Frachtschiff (Deutschland) Segelschiff (Deutschland) Frachtschiff (Finnland) Segelschiff (Finnland) Schiff (F. Laeisz) Frachtsegler Segelschulschiff Schiffsverlust durch Kentern Schiffsverlust durch Sturm Schiffsverlust 1957 Großsegler aus Deutschland Viermaster Bark Auxiliarsegler Motorschiff Verkehrsunglück 1957 Seeunfall Blohm + Voss Schulschiff (Deutschland)
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Kanye West
Kanye Omari West, bürgerlicher Name Ye [] (* 8. Juni 1977 in Atlanta, Georgia), ist ein US-amerikanischer Rapper, Sänger, Musikproduzent und Modedesigner. Seine Karriere begann als Produzent für Hip-Hop-Künstler in Chicago und später in New York City mit Musikproduktionen für den Rapper Jay-Z, an dessen erfolgreichem Album The Blueprint er maßgeblich mitwirkte. Auch mit dem Sänger John Legend sowie dem Rapper Common, beide bei seinem Plattenlabel GOOD Music unter Vertrag stehend, arbeitete West eng zusammen. Seit Ende 2003 veröffentlicht er eigene Singles und Alben, auf denen er meist als Rapper und Produzent in Erscheinung tritt. Kanye West gilt als einer der prägenden Musiker der Hip-Hop- und Popmusik des 21. Jahrhunderts. Beeinflusst von einer Vielzahl von Musikgenres, war er maßgeblich an der kommerziellen Abkehr des Hip-Hop vom Gangsta-Rap hin zu emotionaleren, oft auch gesungenen Inhalten beteiligt. Mit allein in den USA über 60 Millionen verkauften Tonträgern und Downloads gehört er zu den weltweit erfolgreichsten Musikern. Die Time zählte ihn 2005 und 2015 zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Sein Vermögen wurde 2020 von Bloomberg auf über drei Milliarden US-Dollar und von Forbes auf 1,8 Milliarden US-Dollar geschätzt. Neben der Musik ist West bekannt für publikumswirksame kontroverse Aussagen und Auftritte. Immer wieder äußerte West sich rassistisch und antisemitisch. Leben und Karriere Frühe Jahre, Karrierebeginn und Unfall Kanye Omari West wurde als Sohn afroamerikanischer Eltern in Atlanta im US-Bundesstaat Georgia geboren, wo seine Mutter Donda West (geb. Williams) als Professorin für Anglistik an der Clark Atlanta University unterrichtete. Nachdem sie sich von ihrem Mann Ray, einem ehemaligen Black Panther, getrennt hatte und nach Chicago gezogen war, wurde sie Vorsitzende des Anglistik-Fachbereichs an der Chicago State University. In Chicago wuchs Kanye West bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Durch seine gutbürgerliche Herkunft unterscheidet West sich von vielen anderen Rappern. Er selbst beschrieb dies später lapidar: In der dritten Klasse begann West zu rappen. Beeinflusst wurde er vor allem von Run-D.M.C. und Public Enemy, später von The Pharcyde und dem Wu-Tang Clan. Ab der siebten Klasse betätigte er sich zudem als Musikproduzent. Mit vierzehn Jahren lernte er den Chicagoer Produzenten No I.D. kennen, der damals mit dem Rapper Common zusammenarbeitete. No I.D. stellte für ihn einen frühen Mentor dar. Nach seinem High-School-Abschluss im Jahr 1995 besuchte West die American Academy of Art und die Chicago State University; auf Drängen seiner Mutter sollte er mindestens einen Abschluss machen, während West stattdessen eine Musikkarriere anstrebte. Das US-amerikanische Schulsystem kritisierte er später öffentlich und machte es auf seinem Debütalbum zu einem Bestandteil seiner Raptexte. Sein erstes Geld als Produzent verdiente West 1996 mit der Arbeit an dem Album Down to Earth des Chicagoer Rappers Grav; auf dem darauf enthaltenen Stück Line for Line rappte er bereits selbst. Im selben Jahr brach er seine College-Ausbildung ab, um sich hauptberuflich der Musik zu widmen. Wests Karriere in der Musikindustrie begann Ende der 1990er Jahre; unter anderem produzierte er Stücke für kommerziell erfolgreiche Alben der Rapper Jermaine Dupri und Foxy Brown. Durch seinen Kontakt zu Beanie Sigel lernte er Jay-Z kennen, mit dem West seitdem regelmäßig zusammenarbeitet. Erste Bekanntheit erlangte der Musiker 2001 durch seine Arbeit an mehreren Songs auf Jay-Zs Album The Blueprint, darunter die Top-Ten-Single Izzo (H.O.V.A.). The Blueprint stand drei Wochen auf Platz eins der US-Charts; Kritiker lobten vor allem die vom klassischen Soul beeinflusste Produktion. West plante im Folgenden, ein Soloalbum zu veröffentlichen. Ein angestrebter Plattenvertrag mit Capitol Records kam aber nicht zustande, da West mehr als Produzent denn als Rapper angesehen wurde; sein kommerzieller Erfolg wurde folglich als gering eingeschätzt. Kurz darauf nahm ihn der damalige CEO Damon Dash bei Roc-A-Fella Records unter Vertrag. Im Oktober 2002 erlitt West bei einem Autounfall eine dreifache Kieferfraktur. West meinte später, dass dieses Erlebnis sein Leben verändert habe. Bereits drei Wochen nach dem Unfall nahm er das Stück Through the Wire auf, in dem er, noch mit einem verdrahteten Kiefer rappend, den Vorfall verarbeitete. The College Dropout und Late Registration (2003–2006) 2003 produzierte West unter anderem die Hits Stand Up für Ludacris (Platz eins in den Billboard Hot 100) und You Don’t Know My Name für Alicia Keys (Platz drei). Zudem veröffentlichte er mehrere Mixtapes unter eigenem Namen. Im September des Jahres erschien Through the Wire als Wests erste Solosingle und erreichte Rang 15 der US-Charts. Ende des Jahres erschien Slow Jamz, ein Tribut an klassische Slow Jams, in Zusammenarbeit mit Twista und Jamie Foxx. Offiziell Twistas Single, erreichte das Lied im Februar 2004 die Spitzenposition der Billboard Charts. Für alle drei Künstler war es der erste Nummer-eins-Erfolg. In der Folge schrieb Kanye West mit Janet Jackson drei Lieder für ihr Album Damita Jo und in Zusammenarbeit mit der Sängerin Brandy entstand die Single Talk About Our Love. Mit der deutschen Produzentin Melbeatz arbeitete West am Stück Oh Oh für ihr Album Rapper’s Delight. Aufgrund eines bereits vorab in Umlauf gekommenen Bootlegs nahm West große Teile seines Debütalbums The College Dropout, mit dem er thematisch unter anderem seinen Schulabbruch verarbeitete, neu auf. Das Album erschien nach mehreren Verschiebungen im Februar 2004 und stieg auf Platz zwei in die Billboard 200 ein. Von den Kritikern wurde es überaus positiv aufgenommen. Bei den Grammy Awards 2005 gewann es in der Kategorie Best Rap Album und war zudem als Album of the Year nominiert. Alle vier Singles sowie You Don’t Know My Name wurden ebenfalls nominiert und bescherten West zwei weitere Grammys bei insgesamt zehn Nominierungen. Daneben erhielt das Musikvideo von Jesus Walks mehrere Auszeichnungen. Das Stück, in dem West sich mit seinem Glauben auseinandersetzt, beschrieb die deutsche Hip-Hop-Zeitschrift Juice als den 2004 gründete Kanye West das Plattenlabel GOOD Music; GOOD ist ein Apronym für Getting Out Our Dreams. Die ersten Veröffentlichungen des Labels waren John Legends erfolgreiches Debütalbum Get Lifted und Be von Common. West war an der Produktion beider Alben beteiligt, für Be produzierte er neun von elf Songs. Daneben steuerte er einen Song zu Mariah Careys Comeback-Album The Emancipation of Mimi bei und war in die Arbeit an Leela James’ Debütalbum involviert. Zugleich arbeitete er an seinem zweiten Album Late Registration, das Ende August 2005 erschien und sich auf Anhieb auf Rang eins der Billboard 200 platzierte. West schrieb die Musik mehrerer Stücke gemeinsam mit dem Multiinstrumentalisten und Produzenten Jon Brion, der zuvor an der Seite von Künstlern wie Aimee Mann und Fiona Apple in Erscheinung getreten war. Die Single Gold Digger, auf der Jamie Foxx Ray Charles’ Gesang und den Text dessen Stückes I Got a Woman neu interpretierte, hielt sich zehn Wochen an der Chartspitze in den USA und erhielt mehrere Auszeichnungen. Graduation (2007–2008) Anfang Juli 2007 trat West bei den Benefizveranstaltungen Concert for Diana und Live Earth auf; 2005 hatte er bereits an Live 8 teilgenommen. Im September 2007 erschien sein drittes Album Graduation. Da 50 Cents Album Curtis am selben Tag auf den Markt kam, schrieben die Medien von einem . Dieser wurde bestärkt durch eine Coverstory des Rolling Stone, für den beide Rapper posierten, sowie 50 Cents (später widerrufener) Ankündigung, er werde seine Solokarriere beenden, sollte West mehr Alben verkaufen als er. Mit 957.000 verkauften Einheiten stieg Wests Album deutlich vor Curtis auf Platz eins der Billboard Charts ein. Gemessen an der ersten Verkaufswoche war Graduation das fünfzehnterfolgreichste Album seit der Einführung des Nielsen SoundScan im Jahr 1991. Die Single Stronger, auf einem Sample von Daft Punk basierend, erreichte weltweit Spitzenplatzierungen und erhielt drei Platin-Schallplatten. Eine weitere Single, Good Life feierte ihre Premiere in einer Folge der HBO-Fernsehserie Entourage, in der Kanye West auch selbst auftrat. 2008 erhielt der Rapper vier Grammys, darunter das dritte Mal in Folge für das Best Rap Album, während er – ebenfalls das dritte Mal in Folge – in der Kategorie Album of the Year verlor. Im April 2008 begann seine bis Ende des Jahres andauernde Welttournee namens Glow in the Dark Tour, die ihn im November auch nach Oberhausen und Hamburg brachte. 808s & Heartbreak und My Beautiful Dark Twisted Fantasy (2008–2010) Bei den MTV Video Music Awards 2008 stellte West den Song Love Lockdown als erste Single aus dem im November 2008 veröffentlichten Album 808s & Heartbreak vor. Mit dem Stück probierte er sich erstmals als Sänger. Love Lockdown hielt sich 17 Wochen in den deutschen Singlecharts, mit Platz acht als Wests bisher höchste Chartplatzierung in Deutschland. Die weltweiten Verkaufszahlen von 808s & Heartbreak blieben allerdings hinter denen der vorherigen Werke zurück; auch die Kritiker bewerteten das Album höchst unterschiedlich. Musikalisch und inhaltlich war 808s & Heartbreak beeinflusst von einer Trennung wenige Monate zuvor und vom Tod seiner Mutter Donda im November 2007. Bei den Grammy-Verleihungen im Februar 2008 sang Kanye West ihr zu Ehren das Lied Hey Mama. Von 2009 bis 2010 war Kanye West mit dem Model Amber Rose liiert. Teilweise zusammen mit No I.D. produzierte der Musiker die Hälfte der Stücke auf Jay-Zs The Blueprint 3, darunter das mit zwei Grammys prämierte Stück Run This Town, in dem er neben Jay-Z und Rihanna selbst zu hören ist. Eine zu der Zeit geplante Tournee gemeinsam mit Lady Gaga wurde kurzfristig abgesagt. Nach dem Erdbeben in Haiti 2010 beteiligte West sich an dem Benefizprojekt Artists for Haiti. Im September 2010 präsentierte West bei den MTV Video Music Awards die Ballade Runaway. Im darauffolgenden Monat veröffentlichte er einen gleichnamigen 35 Minuten dauernden Kurzfilm mit dem Model Selita Ebanks in der Hauptrolle. Im November des Jahres erschien zu fast durchweg überschwänglichen Kritiken My Beautiful Dark Twisted Fantasy und platzierte sich als Wests viertes Album in Folge auf Rang eins in den US-Charts. Bei den Aufnahmen arbeitete er mit einer Reihe von angesehenen Hip-Hop-Produzenten zusammen, darunter Pete Rock, Q-Tip, RZA und DJ Premier; als Gastmusiker wirkten unter anderem Raekwon, Bon Iver und Elton John mit. Im April des Jahres trat der Rapper als Headliner beim Coachella Valley Music and Arts Festival auf; weitere Auftritte auf dem britischen Festival The Big Chill und dem SWU Music & Arts Festival in Brasilien folgten. Watch the Throne und Cruel Summer (2011–2012) Im August 2011 veröffentlichte Kanye West gemeinsam mit Jay-Z das Album Watch the Throne. Mit einem Charteinstieg auf Platz eins in der Schweiz, Platz zwei in Deutschland und Platz zwölf in Österreich ist Watch the Throne das erfolgreichste Werk der beiden Künstler in den deutschsprachigen Ländern. In den USA erreichte es als fünftes Album von West und als zwölftes von Jay-Z die Spitzenposition. Im iTunes Store stellte es mit 290.000 Downloads in der ersten Woche einen Rekord auf. Wie schon 2008 erhielt der Rapper bei den Grammy Awards 2012 vier Auszeichnungen. Im darauffolgenden Monat stellte West in Paris seine erste eigene Modekollektion vor. Im Mai 2012 feierte sein Kurzfilm Cruel Summer beim Filmfestival von Cannes seine Premiere. Ähnlich wie der Film Runaway ist Cruel Summer von einem zeitgleich produzierten Album des Musikers inspiriert. Dieses wurde im September 2012 als Kompilationsalbum in Zusammenarbeit mit den anderen Künstlern seines Labels Good Music veröffentlicht. Yeezus und The Life of Pablo (2013–2016) Für sein nächstes Soloalbum Yeezus arbeitete Kanye West erneut mit einer Vielzahl anderer Musiker zusammen, darunter Daft Punk, Frank Ocean, Arca und Rick Rubin. Letzterer wurde erst kurz vor der Deadline in die Produktion miteinbezogen, um den Minimalismus in Wests Stücken noch konsequenter zu gestalten. Ein Video für den Song New Slaves ließ der Rapper weltweit an 66 Hauswände projizieren, unter anderem auch in Berlin. Einen Tag später präsentierte er bei Saturday Night Live die zwei Songs New Slaves und Black Skinhead live. Dem minimalistischen musikalischen Leitmotiv von Yeezus entsprechend – ein Kofferwort, gebildet aus Kanye Wests Spitznamen Yeezy und Jesus –, wurde das Album in einem einfachen Jewelcase gänzlich ohne Booklet und anderweitige Gestaltungsmittel veröffentlicht. In der ersten Woche wurden in den USA 327.000 Einheiten des Albums abgesetzt. Dies waren – vermutlich aufgrund eines verfrühten Leaks – deutlich weniger als erwartet; dennoch platzierte auch Yeezus sich auf Platz eins der Billboard 200. Nach zahlreichen Ankündigungen verschiedener Albumtitel und Tracklists, die als chaotische Promotionsphase zusammengefasst wurden, erschien am 14. Februar 2016 sein siebtes Studioalbum The Life of Pablo zunächst exklusiv auf der Streaming-Plattform Tidal. Zuvor hatte West eine deutlich kürzere Version des Albums bei der Präsentation seiner neuen Modekollektion Yeezy Season 3 in New York vorgestellt. Als ab dem 1. April das Album auch als Download auf Wests Website erhältlich und bei den konkurrierenden Streaming-Diensten abrufbar war, stieg das Album ohne als physische Tonträger oder auf den marktführenden Downloadportalen angeboten zu sein wie seine fünf letzten Soloalben auf Platz eins der Billboard 200. Zuvor hatte TorrentFreak berichtet, The Life of Pablo habe wohl insbesondere wegen der beschränkten Verfügbarkeit mit geschätzten 500.000 illegalen Downloads innerhalb eines Tages einen neuen Rekord aufgestellt. In den Monaten nach der Erstveröffentlichung unterzog West The Life of Pablo zahlreichen Veränderungen, was in der Presse als Novum bezeichnet wurde, aber auch auf seine Sinnhaftigkeit hinterfragt wurde. Diese reichten von kleineren musikalischen Details und einzelnen veränderten Textzeilen zu bisher unveröffentlichten Gastauftritten und sogar einem neuen Song Saint Pablo, der sich als Outro auch aus der Retrospektive mit dem Album auseinandersetzt. Als erste Singleauskopplung erschien sieben Wochen nach dem Album der Song Famous, der vor allem durch sein Musikvideo für Aufsehen sorgte, in dem sich unbekleidete Wachsfiguren verschiedener Persönlichkeiten ein Bett teilen. Im August 2016 begann die Saint Pablo Tour. Am 21. November 2016 gab West bekannt, dass die restlichen 21 Konzerte seiner Tour nicht stattfinden würden, nachdem er bereits in der Woche zuvor Konzerte abgesagt hatte, nur kurz auftrat oder umfassende politische Kommentare abgegeben hatte, statt zu rappen. Nach dem Tour-Abbruch wurde West wegen eines Nervenzusammenbruchs mit Handschellen in ein Krankenhaus in Los Angeles gebracht, nachdem sein Leibarzt aufgrund des unberechenbaren Verhaltens des Künstlers einen Notruf abgesetzt hatte. West blieb auch über das Thanksgiving-Wochenende zur psychiatrischen Überwachung seiner durch Schlafmangel und Dehydrierung ausgelösten temporären Psychose in der Klinik. In den nachfolgenden elf Monaten hielt sich West vom Kurznachrichtendienst Twitter und generell aus der Öffentlichkeit fern. Ye, Yandhi, Jesus is King und weitere Kollaborationen (seit 2017) Im Mai 2017 wurde erstmals berichtet, dass West in Wyoming an einem neuen Album arbeitet. Im April 2018 gab West schließlich bekannt, für die Sommermonate desselben Jahres die Veröffentlichung von zwei Studioalben zu planen, einem Soloalbum und einem Kollaborationsalbum. Zudem kündigte West an, die kommenden Alben von Pusha T, Teyana Taylor und Nas zu produzieren. Kurz darauf veröffentlichte West die zwei nicht auf den Alben erscheinenden Singles Lift Yourself und Ye vs. the People. Lift Yourself erstaunte Fans mit einer Mischung eines Soul-Samples mit einem von West gerapptem Nonsens-Text über Stuhlgang. In Ye vs. the People verteidigt West im inszenierten Streitgespräch mit Rapper T.I. die Politik von US-Präsident Trump, dem er schon zuvor öffentlichkeitswirksam Unterstützung zugesprochen hatte, was sowohl von Fans als auch anderen Personen der Öffentlichkeit scharf kritisiert wurde. Das von West produzierte Album Daytona des Rappers Pusha T wurde im Mai veröffentlicht; Wests Produktion wurde von den Kritikern positiv aufgenommen. Nur eine Woche später erschien Anfang Juni Wests achtes Studioalbum Ye. Bereits in der Woche danach veröffentlichte er gemeinsam mit Langzeitprotegé Kid Cudi unter dem Namen Kids See Ghosts ein Kollaborationsalbum. Außerdem schloss West noch im gleichen Jahr seine Arbeit als Produzent von Nas’ Album Nasir und Teyana Taylors Album K.T.S.E. ab. Fünf der vier Alben, welche in Wyoming für sein Label GOOD Music produziert und binnen fünf Wochen veröffentlicht wurden, ist gemein, dass sie jeweils lediglich sieben Songs umfassen.Im August 2018 veröffentlichte West die Single XTCY, die eigentlich Bestandteil von ye hätte sein sollen. Eine weitere Single, die Kollaboration I Love It mit dem Rapper Lil Pump, wurde im September veröffentlicht und feierte seine Premiere bei der Pornhub Awardshow, die West als Creative Director gestaltete. Im September 2018 kündigte West sein neuntes Studioalbum Yandhi an. Er verschob das Veröffentlichungsdatum jedoch bereits zweimal, sodass das Album, das eigentlich schon im September und dann schließlich im November erscheinen sollte, auch heute noch nicht veröffentlicht ist. Es wird erwartet, dass Kollaborationen unter anderem mit Timbaland, 2 Chainz, Lil Wayne, 6ix9ine, Ty Dolla $ign, Nicki Minaj, Rihanna und dem inzwischen verstorbenen XXXTentacion auf Yandhi enthalten sind. Das bereits veröffentlichte Album-Cover zeigt die transparente Verpackung einer MiniDisc und erinnert damit stark an das Album-Cover des sechsten Studioalbums Yeezus, weshalb spekuliert wird, dass Yandhi als Folgealbum verstanden werden soll. Im Juli 2019 wurden einige vermutlich unfertige Lieder, die vermeintlich auf dem Album erscheinen sollten, geleakt. Über Twitter kündigte West außerdem im September 2018 an, dass Watch the Throne 2, ein Nachfolgealbum zu seinem 2011 erschienenen Kollaborationsalbum mit Jay-Z, bald erscheinen werde. Jay-Z hat sich bisher jedoch noch nicht dazu geäußert, ob ein solches Projekt in Arbeit ist. Seit dem 6. Januar 2019 veranstaltet West einen wöchentlichen exklusiven Sunday Service an wechselnden Orten, bei dem er Stücke seiner vergangenen Alben sowie andere Soul- und RnB-Klassiker mit dem Gospelchor The Samples und gelegentlich anderen Stargästen aufführt. Der erste der breiten Öffentlichkeit zugängliche Sunday Service fand am Ostersonntag 2019 während des Coachella Festivals statt. Am 29. August 2019 kündigte Wests Ehefrau Kim Kardashian über Twitter die Veröffentlichung eines neuen Gospel-inspirierten Albums mit dem Namen Jesus Is King für den 27. September an; ihr Tweet enthielt zudem eine Liste mit zwölf Liedtiteln. Das Album wurde jedoch nicht zum angekündigten Zeitpunkt veröffentlicht; stattdessen präsentierte West es bei einer sogenannten Listening Party einem ausgewählten Publikum in Detroit. Auch ein zweites Veröffentlichungsdatum, der 29. September, verstrich, ohne dass das Album der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Das Album wurde schließlich am 25. Oktober mit elf Liedern veröffentlicht. Zu den Liedern Follow God und Closed On Sunday erschienen Musikvideos; in ersterem ist West mit seinem Vater zu sehen, in letzterem seine Ehefrau und seine Kinder. Finanzen und Unternehmungen Am 13. Februar 2016 teilte Kanye West via Twitter mit, dass er mit 53 Millionen Dollar verschuldet sei. Gleichzeitig forderte er Mark Zuckerberg via Twitter auf, eine Milliarde Dollar in Kanye-West-Ideen zu investieren. Ein ähnlicher Aufruf wurde kurz darauf auch an Larry Page gerichtet. Gemäß dem Wirtschaftsmagazin Forbes beläuft sich Wests Privatvermögen auf etwa 400 Millionen US-Dollar. Persönliches Nach mehrjähriger Freundschaft war Kanye West von 2012 bis 2021 mit Kim Kardashian liiert. Im Juni 2013 kam ihre erste gemeinsame Tochter zur Welt. Das Paar heiratete im Mai 2014 in Florenz. Das zweite Kind, ein Sohn, wurde im Dezember 2015 geboren. Eine 2018 geborene Tochter hatte das Paar von einer Leihmutter austragen lassen. Eine weitere Leihmutter brachte im Mai 2019 einen weiteren Sohn für das Paar zur Welt. Im Februar 2021 reichte Kardashian die Scheidung von West ein. Donda Academy 2022 hat West eine private Schule eröffnet. Die Schule sitzt im Simi Valley, Kalifornien. Die Schule soll christliche Werte vermitteln und die „nächste Generation von Führungskräften“ hervorbringen. Die Donda Academy ist noch nicht akkreditiert, daher werden die Abschlüsse nach dem bisherigen Status nicht anerkannt. Die Familien der Schüler müssen eine Verschwiegenheitsvereinbarung unterschreiben. Die Schule wurde am 27. Oktober 2022 nach Wests antisemitischen Aussagen geschlossen. Stil und Entwicklung Kanye West inszeniert seine Musik bewusst als Kunstwerk, wodurch er sich nach eigenen Angaben in eine Reihe mit Musiklegenden wie Jimi Hendrix, den Rolling Stones oder den Beatles stellen will. Auch in seinen Konzerten, seinen Musikvideos, der Gestaltung seiner Alben sowie seinem modisch ausgerichteten Erscheinungsbild spiegelt sich dieser Anspruch wider. Musik Wests Musikstil beeinflusste den Hip-Hop und Pop der 2000er Jahre maßgeblich. Dieser Stil hat sich seit dem Beginn seiner Karriere kontinuierlich weiterentwickelt, als „Leitmotiv“ zieht sich aber die Verwendung von Ausschnitten zumeist älterer Songs in Form von Samples durch sein Werk. Diese verwendet er gerade bei seinen späteren Alben in einem zunehmend modernen Kontext. Als Sampler benutzt West die Modelle ASR-10 von Ensoniq und MPC 2000XL von Akai. Entgegen der im Hip-Hop typischen Fokussierung auf sieht West in den Melodien das wichtigste Element seiner Stücke. Ebenfalls unüblich ist seine sehr seltene Nutzung des Fadeouts. Als Inspiration dient ihm – laut einem Interview von 2005 – neben Hip-Hop und Soul vor allem die Rockmusik. So gab er an, unter anderem gerne System of a Down, The Strokes, Franz Ferdinand und The Killers zu hören; zudem arbeitete er mit Fall Out Boy und 30 Seconds to Mars zusammen. Trotzdem hätten seine Produktionen laut West Seit Anfang der 2000er zeichneten sich viele seiner Produktionen durch das durchgängige Loopen älterer Soulstücke und der Stimmen von Soulsängern aus, ergänzt durch meist ebenfalls gesamplete Schlagzeugbeats, Handclaps oder Snaps (Fingerschnippen). Die musikalische Grundlage bilden daher für gewöhnlich melodische und rhythmische Ostinati. Die Idee, sich des Soul-Genres zu bedienen, stammt von Wests früherem Mentor No I.D. Produktionstechnisch orientierte West sich anfangs an RZAs Musik für den Wu-Tang Clan, allerdings korrigierte er die Tonhöhe der gesampleten Stimmen nach oben (Pitch-Shifting), wodurch sie klanglich denen der Chipmunks ähneln. West nutzte den „Chipmunk Soul“ genannten Musikstil prominent auf seinem Debütalbum The College Dropout, aber auch später immer wieder. Als Ergänzung zu den Samples ist in vielen Stücken die Violinistin Miri Ben-Ari zu hören, gelegentlich setzte der Musiker zudem Chorgesänge ein. Neben der Soulmusik verwendete West in seinen frühen Produktionen vereinzelt auch Stücke aus anderen Genres wie Rock (The Doors), Reggae (Max Romeo) und Hip-Hop (Tupac Shakur). Nach dem kommerziellen Erfolg von The College Dropout begann Kanye West mit weiteren Stilen zu experimentieren. So fanden sich auf Late Registration viele klassische und orchestrale Elemente. Vermehrt wurden Live-Instrumente benutzt, darunter viele eher ungewöhnliche; zum Beispiel sind im Outro von Heard ’Em Say ein Chinesisches Glockenspiel und ein Berimbau zu hören. Stücke wie Hey Mama und We Major enthalten längere Codas, Diamonds from Sierra Leone, Gone und Drive Slow, das mit einer Screw-Passage endet, weisen Veränderungen in der Dynamik auf. Als Inspiration für die musikalische Ausrichtung von Late Registration dienten Fiona Apple und Portishead, während der Klang des ersten Albums sich an Lauryn Hill orientiert hatte. Fortan integrierte West auch in viele Konzerte ein Streichorchester. Auch für seine folgenden Werke arbeitete West mit Streichern. Auf Graduation hielten zudem Einflüsse der elektronischen Tanzmusik und des Rock Einzug. So wechseln sich etwa in dem Stück Flashing Lights orchestrale Legato- mit elektronischen Staccato-Passagen ab. Insgesamt war die Musik bewusst auf Stadiontauglichkeit ausgelegt, dazu passend stammten die Samples von weltbekannten und erfolgreichen Künstlern wie Elton John, Michael Jackson, Steely Dan und Can. 808s & Heartbreak war dagegen musikalisch und textlich deutlich introvertierter. In den größtenteils im Moll-Tongeschlecht komponierten Liedern nutzte West durchgehend die stimmenverzerrende und tonkorrigierende Technik des von T-Pain popularisierten Auto-Tune-Programmes, das ihm erlaubte, vorwiegend als Sänger in Erscheinung zu treten. Dies tat er zu der Zeit auch in Stücken von Young Jeezy, DJ Khaled und Mr Hudson. Daneben zog sich die Verwendung der Roland TR-808 durch 808s & Heartbreak. Bei den Aufnahmen zu 808s & Heartbreak ließ West sich hauptsächlich von der Popmusik der 80er Jahre inspirieren. Den bewusst ästhetischen, zugleich aber kommerziellen Stil des Albums nannte West „Pop Art“, nach der gleichnamigen Kunstrichtung. Es markierte laut Rolling Stone die endgültige Abkehr von den Auf My Beautiful Dark Twisted Fantasy kombinierte West die Stilrichtungen seiner vorherigen Alben und erschuf opulentere Songs mit komplexen Strukturen und Arrangements; in Anlehnung an das Genre Progressive Rock sprach die Website Pitchfork Media von . Einen ähnlichen Ansatz verfolgte der Musiker auch auf seinem gemeinsamen Album Watch the Throne mit Jay-Z; prominent werden Samples alter Soulstücke – überwiegend solcher von James Brown – genutzt, dazu sind wie bereits beim vorherigen Werk Progressive-Rock-Samples zu finden. Daneben enthält Watch the Throne aber auch Elemente modernerer Musikstile wie Dirty South und Dubstep. Immer wieder werden die Melodien durch unerwartete Wendungen gebrochen. Verfolgte West schon auf My Beautiful Dark Twisted Fantasy und Watch the Throne einen deutlich eklektischeren Ansatz, so kompartimentierte er die einzelnen Bestandteile seiner Songs auf Yeezus deutlich stärker. Im Song Bound 2 etwa kontrastiert er ein Soul-Sample – so wie er sie vor allem zu Beginn seiner Karriere einsetzte – im Refrain mit einer übersteuerten, punkigen Basslinie. Die Soul-Einflüsse sind ansonsten nur noch punktuell zu hören, etwa als Intermezzo in On Sight oder in Verbindung mit einem Trap-Sample in Blood on the Leaves. Im Outro von New Slaves ist die Rockballade Gyöngyhajú lány von der ungarischen Band Omega zu hören. Ansonsten hat Yeezus einen deutlich elektronischeren und aggressiveren Klang als Wests vorherige Werke. Kritiker verglichen das Werk mit Industrial Rock. Um eine stilistische Verbindung zu seiner Heimatstadt Chicago zu schaffen, ließ West sich sowohl vom Chicago House und Acid House der 1980er als auch vom kontemporären Chicagoer Drill – einem Subgenre des Trap – inspirieren. Auch Dancehall-Motive prägen einige Songs. Die opulenten orchestralen Elemente der vorherigen Alben wichen einem vom entsprechenden Architekturstil beeinflussten Minimalismus. Verschiedentlich genutzte Soundeffekte dienen zusätzlich der Verfremdung der musikalischen Motive. Nach der Arbeit an The College Dropout nahm der Anteil anderer Musiker an Wests Werken zu. Die Beteiligung von Jon Brion an Late Registrations musikalischer Ausrichtung wird als hoch ermessen. Der Sänger und Rapper Kid Cudi soll auf den Sound von 808s & Heartbreak und My Beautiful Dark Twisted Fantasy erheblich Einfluss genommen haben. Seit 808s Heartbreak arbeitet West zudem regelmäßig mit den Produzenten Mike Dean und Jeff Bhasker zusammen. Für Watch the Throne produzierte er lediglich den Song Otis alleine. Kritisiert wurde West gelegentlich für die Programmierung der Drums seiner Stücke, deren Schwäche er selbst zugab. An der Perkussion der Singles Stronger und Good Life von Graduation arbeitete er gemeinsam mit Timbaland. Lyrik Das US-amerikanische Hip-Hop-Magazin XXL definierte im Jahr 2010 fünf , aus denen sich Kanye Wests Lyrik zusammensetze, nämlich Verletzlichkeit, Humor, Wortspiele, Arroganz und Gesellschaftskritik. Der renommierte Musikjournalist Robert Christgau lobte in einer Kritik zu Late Registration die Reimarbeit des Rappers. Seine Reime sind zumeist assonant, oft auch mehrsilbig. Häufig benutzt West eine bildhafte Sprache mit Metaphern und Vergleichen, die er durch Alliterationen ergänzt. Diese Sprache weist einen starken afroamerikanischen Dialekt auf, so entfällt etwa in seinen Raps oft die -s-Endung in der 3. Person Singular (Beispiel: aus dem Song Last Call). In dem Song Who Gon Stop Me verwendet er die Spielsprache Pig Latin. Das Metrum seiner Raps entwirft der Musiker teilweise noch vor den Texten. Vor allem am Anfang seiner Karriere arbeitete er mit Overdubs – einer ergänzenden Tonaufnahme über eine bereits bestehende Aufnahme –, um seine Raps nicht in einem Take aufnehmen zu müssen. Die Texte des Rappers drehen sich oft um im Mainstream-Hip-Hop eher untypische Themen wie Rassenkonflikte, Selbstzweifel und Kritik an der Konsumgesellschaft. So handelt etwa seine Strophe im Remix des Stückes Diamonds from Sierra Leone von den sierra-leonischen Blutdiamanten und seiner zwiespältigen Einstellung ihnen gegenüber. Am Anfang seiner Karriere ließ er sich dadurch noch als „Conscious-Rapper“ oder bedingt als „Backpackrapper“ einordnen, wenn auch er selbst sich einer solchen Kategorisierung verweigerte: Um im Hip-Hop übliche Klischees zu vermeiden, ironisiert West seine Texte häufig; so rappte er in Through the Wire: Auf den folgenden Alben konzentrierten seine Themen sich hauptsächlich auf die eigene Person und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit. Die Texte verkürzte er dafür bewusst, um sie den Zuhörern verständlicher zu machen und dadurch die Wirkung auf sie zu verstärken. Auf Graduation sei dabei allerdings laut der Süddeutschen Zeitung weitgehend dem gewichen. Auf 808s & Heartbreak sowie My Beautiful Dark Twisted Fantasy verarbeitete er dagegen frühere Beziehungen, den Verlust seiner Mutter und Anfeindungen in der Folge der MTV Video Music Awards 2009. Die Texte des Albums Watch the Throne bestehen größtenteils aus Prahlereien bezüglich des eigenen Wohlstands, enthalten aber in vereinzelten Songs auch tiefgründigere Aussagen. In Murder to Excellence rappt West über Gewalt unter Afroamerikanern und deren folglich geringe Lebenserwartung. Der Musiker vergleicht dabei die Mordrate in seiner Heimatstadt mit der im Irakkrieg: New Day ist dagegen an den eigenen – tatsächlich noch nicht gezeugten – Sohn adressiert, den West davor warnen will, die Fehler seines Vaters zu wiederholen. Yeezus wurde von The New York Times als lyrisch provokantestes Werk des Künstlers bezeichnet. Die eingestreuten Obszönitäten ergänzt West im Song New Slaves durch Kritik am Materialismus und modernen Rassismus sowie Bezüge zur vermeintlichen Neuen Weltordnung. Rezeption Im Hinblick auf einige seiner Aussagen wird Kanye West oft als arrogant bis hin zu snobistisch wahrgenommen. Dazu trägt auch sein schlechtes Verhältnis zu den Medien bei. Auf Wests Egozentrismus und vermeintliche Selbstüberschätzung spielt die Folge Leck mich am Stäbchen der 13. Staffel von South Park an und provozierte damit ein Statement von West, in dem er beteuerte, sich geändert zu haben. Laut der Juice verleihe seine hochmütige Haltung dem Rapper aber zugleich , die von allgemein sehr positiver Resonanz auf seine musikalischen Werke unterstrichen wird. Ein Artikel auf stern.de von August 2011 nennt Kanye West und Jay-Z die Die New York Times sieht Wests Karriere als „sui generis“. Musik und Texte Ende 2009 schrieb das deutsche Musikmagazin Rolling Stone, dass von niemandem der worden sei als von Kanye West; zudem habe West definiert. Laut Andi Schoon in der Online-Ausgabe der Zeit bewältige er den und verbeuge sich dabei zugleich vor der Musik des 20. Jahrhunderts. In einer Liste der fünfzig besten Hip-Hop-Produzenten wurde Kanye West von About.com auf Platz acht gewählt. The College Dropout wurde beinahe ausnahmslos positiv bewertet und fand sich auf zahlreichen Bestenlisten wieder, etwa auf Platz zehn der von der Rolling Stone bestimmten einhundert besten Alben der Dekade oder auf Platz eins der zehn besten Alben der Dekade, gewählt von der Entertainment Weekly. Wests nachfolgende Alben wurden ebenfalls wohlwollend rezipiert, wenn auch mit leicht abfallender Tendenz. So wurde 808s & Heartbreak aufgrund seiner stark veränderten eher gemischt aufgenommen und für seine angeblich fehlende Substanz sowie Wests mangelndes Gesangstalent kritisiert. Es war zugleich sein erstes Album, das keinen Grammy als Best Rap Album erhielt. Late Registration, das laut der Zeit bekannte Klänge mit hochmodernen verbinde, wurde dagegen von dem Autor Matthew Gasteier – neben Aquemini von OutKast und Phrenology von The Roots – als beispielhaft für die musikalische Innovativität des Hip-Hop-Genres genannt. Vor allem My Beautiful Dark Twisted Fantasy wurde überaus positiv aufgenommen, verschiedene Publikationen nannten es Wests . Mit einem Metascore von 94 von 100 möglichen Punkten gehört das Werk zu den bestbewerteten Alben auf Metacritic.com. Bereits am Anfang seiner Karriere wurde Kanye West in Hinblick sowohl auf seine Texte als auch auf seine Öffentlichkeitsarbeit als angesehen, als Der Rolling Stone sah in seinen Texten eine Mischung aus und belegte dies anhand eines Auszuges aus Wests erstem Album: Gerade diese authentisch wirkenden Widersprüche ermöglichten es der breiten Masse, sich mit den Inhalten seiner Stücke zu identifizieren. Wests Texten wird des Weiteren bescheinigt, dass sie mit den im Mainstream-Hip-Hop verbreiteten Konventionen brächen, indem sie eine Botschaft transportierten. Die Westdeutsche Zeitung wertete seine Musik als ; West geißele . Jonathan Fischer lobte den Rapper auf Spiegel Online dafür, zu bleiben und stattdessen zu erheben. Die Texte seien allerdings oft oberflächlich angelegt. Der Rolling Stone listete West 2015 auf Rang 84 der „100 größten Songwriter aller Zeiten“. Erfolg und Einfluss Kanye Wests Erfolg als Musiker äußert sich konkret in der Anzahl an Auszeichnungen, die er bisher erhielt, und in den Verkaufszahlen seiner Singles und Alben. Mit insgesamt vierzehn Awards gewann er in den 2000ern so viele Grammys wie kein anderer Künstler. Daneben erhielt er unter anderem zwei American Music Awards und drei BRIT Awards. Die RIAA zeichnete seine Werke bisher (Stand: Mai 2010) mit achtzehn Platin-Schallplatten aus. Laut einer Yahoo-Statistik von Juli 2009 hat West in den Vereinigten Staaten beinahe zehn Millionen Alben verkauft, was ihn zum neunzehnterfolgreichsten Künstler der 2000er macht. Schon sein Debütalbum verkaufte sich weltweit über vier Millionen Mal. Bereits nachdem The College Dropout veröffentlicht worden war, galt West als einer der einflussreichsten Künstler in der Musikindustrie. Die Time nahm ihn 2005 in ihre Liste der einhundert einflussreichsten Menschen der Welt auf; als bislang einziger Rapper war er im selben Jahr auf der Titelseite der Zeitschrift zu sehen. Laut einer Schätzung des Forbes Magazine verdiente West zwischen Juni 2007 und Juni 2008 dreißig Millionen US-Dollar. Im darauffolgenden Jahr war West mit 25 Millionen Dollar der drittmeistverdienende Hip-Hop-Musiker hinter Jay-Z und Sean Combs. Neben den Albenverkäufen sei vor allem die Glow in the Dark Tour sehr einträglich gewesen. Die Watch the Throne Tour mit Jay-Z sowie seine Designertätigkeiten sicherten dem Künstler in den Monaten um 2012 ein Einkommen von rund 35 Millionen Dollar. Seit 2006 listet ihn das Webportal AskMen.com konstant unter den einflussreichsten Männern des Jahres; 2010 belegte er Platz fünf. Im gleichen Jahr erklärte MTV ihn zum Man of the Year. West ist in erster Linie als Hip-Hop-Produzent anerkannt. In einer von About.com aufgestellten Liste der fünfzig besten Hip-Hop-Produzenten nahm er den achten Platz ein. Die Website UGO.com wählte ihn 2008 in einer ähnlichen Liste auf Rang zehn; West sei In einer Wahl des Hip-Hop-Magazins Vibe kam der Musiker unter die letzten vier Produzenten. Das Billboard Magazine listete ihn 2009 als dritterfolgreichsten Hip-Hop-Produzenten des Jahrzehnts. Obwohl Wests Fähigkeiten als Rapper zu Beginn seiner Karriere noch angezweifelt wurden, war er konstant in der von MTV.com seit 2007 gewählten Liste der “Hottest MCs in the Game” vertreten. Nach einem fünften Platz im Jahr 2007 wurde er 2008 auf Rang eins gewählt; 2009 belegte er den vierten, 2010 den dritten Platz. Das XXL Magazine wählte ihn 2010 auf Platz eins der besten Rapper, die ihre Karriere als Hip-Hop-Produzenten begannen. Im gleichen Jahr war West auf dem dritten Rang einer Liste von Black Entertainment Television über die besten Rapper des 21. Jahrhunderts vertreten. Aufgrund seiner inhaltlichen Orientierung an und musikalischen Pop-Einflüssen gilt West als Mitbegründer und des sogenannten „Hipster-Rap“, der einen Gegenentwurf zum Gangsta-Rap aus den Großstadt-Ghettos bildet. Sein zum Hipster-Image komplementärer, von der Ivy League beeinflusster Kleidungsstil war prägend für die Hip-Hop-Mode, beispielsweise popularisierte er die „Shutter Shades“ des Brillen-Designers Alain Mikli. Die von West designten Sneakers gelten als sehr beliebt. 2009 nahm ihn das Männermagazin GQ in die Liste The 10 Most Stylish Men in America auf. Auch seine Glow-in-the-Dark-Bühnenshow wurde für ihre visuelle Kreativität gelobt, so nannte MTV die Tournee Durch seine Zusammenarbeit sowohl mit angesehenen Künstlern als auch mit Newcomern war Kanye West entscheidend beteiligt an der Karriere anderer Musiker. Zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn wirkte er – ebenso wie Just Blaze – als Hausproduzent von Jay-Z mit an den als „Klassiker“ des Hip-Hop-Genres geltenden Alben The Blueprint und The Black Album. Mit der Single Slow Jamz verhalf er dem Rapper Twista zu seinem kommerziellen Durchbruch; auch Talib Kweli und die Dilated Peoples konnten mit Wests Hilfe erste Charterfolge feiern. 2005 sorgte er durch die Produktion eines Großteils von Commons Be für eine musikalische Neuorientierung des Rappers, die in dem Platz-eins-Erfolg des Nachfolgers Finding Forever – ebenfalls größtenteils von West produziert – seinen Höhepunkt fand. Auch einer Reihe von weiteren Musikern, die bei GOOD Music unter Vertrag stehen sowie Keyshia Cole und Lupe Fiasco verschaffte West erste mediale Aufmerksamkeit. Kanye West beeinflusste mit seiner Musik so verschiedene Künstler wie den deutschen Rapper Denyo, den Komiker Chris Rock und U2. Der Rapper Drake sagte über ihn: Der ehemalige US-amerikanische Präsident Barack Obama zählt Wests Single Touch the Sky zu seinen Lieblingssongs. Kontroversen Mediales Aufsehen neben seiner Musik erregte Kanye West durch einige kontroverse Auftritte und Aussagen. Diese wurden sehr unterschiedlich bewertet, von bis hin zur . Seine politischen und gesellschaftskritischen Ansichten sind laut eigener Aussage deutlich von seinen Eltern geprägt. Äußerungen über Politik Aussagen über AIDS und die Crack-Epidemie Anlässlich seines Live-8-Auftritts im Juli 2005 behauptete Kanye West, dass AIDS eine sei. Diese Ansicht legte er auch in dem Lied Heard ’Em Say dar. Im selben Jahr unterstellte er der US-Regierung eine ebenso gezielte Verbreitung der Droge Crack. Diese habe das außerordentlich schnell abhängig machende Rauschmittel in den ärmeren Gegenden eingeführt, um die Gemeinschaft der Schwarzen aufzuspalten, die bis dahin als Schutz gegen Polizeibrutalität und Rassismus gedient habe. Im Lied Crack Music machte West unter anderem den früheren Gouverneur von Kalifornien Ronald Reagan für die Crack-Epidemie verantwortlich, da dieser die Black Panther Party habe aufhalten wollen. Kritik an der Bush-Regierung nach Hurrikan Katrina Bei einer Benefizveranstaltung zugunsten der Opfer des Hurrikans Katrina auf NBC im September 2005 äußerte Kanye West sich erneut kritisch gegenüber der Regierung. In Abweichung vom Text des Teleprompters sagte er unter anderem, die Hilfsmaßnahmen würden durch den Einsatz vieler Nationalgardisten im Irakkrieg behindert, während die nach New Orleans gesandten Nationalgardisten die Erlaubnis hätten, auf Einwohner zu schießen. Zudem seien sowohl die Berichterstattung der Medien als auch die unterlassene Hilfe der Regierung rassistisch: West äußerte abschließend: . Der letzte Kommentar wurde aus der Übertragung an die US-Westküste geschnitten. Die Aussage erregte öffentlich großes Aufsehen und in der Folge viele politische Diskussionen. George W. Bush selbst bezeichnete Wests öffentlichen Vorwurf des Rassismus 2010 als schlimmsten Moment und seiner Präsidentschaft. 2008 verwendete der Regisseur Marc-Aurèle Vecchione Auszüge der Rede für seine Dokumentation Schwarz und stolz – Die Geschichte der Black Music. Holocaust-Vergleich in dem Lied Who Gon Stop Me Mediale Aufmerksamkeit erhielt im August 2011 eine Zeile des Songs Who Gon Stop Me von Kanye West und Jay-Z. West rappt in dem Stück: . Damit vergleicht er den Völkermord an den Juden mit der systematischen gesellschaftlichen Benachteiligung der Afroamerikaner. Jan Küveler erkannte darin in seinem auf dem Online-Ableger der Welt veröffentlichten Text ein indirektes Wiederaufwerfen des Historikerstreits, der sich mit der Frage beschäftigte, inwieweit es sich bei diesem Völkermord um eine historische Singularität handle. Der Autor des Artikels verglich West dabei mit dem „revisionistischen“ Hauptakteur des Historikerstreits Ernst Nolte. Ebenfalls in einem nationalsozialistischen Kontext äußerte sich West im selben Monat auf dem Festival The Big Chill. Dort behauptete er, er werde des Öfteren von Menschen angestarrt, als sei er Hitler. Kritik an Hillary Clinton und Unterstützung von Donald Trump Nach der US-Präsidentschaftswahl offenbarte West bei einem Konzert in San José am 17. November 2016, nicht gewählt zu haben. Wenn er jedoch gewählt hätte, hätte er Trump seine Stimme gegeben, so West. Am 19. November 2016 unterbrach West sein Konzert in Sacramento, um eine Wutrede zu halten, bei der er unter anderem die unterlegene Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton kritisierte. Diese hätte laut West die Bedeutung von Gefühlen im Wahlkampf unterschätzt; die Bevölkerung im Mittleren Westen der USA hätte ihr nun gezeigt, wie sie gefühlt haben, als sie für ihren Kontrahenten Donald Trump stimmten. West unterstrich seine Aussagen mit dem Wahlkampfslogan Trumps, „Make America Great Again“. Während der Phase des Präsidentschaftsübergangs empfing Trump den Rapper West am 13. Dezember 2016 im Trump Tower. Das Gespräch der beiden fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt; zum Abschied umarmten sie sich in der Lobby. West schrieb später in einem Tweet, er hätte sich mit Trump treffen wollen, um „Themen der Multikulturalität“ (multicultural issues) zu besprechen. Trump lobte West als „guten Mann“, mit dem er schon lange befreundet sei und über „das Leben“ diskutiert habe. Im Februar 2017 löschte West Tweets, in denen er sich für Trump ausgesprochen hatte, nachdem er vom sogenannten Travel Ban erfuhr, der Bürgern aus sieben mehrheitlich muslimischen Ländern die Einreise verbietet. Im April 2018 versicherte er dem Moderator Ebro Darden allerdings wieder, dass er Donald Trump „liebe“. Zudem postete er nach seiner Rückkehr zu Twitter im gleichen Monat Bilder von sich, auf denen er eine der bekannten roten Kappen mit dem Aufdruck „Make America Great Again“ (MAGA) trägt, die Erkennungszeichen von Trump-Unterstützern sind. In weiteren Tweets befürwortete er die Politik Trumps und bezeichnete diesen als seinen Bruder (my brother), was Trump als „sehr cool“ bewertete und retweetete. Weiterhin bekundete er Gefallen an den Ideen von Candace Owens, einer dem rechten Spektrum zugeordneten afroamerikanischen Aktivistin, die sich für das Erstarken einer schwarzen konservativen Bewegung einsetzt, Präsident Trump unterstützt und sich gegen die Black-Lives-Matter-Bewegung ausspricht. Für Aufsehen und Befremden sorgten auch Äußerungen Wests im Mai 2018 in den Redaktionsräumen des Internetklatschportals TMZ, in denen er die 400 Jahre andauernde Sklaverei in den USA als „Wahl“ der Schwarzen bezeichnete. Ein TMZ-Redakteur machte seinem Ärger Luft und konfrontierte West mit seinen Aussagen. Als West die TMZ-Mitarbeiter fragte, ob sie ähnlich denken wie er, kommentierte Van Lathan: „Ich denke, du denkst überhaupt nicht. Du hast eine große Verantwortung, Bruder. Der Rest von uns muss in der Gesellschaft mit diesen Bedrohungen und der Ausgrenzung leben, die mit 400 Jahren Sklaverei einhergehen, die du als freie Wahl unserer Leute bezeichnest.“ 2022 berichtete Van Lathan davon, wie West nicht nur erklärt habe, dass Sklaverei eine „Wahl“ gewesen sei, in einer nie öffentlich gemachten Stelle während des Interviews habe West im Zuge einiger antisemitischer Aussagen auch seine Liebe für Hitler und die Nazis bekanntgegeben. Wests wirren Sklaverei-Kommentaren wurden heftig widersprochen und er ruderte zurück, entschuldigte sich und stellte klar, dass er nur auf die andauernde „geistige Versklavung“ der schwarzen Bevölkerung aufmerksam machen wollte. Am 11. Oktober 2018 besuchte West Präsident Trump im Oval Office des Weißen Hauses, wobei er seine rote MAGA-Kappe trug, mit der er sich nach eigener Aussage wie ein Superheld fühlt. Vor einem gemeinsamen Mittagessen thematisierte West weitgehend in langen Monologen vor der versammelten Presse unter anderem seine kontroverse Unterstützung für Trump, Schusswaffengewalt unter Afroamerikanern, seine Bedenken gegenüber einer als diskriminierend angesehenen Polizeimethode sowie den Konflikt mit Nordkorea und empfahl dem Präsidenten ein futuristisches Wasserstoffflugzeug als Air Force One. Er erklärte zudem, entgegen früherer Verlautbarungen nicht an einer bipolaren Störung zu leiden, sondern lediglich an Schlafentzug. In der Presse wurde das Treffen und insbesondere Wests Verhalten als „bizarr“ oder gar „katastrophal“ gewertet. West widersprach Ende Oktober 2018 Äußerungen der Alt-Right-Provokateurin Candace Owens, wonach er Merchandise für ihre Blexit-Kampagne designt habe, die darauf abzielt, Afroamerikaner zum Verlassen der Demokratischen Partei zu bewegen. Des Weiteren verkündete West, dass seine Augen nun „weit offen“ seien, er sei „benutzt“ worden, um Botschaften zu verbreiten, die er nicht teile („My eyes are now wide open and now realize I’ve been used to spread messages I don’t believe in“), weswegen er sich von der Politik distanzieren wolle. Am 1. Januar 2019 sprach West allerdings auf Twitter Trump erneut seine Unterstützung aus und kündigte an, bei künftigen Auftritten die rote MAGA-Kappe zu tragen. Präsidentschaftskandidatur Am 4. Juli 2020 kündigte West seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2020 an. Bei jenen Wahlen hatte West weniger als 70.000 Stimmen erhalten. 2021 fanden investigative Journalisten Belege dafür, dass diese Kandidatur von Politikern der Republikanischen Partei orchestriert wurde, die Trumps Wiederwahl sichern wollten. Im November 2022 traf sich West mit Donald Trump. Dort habe West eigener Aussage nach angeboten, dass Trump nach der nächsten Präsidentschaftswahl Vizepräsident unter West sein könne. Antisemitische und rassistische Aussagen Am 3. Oktober 2022 präsentierte sich West auf der Pariser Modewoche während der „Yeezy Season 9“-Modeschau Hand in Hand mit Candace Owens, beide in einem Shirt mit der Aufschrift „White Lives Matter“ – eine Anspielung auf die – und Verkehrung der – Black-Lives-Matter-Bewegung. Auf der Vorderseite der Shirts, die auch einige Models auf dem Laufsteg trugen, war das Gesicht von Papst Johannes Paul II. zu sehen, versehen mit dem Spruch: „Seguiremos Tu Ejemplo“ („Wir werden Deinem Beispiel folgen“). Owens ist eine der bekanntesten Kritikerinnen der Black-Lives-Matter-Bewegung. Nach Kritik veröffentlichte West eine Flut an Instagram-Posts, in denen er Persönlichkeiten aus der Branche angriff, unter anderem Bernard Arnault (LVMH) und Vogue-Redakteurin Gabriella Karefa-Johnson. Der deutsche Sportartikelhersteller Adidas gab am 6. Oktober 2022 bekannt, man „überdenke“ die Beziehung zu Kanye West. Die New York Times bezeichnete die Show als „Granate, die nach hinten losging“; laut The Business of Fashion geben „Wests Provokationen ihm eine Plattform, die er nicht verdient“. Wenige Tage später geriet West abermals in die Kritik: Nach einer Reihe von antisemitischen Tiraden sperrten zunächst Instagram und dann Twitter seine Accounts. Aufgrund der antisemitischen Äußerungen kündigte die Bank JPMorgan Chase das Konto Wests. Das Modeunternehmen Balenciaga beendete am 21. Oktober 2022 die Zusammenarbeit mit West. Nachdem dessen Kritiker versucht hatten, auch seinen langjährigen Geschäftspartner Adidas zur Aufgabe der Geschäftsbeziehungen mit ihm zu bewegen, äußerte sich West öffentlich über die vermeintliche „Macht“ der „jüdischen Medien“ und rühmte sich, antisemitische Dinge sagen zu können, ohne dass Adidas ihn fallen lassen könne. Rechtsextreme Gruppen in den USA bezogen sich positiv auf seine Aussagen über Juden. Bis zum 24. Oktober 2022 bezog der Sportartikelhersteller, der laut Handelsblatt mit West zeitweise bis zu einer Milliarde Dollar Umsatz im Jahr machte, zu den antisemitischen Äußerungen seines Geschäftspartners trotz einer Anfrage der Jüdischen Allgemeinen keine Stellung. Am 25. Oktober 2022 kündigte Adidas die Zusammenarbeit mit West mit sofortiger Wirkung wegen seiner Äußerungen, die „inakzeptabel, hasserfüllt und gefährlich“ seien. In einem Interview Anfang Dezember 2022 mit Alex Jones für das rechtsradikale Onlineportal InfoWars erklärte West, er „mag Hitler“ (I like Hitler), der die Autobahn und das Mikrofon erfunden habe, das er als Musiker benutze (but this guy that invented highways, invented the very microphone that I use as a musician). Ebenfalls anwesend war auch der bekannte Holocaustleugner und Alt-Right-Vlogger Nick Fuentes. Mit ihm hatte West in der Woche zuvor bei Ex-Präsident Donald Trump zu Abend gegessen. Kurz darauf wiederholte West etliche antisemitische Stereotype in einem Gespräch mit dem Proud-Boys-Gründer Gavin McInnes. Das Simon Wiesenthal Center platzierte West auf seiner Liste der „zehn schlimmsten antisemitischen Verunglimpfungen“ des Jahres 2022 auf dem ersten Rang. Laut der Organisation habe der Rapper dazu beigetragen, dass Judenhass in sozialen Medien Teil des Mainstreams geworden sei. West habe weiterhin seinen Einfluss dort dazu genutzt, um Hass, Fanatismus und Ignoranz als „Waffe“ zu gebrauchen. Verhalten bei Preisverleihungen Wests Verhalten fiel bei mehreren Musikpreisverleihungen negativ auf. Die American Music Awards 2004 verließ er vorzeitig, nachdem ihn Gretchen Wilson in der Kategorie Favorite Breakthrough Artist geschlagen hatte. Bei den MTV Europe Music Awards 2006 unterbrach West die Dankesrede der Band Justice für die Auszeichnung Best Video, die seinem Beitrag Touch the Sky vorenthalten geblieben war. Er behauptete lautstark, die Veranstaltung werde mit dieser Entscheidung an Glaubhaftigkeit verlieren. Der Vorfall wurde am nächsten Tag in vielen Nachrichtensendungen aufgegriffen und teilweise heftig kritisiert. West entschuldigte sich später und persiflierte den Auftritt sogar in der Show Saturday Night Live. Im darauffolgenden Jahr sollte er mit dem Stück Stronger die MTV Video Music Awards 2007 eröffnen, wurde schließlich aber zugunsten von Britney Spears auf eine Nebenbühne versetzt. West bewertete dies als Rassismus: . Da er bei fünf Nominierungen zudem keine Auszeichnung erhalten hatte, boykottierte er bis zu den folgenden VMAs alle MTV-Preisverleihungen. Bei den MTV Video Music Awards 2009 unterbrach Kanye West erneut eine Dankesrede. Während die Sängerin Taylor Swift für das Best Female Video ausgezeichnet wurde, betrat West die Bühne, nahm Swift das Mikrofon aus der Hand und verkündete lautstark, die ebenfalls nominierte Beyoncé habe Swift verließ daraufhin weinend die Bühne. Später wurde sie von Knowles zurückgeholt, um ihre unterbrochene Dankesrede zu halten. Der Rapper wurde daraufhin ausgebuht und in den folgenden Tagen von anwesenden Musikern sowie hochrangigen Persönlichkeiten wie Jimmy Carter, Donald Trump und Barack Obama deutlich kritisiert – von Letzterem mit den Worten: . West entschuldigte sich nach dem Auftritt mehrfach öffentlich, unter anderem in der Jay Leno Show, und zog sich vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurück. 2016 kommentierte West seine Beziehung zu Taylor Swift im Song Famous folgendermaßen: . Swift reagierte öffentlichkeitswirksam auf das Lied, indem sie bei der folgenden Grammy-Verleihung in einer Dankesrede „all [die] jungen Frauen da draußen“ adressierte und sie warnte, dass es „Leute auf [ihrem] Weg geben [werde], die versuchen würden, [ihren] Erfolg zu untergraben oder [ihre] Errungenschaft und Berühmtheit für sich zu beanspruchen“. Sie hätte nie zugestimmt, dass West sie als „Schlampe“ bezeichnete, und ihn davor gewarnt, einen derart frauenfeindlichen Song zu veröffentlichen. Wests Ehefrau Kim Kardashian veröffentlichte daraufhin den heimlich aufgenommenen Mitschnitt eines Telefongesprächs zwischen West und Swift, worin letztere ihn zu der Zeile ermutigte, in der das lyrische Ich Sexfantasien mit Swift äußert. Swift bezeichnete die Veröffentlichung des Mitschnitts als Rufmord, sie habe niemals der Zeile des Lieds zugestimmt, in der West sie als „Schlampe“ tituliert. Bei den Grammy Awards 2015 kam es wieder zu einem Zwischenfall, als West andeutete, die Bühne zu stürmen, nachdem der Musiker Beck den Preis für das Album des Jahres erhalten hatte. Abseits der Bühne reklamierte West im Anschluss den Preis erneut für die ebenfalls nominierte Beyoncé und kritisierte die Grammy Awards dafür, keinen Respekt für Kunst und Inspiration zu haben. West hatte die Veranstaltung zuvor sechs Jahre lang boykottiert. Diskografie Tourneen Touch The Sky Tour (2005) Glow in the Dark Tour (2008) Watch the Throne Tour – (mit Jay-Z) (2011–2012) The Yeezus Tour (2013–2014) Saint Pablo Tour (2016) Filmografie (Auswahl) Filme 2004: Fade to Black 2005: Block Party 2005: State Property 2 2008: Der Love Guru (The Love Guru) 2009: We Were Once a Fairytale 2010: Runaway 2012: Cruel Summer 2013: Anchorman – Die Legende kehrt zurück (Anchorman 2: The Legend Continues) Fernsehen 2007: Entourage 2010–2012: The Cleveland Show seit 2012: Keeping Up with the Kardashians 2015: I Am Cait Bibliografie Auszeichnungen (Auswahl) American Music Awards 2008: Favorite Rap/Hip-Hop Male Artist 2008: Best Hip-Hop Album für Graduation BET Awards 2005: Best New Artist 2005: Best Male Hip-Hop Artist 2005: Video of the Year für Jesus Walks 2006: Best Collaboration für Gold Digger 2006: Video of the Year für Gold Digger 2008: Best Male Hip-Hop Artist 2008: Best Collaboration für Good Life 2011: Best Male Hip-Hop Artist BRIT Awards 2006: International Male Solo Artist 2008: International Male Solo Artist 2009: International Male Solo Artist Grammy Awards 2005: Best Rap Album für The College Dropout 2005: Best Rap Song für Jesus Walks 2005: Best R&B Song für You Don’t Know My Name von Alicia Keys 2006: Best Rap Solo Performance für Gold Digger 2006: Best Rap Song für Diamonds from Sierra Leone 2006: Best Rap Solo Performance für Stronger 2008: Best Rap Solo Performance für Stronger 2008: Best Rap Performance By A Duo Or Group für Southside von Common 2008: Best Rap Song für Good Life 2008: Best Rap Album für Graduation 2009: Best Rap/Sung Collaboration für American Boy von Estelle 2009: Best Rap Performance By A Duo Or Group für Swagga Like Us von T.I. 2010: Best Rap/Sung Collaboration für Run This Town von Jay-Z 2010: Best Rap Song für Run This Town von Jay-Z 2012: Best Album für My Beautiful Dark Twisted Fantasy 2012: Best Rap/Sung Collaboration für All of the Lights 2012: Best Rap Song für All of the Lights 2012: Best Rap Performance für Otis mit Jay-Z 2013: Best Rap Performance für Niggas in Paris mit Jay-Z 2013: Best Rap/Sung Collaboration für No Church in the Wild mit Jay-Z 2013: Best Rap Song für Niggas in Paris mit Jay-Z 2021: Best Contemporary Christian Music Album für Jesus Is King MTV Europe Music Awards 2006: Best Hip-Hop Act 2008: Ultimate Urban MTV Video Music Awards 2005: Best Male Video für Jesus Walks 2008: Best Special Effects in a Video für Good Life 2011: Best Collaboration für E.T. von Katy Perry 2011: Best Special Effects in a Video für E.T. von Katy Perry 2015: Video Vanguard Award Soul Train Music Awards 2006: Best R&B/Soul or Rap Music Video für Gold Digger World Music Awards 2004: World’s Best New Male Artist 2006: World’s Best Selling Hip-Hop/Rap Artist Am 11. Mai 2015 wurde West die Ehrendoktorwürde der School of the Art Institute of Chicago für seine Beiträge zur Musik, Mode und Popkultur verliehen. Literatur Julis Bailey: The Cultural Impact of Kanye West. Palgrave Macmillan US, 2014, ISBN 978-1-137-39582-5 (englisch). Mark Beaumont: Kanye West: God & Monster. Omnibus Press, 2015, ISBN 978-1-78305-371-1 (englisch). Alicia Z. Klepeis: Kanye West: Music Industry Influencer. ABDO, 2018, ISBN 978-1-5321-1330-7 (englisch). Weblinks (englisch) Einzelnachweise Rapper Hip-Hop-Produzent Christliche Popmusik Person des Antisemitismus Vertreter einer Verschwörungstheorie Grammy-Preisträger ⚭West, Kanye Ehrendoktor einer Universität in den Vereinigten Staaten US-Amerikaner Geboren 1977 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster%20Lehnin
Kloster Lehnin
Das Kloster Lehnin (lat. Leninum; Leniniense Monasterium u. ä.) ist eine ehemalige Zisterzienserabtei im Ort Lehnin. Die Gemeinde Kloster Lehnin südwestlich von Potsdam ist nach dem Kloster benannt. Im Jahr 1180 gegründet und im Zuge der Reformation 1542 säkularisiert, beherbergt es seit 1911 das Luise-Henrietten-Stift. Das Kloster liegt im Zentrum der Hochfläche Zauche in wald- und wasserreicher Umgebung rund 700 Meter vom Klostersee entfernt. Die Abtei spielte im Hochmittelalter eine wichtige Rolle beim Landesausbau der jungen Mark Brandenburg unter deren ersten Markgrafen aus dem Haus der Askanier. Neben seiner historischen kommt dem Kloster auch eine große kulturelle Bedeutung zu: Seine Kirche zählt zu den wichtigsten romanisch-gotischen Backsteinbauten in Brandenburg. Deren Rekonstruktion in den Jahren 1871–1877 gilt als frühe Glanzleistung der modernen Denkmalpflege. Das heutige Lehniner Stift sieht sich mit seinen pflegerischen, medizinischen und ausbildenden diakonischen Einrichtungen in der klösterlichen Tradition und versteht sich als Schaufenster der Evangelischen Kirche. Stabilisierungsfaktor der jungen Mark Brandenburg Die Gründung des Klosters Lehnin erfolgte durch den zweiten brandenburgischen Markgrafen Otto I. (1125–1184) im Jahr 1180 aus wirtschaftlichen, machtpolitischen und religiösen Erwägungen. 23 Jahre zuvor, im Jahr 1157, hatte der erste Markgraf Albrecht der Bär († 1170) den Slawenfürsten Jaxa von Köpenick entscheidend besiegt und die Mark aus der Taufe gehoben. Die Deutschen hatten die im Teltow, im Havelland und in der Zauche ansässigen Slawenstämme in den Jahrhunderten zuvor schon mehrfach geschlagen, konnten die Gebiete jedoch nie halten und ließen sich immer wieder zurückdrängen. Daher war den Askaniern Albrecht dem Bären und seinem Sohn Otto I. bewusst, dass mit dem Sieg von 1157 das Land keinesfalls gewonnen war. Die Konsolidierung der neuen Gebiete mit ihrer slawischen Bevölkerung erreichten die Askanier durch eine Doppelstrategie. Zum einen riefen sie christliche Siedler, beispielsweise aus Flandern (der Name lebt im Namen Fläming fort), in das Land, die schnell ein Gegengewicht zur „heidnischen“ slawischen Bevölkerung bildeten. Zum anderen holten sie mit der Klostergründung der Zisterzienser besonders tatkräftige Christen in die Mark, deren wirtschaftlich erfolgreiche Tätigkeit sehr bald Vorbildfunktion gewann und dem Interesse der Askanier an einem Land, das ihnen hohe Gewinne einbringen sollte, entgegenkam. Die Mark Brandenburg entsprach in ihrer territorialen Ausdehnung gegen Ende des 12. Jahrhunderts nicht dem heutigen Flächenstaat – neben der Altmark zählten im Wesentlichen lediglich das östliche Havelland und die Zauche dazu. Erst in den folgenden 150 Jahren gelang es den Askaniern, die Mark Brandenburg bis zur Oder auszudehnen. Bei der schrittweisen Erweiterung nach Osten über die Flusslinie Havel-Nuthe in den Teltow, das Berliner Urstromtal und den Barnim flankierten die Mönche mit der Christianisierung der verbliebenen Slawen und mit ihren Kirchenbauten die askanische Siedlungspolitik. Daneben gewann Lehnin für Otto I. eine strategische „innerdeutsche“ Funktion als Grenzschutz gegenüber Erzbischof Wichmann, der das Interesse seines Erzbistums Magdeburg an diesem Landstrich bereits 1170 mit der Gründung des Nachbarklosters Zinna bei Jüterbog deutlich gemacht hatte und der Mark der Askanier südlich der Flussniederung Nuthe-Nieplitz gegenüberstand. Geschichte bis zur Säkularisation 1542 Gründungsgeschichte Tochterkloster von Morimond Die Klosterstiftung Lehnin durch Otto I. im Jahr 1180 war das erste Kloster in der Mark Brandenburg. Lehnin diente als Hauskloster und Grablege der Askanier, später auch der Hohenzollern, und war Mutterkloster der folgenden Zisterzienserklöster: Kloster Paradies (1230), heute in West-Polen gelegen in der Woiwodschaft Lubuskie, Lebuser Land Kloster Mariensee (1258), 16 Jahre später verlegt: Kloster Chorin (1273) im Barnim bei Eberswalde Kloster Himmelpfort (1299) in Himmelpfort (Stadt Fürstenberg/Havel). Lehnin wurde als Tochterkloster (Filiation) von Morimond, einer der vier Primarabteien des zisterziensischen Ursprungsklosters im französischen Cîteaux (lat. Cistercium; in der Nähe von Dijon), gegründet. Die ersten zwölf Mönche kamen mit dem Abt Sibold nach einem Ruf Ottos I. 1183 aus dem Kloster Sittichenbach bei Eisleben im Harzvorland. Bei diesem Ruf kamen Otto die Kontakte zugute, die sein Vater Albrecht der Bär zu den Zisterziensern von Sittichenbach geknüpft hatte, als er in Quedlinburg am 11. April 1154 die Zeugenliste der für das Kloster Sittichenbach ausgestellten Königsurkunde eröffnete. Gründungslegende um Otto I. Die Gründungslegende um das Kloster Lehnin fand Eingang in die deutsche Literatur, bildet die Grundlage für das Wappen der Gemeinde und ist angeblich auch bestimmend für den Namen Lehnin. Der Legende nach gab es folgenden Grund für die Ortswahl des Klosterbaus: Otto I. war nach anstrengender Jagd unter einer Eiche eingeschlafen. Im Traum erschien ihm immer wieder ein weißer Hirsch, der ihn mit seinem Geweih aufzuspießen drohte und den er mit seinem Jagdspieß nicht abwehren konnte. In seiner Not rief Otto den Namen Christi an, woraufhin die Traumerscheinung sich endlich auflöste. Als Otto seinen Begleitern den Traum erzählte, deuteten diese die Hirschkuh als Sinnbild für die heidnischen Slawenstämme und rieten ihm, an dieser Stelle eine Burg zu Ehren des Christengottes gegen die heidnischen Gottheiten zu errichten. Doch es sollte eine Burg Gottes, ein Kloster werden. Willibald Alexis, der bedeutendste märkische Romancier vor Theodor Fontane, stellte die Legende in dem Roman Die Hosen des Herrn von Bredow aus dem Jahr 1846 ausführlich dar. Seine Romanperson Ruprecht lässt Alexis berichten: „Der grimmige Elenhirsch, der ihn im Schlafe umbringen wollte, könne nur der Satan gewesen sein, der Wut schnaube und zittere in seinem Ingrimm, weil der Markgraf in dem Lande schon so Großes vollbracht und noch mehr vollbringen wolle, dass seine, die Herrschaft der Finsternis, aufhöre. Der Markgraf […] gelobte […], dass er […] auf derselben Stelle […] ein Kloster bauen wolle. Von da solle das Licht des Glaubens und die gute Sitte und ehrbarer Fleiß ausgehen über das ganze Heidenland […]“. Auch in Theodor Fontanes Roman Vor dem Sturm wird die Gründungssage erzählt (III, 15). In den Altarstufen der Klosterkirche ist ein verkieselter Eichenblock eingelassen, der aus dieser Zeit stammen soll und als angeblicher Teil der „Eiche Ottos“ der Gründungslegende zugeschrieben wird (eine dendrochronologische Untersuchung, also eine Datierung mittels Jahresringen, ist bisher noch nicht erfolgt). Während der Zeit der Missionierung wurden des Öfteren heidnische Tempel oder Heiligtümer mit christlichen Sakralbauwerken überbaut, um die alte Religion zu verdrängen und die Macht des neuen Glaubens eindrucksvoll zu demonstrieren. Manche Autoren äußern daher die Vermutung, es könnte sich auch bei dem eingelassenen Baumstumpf um den zentralen Teil eines ehemaligen slawischen Naturheiligtums handeln, das von den Missionaren ähnlich geschlagen worden sein könnte wie einst die Donareiche von Bonifatius. Als makabres Zeichen des Triumphes hätte man den Baumstumpf baulich in die Altarstufen integriert. Eiche und Hirsch aus der Legende bilden heute das Wappen der Gemeinde Kloster Lehnin. Nach Theodor Fontane soll Otto I. den Namen Lehnin gewählt haben, weil Lanye im Slawischen Hirschkuh bedeutet. Fontane beruft sich in seiner Darstellung auf die Angaben in der Böhmischen Chronik von Přibík Pulkava, der Historiograf Kaiser Karls IV. im 14. Jahrhundert war. Stephan Warnatsch, der 1999 eine zweibändige Monographie zum Kloster vorgelegt hat, hält eine Ableitung von Jelenin = ‚Hirsch‘ für wahrscheinlicher, allerdings ebenfalls nicht für stichhaltig. Denn nach seinen Überlegungen ist es nicht sehr einleuchtend, „dass ein deutscher Markgraf einer gegen die heidnischen Wenden gerichteten Klosterstiftung ausgerechnet einen slawischen Namen geben sollte […]“. Die bisherigen Ableitungen sind daher eher als spätere Versuche zu verstehen, den für ein deutsches Kloster ungewöhnlichen slawischen Namen zu erklären. „Wahrscheinlich leitet sich ‚Lehnin‘ vom Eigennamen ‚Len‘ ( ‚Faulpelz‘) ab und wäre mithin als ‚Ort des Len‘ zu verstehen – ein ganz üblicher Siedlungsname also.“ Abgeschiedenheit von der Welt und Einfachheit der Lebensweise Die Zisterzienser fanden für ihre Bauten schwierige Bodenverhältnisse vor. Das Gebiet Zauche wird nordwestlich durch den Flusslauf der Havel, südwestlich durch das Baruther Urstromtal und östlich durch die Nuthe-Nieplitz-Niederung begrenzt. Die flachwellige Hochfläche entstand vor rund 20.000 Jahren während der Weichsel-Eiszeit, als das Inlandeis am Fläming südlich des Baruther Urstromtals seine maximale Ausdehnung nach Süden erreichte und in der nördlichen Zauche seine Hauptendmoräne aufschüttete. Das Eis und abfließendes Schmelzwasser hinterließen auf der Zauche flachwellige Ablagerungen aus Geröll, Mergel und Sand, darunter den Beelitzer Sander. Der Name der rund 60 Meter ü. NN liegenden Zauche kommt aus dem Slawischen und bedeutet trockenes Land – das von den Slawen auf Grund dieser Trockenheit eher an den Rändern der Hochfläche oder an Seen, die meist aus Toteisblöcken entstanden waren, besiedelt wurde. Reste von angestauten Schmelzwasserseen und Rinnen wie das Emstertal ließen in diesem ansonsten kargen Land einige tiefe, unwegsame Sümpfe entstehen, so auch um den Lehniner Klostersee. Dass die Mönche das Kloster in dieses eher unwirtliche Gelände hineinbauten, hatte einen Grund in der strengen, asketischen Lebensweise der Zisterzienser, die mit ihrer Carta Caritatis die ursprüngliche Strenge und die Regel „ora et labora“ des Benediktinerordens, von dem sie sich 1098 getrennt hatten, wiederherstellen wollten. Diesem Ideal trug Markgraf Otto I. Rechnung, als er das Kloster 1180 in einer sumpfigen Umgebung 15 Kilometer südöstlich von seinem Hauptort Brandenburg an der Havel stiftete. Zudem wünschte er sich für seine Familie ein Hauskloster als dynastische Grablege, die daher nicht zu weit entfernt vom Fürstensitz liegen sollte. Nach der Ordensregel des Benedikt von Nursia (Regula Benedicti) wollten die Mönche ausschließlich von ihrer eigenen Hände Arbeit leben. Einnahmen aus Verpachtung und Zinsen sowie die Erhebung des Zehnten lehnten sie ab. Einfache Kleidung, bescheidene Ernährung mit Gemüse ohne jedes Fleisch, strohgedeckte Betten ohne Polster sollten ihre Lebensweise prägen. Zu dieser Lebensweise passte eine Ortswahl, die den Mönchen besondere Härte abverlangte. Laut Fontane sollten die Klöster zudem auch deshalb „in Sümpfen und Niederungen, d. h. in ungesunden Gegenden gebaut werden …, damit die Brüder dieses Ordens den Tod jederzeit vor Augen hätten. … An wenigen Orten mochten die Vorzüge dieses Ordens deutlicher hervortreten als in der Mark, weil sie nirgends ein besseres Gebiet für ihre Tätigkeit vorfanden.“ Das Ordensideal der eigenhändigen Arbeit verschwand allerdings schon kurz nach 1200 (siehe unten), und mit ihrer wirtschaftlichen Tüchtigkeit entwickelten die Mönche Lehnin zu einer wohlhabenden Abtei. Die wirtschaftliche Entwicklung des Klosters Grundbesitz Basis der erfolgreichen Wirtschaftstätigkeit war der Grundbesitz des Klosters. Die Stiftungsausstattung umfasste den Klostersee bis zur Mühle in Nahmitz mit allen seinen Einkünften, die fünf Dörfer Göritz, Rädel, Cistecal, Schwina und Kolpin, einen Teil des Dorfes Götz, „je eine Wiese bei Deetz und Wida sowie eine Hebung über fünf Winscheffel aus dem Salzzoll zu Brandenburg.“ Die Fischerei in Flüssen und Seen hatte im Hochmittelalter einen hohen Stellenwert für die Versorgung, so dass dem Besitz von Seen und Fischereirechten eine große Bedeutung zukam. Ein Jahr vor seinem Tod, 1183, ergänzte Otto I. diese Grundausstattung um weitere Dörfer und Seen. Auch in der Folgezeit erhielt die Zisterze Besitzschenkungen der askanischen Landesherren, die in der Regel frei von Lasten und Abgaben wie Steuern oder Zollpflichten übertragen wurden. Die Lehniner Mönche erweiterten ihr Einflussgebiet stetig und verwandten ihre erwirtschafteten Überschüsse zum Zukauf weiterer Dörfer wie des benachbarten Nahmitz; die Zauche bildete mit einem Drittel ihrer Fläche den Kernbesitz des Klosters. Bereits 1219 kam das mit rund vierzig Kilometern verhältnismäßig weit entfernte Dorf Stangenhagen und später auch Blankensee hinzu, die beide im Süden des von Fontane sogenannten Thümenschen Winkels im Dreieck der Flussläufe von Nuthe und Nieplitz liegen. Diese Erwerbung dehnte den Lehniner Einflussbereich bis ins Magdeburgische aus. Im Jahre 1317 kauften sie für 244 Mark brandenburgischen Silbers die heutige Blütenstadt Werder (Havel). Der bekannte Obstanbau in Werder, der jährlich im Frühjahr mit einem der inzwischen größten deutschen Volksfeste, dem Baumblütenfest, gefeiert wird, geht auf die Arbeit dieser Pflanzstätte aller Kultur in der Mittelmark (G. Sello) zurück. Ein weiteres Lehniner Dorf war der heutige südliche Berliner Ortsteil Zehlendorf, ferner das seinerzeit von Zehlendorf getrennte slawische Slatdorp mit dem Slatsee (Schlachtensee), und selbst nördlich Berlins im Barnim gab es Lehniner Ländereien wie das Dorf Wandlitz (Vandlice), die Grangie Altenhof in Schönerlinde oder das Dorf Sommerfeld nordwestlich von Oranienburg. Das Dorf Lehnin, die Kerngemeinde der heutigen Großgemeinde Kloster Lehnin, entstand um 1415, als die Zisterzienser vor den Klostermauern einen Markt einrichteten. Wirtschaftstätigkeit Den Mönchen kam sehr bald eine wirtschaftliche Vorbildfunktion zu, die in den märkischen Dörfern willkommen war. Ihre Klöster wurden zu Musterbetrieben, da die Zisterzienser immer auf dem neuesten agrar- und wirtschaftstechnischen Stand waren, sei es bei der Urbarmachung der Sümpfe, der Anlage von Mühlen, beim Anbau von Wein oder bei Ackerbau und Viehzucht. Diese Arbeiten wurden in der Regel weniger von den Chormönchen als vielmehr von den Konversen, den Laienbrüdern mit verringerten Gebetspflichten, oder von angestellten Arbeitern ausgeführt. Zur Unterstützung ihres umfangreichen Handels mit Erzeugnissen und Produkten wie Getreide, Fleisch, Fisch, Molkereiprodukten, Honig, Bienenwachs, Wein und Leder unterhielten die Mönche florierende Stadthäuser in Berlin und in Brandenburg an der Havel. Eine Urkunde vom 20. August 1469 belegt, dass Getreidelieferungen bis nach Hamburg gingen. Anfang des 13. Jahrhunderts kam es aufgrund der fortschreitenden Wirtschaftsentwicklung zu einer einschneidenden Abweichung vom ursprünglichen Ordensideal: Es bestand kein Bedarf mehr an Fachleuten für Urbarmachung, sondern für Wirtschaft, Handel und Verwaltung. Nach jahrelangen Diskussionen im Generalkapitel gaben die Zisterzienser die Ordensregel auf, die Ertragsquellen wie Zinseinkünfte sowie die Erhebung des Zehnten und Pacht verbot; diese Maßnahme betraf europaweit alle Klöster der Zisterzienser. Der ausgedehnte Lehniner Grundbesitz, zum Teil ausgestattet mit dem Recht zur Zehnterhebung, führte zu erheblichen Einnahmen aus diesen Rentenquellen, die der Regel „ora et labora“ eigentlich widersprachen. Zu einer Pachtabgabe, die im riesigen Kornhaus (karnhusz) gelagert wurde, führt Das Prozeßregister des Klosters Lehnin unter dem 23. September 1443 die Eintragung: „[…] twey wispel roggen […] clostere Lenyn hebben gegeven, unde hebbe gesien, dat die pacht in dat closter is gefuret unde upp des closters karnhusz is gedragen.“ Stephan Warnatsch berechnet die gesamten Renteneinnahmen pro Jahr, die er auf rund ein Drittel der Gesamteinkünfte schätzt, für die Zeit um 1375: „[…] 111,5 Talente Geld, 3831 Gulden, 414 Groschen, 8153,5 Denare, 4210,5 Scheffel und 80 Maß Weizen, 2236 Scheffel und 13,5 Maß Hafer, 1792 Scheffel und 32 Maß Gerste, 50 Scheffel Roggen, 40 Scheffel Humus, 2 Scheffel Mohn, ein halbes Pfund Pfeffer, 857 Vögel und 460 Eier […]“. Im 15. Jahrhundert hatte das Kloster eine derartige Finanzkraft, dass Kredite an Städte wie Erfurt und Lüneburg vergeben werden konnten. Lüneburg bekam beispielsweise 1443 einen Kredit über 550 Gulden bei 6 Prozent Jahreszins, den die Mönche 1472 auf vier Prozent senkten. Als das Kloster 1542 säkularisiert wurde, umfasste der Besitz rund 4500 Hektar Wald- und Ackerfläche, 54 Seen, neun Wind- und 6 Wassermühlen, 39 Dörfer sowie mit Werder eine Stadt. Ausdruck der Lehniner Prosperität waren ferner die drei erwähnten Klosterneugründungen im 13. Jahrhundert, die erlaubt waren, sobald ein Kloster die Stärke von 60 Mönchen überschritt. Klostergeschichte und eine Prophezeiung Mordlegende um den ersten Abt Sibold Dieser Reichtum wurde hart erarbeitet und teuer bezahlt. Mit welchen politischen Schwierigkeiten die Mönche in den ersten Jahren zu kämpfen hatten, verdeutlicht die Legende um den ersten Abt Sibold. Die archäologische Forschung konnte mehrere slawische Dörfer in der unmittelbaren Umgebung Lehnins nachweisen, deren Bevölkerung vor allem in den ersten Jahren nach Klostergründung bis etwa 1185/1190 den Mönchen erheblichen Widerstand bei ihrer Missionierung leistete und sich gegen die Zerstörung ihrer Kultstätten auflehnte. Neuere Forschungen weisen in die Richtung, dass das Kloster demonstrativ auf einer heidnischen Kultstätte errichtet wurde – der in den Altarstufen der Kirche eingelassene Teil des Eichenstamms könnte aus einer Eiche stammen, die von den Slawen als Heiligtum verehrt wurde. Damit würde der Block, wenn diese Analyse stimmt, fälschlich der Gründungslegende um Otto I. zugeschrieben. 1170 zerstörten Slawen das benachbarte Kloster Zinna und antworteten damit auf die Zerstörung der Stätte ihres Gottes Triglaw auf dem Harlunger Berg bei Brandenburg an der Havel. 1179 ermordeten Slawen im magdeburgischen Jüterbog den Zinnaer Abt Rizzo. Während diese Angaben geschichtlich belegt sind, gibt es für die Legende um die Erschlagung des ersten Lehniner Abtes Sibold im Jahr 1190 keine Belege. Dennoch ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Legende angesichts der Verhältnisse dieser Zeit einen realen Kern enthält und damit die Herausforderungen verdeutlicht, die die Mönche Lehnins zu überwinden hatten. Die Geschichte wird ausführlich von Theodor Fontane weitergegeben: Demnach trat Sibold im benachbarten Dorf Nahmitz zur Rast in eine Hütte ein, erschreckte unfreiwillig die Bewohner und wurde nach einem anzüglichen Missverständnis um die Frau des Fischers nach der Flucht auf einen Baum im Wald erschlagen. Die Mönche sollen daraufhin beschlossen haben, den Standpunkt Lehnin aufzugeben, bis ihnen die Jungfrau Maria erschien und zurief: „Redeatis! Nihil deerit vobis“. Das „Kehret um, es soll Euch an nichts mangeln“ flößte den Mönchen neues Gottvertrauen ein, so dass sie die Bauarbeiten am Kloster fortsetzten. Stephan Warnatsch siedelt die mögliche Ermordung des Abtes eher um 1185 an und hält als realen Hintergrund einen Streit der Mönche mit den Nahmitzer Slawen um Fischerei- und Mühlenrechte für wahrscheinlich. Zwei erhaltene Gemälde aus der Klosterzeit, aus dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts beziehungsweise aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, stellen die Ermordung Sibolds dar. Sie sind mit ihren Klosterabbildungen auch für die Baugeschichte von Interesse und wurden bei der Restaurierung 1871 herangezogen (für einen Ausschnitt des älteren Gemäldes mit der Klosterkirche siehe unten; die nebenstehende Szene ist ein Ausschnitt aus dem jüngeren Bild). In dem ehemaligen Berliner Prachtboulevard Siegesallee, der von der Bevölkerung spöttisch als Puppenallee bezeichnet wurde, stand eine Büste des ersten Lehniner Abtes Sibold an der Seite des Denkmals für Otto I. Konvent als verderbte Räuberbande In der Mitte des 13. Jahrhunderts haben im Kloster nach übereinstimmenden Schätzungen mindestens 100 Zisterzienser, wahrscheinlich je zur Hälfte Chormönche und Konversen, in getrennten Wohnbereichen gelebt. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts stammten die Mönche ausschließlich aus dem Adel, danach traten auch zunehmend „Bürgerliche“ in das Kloster ein. Zahlreiche Mönche studierten an den Universitäten in Wittenberg, Erfurt, Frankfurt/Oder und Leipzig. Einige Klosterbrüder gelangten zu erheblichem Einfluss im „Römischen“ Reich der Kirchenhierarchie. Der Mönch Dietrich von Portitz beispielsweise, genannt Dietrich Kagelwit, war Kanzler bei Kaiser Karl IV., dann Bischof von Minden und danach Erzbischof von Magdeburg. Der Schriftsteller Willibald Alexis gibt in seinem Roman Der Werwolf die Legende Dietrich Kagelwit und die Schweinsohren wieder. Danach holte der Kaiser Kagelwit an seinen Hof, weil er von der Suppenkreation beeindruckt war, die der Mönch ihm bei einer Rast in Lehnin zur Stärkung vorsetzte. Aus der Not heraus, kein Fleisch zu haben und die für den Winter in Reserve gehaltenen Schweine auf Anweisung des Abtes nicht schlachten zu dürfen, schnitt der spätere Bischof der Legende nach den Schweinen die Ohren ab und würzte damit nach des Kaisers Befund die Suppe auf das Vorzüglichste. Nach 170 Jahren endete die askanische Herrschaft in der Mark. Mit dem Brandenburgischem Interregnum (1319/1320–1323) brach die Zeit der Wirren an, die sich unter den Wittelsbachern und Luxemburgern fortsetzte. Sie spiegelte sich in harten Auseinandersetzungen unter den Klosterbrüdern wider, die bis zum Mord reichten. Der Konvent galt zeitweise als verderbte Räuberbande, einige Mönche standen unter Waffen. Die Abtei kämpfte im 14. Jahrhundert mit einigen benachbarten adligen Familien, die sich teils widerrechtlich in den Besitz von Klostergütern gesetzt hatten. So werden unter anderem die Familien von Rochow und Groeben als Streitgegner genannt. Auch von der Ermordung eines „Ritters Falko und vier seiner Begleiter“ ist die Rede, die im Kloster genächtigt hatten. Beteiligt an dem Mord soll Hermann II. von Pritzwalk gewesen sein, der später zum Abt Lehnins gewählt wurde. Nach dem Mord an Falko sollen sich Mönche bewaffnet, Söldner angeworben und Raubzüge unternommen haben. Der Mönch Dietrich von Ruppin berichtete daraufhin dem Generalkapitel des Ordens sowie Papst Benedikt XII. von den Vorgängen. Der Heilige Stuhl leitete aufgrund der erhobenen Anschuldigungen 1339 eine Untersuchung der Vorfälle in die Wege, die in Konsequenz jedoch nicht zur Amtsenthebung des beklagten Abtes führte. Vom Kläger selbst wird berichtet, er habe selbst neun Monate in der Haft des Klosters verbracht. Erst mit der Machtübernahme der Hohenzollern im Jahr 1415 gelangte die Abtei Lehnin zu neuer Blüte. Der führende Widerstand des Abtes Heinrich Stich (1400–1432) gegen die Quitzowschen Raubritter und die Lehniner Unterstützung für Friedrich I. trug den Äbten vertrauensvolle und beratende Funktionen auch bei den neuen Machthabern ein; sie erhielten den Titel Kurfürstlicher Rat. Weiteres Ansehen erlangte das Kloster 1450, als der Papst den Rang eines Bischofs an die Äbte verlieh. „Seitdem trugen sie“, berichtet Fontane, „bei feierlichen Gelegenheiten die bischöfliche Mitra, das Pallium und den Krummstab. Auf den Landtagen saßen sie auf der ersten Bank, unmittelbar nach den Bischöfen von Brandenburg und Havelberg.“ Der letzte Abt Valentin reiste 1518 im Auftrag des Brandenburger Bischofs nach Wittenberg zu Martin Luther, um dessen Veröffentlichung Über den Ablass zu verhindern. Letzter Abt Valentin und Auflösung des Klosters „Unser Abt schien in der Tat“, schreibt Fontane, „vor jedem anderen berufen, durch die Art seines Auftretens, durch Festigkeit und Milde, dem ‚Umsichgreifen der Irrlehre‘, wie es damals hieß, zu steuern […] Sein Erscheinen scheint nicht ohne Einfluss auf Luther gewesen zu sein, der nicht nur seinem Freunde Spalatinus bemerkte: ‚wie er ganz beschämt gewesen sei, dass ein so hoher Geistlicher (der Bischof) einen so hohen Abt so demütig an ihn abgesandt habe‘ […]“ Die vertrauensvolle beratende Stellung, die Abt Valentin bei Kurfürst Joachim II. innehatte, konnte die Säkularisation Lehnins zwar nicht verhindern, aber immerhin bis zu seinem Tod 1542 aufschieben, auch wenn der Kurfürst bereits seit 1540 ein zunehmend offenes Ohr für Luthers Interpretation des Evangeliums gewann, zu der er sich 1555 offiziell bekannte. Auf seine Weisung ließen die protestantischen Visitatoren das Kloster des frommen alten Pater, das sie 1541 in Augenschein genommen hatten, erst einmal unbehelligt. Nach Valentins Tod verhinderte der Kurfürst die Wahl eines neuen Abtes und löste das Kloster auf. Die laut Oskar Schwebel Gothische Stadt im Kleinen wurde in das kurfürstliche Domänenamt Lehnin umgewandelt, dem staatliche Amtmänner vorstanden. Die mit dem Pater bis zuletzt verbliebenen 17 Mönche traten aus dem Klosterkonvent aus und entsagten allen Ansprüchen an das Kloster und seine Rechtsnachfolger. Sie erhielten Abfindungen in Form von Geld und Kleidung und kehrten in der Mehrzahl in ihre Heimatorte zurück. Laut Regestenverzeichnis (Nr. 751, siehe Literatur) erhielt beispielsweise Bruder Hieronymus Teuffel 27 Gulden. Ein Klosterbruder wechselte in das Kloster Zinna und zwei ältere Mönche wollten und durften den Lebensabend im Kloster beschließen und bekamen hierfür eine Versorgung. Vaticinium Lehninense Gegen Ende des 17. Jahrhunderts tauchte an verschiedenen Orten in der Mark Brandenburg eine gedruckte Weissagung auf, deren handschriftliches Original angeblich im Jahr 1683 im Beisein des Großen Kurfürsten im Kloster gefunden worden war. Der Klosterbruder Hermann, der den Text 1306 in seiner Zelle geschrieben haben soll, prophezeit darin in lateinischen Versen den Untergang der Hohenzollern-Dynastie und das Wiedererstehen von Kloster Lehnin. Dieses über Jahre immer wieder gedruckte und bis Mitte des 19. Jahrhunderts viel diskutierte Vaticinium Lehninense ist eine Fälschung. Als Verfasser werden u. a. die brandenburgischen Konvertiten Andreas Fromm und Nikolaus von Zitzewitz, der Jesuit Friedrich von Lüdinghausen Wolff sowie der Historiker Martin Friedrich Seidel vermutet. Das zeitgenössische große Echo der Prophezeiung resultierte aus der „hellseherischen“, absolut genauen Vorhersage der Ereignisse bis 1680, was nicht weiter verwundert, da es erst in diesen Jahren verfasst wurde. Die Vorhersagen für die Zeit nach 1680 muten – zumindest aus heutiger Sicht – geradezu bizarr an. Ende des 18. Jahrhunderts rückten auch die glühendsten Verfechter von der Weissagung ab; die nicht weniger lebhaften Diskussionen in der Folgezeit drehten sich um die Frage, wer Urheber des Vaticiniums gewesen sein könnte. Geschichte nach den Mönchen, ab 1543 Verfall des Klosters und neue Blüte Kurfürst Joachim II. ließ Gebäude und umliegende Flächen des seit 1542 kurfürstlichen Domänenamtes Lehnin ausbauen; Teile dienten als Jagdlager. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts richteten die Hohenzollern das Falkonierhaus als Gästehaus für die kurfürstlichen Jagdgesellschaften her. Während des Dreißigjährigen Kriegs kam es mehrfach zu Plünderungen der Anlage und zu Bränden. Im 17. Jahrhundert erlebte das ehemalige Kloster einen zwischenzeitlichen Aufschwung. Der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm ließ den Westflügel verlängern und die Klausur um 1650 zum Jagdschloss erweitern, was ein bescheidenes höfisches Leben mit sich brachte. Seine erste Frau, die Kurfürstin Luise Henriette von Oranien, machte Lehnin zu ihrer bevorzugten Sommerresidenz. Am 9. Mai 1667 nahm die kurfürstliche Familie in Lehnin von der schwer erkrankten Henriette Abschied, wenige Wochen später starb sie in Berlin. Der Name der Kurfürstin lebt im heutigen kirchlichen Luise-Henrietten-Stift fort. Als nach den Pestjahren und fast 50 Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg viele Brandenburger Dörfer noch immer fast verwaist waren, bot der Große Kurfürst 1685 mit dem Edikt von Potsdam den in Frankreich wegen ihrer Religion verfolgten Hugenotten freie und sichere Niederlassung in Brandenburg an. Die Flüchtlinge erhielten großzügige Privilegien, unter anderem Befreiung von Steuern und Zöllen, Subvention für Wirtschaftsunternehmen und Bezahlung der Pfarrer durch das Fürstentum. Auch in der verwaisten Domäne Lehnin siedelten sich Hugenotten an. Wegen der religiösen Überzeugung der Franzosen wurde in die noch vorhandene Klosterkirche eine Mauer eingezogen, die zu einer baulichen Trennung der Kirche in einen calvinistisch-reformierten und einen lutherischen Teil führte. Mit dem anschließenden Aufschwung der Brandenburger Wirtschaft und der neuen Wasserverbindung zur Havel durch den Emsterkanal kam unter anderem die Lehniner Ziegelei zu neuer Blüte; Lehnin verfügte zu dieser Zeit über einen Hafen, in dem Lastkähne anlegen konnten. Das Kloster profitierte von der Prosperität nicht, sondern geriet zunehmend in Vergessenheit und verfiel erneut. Zwischen 1770 und 1820 nutzten die Brandenburger die Anlage teilweise als Steinbruch und trugen große Teile ab. Die drei westlichen Mittelschiffsjoche der Kirche, das nördliche Seitenschiff, Kreuzgang, Klausur und Jagdschloss lagen in Trümmern. Der romanische Ostteil der Kirche blieb verschont und diente weiter als Gemeindekirche. Neun askanische Markgrafen und drei Kurfürsten aus dem Hause der Hohenzollern hatten im Kloster ihre Grabstätten, lediglich die Grabplatte von Otto VI. blieb erhalten. 1811 ging das inzwischen preußische Domänenamt Lehnin in Privatbesitz über. Zu einer neuen Blüte kam die Anlage Mitte des 19. Jahrhunderts, als aufkommendes Nationalbewusstsein und Romantik das preußische Königshaus und die gebildeten Stände auf das fast verfallene Kloster aufmerksam werden ließen. Der Rittergutsbesitzer von Lehnin, Robert von Loebell (1815–1905), der 1846 bis 1870 im Klostergelände wohnte, sorgte für die Beendigung der Verwüstung und nutzte seine sehr guten Beziehungen zur Königsfamilie, besonders zu Kronprinz Friedrich Wilhelm, dem späteren Kaiser Friedrich III., um finanzkräftige Förderer für den Erhalt dieses wichtigen Kulturortes zu finden. Der Romantiker auf dem Thron, König Friedrich Wilhelm IV., gab schließlich den Auftrag zur Restaurierung der Kirche, die zwischen 1871 und 1877 erfolgte (Details siehe unten). Zur Erinnerung an den erfolgreichen Wiederaufbau wurde im Jahr 1902 ein von Hans Arnoldt geschaffenes überlebensgroßes Bronze-Denkmal für Kaiser Friedrich auf dem Marktplatz von Lehnin enthüllt. Luise-Henrietten-Stift, 1911 Im Jahr 1911 kaufte die Evangelische Landeskirche der älteren Provinzen Preußens die Gebäude und gründete das Diakonissenmutterhaus Luise-Henrietten-Stift, mit dem nach langer Unterbrechung wieder eine geistliche Gemeinschaft in die Klosteranlage einzog. Das Stift sieht sich mit seinen verschiedenen helfenden und heilenden Einrichtungen in der Tradition des Zisterzienserklosters. Nach verschiedenen Umbauten und Erweiterungen waren auf seinem zahlenmäßigen Höhepunkt 1936 128 Diakonissen und Probeschwestern in der Einrichtung tätig. In der Zeit des Nationalsozialismus kam es zur Gleichschaltung der Stiftsleitung und im Zweiten Weltkrieg zur Schließung mehrerer Einrichtungen. 1943 bezog der sogenannte Generalbevollmächtigte Chemie (Gebechem) mehrere Stifts-Gebäude und ließ auf dem Gelände für seine Behörde sieben weitere Baracken errichten. Die Behörde koordinierte die Interessen der Kriegswirtschaft mit denen der Wehrmacht und SS und verteilte von hier aus KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter auf die Chemieindustrie. 1949 begann der Umbau des ehemaligen Klosterwirtschaftshofes zu einem Krankenhaus, der erst nach knapp 20 Jahren zum Abschluss kam. Seit der Einrichtung einer geriatrischen Rehabilitationsklinik mit Alten- und Pflegeheim 1993 ist das Luise-Henrietten-Stift geriatrisches Zentrum in der Stiftung Evangelisches Diakonissenhaus Berlin Teltow Lehnin. Heute verfügt die Einrichtung mit ihren rund 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ferner über eine Klinik für Innere Medizin und Palliativmedizin, über Hospiz, Diakoniestation und Kindergarten. Kirche und Anlage gehörten bis zum 1. Januar 2004 zum Sondervermögen der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und sind seitdem Eigentum des Evangelischen Diakonissenhauses Berlin Teltow Lehnin, einer Stiftung bürgerlichen Rechts. 2011 wurde eine Gedenktafel des durch das Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie Brandenburg geförderten Projektes „FrauenOrte im Land Brandenburg“ installiert. Baukunst der Zisterzienser Die Kunst des Schlichten Die strenge Lebensführung der Zisterzienser spiegelte sich in ihren schlichten Bauten wider. Die Bauten sollten nüchtern und ohne Zierrat, ohne Schmuck und Gold gehalten sein. 1218 verbot das Generalkapitel, die oberste Instanz in der straffen zentralistischen Führungsstruktur des Ordens, sogar bunte Kirchenfußböden. Zwar fand die asketische Disziplin ihre Entsprechung in einer einfachen, klar gegliederten Architektur, dennoch entstanden sehr ansehnliche und aus heutiger Sicht eindrucksvolle Bauten. Die Mönche setzten, um bei allen selbstauferlegten Beschränkungen eine dennoch ansprechende Ästhetik zu erreichen, neben verschiedenen Fries-Formen insbesondere zwei stilbildende Mittel ein: die Backsteintechnik und die Grisailletechnik als spezielle Form der Glasmalerei für die Kirchenfenster. Backsteintechnik Die Zisterzienser nutzten in Norddeutschland den Backsteinbau, da er im Vergleich zu den zeitgenössischen Granitbauten stabilere Mauern hervorbrachte. Granitsteine wurden in der Regel nur noch für die Fundamente genutzt. Geeignete Ziegelerde fanden die Mönche im benachbarten Kaltenhausen. Der Ton wurde in ihren 1876 aufgefundenen Gruben mit Wasser eingesumpft und nach Beimengungen von Sand bis zu einer mörtelähnlichen Masse geknetet, die in hölzerne Kastenformen gegeben und glatt gestrichen wurde. Nach einem Tag im Sonnenlicht war die Masse fest genug zur Weiterverarbeitung in den Brennöfen. Hier wurden bis zu 10.000 Steine gleichzeitig und von allen Seiten acht Tage lang mit schwachem Holz-/Torffeuer gebrannt. Während der anschließenden vier oder fünf Tage dauernden starken Erhitzung bis zu 1000 °C wurde aus dem gelblichen Eisenhydroxid der Ziegelerde das charakteristische rote Eisenoxid der Backsteine. Danach wurden die Öfen mit Erdreich abgedeckt und rund vier Wochen lang ausgekühlt. Die Kunst der Backsteinproduktion bestand in der richtigen Feuerstärke, zu schwaches Feuer lieferte bröckelnde, zu starkes Feuer verformte Steine. Der „Ausschuss“ wurde als Füllmaterial genutzt. Die Steine waren durchschnittlich 11 cm hoch, 14 cm breit und 26 bis 31,5 cm lang. Unterschiede ergaben sich durch unterschiedliche Schrumpfung beim Brennen und Trocknen. Wenn die frühgotischen Zisterzienser-Bauten auch ein einheitliches Bild vermitteln, so gab es dennoch keine verbindlichen oder allgemein gültigen Baupläne. Die relativ gleichförmige Architektur resultiert aus den begrenzten gestalterischen Möglichkeiten der Backsteintechnik. Grisailletechnik Das zentrale Generalkapitel gab den Klöstern auch für die Fenster klare Regeln vor: Sie sollten weiß, ohne Kreuze und ohne die üblichen farbigen Abbildungen biblischer Figuren gestaltet werden. Die Mönche halfen sich mit der in Frankreich entwickelten Grisaillemalerei (von französisch gris – grau), die graues Glas oder auch Bücher mit einfarbigen Ornamenten schmückte. Die Zisterzienser entwickelten aus dieser Technik ihren eigenen Stil, indem sie weiß-milchige Scheiben mit verschiedensten Formen pflanzlicher Ornamente wie Ranken und Blattwerk bemalten. Als Farbe nutzten sie Schwarzlot, das bei einer Temperatur von 600 °C in die Scheiben gebrannt wurde, so dass sich der typische grau-in-grau Ton ergab. Schwarzlot ist eine schwarze Farbe, die aus gefärbtem Bleiglas, das sich leicht aufschmelzen lässt, gewonnen wurde. Die hohen, kunstvoll bemalten Fenster waren, neben Treppentürmchen, das dominante Gestaltungsmittel der Lehniner Bauten. In Lehnin ist kein derartiges Fenster erhalten, im Tochterkloster Chorin wurden verschiedene Fensterbruchstücke ausgegraben. Baugeschichte Unter den bereits restaurierten Gebäuden der heutigen Klosteranlage ist nicht nur die Kirche mit der Klausur beeindruckend, sondern auch weitere historische Backsteinbauten wie beispielsweise das Königshaus und das Falkonierhaus. Eine kurze Beschreibung dieser Gebäude mit ihrer jeweiligen heutigen Nutzung folgt nach den Abschnitten über die Kirche. Überblick Über die frühe Baugeschichte gibt es so gut wie keine sicheren Quellen und auch die wenigen Ausgrabungsfunde in der Wiederaufbauphase des 19. Jahrhunderts geben keine verlässliche Auskunft. Bis zum eigentlichen Baubeginn dienten den ersten Mönchen ab 1183 behelfsmäßige Unterkünfte und ein provisorisches Betkirchlein, die Konversen und angeworbene Arbeiter vorab erstellt hatten. Ungefähr fünf Jahre nach der Klostergründung, also um 1185, begann der Bau der Kirche und der zentralen Klosteranlage, der nach traditionellen Darstellungen bis 1260 im Wesentlichen zum Abschluss kam. Neuere Forschungen deuten eher darauf hin, dass die frühen Bauten schon um 1235 vollendet waren und um 1260 bereits erste Umbaumaßnahmen abgeschlossen werden konnten. Vollendet waren um 1270 mit einiger Sicherheit ferner das „alte“ Abtshaus mit dem angegliederten Torhaus am Westausgang. Im 14. Jahrhundert wurde die Anlage um das Hospital (das spätere Königshaus), den Kornspeicher und die Klostermauer mit Wehrturm im südwestlichen Teil erweitert. Das Falkonierhaus kam gegen Ende des 15. Jahrhunderts hinzu. Die Bauten wurden im spätromanischen Stil begonnen. Als sich gotische Elemente in Europa durchsetzten, blieb ihre Übernahme in Lehnin im Einklang mit der klösterlichen Enthaltsamkeit zunächst eher zurückhaltend. Nach der Rekonstruktion der zerstörten Klosterkirche im 19. Jahrhundert folgten insbesondere seit der deutschen Wiedervereinigung Restaurierungen und Sanierungen verschiedener historischer Gebäude, die 2004 noch andauerten. Jüngere Sanierungen wurden zu einem erheblichen Teil mit finanziellen Zuschüssen des Landes Brandenburg durchgeführt und teilweise, wie 2004 beim alten Amtshaus, vom Brandenburgischen Amt für Denkmalpflege begleitet. Klosterkirche St. Marien Die dreischiffige Klosterkirche ist eine Pfeilerbasilika in Kreuzform und einer der bedeutendsten Backsteinbauten in der Mark Brandenburg. Stilistisch stellt die Kirche einen spätromanisch-frühgotischen Bau dar. Bauphasen In einer ersten Bauphase von ungefähr 1185/1190 bis 1195/1200 errichteten die Mönche die Ostteile der Kirche mit Apsis, Sanktuarium, Vierung, Querschiff und Nebenkapellen, die originalen Grundmauern sind bis heute erhalten. Die zweite Bauphase 1195/1200 bis 1205 hatte nach einem wahrscheinlichen Bauplanwechsel im Wesentlichen die Erhöhung der Apsis und die Errichtung eines Teils des östlichen Klausurflügels mit direkter Verbindung an die Kirchensüdseite zum Gegenstand. Ein erneuter Wechsel in der Planung führte in einer dritten Phase 1205 bis 1215/1220 zur Einwölbung der Kirche mit Kreuzrippengewölben, der Ostflügel und das erste Langhausjoch mit quadratischem Grundriss wurden vollendet. Spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte die Kirche erstmals genutzt werden. Wegen finanzieller Engpässe soll es anschließend zu einer rund dreißigjährigen Baupause gekommen sein, die neueren Überlegungen von Warnatsch gehen dagegen von einer vierten Bauphase 1220 bis 1235 aus, in der die restliche Klausur mit Sakristei, Kreuzgang und Konversenflügel gebaut wurde. Die Errichtung der Westfassade schloss das Hauptschiff und vollendete die Kirche. Nach einer laut Warnatsch lediglich rund 15-jährigen Baupause folgten in einem fünften Abschnitt 1250 bis 1262/1270 bereits Umbauten, mit denen die Zisterzienser die drei westlichen Langhausjoche umgestalteten und eine neue imposante und repräsentative Westfassade hochzogen. Die neue Westfassade kann als Kompromiss zwischen den Selbstbeschränkungen der Mönche zur Schlichtheit und dem landesherrlichen Repräsentationsanspruch der askanischen Gründerfamilie (Hauskloster, Grablege) betrachtet werden. Um dem Statut des zisterziensischen Generalkapitels von 1157: Steinerne Türme für Glocken sollen nicht sein Genüge zu tun, erhielt die Kirche einen kupfergedeckten Dachreiter statt eines Glockenturms. Die gelungene Rekonstruktion des Dachreiters in den 1870er Jahren orientierte sich unter anderem an dem Bild aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, das die Ermordung des ersten Abts Sibold darstellt. Wiederaufbau – frühes Meisterwerk moderner Denkmalpflege Friedrich Wilhelm IV. beauftragte verschiedene Architekten, darunter Ludwig Persius (1842) und Friedrich August Stüler (um 1860), Gutachten und Pläne zur Restaurierung der zerstörten Kirche zu entwerfen. Den immer wieder verzögerten und verworfenen Plänen folgten 1862 erste Aufgrabungen und Untersuchungen der Kirchenruine. Im Frühjahr 1871 begann der Wiederaufbau der Kirche, der bis September 1871 unter der Leitung des königlichen Baumeisters Geiseler und anschließend unter der von Bauinspektor Köhler gestanden haben soll; diese Angabe ist allerdings noch nicht ganz gesichert. Das Ziel, die Gebäude so originalgetreu wie möglich wiederherzustellen, führte zu einer Öffnung der alten Tongruben, damit die Backsteine in den historischen Farbtönen gebrannt werden konnten. Es gelang den Baumeistern und Architekten, die zerstörten Teile und insbesondere das Längsschiff dem historischen Vorbild entsprechend wieder aufzubauen. Am 24. Juni 1877 weihte der spätere 99-Tage-Kaiser Friedrich III. die Kirche ein. Georg Sello spann einen Bogen von Otto I. zu Friedrich III.: „Der Sohn des Begründers des brandenburgischen Staates hatte den Grundstein der Kirche gelegt […]; der Sohn des Kaisers schloß das letzte Glied in der Kette ihrer Schicksale, die so innig verbunden mit der Geschichte der Mark […], als in seiner Gegenwart […] die Weihe vollzogen wurde. Wie ehedem ziehen nun wieder Glockenklang und Chorgesang über die stillen Klostergewässer.“ Nach der jüngeren vergleichenden Forschung handelt es sich zwar eher um eine Rekonstruktion und weniger um eine Restaurierung. Die Abweichungen vom Original, die für den Laien kaum wahrzunehmen sind, trüben jedoch das Gesamtbild nicht, so dass die Arbeit der preußischen Baumeister nach wie vor als frühes Meisterwerk moderner Denkmalpflege gelten darf. Dies gilt umso mehr, als in den 1870er Jahren ältere Baupläne und Daten, die heute zum Vergleich herangezogen werden können, noch nicht zur Verfügung standen. Mitte der 1990er Jahre erfolgte eine weitere umfassende Restaurierung des Gebäudes. Ausstattung Von der historischen Einrichtung der Kirche blieben lediglich der gemauerte Hochaltar, zwei Grabplatten, der verkieselte Eichenblock in den Stufen zum Sanktuarium mit seiner ungeklärten Symbolik und die beiden Gemälde zur Legende um die Erschlagung des ersten Abtes Sibold erhalten. Der Grabstein an der Nordwestwand zeigt den vorletzten Abt Peter († 6. März 1509) mit Stab und symbolischem Hündchen als Sinnbild christlicher Treue in Wachsamkeit und Kontemplation. Die ältere Platte stammt aus dem Grab des askanischen Markgrafen Otto VI. (auch Ottoko oder der kleine Otto), der als Mönch am 16. Juli 1303 im Kloster gestorben war. Die laut Warnatsch immer wieder ärgerliche Zuordnung in Literatur und Reiseführern zu Markgraf Otto IV. (mit dem Pfeil) ist falsch, denn dieser sei 1308/1309 im Tochterkloster Chorin begraben. Alle weiteren Platten aus der Grablege der Herrscherfamilie sind zerstört. Ob zur Zeit des Klosterlebens eine Orgel existierte, ist nicht bekannt; die vorhandene Orgel aus dem Jahr 1975 stammt von der Firma Schuke aus Potsdam. Der spätgotische holzgeschnitzte Flügelaltar von 1476 kam erst 1948 als Leihgabe des Domstifts Brandenburg in den Chorraum. Der Lehniner Altar von 1518 kam 1552 im Zuge der Reformation in den Dom St. Peter und Paul (Brandenburg an der Havel) und dient dort seit 1727 als Hauptaltar im Hochchor. Die hölzerne Taufe im Querschiff des Klosters Lehnin stammt aus dem 17. Jahrhundert. Das schlichte, eindrucksvolle Triumphkreuz kam 1952 aus der Dorfkirche Groß-Briesen bei Belzig. Sein ursprünglicher Standort ist unbekannt. Nach Schätzungen lag die Entstehung des Holzkreuzes um 1240. Heute nutzen die Lehniner das Haus als Gemeindekirche. Gemeinsam mit dem Kloster Zinna bietet das historische Gebäude die Reihe Musica Mediaevalis, mittelalterliche Vokalmusik in Zisterzienserklöstern, an. Eine weitere musikalische Besonderheit sind die Lehniner-Sommermusiken mit Konzerten in der Klosterkirche, im Kreuzgang und im Stiftssaal. Zentrale Klosteranlage, Klausur, Bibliothek Von der ehemaligen Klausur, dem eigentlichen Lebensraum der Mönche, blieben einige Reste erhalten, die aus der zweiten (1195/1200–1205) und vierten Bauphase (1220–1235) stammen. Während der Schlafsaal (Dormitorium) eine direkte Verbindung zur Kirche besaß, war der westliche Konversenflügel streng getrennt von der übrigen Klausur. Im Südflügel befand sich der Speisesaal. Um 1650 folgte die Umgestaltung der Klausur zum Jagdschloss. Der ehemalige Konversenflügel ist heute als so genanntes Luise-Henrietten-Haus das Hospiz und das Wohnhaus der Diakonissen und Schwestern. Im Ostflügel mit dem Kreuzgang und dem Kapitelsaal, dem heutigen Cecilienhaus, befinden sich 2004 unter anderem die Stiftsverwaltung und die Küche. Der neue Südflügel beheimatet die geriatrische Rehabilitationsklinik. Im Kreuzgang sind zwei Buchnischen der verschollenen Bibliothek zu sehen, die mit rund 560 Bänden und knapp 1000 Titeln bereits um 1450 über einen für die damalige Zeit außerordentlichen Bestand verfügte. Die handschriftlichen Bände durften nach den Ordensregeln keine goldenen oder silbernen Schließen besitzen und die Buchstaben mussten frei von farbigen und figürlichen Darstellungen bleiben. Ein Katalog der Bibliothek aus dem Jahr 1514 ist überliefert. Danach besaß die Bibliothek die revelationes caelestes der heiligen Birgitta von Schweden und Schriften der heiligen Hildegard von Bingen, die einen regen Briefwechsel mit ihrem Förderer, dem gleichfalls heiliggesprochenen Bernhard von Clairvaux geführt hatte, einem der Gründer des Zisterzienserordens. Königshaus, Falkonierhaus, Abtshaus, Elisabethhaus Das so genannte Königshaus war zu Klosterzeiten sehr wahrscheinlich das „Hospital“. Die Mönche errichteten das Gebäude wie die Kirche in Backsteinkunst, allerdings im spätgotischen Stil. Der letzte Abt Valentin ließ das Haus um 1530 als Unterkunft für Joachim I. für die Tage herrichten, an denen der Kurfürst in den ausgedehnten Lehniner Wäldern auf die Jagd ging. Der Ausbau zum Königshaus fand unter Friedrich Wilhelm IV. statt. Nach der Restaurierung im alten Stil 1993–1995 stellt sich das Haus heute als ein Kleinod märkischer Baukunst dar. Eine Lernwerkstatt nutzt das Gebäude für Fortbildungskurse und -Seminare, ferner finden Lesungen und kleinere Kammerkonzerte statt. Direkt südlich vor dem Königshaus, hinter dem Südeingang der Klosteranlage, liegt das ähnlich ansehnliche Falkonierhaus. Das Gebäude, gegen Ende des 15. Jahrhunderts erbaut, diente sowohl dem Kloster als auch den späteren kurfürstlichen Jagdgesellschaften als Gästehaus. Heute ist hier die Kindertagesstätte des Stifts untergebracht. Das wahrscheinlich vor 1270 errichtete „alte“ Abtshaus am Westausgang, das ursprüngliche Torhaus, zählt zur historischen Bausubstanz. Eine Restaurierung und der fast rechtwinklige Anbau Leibnizhaus erfolgten in den Jahren nach 1877. Eine weitere denkmalgerechte Modernisierung 1995/1996 bewahrte viele historische Details und bezog sie behutsam in die moderne Ausstattung ein. Beide Gebäude beherbergen heute das Gästehaus Kloster Lehnin mit Zimmern, die allen Interessenten offenstehen. Im angrenzenden seit 1911 sogenannten Elisabethhaus sind heute der Besucherempfang, Veranstaltungsräume und Übernachtungszimmer untergebracht. Daneben gibt es hier die Dauerausstellung Zisterzienser in Brandenburg. Das Elisabethhaus geht auf ursprünglich getrennte Wirtschaftsgebäude wie Stallungen, Remise und Brauhaus zurück, mit deren Bau die Mönche um 1350 begonnen hatten. Das über die Jahrhunderte immer wieder veränderte Gebäude erfuhr besonders zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen tiefgreifenden Umbau. Eine weitere Grundsanierung zwischen 1994 und 1996 legte besonderen Wert auf die Bewahrung der historischen Substanz. Kornspeicher, Mauer, Tor und weitere Gebäude Östlich vom Elisabethhaus liegt das ehemalige Kornhaus aus der Mitte des 14. Jahrhunderts mit einer sehr einfachen, gleichwohl schönen Backsteinfassade und einer großartigen Dachkonstruktion. Der riesige Speicher, der mit seiner imposanten Größe auf den Reichtum des ehemaligen Klosters verweist, war von den Mönchen als dreischiffiger Hallenbau angelegt. Nach Umbauten zum Ende des 16. Jahrhunderts blieb nur der Mittelteil mit einigen Spitzbogenarkaden bestehen. Nach Fertigstellung des Amtshauses (s. u.) bleibt der Kornspeicher das letzte größere noch nicht sanierte Gebäude. Das Stift plant einen Ausbau zum Restaurant mit Gartenterrasse im unteren Bereich und im Dachstuhl Räumlichkeiten für Ausstellungen sowie Konzerte. Weiter östlich folgt die 1988 bis 1991 privatinitiativ rekonstruierte gotische Torkapelle, die das Stift heute als Andachtsraum nutzt. Das anschließende Tetzeltor stammt wie die Torkapelle aus der Klosterzeit. Das westlich folgende Amtshaus aus dem Jahr 1696 diente als Wohnung des kurfürstlichen Domäneverwalters; bis 2005 fand eine Restaurierung des Hauses statt, seitdem ist dort ein Heimatmuseum untergebracht. An der Stelle der mittelalterlichen Stallungen, der Scheune und des Backhauses am nordöstlichen Rand der Gesamtanlage befinden sich heute verschiedene Krankenhauseinrichtungen, unter anderem das Lindenhaus und das Katharinenhaus. Das wenige Meter südlich gelegene Sonnenschlößchen beherbergt ein Jugendhilfeprojekt des Stifts. Die südwestlich folgende Klostermauer gehört in einigen Teilen und mit der Ruine des klösterlichen Wehrturms aus dem 14. Jahrhundert zur historischen Bausubstanz. In der Domänezeit erhielt der Turm den Namen Hungerturm (oder auch Kuhbier), da hier vorübergehend das Gefängnis untergebracht war. Mauer und Turm umgrenzen den ehemaligen kurfürstlichen Amtsthiergarten. Das im neugotischen Stil gehaltene Pfarrhaus in der Südwestecke nach einem Entwurf von Ludwig Persius stammt aus dem Jahr 1845 und ist heute Sitz der Superintendentur des Kirchenkreises Mittelmark-Brandenburg. Verschiedene weitere Gebäude, die im 20. Jahrhundert hinzukamen, sind Bestandteil der Kliniken. Übersichtskarte Eine Übersichtskarte mit allen Brandenburger Zisterzienserklöstern findet sich bei dem Frauenkloster Marienfließ, der vierten Klostergründung unter dem Namen der Zisterzienser im märkisch-lausitzschen Raum, 1230 von den Edlen Herren Gans zu Putlitz in der Prignitz gestiftet. Quellenlage und Forschung Stephan Warnatsch trug zu Lehnin 765 beurkundete und im Wortlaut überlieferte Vorgänge zusammen, wobei allerdings nur wenige Dokumente im Original erhalten sind. Im zweiten Band seiner Arbeit, dem Regestenverzeichnis, gibt der Historiker die Quellenstücke zu Lehnin in Form einer Quellensynopse chronologisch aufgelistet an. Wolfgang Ribbe veröffentlichte 1998 als Herausgeber Das Prozeßregister des Klosters Lehnin als Buch, das die prozessualen Auseinandersetzungen der Zisterze im 15. Jahrhundert über rund 75 Jahre in ihrem historischen Wortlaut wiedergibt. Das Register wurde auf Geheiß des Abtes Heinrich Stich unter dem Namen Gedenkbuch des Klosters Lehnin angelegt und enthält zum großen Teil die Lehniner Streitigkeiten dieser Zeit mit Städten und insbesondere mit dem landsässigen Adel um Besitz- und Nutzungsrechte. Die umfangreichste Forschungsarbeit zu Lehnin, die Dissertation von 1999 von Stephan Warnatsch, liegt seit 2000 als zweibändige Buchausgabe vor. Neben dieser Arbeit gibt es in jüngerer Zeit lediglich einige themenbezogene Aufsätze, die letzte ausführlichere Monographie zuvor stammt von Johannes Schultze aus dem Jahr 1930. Die bedeutendste historische Klostermonographie ist Georg Sellos Lehnin von 1881 und die älteste stammt von Moritz Wilhelm Heffter aus dem Jahr 1851. Literatur Fachliteratur Moritz Wilhelm Heffter: Die Geschichte des Klosters Lehnin. Brandenburg 1851. (). Georg Sello: Kloster Lehnin. Beiträge zur Geschichte von Kloster und Amt. Lehmann, Berlin 1881, Hrsg. v. Richard George. W. Pauli’s Nachf., Berlin 1900. (Zitat: S. 79, Auszug Lehnin in Hie gut Brandenburg alleweg! (Digitalisat)) Franz Winter: Die Cistercienser des nordöstlichen Deutschlands. Ein Beitrag zur Kirchen- und Culturgeschichte des deutschen Mittelalters. Band 2: Vom Auftreten der Bettelorden bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Gotha 1871, S. 268–271 und S. 286–288. Johannes Schultze: Lehnin. 750 Jahre Kloster- und Ortsgeschichte mit bisher unbekannten Ansichten des 18. Jahrhunderts. Bernburg 1930. Brandenburgisches Klosterbuch. Handbuch der Klöster, Stifte und Kommenden bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, hrsg. von Heinz-Dieter Heimann, Klaus Neitmann, Winfried Schich, 2 Bände. Berlin 2007, S. 764–803. Wolfgang Ribbe: Zur Ordenspolitik der Askanier. Zisterzienser und Landesherrschaft im Elbe-Oder-Raum. In: Zisterzienser-Studien I (= Studien zur Europäischen Geschichte 11), Berlin 1975, S. 77–96. Winfried Schich: Klöster und Städte als neuartige zentrale Orte des hohen Mittelalters im Raum östlich der mittleren Elbe. In: Karl-Heinz Spieß (Hrsg.): Landschaften im Mittelalter. Stuttgart 2006, S. 113–134. Stephan Warnatsch: Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542. Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser. Band 12.1. Freie Universität Berlin, Diss. 1999. Lukas, Berlin 2000. ISBN 3-931836-45-2 (Zitate: Name Lehnin S. 47f; Grundbesitz S. 211; Rechnung Renteneinnahmen S. 258). Stephan Warnatsch: Geschichte des Klosters Lehnin 1180–1542. Regestenverzeichnis. Bd. 12.2. ISBN 3-931836-46-0. (Kredit an Lüneburg Nr. 438 und 537, Abfindungen an die Mönche Nr. 740 ff.) Wolfgang Ribbe (Hrsg.): Das Prozeßregister des Klosters Lehnin. Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, ISBN 3-930850-80-X (Zitat: Pachtabgabe Kornspeicher S. 78). Lutz Partenheimer: Albrecht der Bär. 2. Auflage. Böhlau Verlag, Köln 2003. ISBN 3-412-16302-3. Adolf Laminski: Eine Lehniner Handschrift in der Marienkirche zu Berlin. In: Marginalien, 110 (1988,2). S. 28–32 : Abb. Dieter Paul: Ausweiche – das Versteck des Gebechem bei den Diakonissen im Kloster Lehnin 1943–1945. In: Kirchliche Zeitgeschichte, Jahrgang 24, 2011, Heft 2, S. 496–530. Populärwissenschaftliche Literatur Zisterzienser-Abtei Lehnin. Von der askanischen Familiengrablege zur Einrichtung evangelischer Nächstenhilfe. Die Blauen Bücher. Text von Stephan Warnatsch, Aufnahmen von Volkmar Billeb. 2., veränderte Auflage. Langewiesche Nachf., Königstein im Taunus 2008, ISBN 978-3-7845-0816-0, 62 S., 103 Abb. u. Pläne, dav. 53 farbig, ausführliches Literaturverzeichnis. Gisela Gooß, Jacqueline Hennig (Hrsg.): Alle Brandenburger Zisterzienserklöster. Marianne-Verlag, 1997, ISBN 3-932370-33-3. Historische Literatur Generalmajor z. D. v. Loebell: Kloster Lehnin. Mit 10 Abbildungen. Phot. H. Zernsdorf in Belzig. In: Vom Fels zum Meer. 22. Jg., Bd. 2, 1903, S. 1005–1009. Ernst Friedel, Oskar Schwebel: Bilder aus der Mark Brandenburg. Otto Spamer, Leipzig 1881. (Zitat: S. 439) Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Teil 3. Havelland. (1. Auflage 1873.) Nymphenburger Verlagshandlung, München 1971. ISBN 3-485-00293-3. (Zitate nach dieser Ausgabe. Wegen der vielen unterschiedlichen Ausgaben wird auf eine Seitenangabe der Zitate verzichtet) Wilhelm Meinhold: Weissagung des Abtes Hermann von Lehnin um’s Jahr 1234. (Übersetzung des «Vaticinium Lehninense»), 1849. Valentin Heinrich Schmidt: Die Weissagung des Mönchs Hermann von Lehnin über die Mark Brandenburg und ihre Regenten. Enslin, Berlin 1820. (Digitalisat in der Digitalen Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern) Eduard Roesch: Hermann’s von Lehnin Weissagung über das Brandenburgische Haus. Scheible, Stuttgart 1820. (Digitalisat in der Digitalen Bibliothek Mecklenburg-Vorpommern) Siegmar Döpp: Vaticinium Lehninense – Die Lehninsche Weissagung. Zur Rezeption einer wirkungsmächtigen lateinischen Dichtung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Olms, Hildesheim 2015. Belletristik Willibald Alexis: Die Hosen des Herrn von Bredow. (1. Auflage 1846). Neufeld & Henius, Berlin 1925. (Zitate nach dieser Ausgabe. Ausführliche Beschreibung über mehrere Seiten der Mordlegende um den ersten Abt Sibold siehe Kapitel Kloster Lehnin, S. 126 ff., Zitat: S. 133. ()) Willibald Alexis: Dietrich Kagelwit und die Schweinsohren. In: Hie gut Brandenburg alleweg! Hrsg. v. Richard George. W. Pauli’s Nachf., Berlin 1900, S. 188 ff. (Auszug aus seinem Roman Der Werwolf, 1847) Weblinks Gemeinde, Klosterkirche Lehnin Lehniner Sommermusiken und Musica Mediaevalis Lehnin bei cistercensi.info Routen der Romanik in Berlin und Brandenburg: Kloster Lehnin Gebaut.eu: Burgundische Romanik – Pontigny – Zisterziensergotik Anmerkungen und Einzelnachweise Lehnin Kloster (12. Jahrhundert) Diakonissenhaus Backsteingotik in Brandenburg Backsteinromanik Baugruppe (Städtebau) der Romanik Baudenkmal in Kloster Lehnin (Gemeinde) Kloster Pflegeheim (Deutschland) Baugruppe (Städtebau) in Brandenburg Baugruppe (Städtebau) in Europa Klosteranlage Gegründet in den 1180er Jahren Aufgelöst in den 1540er Jahren Sakralbau in Europa Organisation (Kloster Lehnin, Gemeinde)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Enigma
Enigma
Enigma oder Änigma oder Ainigma (von ) bezeichnet: Bücher: Enigma (Roman) (1995), Roman von Robert Harris Computerprogramme: Enigma (Rätselspiel), Computer-Geschicklichkeitsspiel (Open-source-Neuauflage von Oxyd) Enigma: Rising Tide, Computer-Marinesimulation aus dem Jahr 2002 eine auf Linux basierende Benutzeroberfläche für DVB-Receiver, siehe D-box #Linux auf der d-box 2 Filme: Enigma (1982) Enigma – Das Geheimnis (2001) Enigma – Eine uneingestandene Liebe (2005), Fernsehfilm nach einem Theaterstück von Éric-Emmanuel Schmitt Enigma – Ein Supergirl zum Knutschen (1997), französische Zeichentrickserie Enigma rosso, italienischer Originaltitel des Kriminalfilms „Orgie des Todes“ aus dem Jahr 1978 Geographie: Enigma (Georgia), Stadt in den USA Enigma Peak, Berg auf der Rothschild-Insel in der Antarktis Enigma Lake, See an der Scott-Küste in der Antarktis Enigma Rocks, Nunatakker im ostantarktischen Viktorialand Kryptologie: Enigma (Maschine), Chiffriermaschine aus dem Deutschen Reich Letchworth-Enigma, kryptanalytisches Konzept und Gerät Museen: Enigma (Museum), Museum in Kopenhagen EnigmaMuseum, virtuelles Museum mit Sitz im amerikanischen Bundesstaat Vermont Musik: Enigma (Album), Album der US-amerikanischen Nu-Metal-Band Ill Niño Enigma (Musikprojekt), Musikprojekt von Michael Cretu Enigmatische Leiter, besondere Tonleiter Enigma-Variationen, Orchesterwerk des britischen Komponisten Edward Elgar The Endless Enigma, Musikstück von Emerson, Lake & Palmer, siehe Trilogy (Emerson-Lake-&-Palmer-Album)#Titelliste The Enigma, Pseudonym des amerikanischen Musikers und Künstlers Paul Lawrence The Silent Enigma, Studioalbum der britischen Band Anathema Technik: Achterbahn-Typ des niederländischen Herstellers Vekoma, beispielsweise die The Walking Dead – The Ride im britischen Thorpe Park schnelle Megayacht (ex Katana ex ECO) mit besonderen Konstruktionsmerkmalen Enigma 2000, Verein zur Klassifikation von Zahlensendern Siehe auch:
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https://de.wikipedia.org/wiki/London%20Underground
London Underground
Die London Underground ist mit mehr als 160 Jahren (Stand 2023) die älteste U-Bahn der Welt und besitzt nach der Metro Moskau die zweitgrößte Netzlänge europäischer U-Bahnen. Sie erschließt neben der City of London besonders nördlich der Themse weite Teile der britischen Hauptstadt London sowie einige angrenzende Gebiete. Der erste Streckenabschnitt der Metropolitan Railway (die heutige Metropolitan Line) wurde am 10. Januar 1863 als unterirdische, mit Dampflokomotiven befahrene Eisenbahn eröffnet. Obwohl von der Metropolitan Railway die weltweit häufigste Bezeichnung für eine U-Bahn – Metro – abgeleitet wurde, wich dieser Begriff im britischen Englisch bereits Ende des 19. Jahrhunderts der Bezeichnung Underground. In der Umgangssprache der Londoner wird die U-Bahn Tube (englisch für „Röhre“) genannt. Fast 150 Jahre lang war die Underground die längste U-Bahn der Welt; mittlerweile ist sie nach der Metro Shanghai und der U-Bahn Peking die viertlängste. Derzeit beträgt die Streckenlänge 402 Kilometer mit 272 Stationen auf 11 Linien, von denen 262 selbst verwaltet werden. Außerhalb der Innenstadt verkehren die Linien mehrheitlich an der Oberfläche, tatsächlich liegen nur 45 Prozent des Streckennetzes im Tunnel. Komplett unterirdisch verkehren lediglich die Victoria Line und die nur zwei Stationen umfassende Waterloo & City Line. Im Geschäftsjahr 2011 benutzten täglich durchschnittlich rund 3,2 Millionen Fahrgäste die Underground, an Werktagen bis zu 3,7 Millionen. In dieser Zeit wurden insgesamt 1,171 Milliarden Fahrten unternommen, was einen Rekordwert darstellte. Seit 2003 ist London Underground ein Teil von Transport for London (TfL), das auch für die übrigen öffentlichen Verkehrsmittel in Greater London mit Ausnahme der Eisenbahnen verantwortlich ist. Rechtlicher Betreiber ist jedoch die Tochtergesellschaft London Underground Limited. Liniennetz Das Londoner U-Bahn-Netz ist 402 km lang, hat 272 Stationen und besteht aus 11 Linien, die zum Teil mehrfach verzweigt sind. 14 Stationen liegen außerhalb der Grenzen von Greater London, nämlich drei bzw. fünf Stationen der Metropolitan Line in den Grafschaften Buckinghamshire und Hertfordshire sowie sechs Stationen der Central Line in der Grafschaft Essex. Die Züge fahren werktags, mit Abweichungen auf einzelnen Linien, von etwa 5 Uhr früh (samstags meist etwas später) bis zirka 1 Uhr nachts und sonntags ab etwa 7 Uhr bis Mitternacht. Die Taktzeiten betragen in Spitzenzeiten zwei Minuten, tagsüber durchschnittlich vier Minuten, am späten Abend bis zu zehn Minuten. In den Nächten von Freitag auf Samstag und Samstag auf Sonntag gibt es Nachtverkehr auf der Victoria Line, der Jubilee Line, Teilen der Northern, Central und Piccadilly Line sowie auf der East London Line von London Overground. Die London Underground ist auf das nördliche und südliche Stadtgebiet ungleich verteilt. Südlich der Themse liegen nur etwa zehn Prozent des Streckennetzes, der Raum ist hauptsächlich mit Vorortzügen erschlossen. Nördlich der Themse verhält es sich umgekehrt, hier beschränkt sich die Eisenbahn auf wenige Hauptstrecken zu den großen Kopfbahnhöfen. Die Londoner Linien Geschlossene Stationen und Linienabschnitte Im Netz der Londoner U-Bahn gibt es eine Reihe aus unterschiedlichen Gründen geschlossener Stationen. In den Frühzeiten der Londoner U-Bahn waren Rolltreppen als vertikales Transportmittel gänzlich unbekannt und die tiefen Stationen waren, abgesehen von Nottreppen, ausschließlich über Aufzüge erreichbar. Mit dem späteren Einbau von Rolltreppen die auch eine horizontale Distanz überwinden, sind die oberirdischen Eingänge häufig näher aneinander gerückt. Daher erschien es sinnvoll, einige Stationen einzusparen; andere wurden wegen geringer Fahrgastzahlen geschlossen. Betrieb Von Januar 2003 bis Mai 2008 bzw. Mai 2010 war London Underground in Form einer Public Private Partnership (PPP; Partnerschaft zwischen öffentlicher Hand und Privatunternehmen) teilprivatisiert. Der Unterhalt der Infrastruktur wurde durch private Unternehmen durchgeführt, doch die Underground blieb im Besitz von Transport for London, die auch für den Zugbetrieb zuständig war. Das Ziel von PPP war die Erschließung von Geldquellen für zukünftige Investitionen ins U-Bahn-System. Dazu gehörten der Neu- und Ausbau von Stationen, der Kauf von neuem Rollmaterial sowie die Einrichtung von neuen Sicherheitssystemen und Zugsicherungen. Das Netz wurde in drei Gruppen aufgeteilt: Die Röhrenbahnen JNP mit den Linien Jubilee, Northern und Piccadilly wurde von der Firma Tube Lines betrieben Die weiteren Röhrenbahnen BCV (Linien Bakerloo, Central und Victoria) wurden von der Firma Metronet unterhalten Die Großprofil-Linien SSL (Sub-Surface Lines) mit den Linien District, Metropolitan, Circle, East London sowie Hammersmith & City, für die ebenfalls Metronet verantwortlich war Nachdem Metronet 2007 in große finanzielle Schwierigkeiten geraten war, übernahm Transport for London im Mai 2008 deren Mitarbeiter und Leistungsverträge in zwei neue Tochtergesellschaften. Im Mai 2010 erwarb Transport for London dann alle Geschäftsanteile von Tube Lines; seitdem wird das Unternehmen als Tochtergesellschaft geführt. Metronet wurde 2011 liquidiert. Der Rückkauf der London Underground Tube Lines kostete 206,4 Mio. Pfund. Ein Bericht bezifferte die Gesamtkosten des gescheiterten PPP-Projekts für die Allgemeinheit mit 5,526 Mrd. Pfund. Betriebszahlen Während der Hauptverkehrszeit transportiert die Underground derzeit auf den am stärksten benutzten Abschnitten stündlich 142.000 Passagiere. Theoretisch hätte sie eine maximale Kapazität von 315.000 Passagieren pro Stunde. Im Vergleich zu U-Bahnen in anderen Millionenstädten bestreitet die London Underground einen relativ hohen Anteil ihrer Betriebsausgaben aus den Fahrkarteneinnahmen. Im Jahr 2004 wurden die Ausgaben von knapp 2 Milliarden Pfund zu etwa 62 Prozent mit Fahrkarteneinnahmen finanziert. Insgesamt hatte die Underground damit einen Zuschussbedarf von 768 Mio. Pfund. Im Jahr 2002 betrug der Anteil der Fahrkartenverkäufe an den Einnahmen sogar fast 82 Prozent. Mitarbeiter in der Haltestelle Während in vielen anderen U-Bahn-Systemen keine Mitarbeiter in den Haltestellen mehr beschäftigt werden, sind alle Haltestellen der London Underground durchgehend mit mehreren Angestellten besetzt. Zu den Aufgabenbereichen zählen: die Unterstützung bei Problemen an den automatischen Ticketbarrieren der Verkauf von Fahrscheinen, Information der Reisenden Kontrolle des Zugverkehrs im Stationsbereich, Stellwerk Durchsagen und Abfertigung der Züge Besonderheiten an Weihnachten und Silvester Am 24. Dezember verkehren die Londoner Verkehrsmittel nach dem Fahrplan des entsprechenden Wochentags. Am 25. Dezember verkehren keine Züge der Londoner Verkehrsmittel, keine Eisenbahn, (fast) keine Busse und nur wenige Taxis, die dann Aufschlag kosten. Lediglich ein Ersatzverkehr zwischen der Stadt und den Flughäfen Heathrow und Gatwick wird angeboten. An den folgenden Tagen (26. Dezember bis 30. Dezember) ist ebenfalls mit Einschränkungen zu rechnen. In der Silvesternacht (31. Dezember auf 1. Januar) wird ein durchgehender Nachtbetrieb angeboten, der zwischen 23:45 Uhr und 4:30 Uhr kostenfrei benutzt werden kann. An Silvester und am 1. und 2. Januar ist mit geringerer Taktfrequenz zu rechnen. Transport for London gibt jedes Jahr rechtzeitig eine Broschüre für die Weihnachtsfeiertage und Silvester heraus. 24-Stunden-Betrieb (Night Tube) Ab dem 12. September 2015 sollten zunächst die Victoria und Jubilee Lines sowie Teile der Central, Northern und Piccadilly Lines in den Nächten von Freitag auf Samstag und Samstag auf Sonntag rund um die Uhr betrieben (Night Tube) werden. Auf den meisten Nachtlinien war ein 10-Minuten-Takt vorgesehen, auf der Northern Line sogar verdichtet auf 7 Minuten, was eine Senkung der Reisezeit im Vergleich zu Nachtbus-Verbindungen um durchschnittlich 20 Minuten bewirken sollte. Da die Mitarbeiter der Underground jedoch einen Lohnzuschlag für die nächtliche Arbeit forderten, war ein Konflikt zwischen Arbeitgeber und der britischen Gewerkschaft der Lokomotivführer entstanden. Daraufhin wurde ein 24-stündiger Streik für den 8. Juli 2015 angekündigt. Nachdem die Gewerkschaften weitere Streiks für den September 2015 angekündigt hatten, hatte TfL den Start der Night Tube vorerst bis auf weiteres abgesagt, um Zeit für weitere Verhandlungen zu haben. Nach einer Einigung mit den Gewerkschaften wurde die Einführung der Night Tube zum 5. August 2016 angekündigt, tatsächlich begann der Betrieb dann am 19. August. In einer zweiten Phase wurde mit Picadilly, Central und Northern Lines am 23. September 2016 die Night Tube erweitert. Im Nachtnetz gelten die Fahrscheine des Vortages bis 4:29 Uhr, da darauf folgend tariflich der nächste Tag beginnt. Um die Lärmbelastung von Anwohnern nahe der Underground-Linien möglichst gering zu halten, besteht eine Zusammenarbeit mit den lokalen Behörden. Als erste Maßnahme wurde die Lautstärke von Durchsagen verringert. Um den Fahrgästen auch nachts Sicherheit zu gewährleisten, werden hundert Einsatzkräfte der British Transport Police während der Betriebszeit der Night Tube eingesetzt, ebenso das Bahnhofspersonal. Durch diesen Schritt der London Underground wurden auch andere Verkehrsträger zu Planungen eines Nachtnetzes bewegt, darunter die Docklands Light Railway sowie verschiedene Eisenbahngesellschaften. Technik Die Strecken der Londoner Underground können in zwei Bauweisen unterteilt werden: Unterpflasterbahnen (Sub-Surface) und Röhrenbahnen (Tube). Die Unterpflasterbahnen wurden ähnlich den älteren deutschen U-Bahnen in offener Tunnelbauweise errichtet (engl. cut and cover). Zuerst wurde mitten auf der Straße eine offene Baugrube ausgehoben. Nachdem die Tunnelwand errichtet und die Gleise verlegt waren, wurde die Baugrube abschnittsweise wieder mit einem Deckel verschlossen; über dem Deckel entstand die Straße neu. Die Gleise liegen durchschnittlich fünf Meter unter der Erdoberfläche. Die Tunnel haben einen Durchmesser von 7,62 m (25 ft.) und bieten das gleiche Lichtraumprofil wie die britischen Eisenbahnstrecken. Der erste Tunnelabschnitt zwischen Paddington und Farringdon ist 7,82 m (25 ft. 8 inch) breit. Die Röhrenbahnen wurden anfangs mit Spitzhacke und Schaufel, später mittels Schildvortrieb in 20 bis 50 Metern Tiefe errichtet. Der Tunneldurchmesser ist weniger als halb so groß wie bei den Sub-Surface-Linien, im Durchschnitt 3,56 m (11 ft. 8,25 inch), jedes Gleis liegt in einer einzelnen Röhre. Obwohl die Gleisanlagen ebenfalls die Regelspurweite von 1435 mm aufweisen, ist das Lichtraumprofil wesentlich kleiner. Üblicherweise sind die beiden Teilnetze getrennt. Ausnahme ist die oberirdische Strecke Rayners Lane – Uxbridge; hier verkehren sowohl eine Sub-Surface-Linie (Metropolitan Line) als auch eine Tube-Linie (Piccadilly Line). Wegen der deutlich unterschiedlichen Wagenbodenhöhen erhielten die Bahnsteige in Mischbetriebsabschnitten eine Kompromisshöhe, damit ist der Zustieg an diesen Zugangsstellen nicht barrierefrei. Durch die technische Entwicklung wurden in der Folge auch Strecken im Sub-surface-Profil mit Schildvortriebsmaschienen aufgefahren. Ein Beispiel ist die Northern City Line, die allerdings seit 1975 nicht mehr zum U-Bahn-Netz gehört Elektrifiziert sind die Strecken der Londoner U-Bahn mit einer Gleichspannung von 630 V. Im Unterschied zu den meisten anderen U-Bahnen, werden zwei Stromschienen verwendet. Dadurch wird Streustromkorrosion in den metallischen Installationen verhindert. Die seitliche Stromschiene führt +420 V gegen das Erdpotential, die zusätzliche in Gleismitte −210 V. Ein Vorteil dieses Systems ist, dass die Fahrschienen problemlos für sicherungstechnische Stromkreise genutzt werden können. Die Stromschienen werden von oben bestrichen. Hierdurch ist bei offenen Streckenabschnitten eine Gefahr der Vereisung gegeben. Um dem zu begegnen, sind einige Fahrzeuge mit einer speziellen Vorrichtung ausgestattet, die das Anbringen einer Enteisungsflüssigkeit über den Stromabnehmer gestattet. Da die Stromschienen konstruktionsbedingt ohne Berührungsschutz ausgeführt sind, sind die Gleisanlagen auf offener Strecke durch Zäune von der Umgebung abgetrennt, um Stromunfälle bei Betreten der Gleisanlagen zu vermeiden. Auf den Mischbetriebsstrecken mit der Eisenbahn wie zwischen Gunnersbury Junction und Richmond (District line) oder zwischen Queen’s Park und Harrow & Wealdstone, ursprünglich bis Watford Junction (Bakerloo Line) sind die Rückleitungsstromschienen in Gleismitte mit den Fahrschienen leitend verbunden. Die Einbaumaße der Stromschienen sind nach Anpassungsarbeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei beiden Lichtraumprofilen gleich, damit ist der gemeinsame Betrieb von Röhrenbahn- und Sub-Surface-Wagen technisch möglich. Die Victoria Line, die Jubilee Line, die Central Line, die Northern Line, die District Line, die Circle Line, die Metropolitan Line und die Hammersmith & City Line werden halbautomatisch (Grade of Automation 2) betrieben, wobei die Fahrt automatisch durchgeführt wird, während das Fahrpersonal den Abfahrbefehl erteilt, die Türsteuerung übernimmt und bei eventuell auftretenden Notfällen eingreift. Die Umstellung einzelner Linien auf fahrerlosen Betrieb ist angedacht, allerdings ist aufgrund politischer Differenzen eine Realisierung in absehbarer Zeit unwahrscheinlich. Fahrzeuge Zum Einsatz kommen zurzeit verschiedene Fahrzeug-Baureihen aus den Jahren 1972 bis 2012. Die Baureihen der Sub-Surface-Linien werden üblicherweise mit einem Buchstaben gekennzeichnet (z. B. A Stock auf der Metropolitan Line), während die Baureihen der Tube-Linien nach dem Jahr benannt sind, in denen sie in Dienst gestellt werden sollten (z. B. 1996 Stock auf der Jubilee Line). Auf sämtlichen Linien sind die Züge aus Wagen einer einzigen Baureihe zusammengesetzt. Die neuesten Baureihen sind der 2009 Stock für die Victoria Line und der S Stock für die Metropolitan, Circle, Hammersmith & City und District Lines. Geschichte Erste Pläne Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in London zahlreiche Eisenbahnstrecken, doch die einzelnen Kopfbahnhöfe lagen alle außerhalb der Innenstadt. Passagiere mussten zwischen den einzelnen Bahnhöfen mit Kutschen reisen. Bald verkehrten so viele von ihnen, dass die Straßen hoffnungslos verstopft waren. Nach der Great Exhibition im Jahr 1851 wurden Pläne präsentiert, die eine unterirdisch verlaufende Breitspur-Eisenbahn vorsahen. Die Great Western Railway sollte dadurch die Möglichkeit erhalten, ihre Züge von Paddington bis in die City of London zu führen. Paddington war der am weitesten von der City entfernte Endbahnhof und nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke nach Birmingham verschlechterte sich die Verkehrssituation auf den Zufahrtsstraßen erheblich. Die Great Northern Railway, deren Endbahnhof King’s Cross ebenfalls von dieser Strecke profitieren würde, unterstützte den Plan. Eine oberirdische Streckenführung war von vornherein ausgeschlossen, da man es für sinnvoll hielt, die Züge vom Straßenverkehr zu trennen. Auch sprachen ästhetische Aspekte für eine Untergrund- statt einer Hochbahn. Metropolitan Railway Am 7. August 1854 wurde die Metropolitan Railway (MetR) gegründet. Das Projekt kam einige Jahre lang nicht schnell voran, weil das Investitionskapital zunächst nur spärlich floss. Schließlich begannen die Bauarbeiten im Februar 1860. Nach zahlreichen Verzögerungen konnte am 10. Januar 1863 die erste mit Dampflokomotiven betriebene U-Bahn eröffnet werden. Die Strecke führte von Paddington (Bishop’s Road) (heute Paddington) nach Farringdon Street, nahe der heutigen Station Farringdon. Am ersten Betriebstag fuhren 40.000 Personen mit der neuen Bahn. Dieser Abschnitt wird heute von der Hammersmith & City Line, der Circle Line und teilweise von der Metropolitan Line befahren. Die Strecke diente zunächst hauptsächlich als innerstädtische Verlängerung der Great Western Railway (GWR). Aus diesem Grund waren neben Normalspur-Gleisen (1435 mm) auch Breitspur-Gleise (2140 mm) verlegt worden. In den ersten Monaten nutzte die Metropolitan Railway ausschließlich GWR-Rollmaterial. Differenzen zwischen beiden Unternehmen führten am 30. September 1863 zum Rückzug der GWR. Die MetR musste eine Zeit lang das Rollmaterial von der Great Northern Railway und der London and North Western Railway anmieten, bis ihre erste Bestellung ausgeliefert war. Von Beginn an galt auf den Zügen der MetR aus Sicherheitsgründen ein Rauchverbot. Auf vielfachen Wunsch der Öffentlichkeit führte sie jedoch 1874 Wagen mit Raucherabteilen ein. Auch war die MetR eine der ersten Eisenbahngesellschaften des Landes, die besonders günstige Tarife für Arbeiter anbot; diese galten vorerst jedoch nur in einigen wenigen Zügen. Im Jahr 1880 beförderte die MetR bereits 40 Millionen Fahrgäste pro Jahr. Nach 1868 begann die Metropolitan Railway, ihr Netz nach Nordwesten zu erweitern. 1880 wurde Harrow erreicht, 1887 Rickmansworth, 1889 Chesham und 1892 Aylesbury in der Grafschaft Buckinghamshire. Von Aylesbury aus verkehrten bereits ab 1891 Züge nach Verney Junction, ab 1899 auch nach Brill, etwa 90 Kilometer von Baker Street entfernt. Ursprünglich wollte die MetR sich als überregionales Eisenbahnunternehmen etablieren. Von Baker Street aus sollten Schnellzüge nach Oxford und weiter in die Midlands verkehren; ein Traum, der sich letztlich nicht erfüllte. Das von der Gesellschaft erschlossene Gebiet in Middlesex wurde innerhalb weniger Jahrzehnte vollständig verstädtert und erhielt bald den Spitznamen Metro-land. Metropolitan District Railway Am 29. Juli 1864 erfolgte die Gründung einer zweiten Gesellschaft, der Metropolitan District Railway (MDR; heute District Line). Deren Hauptaufgabe war die Fertigstellung des südlichen Teils des Innenstadtrings, auch Inner Circle genannt. Deren erste Strecke zwischen South Kensington und Westminster wurde am 24. Dezember 1868 eröffnet. Auch die MDR expandierte in die schnell wachsenden Vororte. In enger Kooperation mit anderen Eisenbahngesellschaften entstanden unter anderem Strecken nach Hammersmith (1874), Richmond (1877), Ealing Broadway (1879) und Wimbledon (1889). Am 6. Oktober 1884 wurde mit der Strecke Mansion House – Tower of London die letzte Lücke geschlossen. Obwohl die Circle Line erst 1949 als eigenständige Linie geschaffen wurde, fuhren beide Gesellschaften um den ganzen Ring (Circle) herum und lieferten sich einen harten Konkurrenzkampf. Erste Tubes und Elektrifizierung Technologische Neuentwicklungen wie der Schildvortrieb ermöglichten den Bau von tief unter der Oberfläche liegenden Tunneln. Am 2. August 1870 wurde die Tower Subway eröffnet, die erste Röhrenbahn (Tube) der Welt, mit einer Spurweite von 762 mm. Die Stationen befanden sich nördlich des Tower of London und in Southwark in der Vine Street. Ein Kabel zog den Wagen durch die Röhre, als Antrieb dienten zwei Dampfmaschinen mit einer Leistung von 4 PS. Das System erwies sich als kaum brauchbar, da der einzige Wagen lediglich 10 Personen Platz bot. Da es kein Ausweichgleis gab, konnte auch kein zweiter Wagen im Tunnel verkehren. Bereits am 24. Dezember 1870 wurde die Anlage ausgebaut und der Tunnel musste fortan zu Fuß passiert werden. Nach Eröffnung der Tower Bridge im Jahr 1894 wurde der Tunnel ganz stillgelegt. Heute ist noch das kleine Eingangsgebäude am Tower erhalten. Die Tower Subway war dennoch kein totaler Misserfolg, denn es wurde bewiesen, dass auch unter der Themse ein Tunnel gebaut werden kann. Die erste elektrisch betriebene U-Bahn-Strecke, die City and South London Railway, wurde am 4. November 1890 zwischen Stockwell und King William Street am nördlichen Ende der London Bridge eröffnet. Diese Strecke bildet einen Teil der heutigen Northern Line. 1898 erfolgte die Eröffnung der kurzen Waterloo & City Line zwischen der City of London und dem Bahnhof Waterloo. Zwischen 1901 und 1908 wurden die mit Dampf betriebenen Linien nach zunehmenden Beschwerden der Fahrgäste ebenfalls weitgehend elektrifiziert: Die saubere elektrische Energie hatte Anklang gefunden und dreckige Dampfzüge in engen Tunneln wurden als gesundheitsgefährdend und antiquiert empfunden. Um die Strecken mit Elektrizität versorgen zu können, entstanden zwei Kohlekraftwerke, die Lots Road Power Station und die Neasden Power Station. Expansion Um die Wende zum 20. Jahrhundert hatte sich die Tunnelbau-Technologie erneut rasch weiterentwickelt, so dass innerhalb kurzer Zeit vier weitere Röhrenbahnen entstanden: Central London Railway (1900 eröffnet, heute Central Line) Great Northern, Piccadilly and Brompton Railway (1906 eröffnet, heute Piccadilly Line) Baker Street and Waterloo Railway (1906 eröffnet, heute Bakerloo Line) Charing Cross, Euston and Hampstead Railway (1907 eröffnet, heute Northern Line) Diese Zersplitterung der Kräfte war ineffizient. Verbindungen zwischen einzelnen Linien gab es praktisch keine, so dass die Fahrgäste gezwungen waren, sich zuerst an die Oberfläche zu begeben, eine Straße zu überqueren und dann wieder hinabzusteigen. Der Betrieb dieser Bahnen war teuer, und so hielten die Gesellschaften Ausschau nach finanzkräftigen Investoren. Ein solcher Investor war der US-Amerikaner Charles Tyson Yerkes. Seine Underground Electric Railways Company of London (UERL) übernahm im Jahr 1900 zunächst die finanziell angeschlagene Hampstead-Eisenbahn. Zwei Jahre später kontrollierte Yerkes alle übrigen Gesellschaften mit Ausnahme der Waterloo & City Line und der Metropolitan Line. Die UERL trat ab 1902 unter dem Markennamen Underground Group auf und erwarb mit der Zeit auch Dutzende von Straßenbahn- und Buslinien. Die Vereinheitlichung des Streckennetzes machte sich auch in der Architektur bemerkbar: Leslie Green, Yerkes’ „Hausarchitekt“, baute nicht weniger als 28 Stationsgebäude, die alle einen ähnlichen Stil aufweisen. Der Verlauf der Londoner U-Bahn in größerer Tiefe und der damit verbundene Zugang mittels großer Aufzüge erklären die voluminösen Stationsgebäude, die in dieser Form beispielsweise in Paris nicht vorhanden sind, wo der Zugang zu den Stationen in der Regel durch Treppen erfolgt. 1933 wurde die öffentlich-rechtliche Gesellschaft London Passenger Transport Board geschaffen; sie übernahm Yerkes’ Unternehmen, die Metropolitan Railway sowie alle privaten Bus- und Tramlinien. Zwischen den beiden Weltkriegen wurde das Netz der Underground nochmals markant erweitert, vor allem die Northern Line und die Piccadilly Line. Für diese Erweiterungen entwarf Charles Holden repräsentative und weitläufige Stationsgebäude im Art-déco-Stil, die heute teilweise unter Denkmalschutz stehen. Ebenfalls von Holden stammt das Gebäude 55 Broadway über der Station St. James’s Park, der Hauptsitz von London Underground. Zweiter Weltkrieg Während des Zweiten Weltkriegs und vor allem während der Luftschlacht um England dienten mehrere tief gelegene U-Bahn-Stationen als Luftschutzbunker. Andere Stationen und Streckenabschnitte erfüllten weitere Aufgaben: Eine neu gebaute, aber noch nicht eröffnete Verlängerung der Central Line zwischen Redbridge und Gants Hill wurde in eine unterirdische Fabrik für Flugzeugteile des Plessey-Konzerns umgewandelt; eine Güterbahn mit einer Spurweite von 457 mm verband die einzelnen Abteilungen miteinander. Die heute geschlossene Station Down Street diente eine Zeit lang als Sitzungsräumlichkeit für Premierminister Winston Churchill und sein Kabinett. In der heute ebenfalls geschlossenen Station Brompton Road war ein Flugabwehr-Kontrollzentrum untergebracht. In der seit 1994 geschlossenen Station Aldwych wurden besonders wertvolle Kunstschätze des Britischen Museums gelagert, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Die weitere Entwicklung Nach dem Krieg nahm der Verkehr immer mehr zu, was zu einer Überlastung des Netzes führte. 1969 wurde die Victoria Line eröffnet, die erste neue Linie seit mehr als 60 Jahren. Sie war so gebaut worden, dass an allen Stationen (bis auf Pimlico) Übergänge zu anderen Schienenverkehrsmitteln entstanden. Sie war auch die erste vollautomatische U-Bahn der Welt, der Triebwagenführer musste nur noch einen Knopf drücken und der Zug fuhr in die nächste Station. Diese Technik nannte sich Automatic Train Operation (ATO / automatisierter Fahrbetrieb). Auf der Metropolitan Line verkehrten noch bis 1971 mit Dampflokomotiven bespannte Dienstzüge. Die Piccadilly Line wurde 1977 zum Flughafen London-Heathrow verlängert. Von 1978 bis 1993 fuhr mit Hannah Dadds (1941–2011) erstmals eine Frau Züge bei London Underground. Sie tat dies auf der District Line. 1979 wurde die neue Jubilee Line eröffnet, doch über 20 Jahre ruhten die Arbeiten an der östlichen Verlängerung in die Docklands. Geplant war eigentlich eine Streckenführung über Aldwych und Ludgate Circus Richtung Osten. Man konzentrierte sich zunächst auf oberirdische Schienenverkehrsmittel, wie zum Beispiel die Docklands Light Railway. Doch 1999 konnte die Verlängerung der Jubilee Line eröffnet werden, wenn auch auf einer völlig anderen Route als ursprünglich geplant. 1994 war die Underground Gründungsmitglied des U-Bahn-Benchmarking-Systems Community of Metros. Die Stationen an der Verlängerung der Jubilee Line setzten völlig neue Maßstäbe in Sachen Größe und Ausdehnung. So könnte man problemlos das riesige Passagierschiff Queen Mary 2 in die Halle der Station North Greenwich hineinstellen, oder auch 3000 Doppeldeckerbusse. Seit der Eröffnung der Station Heathrow Terminal 5 am 27. März 2008 wird der Flughafen London-Heathrow durch drei Stationen erschlossen. Zukunftspläne, „Tube Upgrade Plan“ Die britische Regierung hat insgesamt 16 Milliarden Pfund für Investitionen bis zum Jahr 2030 zugesagt. Sie setzte folgende Prioritäten: Reduzierung der Verspätungen, Einbau neuer Aufzüge und Rolltreppen, mehr Sauberkeit und Sicherheit sowie eine neue Station beim neuen Wembley-Stadion. Die Kapazität einzelner Linien wird erhöht; so werden in Zukunft zum Beispiel auf der Victoria Line 34 statt 28 Züge pro Stunde verkehren. Expansion des Streckennetzes Verlängerung der East London Line Im Norden wurde die Station Shoreditch geschlossen; dafür wurde die Linie über das alte Broad-Street-Viadukt und Dalston nach Highbury & Islington verlängert (Anschluss an die Victoria Line). Im Süden wurden drei Zweigstrecken nach Clapham Junction, Crystal Palace und West Croydon realisiert. Um den bereits bestehenden Teil der East London Line für den Eisenbahnbetrieb herzurichten, wurde diese ab Ende 2007/Anfang 2008 für 18 Monate geschlossen. Seit 2010 gehört die East London Line nicht mehr zum Underground-Netz, sondern zu einem S-Bahn-ähnlichen System mit dem Namen London Overground. Verlegung der Watford-Zweigstrecke Zusammen mit der Grafschaftsverwaltung von Hertfordshire plante Transport for London die Verlegung der Watford-Zweigstrecke der Metropolitan Line. Die bestehende Endstation liegt etwas abseits; die Linie sollte über einen neu zu bauenden Viadukt und eine seit 1996 stillgelegte Eisenbahnstrecke nach Watford Junction geführt werden, dem bedeutenderen Bahnhof von Watford. Die Inbetriebnahme war für das Jahr 2018 vorgesehen, das Projekt wurden jedoch vorerst, aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten, gestoppt. Reaktivierung der Bakerloo Line nach Watford Junction Die Bakerloo Line fuhr ursprünglich bis nach Watford Junction, doch seit 1982 ist Harrow and Wealdstone die nördliche Endstation. Im November 2007 übernimmt Transport for London die Betriebskonzession der Eisenbahngesellschaft Silverlink. Es ist geplant, dass der Betrieb der Bakerloo Line wieder nach Watford Junction ausgedehnt wird. Deshalb werden die 1967 Tube Stock der Victoria Line benötigt, um die baugleiche 1972 Tube Stock Flotte zu ergänzen. Die zum Overground-System gehörende Watford DC Line soll dann ihren Betrieb einstellen. Erweiterung der Northern Line nach Battersea Der Charing Cross Ast der Northern Line wird aktuell um zwei Stationen bis zur ehemaligen Battersea Power Station verlängert. Ab der Haltestelle Kennington, wo die Züge heute enden, wird die Strecke nach Battersea mit der Zwischenhaltestelle Nine Elms gebaut. Hierfür werden insgesamt fünf neue Züge gebraucht. Allerdings ist geplant den Takt auf der Northern Line und Jubilee Line zu erhöhen, um Kosten zu sparen werden diese Züge in einem großen Auftrag mit insgesamt 68 Zügen bestellt. Die Verlängerung soll die großflächige Entwicklung am südlichen Themseufer in Nine Elms unterstützen. Nachdem die Tunnelbohrarbeiten 2015 begonnen hatten, erfolgte die Eröffnung am 20. September 2021. Eine weitere Verlängerung zum wichtigen Süd-Londoner Bahnknotenpunkt Clapham Junction wird geprüft. Unfälle und Katastrophen Unfälle mit Zügen Die London Underground gilt als ein sehr sicheres Verkehrsmittel. Unfälle sind sehr selten: Seit der Gründung von London Underground im Jahr 1933 gab es 61 Unfälle mit Todesfolge. Am 17. Mai 1938 starben sechs Menschen, als bei der Station Temple ein Zug der Circle Line nach Missachten eines Stoppsignals auf einen Zug der District Line auffuhr. Am 8. April 1953 stieß ein Zug der Central Line zwischen Stratford und Leyton mit einem abgestellten Zug zusammen; dabei starben zwölf Menschen. Der mit Abstand schwerste Unfall ereignete sich am 28. Februar 1975 beim U-Bahn-Unfall von Moorgate, als ein Zug der Northern City Line (die 1913–1975 ein Teil der Underground war) im Tunnel- und Kopfbahnhof Moorgate mit einer Geschwindigkeit von über 50 km/h auf die Wand am Ende der Tunnelröhre aufschlug. 43 Personen wurden getötet und 74 zum Teil schwer verletzt. Am 25. Januar 2003 entgleiste bei der Station Chancery Lane ein Zug der Central Line, nachdem ein Triebwagen sich vom Rest des Zuges gelöst hatte; 32 Fahrgäste wurden dabei verletzt. Die gesamte Central Line wurde geschlossen, um nach den Ursachen zu suchen und notwendige Anpassungen an den Zügen vorzunehmen. Ende März fuhren wieder eine beschränkte Anzahl Züge auf den östlichen und westlichen Außenstrecken. Am 3. April wurde auch der zentrale Abschnitt wiedereröffnet; erst Ende April verkehrten die Züge wieder nach dem normalen Fahrplan. Die Schließung betraf kurzzeitig auch die Waterloo & City Line, wo derselbe Fahrzeugtyp (1992 Tube Stock) verwendet wird. Unfälle in Stationen Ein Brand am 23. November 1984 in der Station Oxford Circus verlief glimpflich und forderte keine Todesopfer. Als Folge davon wurde ein totales Rauchverbot verhängt. Das Missachten dieses Verbots führte am 18. November 1987 zu einer Brandkatastrophe in der Station King’s Cross St. Pancras. Ein weggeworfenes Streichholz entzündete eine Schmierfett-Schmutz-Mischung unter einer Rolltreppe. Das Feuer setzte die Rolltreppe in Brand und die darüberliegende Verteilerebene wurde in dichten Rauch eingehüllt. 31 Menschen konnten sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen und erstickten. Nach einer gründlichen Untersuchung des Vorfalls wurden alle hölzernen Rolltreppen ersetzt sowie Sprinkleranlagen und Brandmelder installiert. Das gesamte Stationspersonal von London Underground muss seitdem zweimal jährlich einen obligatorischen Sicherheitskurs absolvieren. Zweiter Weltkrieg Während des Zweiten Weltkriegs (vor allem während der Luftschlacht um England) wurden viele tiefliegende U-Bahn-Stationen als Luftschutzbunker verwendet. Doch auch diese Einrichtungen boten nicht immer Schutz vor der deutschen Luftwaffe. Am 3. März 1943 wurden in der Station Bethnal Green 173 Menschen getötet. Diese lag an einem fertiggestellten, aber noch nicht eröffneten Teilstück der Central Line. Während eines Luftangriffs wurde in einem Park nahe der Station eine noch geheime Luftabwehrrakete gezündet. Die ungewohnte Explosion löste eine Panik aus, und viele Menschen flohen in die nahegelegene Station. Eine Frau stolperte auf der engen Treppe und löste eine Kettenreaktion aus, in die 300 weitere Menschen verwickelt waren. 172 wurden innerhalb von Sekunden zu Tode getreten, eine Person erlag wenig später im Krankenhaus den Verletzungen. Viele Personen wurden auch durch direkte Bombentreffer getötet. Die meisten Opfer gab es am 14. Oktober 1940 in der Station Balham (68), am 12. November 1940 in der Station Sloane Square (79) und am 11. Januar 1941 in der Station Bank (56). Vorfälle im Rahmen der Anschläge vom 7. Juli 2005 Am Vormittag des 7. Juli 2005 fanden bei einem Terroranschlag im U-Bahn-Netz mehrere Explosionen statt, wobei es mindestens 700 Verletzte und über 50 Tote gab. Suizid Auf dem Netz der Underground kommt es häufig zu Suizidversuchen (durchschnittlich einmal pro Woche), von denen jeder dritte tödlich endet. Die dadurch verursachten Verspätungen werden in den Lautsprecherdurchsagen als incident, passenger action („Fahrgastzwischenfall“) oder Person under a train („Person unter einem Zug“) umschrieben, beim Personal (aber auch vereinzelt bei Durchsagen) werden sie jedoch als one under („einer drunter“) bezeichnet. Um die Sicherheit zu erhöhen und Suizide zu vermeiden, sind die 1999 eröffneten Stationen der verlängerten Jubilee Line mit Glaswänden am Bahnsteigrand ausgestattet. Die Wände sind mit Bahnsteigtüren ausgestattet, die sich gemeinsam mit den dahinterliegenden Wagentüren der Züge öffnen und schließen. Maßnahmen bei Zwischenfällen Häufig kommt es in der London Underground zu Zwischenfällen, die beispielsweise mit unbeaufsichtigten oder vergessenen Gepäckstücken, Suizidversuchen oder Brandfällen zu tun haben; diese werden in allen Stationen der London Underground (und auch in allen Bahnhöfen der National Rail) durch die zuvor aufgenommene Durchsage angekündigt: Due to a reported emergency all passengers must leave the station immediately. Please obey the instructions of the staff. („Wegen eines gemeldeten Notfalls müssen alle Fahrgäste die Station sofort verlassen. Bitte befolgen Sie die Anweisungen des Personals.“) Darauf folgt ein Alarmton. Das Logo Das bekannte Logo der Londoner U-Bahn, ein roter Kreisring mit einem horizontal darüber liegenden blauen Balken, wurde 1908 von Harold Stabler entworfen (die Metropolitan Railway hingegen hatte das „Diamond and Bar“-Logo, ein diamantförmiges Logo mit Balken). 1916 überarbeitete Edward Johnston das Logo im Auftrag des „London Passenger Transport Board“. Es ist in jeder Station, aber auch in und auf den einzelnen Zügen, Bussen, Straßenbahnen und auf den Fahrplänen zu sehen. Entweder ist es in den Stationen auf Schildern angebracht oder zum Teil sogar durch Mosaik-Technik in die Wand der Tunnelröhren eingearbeitet. Auf dem blauen Balken steht in Großbuchstaben entweder der jeweilige Stationsname oder das Wort „Underground“. Johnston entwickelte den Sans-Serif-Schrifttyp Johnston Typeface, der ab 1916 für das Logo verwendet wurde; die Schrift bildete die Vorlage für die von Eric Gill in den 1920er Jahren entwickelte Gill Sans. Die heute benutzte Schriftart ist eine überarbeitete Version, die unter dem Namen „P22 Johnston Underground“ vom Schriftarten-Hersteller P22 type foundry vertrieben wird. Mit der Zeit entwickelte sich das Logo ebenso zu einem markanten Erkennungsmerkmal für die U-Bahn und London selbst wie der Slogan „mind the gap“ (s. u.). Diese beiden Merkmale sind auf zahlreichen Fanartikeln vereint, die ebenso wie viele historische Poster und dem Underground-Netzplan vom London Transport Museum vermarktet werden. Transport for London ist dafür bekannt, dass sie die unautorisierte Benutzung wie z. B. das Kopieren des Logos gerichtlich verfolgen lässt. Trotzdem entstehen weltweit immer wieder zahlreiche Kopien, da sich das Logo bei London-Fans großer Beliebtheit erfreut. Zum 50. Geburtstag der Berliner U-Bahn schenkte die London Transport Executive, der damalige Betreiber der Londoner U-Bahn, 1952 den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) als Zeichen der Verbundenheit ein Londoner U-Bahn-Schild. Als Ort der Anbringung wählte die BVG mit dem U-Bahnhof Wittenbergplatz eine der Stationen mit dem höchsten Fahrgastaufkommen im Zentrum West-Berlins aus. Liniennetzplan Im Jahr 1933 entwarf Harry Beck, ein Angestellter von London Transport, einen schematischen Liniennetzplan. Beck war zur Einsicht gelangt, dass der Fahrgast nicht die genauen geografischen Positionen wissen muss, um von einer Station zur anderen zu gelangen, weil die U-Bahn oft unterirdisch verkehrt. Nur die Topologie, also die räumliche Beziehung der Stationen untereinander, ist entscheidend. Er begann einen Liniennetzplan zu entwerfen, der elektrischen Schaltplänen ähnelte. Beck verfeinerte sein Design; der Plan bestand nur noch aus den beschrifteten Stationen sowie aus geraden Linien, die entweder horizontal, vertikal oder in einem diagonalen 45-Grad-Winkel verlaufen. London Transport reagierte zunächst skeptisch auf den Plan und betrachtete diesen lediglich als Freizeitarbeit eines einfachen Angestellten. Dennoch wurde der Plan probehalber in einer kleinen Auflage gedruckt und an die Fahrgäste verteilt. Er wurde sofort ein großer Erfolg und wird in seiner Art bis heute verwendet, sei es als Karte in Poster-Größe oder als handlicher Reisebegleiter. Das Design ist heute ein Symbol für London schlechthin: Es wird auf T-Shirts, Ansichtskarten, Tassen und andere Souvenirs gedruckt. Der englische Künstler Simon Patterson ersetzte in seinem Werk The Great Bear aus dem Jahr 1992 die Namen der Stationen durch Namen von Wissenschaftlern, Philosophen, Heiligen oder anderen Berühmtheiten. Das Bild wird in der Tate Modern ausgestellt. Über die Jahre hinweg wurden verschiedene Änderungen am Originalentwurf vorgenommen. Besonders das Problem, Umsteigemöglichkeiten zu oberirdischen Bahnstrecken darzustellen, konnte nie zu Becks Zufriedenheit gelöst werden. Außerdem werden heute für einzelne Linien andere Farben verwendet. Erweiterungen des Netzes (zum Beispiel die Jubilee Line) wurden stets raffiniert integriert; auf diese Weise basierten Neuauflagen stets auf dem Original. Becks Design wird seit langem weltweit von vielen anderen Verkehrsbetrieben in ähnlicher Form verwendet, beispielsweise in Berlin, Paris oder Tokio. Auch für Stadtbahnen ist dieses Konzept geeignet. Ein Faksimile des Originalplans von 1933 ist in der Station Finchley Central ausgestellt, in deren Nähe Henry Beck einst wohnte. Ebenfalls auf dem Netzplan abgebildet sind die Linien der Docklands Light Railway, einer vollautomatischen Stadtbahn im ehemaligen Hafengebiet Docklands, in Form von zwei dünnen blaugrünen parallelen Linien, die Linien der Overground (zwei dünne orange parallele Linien) und seit 2012 eine Seilbahn, die von den Docklands über die Themse nach North Greenwich führt (drei dünne rote parallele Linien). Mind the gap Die Durchsage Mind the gap (Vorsicht Lücke!, wörtlich: Denken Sie an die Lücke) ist eine Durchsage in der Underground, die es zu großer Bekanntheit gebracht hat und zum Teil als ebenso typisch für London empfunden wird wie die Doppeldeckerbusse. Die Souvenir-Industrie bietet mittlerweile zahlreiche Accessoires (T-Shirts, Tassen, Taschen und auch Unterwäsche) mit Aufdruck an. Der deutschen Techno-Band Scooter diente die Durchsage als Inspiration für ein gleichnamiges Album. Ihren Ursprung hatte die Durchsage an der Station Embankment der Northern Line. Weil der Tunnel exakt dem Verlauf der darüberliegenden Straße folgt, liegt diese Station in einer Kurve und der Spalt zwischen Wagen und Bahnsteig ist außerordentlich breit. Mit der Durchsage werden die Fahrgäste daran erinnert, darauf zu achten, wohin sie treten. Weitere Linien mit großen Abständen zwischen Wagen und Bahnsteig sind die Bakerloo Line und die Central Line. Die Durchsage selbst ist aufgezeichnet und wird von professionellen Sprechern gesprochen. Die erste, sehr markante Aufnahme stammt von Peter Lodge und wurde in den 1960er Jahren – bereits digital – aufgenommen. Diese Durchsage ist in einem harschen Ton gehalten, um ein Überhören unwahrscheinlich zu machen. Zusätzlich ist auch die Bahnsteigkante auffällig mit „Mind the Gap“ beschriftet. Seit 2003 wird diese Durchsage nach und nach durch eine andere Version ersetzt. Diese wird von Emma Clarke, einer damals 36-jährigen freien Synchronsprecherin, gesprochen und ist in einem vornehmeren, weniger strengen Ton gehalten. Tarifsystem Travelcard Für die Berechnung der Fahrpreise verwendet London Underground das Tarifzonensystem der Travelcard (Papierfahrschein) von Transport for London, das einem Verkehrsverbund entspricht. Um die zentrale Zone 1, die zu einem großen Teil durch die Circle Line begrenzt wird, liegen fünf weitere konzentrische Zonen. Diese decken das gesamte Gebiet von Greater London und einen kleinen Teil im Südwesten von Essex ab; auch der Flughafen Heathrow gehört dazu. Einzelne Stationen der Metropolitan Line in Hertfordshire liegen außerhalb des eigentlichen Travelcard-Bereichs; die Zonen 7 bis 9 gelten nur für die Underground, nicht aber für andere Verkehrsmittel. Allgemein gilt: Je mehr Zonen durchfahren werden, desto höher ist der Fahrpreis. Fahrscheine und Abonnements, die die Zone 1 abdecken, sind üblicherweise teurer als solche, die lediglich äußere Zonen umfassen. Im Januar 2006 wurde die Tarifstruktur für Travelcard vereinfacht. Dabei wurden die Preise für Einzelfahrschein absichtlich hoch angesetzt um die Fahrgäste zu kontaktlosen Bezahlen mittels Debit-Card bzw. Kreditkarte oder zur Oyster Card zu motivieren. Konkrete Preise und Konditionen für die Travelcard finden sich auf der Website der Transport for London. Contactless Alternativ zur Travelcard („Fahrschein“) können auch kontaktlose Karten mit NFC-Fähigkeit wie Debitkarten und Kreditkarten oder alternative NFC-Bezahlfunktionen wie virtuelle Kreditkarten, Google Pay oder Apple Pay auf Smartphones verwendet werden. Durch die breite Ausgabe dieser NFC-Karten seit Mitte der 2010er Jahre ist diese Methode mittlerweile dominierend. Als Fahrgast hält man die NFC-Karte bzw. Mobilgerät beim Betreten und Verlassen der Stationen an die Lesegeräte, womit das System selbstständig die Zeit und Entfernungen und die damit verknüpften Kosten ermittelt und so ein Pay-as-you-go realisiert wird. Die entstehenden Kosten werden dabei gesammelt und en bloc pro Tag von der Karte eingezogen. Weiters greift dabei eine Kostendeckelung () nach verschiedenen Regeln wie den täglichen Maximalpreis (Daily Capping) pro Zone. Diese Kostengrenze orientieren sich an den Einzelpreis der Travelcard, d. h. man zahlt damit nicht mehr als mit einer Tages-Travelcard. Außerdem ist eine wöchentliche Kostendeckelung vorhanden, welche wie Daily Capping funktioniert, aber die Maximalkosten in einer Woche, gerechnet von Montag zu dem folgenden Montag, noch oben begrenzt. Die Vorteile dieses Systems sind, dass dabei der Fahrgast keine zusätzliche Fahrkarte oder Fahrschein angeschafft werden muss. Es werden fast alle NFC-tauglichen Debit- und Kreditkarten, auch ausländische Kreditkarten, akzeptiert. Die damit verbundenen Fahrpreise sind in praktischer Anwendung meist geringer als die Preise mit der Travelcard, welche die oberen Preisgrenze (cap) darstellt. Der Nachteil bei Verwendung von nicht auf Pfund Sterling (GBP) lautende Karten, beispielsweise bei Verwendung einer Debit-Karte aus dem Euro-Raum, besteht darin, dass durch die tägliche Abrechnung die Umrechnungsspesen nach GBP und bankspezifische Zuschläge für Abrechnungen in Fremdwährung einmal täglich anfallen. Oyster Die Oyster Card ist eine blaue Plastikkarte mit einer NFC-Fähigkeit. Sie ist in der Anwendung im Rahmen der London Underground analog wie die NFC-fähigen Debit- oder Kreditkarten zu sehen (Contactless) und stellt eine Alternative dar, wenn eine NFC-taugliche Debit- oder Kreditkarte entweder nicht verfügbar ist oder nicht verwendet werden will. Es gibt verschiedene Verwendungsmöglichkeiten, unter anderem sind das: Travelcard (als Zeitkarte ab 1 Woche Gültigkeit für bestimmten Tarifzonen) Pay-as-you-Go: Es wird nach Abschluss einer Fahrt der Betrag abgebucht. spezielle für Touristen ausgegebene Oyster Cards Die Pay-as-you-go-Variante bringt den Fahrgästen die gleichen Einsparungen gegenüber herkömmlichen, gedruckten Travelcards ein. So gibt es bei Pay-as-you-go eine Kostendeckelung pro Tag (daily capping) und Tarifzone. Sobald man mit seinen Fahrten die Deckelung erreicht, kosten weitere Fahrten (innerhalb der Tarifzonen deren Deckelung man erreicht hat) nichts mehr. Dies soll vor allem die langen Schlangen an den Fahrkartenschaltern verkürzen und den Personalaufwand verringern. Man kann die Oyster Card entweder bei den Fahrkartenautomaten der U-Bahn-Stationen oder bei den Oyster Ticket Stops aufladen. Der Nachteil der Oyster Card ist, dass bei der Anschaffung ein bestimmter Betrag für die Ausstellung der Karte verlangt wird. Dieser Anschaffungsbetrag wird bei nicht mehr weiterer Nutzung der Oyster Card seit dem 4. September 2022 nicht mehr zurückerstattet. Des Weiteren sind Aufladungen auf die Oyster Card bei Personengruppen mit nur einer zeitlich limitierten Nutzung, beispielsweise Touristen, mit dem Problem verbunden, dass am Ende der Reise ein eventuell verbleibendes Guthaben auf der Oyster Card entweder gar nicht oder nur mit gewissen Aufwand rückerstattet wird, womit in Summe höhere Gesamtkosten als mit der direkten Verwendung von NFC-fähigen Debit- oder Kreditkarten entstehen können. Barrierefreiheit Da die meisten Stationen der London Underground bereits viele Jahrzehnte alt sind, wurden sie nicht nach Maßstäben des barrierefreien Bauens errichtet. Die meisten Stationen sind bis heute in vielen Bereichen auch nicht nachgerüstet. Es sind allerdings umfangreiche Bauarbeiten im Tubenetz angekündigt, in deren Verlauf auch mehrere Stationen mit Liften nachgerüstet sowie neue Wagen mit mehr Rollstuhlplätzen angeschafft werden. Dies bedeutet, dass die Mehrzahl aller Stationen nicht für Menschen im Rollstuhl zugänglich ist. An allen Stationen ist ein entsprechender Durchlass im Sperrensystem zur Fahrscheinkontrolle vorhanden, aber in den meisten Fällen ist es nicht möglich, den Bahnsteig zu erreichen, weil keine Aufzüge zur Verfügung stehen. Von insgesamt 275 Stationen sind lediglich 40 mit Aufzügen ausgestattet, wobei diese in einigen Fällen nur nach Anmeldung benutzt werden können. Daneben sind sie teilweise nicht direkt, sondern nur über einige Stufen vom Bahnsteig aus zu erreichen. Auch beim Umsteigen zwischen einzelnen Linien müssen sehr oft Stufen überwunden werden. Einzig zwischen Westminster und Stratford, dem neuesten Abschnitt der Jubilee Line, sind sämtliche Stationen rollstuhlgerecht ausgebaut, was außerdem nur bei wenigen Stationen in der Innenstadt gegeben ist. Ein zusätzliches Problem stellt der Höhenunterschied zwischen Bahnsteig und Zug dar. Des Weiteren sind in vielen Zügen keine Stellflächen vorgesehen. Als Hilfestellung für sehbehinderte und blinde Menschen sind alle Bahnsteigkanten mit einem Bodenbelag versehen, der sich von dem des Bahnsteiges unterscheidet. In den Zügen kündigen Lautsprecherdurchsagen die Endstation und den nächsten Halt an. Für diese Menschen stellt der Einstieg in den Wagen zudem ein Hindernis und Sicherheitsrisiko dar. Es sind keine Hilfen zur Navigation durch die oft labyrinthähnlichen Stationen vorhanden. Einzige Hilfestellung für hörbehinderte Menschen sind elektronische Anzeigen in neueren Zügen, die über das Ziel und die nächste Station informieren. „GLAD“ (Greater London Action on Disability), eine Initiative von behinderten Menschen, setzt sich für eine Umgestaltung der London Underground ein. Ziel ist, die Nutzung der Tube auch für alle Menschen mit Behinderung problemlos zu gestalten. Nach Aussagen von GLAD ist die Tube das am wenigsten behindertengerechte öffentliche Verkehrsmittel in London. Siehe auch London Post Office Railway Verkehr in London Literatur Tobias Döring: London Underground. Reclam, Stuttgart 2003, ISBN 3-15-009104-7 Keith Lowe: Auf ganzer Linie. Heyne, München 2003, ISBN 3-453-86443-3 Bernhard Strowitzki: U-Bahn London. GVE, Berlin 1994, ISBN 3-89218-021-0 John R. Day, John Reed: The Story of London’s Underground. Capital Transport, Harrow Weald 82001 (englisch), ISBN 1-85414-245-3 Ludwig Troske: Die Londoner Untergrundbahnen. Springer, Berlin 1892(!), VDI-Verlag, Düsseldorf 1986 (Repr.). ISBN 3-18-400724-3 Weblinks Website von Transport for London zur Tube Offizielle Linienfahrpläne Working Timetables WTT London Underground bei urbanrail.net Unbenutzte Stationen der Londoner U-Bahn Entwicklung des Streckennetzes der Londoner U-Bahn Einzelnachweise London Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Eifelwasserleitung
Eifelwasserleitung
Die Eifelwasserleitung – auch Römerkanal oder Römische Wasserleitung nach Köln genannt – war eines der längsten Aquädukte des römischen Imperiums und gilt als längster Aquädukt nördlich der Alpen. Die Anlage versorgte die damalige römische Stadt Colonia Claudia Ara Agrippinensium, das antike Köln, mit Wasser für die öffentlichen Laufbrunnen, Thermen und privaten Hausanschlüsse. Geschichte der Leitung Die Anlage hatte eine Vorgängerin, die heute Vorgebirgsleitung genannt wird oder besser nach ihren einzelnen Zweigen: Bachemer-(?), Gleueler-, Burbacher- und Hürther Leitung (→ Römische Wasserleitungen in Hürth). Die Stränge der Vorgängerleitung wurden zwischen 1929 und 1953 archäologisch ergraben. Sie entstanden wahrscheinlich in verschiedenen Abschnitten circa 30 n. Chr. vor Erhebung der Ubierstadt zur römischen Colonia und nutzten einige Quellen und saubere Bachläufe des Höhenzuges Ville (süd-)westlich von Köln, insbesondere den Duffesbach oder Hürther Bach. Bevor diese Bäche von den Römern kanalisiert worden waren, versickerten sie im Rheinschotter. Als die Menge und Qualität des Wassers dieser Leitung nicht mehr ausreichte, die schnell wachsende antike Großstadt zu versorgen, obwohl die Quellen auch im Sommer durch die in der Ville wasserspeichernden Braunkohleschichten eine ausreichende Schüttung hatten, wurde eine neue Wasserleitung zu Quellen in der Eifel angelegt. Das kalkreiche Quellwasser aus der Eifel galt als qualitativ besonders hochwertig. Diese Eifelwasserleitung errichtete man um das Jahr 80 n. Chr. von der Nordeifel her aus Opus caementitium und Mauerwerk aus Naturstein. Obwohl literarische und epigraphische Quellen fehlen, kann als sicher angenommen werden, dass die Leitung vom römischen Heer errichtet wurde, da nur dieses über die entsprechenden Mittel verfügte. Dessen Kommandant und Statthalter des dazugehörenden Heeresbezirks, aus dem wenige Jahre später die Provinz Germania inferior wurde, war um diese Zeit Sextus Iulius Frontinus, der später in Rom curator aquarum wurde. Klaus Grewe, derzeit der beste Kenner der Eifelleitung, vermutet da einen naheliegenden Zusammenhang. Die Leitung hatte eine Länge von 95,4 Kilometern und eine Transportkapazität von bis zu 20.000 Kubikmetern Trinkwasser je Tag. Zählt man die Zuleitungen von den verschiedenen Quellen noch hinzu, dann hatte sie sogar eine Länge von 130 km. Damit der Bau zügig voranging, wurde die Strecke in Baulose aufgeteilt. Grewe schätzt die Zahl auf 20 Abschnitte, die gleichzeitig in Angriff genommen wurden. Zwei Abschnittsgrenzen wurden von ihm in den nicht herausgenommenen Abschnitten archäologisch nachgewiesen. Die Leitung transportierte das Wasser allein durch ihr Gefälle und ist ein Denkmal für die damalige, bis heute nachwirkende Ingenieurskunst. Der Verlauf zeigt die Befähigung der Römer zur exakten Vermessung, den Zugang zu Prinzipien der Physik und deren praktischer Ausführung. Manche vermuteten fälschlicherweise den Eisernen Mann im Kottenforst als Vermessungspunkt der Leitung, der aber mutmaßlich erheblich jünger ist. Die gesamte Anlage war bis etwa 260 n. Chr. in Betrieb, sie wurde nach der ersten Plünderung und Zerstörung Kölns durch die Franken nicht wieder in Betrieb genommen. Nach diesen Zerstörungen wurde die rasch wieder aufblühende Stadt vom Duffesbach, der der Kanaltrasse ab Hermülheim folgte, mit Wasser versorgt. Damit war quasi der vorherige Status der Versorgung aus dem Vorgebirge wieder gegeben. Neue Untersuchungen ergaben Hinweise, dass die Leitung während der Betriebszeit durch Erdbeben beschädigt und wieder repariert wurde. Verlauf der Leitung Die Eifelwasserleitung beginnt im Urfttal bei Nettersheim am Grünen Pütz, wo sie das Wasser einer Quelle aufnahm. Als reine Gefälleleitung zog sie sich am Talhang der Urft entlang nach Kall, um dort die Wasserscheide zwischen Maas und Rhein zu überwinden. Die römischen Ingenieure hatten im Gelände genau diese eine mögliche Stelle ausfindig gemacht, an der die Gefälleleitung ohne einen Tunnel oder eine Druckrohrleitung die Wasserscheide überwinden konnte. Anschließend verlief die Leitung parallel zum Nordhang der Eifel, überquerte die Erft bei Euskirchen-Kreuzweingarten und zwischen Rheinbach und Meckenheim die Swist mit einer gemauerten Gewölbebrücke, um dann im Kottenforst bei Buschhoven, nordwestlich von Bonn, den Höhenrücken des Vorgebirges zu passieren. Über Brühl und Hürth erreichte die Leitung schließlich Köln. Weitere angetroffene Quellen im Urfttal, die den Ansprüchen an Wasserqualität und -quantität genügten, wurden ebenfalls gefasst und eingespeist. Technische Ausführung der Leitung Die Leitung verlief zum Schutz vor Frost größtenteils etwa 1 m unterhalb der Erdoberfläche. Der archäologische Ausgrabungsquerschnitt zeigt zuunterst eine lose Lage Steine, auf die meist eine U-förmige Rinne aus Opus caementitium (Beton) oder Mauersteinen gesetzt wurde. Anschließend wurde auf die Rinne eine Schicht aus sauber zugehauenen und vermörtelten Natursteinen gemauert, die ihrerseits ein Gewölbe aus Steinen mit viel Mörtel trug. Bei der Ausführung in Beton und für das Gewölbe wurden Bretter für die Schalung verwendet, deren Maserung als Abdruck im Beton erkennbar ist. Die Leitung selbst hatte innen eine Breite von siebzig Zentimetern und eine Höhe von einem Meter und konnte damit auch von innen begangen werden. Sie war zum Schutz vor eindringendem Wasser außen verputzt und wurde bei Bedarf von einer Drainage begleitet, die anstehendes Grundwasser sowie Sickerwasser von der Leitung fernhielt. Kleinere Wasserläufe kreuzte die Leitung mit entsprechenden Durchlässen, von denen einer in der Nähe des Grünen Pützes sogar noch vollständig erhalten ist. Auch das Innere der Leitung war mit einem rötlichen Putz versehen (opus signinum), der aus Kalk und Zuschlägen wie zerstoßenen Ziegelsteinen besteht. Dieser Putz erhärtete auch unter Wasser und dichtete die Leitung gegen Wasserverluste nach außen ab. Feine Risse und Spalten im Putz wurden mit Holzasche abgedichtet, die bei der Inbetriebnahme und Erstbefüllung der Leitung mit Wasser hineingestreut wurde. Quellfassungen Neben dem bereits erwähnten Grünen Pütz bei Nettersheim existierten weitere Quellfassungen im Verlauf der Leitung. Bekannt ist in erster Linie der Klausbrunnen bei Mechernich-Kallmuth, dessen Brunnenstube nach einer archäologischen Ausgrabung rekonstruiert und mit einem Schutzbau versehen wurde. Weitere Quellen wurden beispielsweise in Mechernich-Urfey gefasst und der Leitung zugeführt. Die Brunnenstuben waren konstruktiv den örtlichen Gegebenheiten angepasst und würden auch heutigen technischen Erfordernissen entsprechen. Die Quellgebiete im Einzelnen: Der Grüne Pütz bei Nettersheim () Der Klausbrunnen bei Mechernich-Kallmuth () Das Quellgebiet bei Mechernich-Urfey Das Quellgebiet Hausener Benden bei Mechernich-Weyer Gerade das letztgenannte Quellgebiet stellt eine Besonderheit dar: Auf der Suche nach einer ergiebigen Quelle zur Versorgung von Mechernich mit Trinkwasser stieß man 1938 auf eine Zuleitung der Eifelwasserleitung. Das ausströmende Wasser wurde daraufhin in das moderne Versorgungsnetz eingeleitet. Auf eine archäologische Suche nach der Quellfassung verzichtete man, um die Quelle nicht zu gefährden. Anspruch der Römer an die Wasserqualität Die Menschen im römischen Imperium bevorzugten Trinkwasser mit hoher Wasserhärte. Derartiges Trinkwasser ist vollmundiger als das fade schmeckende weiche Wasser, es neigt aber auch zu Kalkausfällungen innerhalb der Transportleitungen. Diese Kalksinterablagerungen legten sich als dichte Schicht auf alle Bereiche der Leitung und verhinderten innerhalb der städtischen Rohrleitungen aus Blei, dass das giftige Schwermetall in das Trinkwasser geraten konnte. In der Eifelwasserleitung selbst bildeten sich auch Sinterschichten, welche im Betriebszeitraum teilweise eine Stärke von 30 cm erreichten. Trotz der damit einhergehenden Querschnittsverengung konnte die Leitung problemlos die notwendige Kapazität für den Wassertransport bereitstellen. Die Kalkausfällungen selbst wurden als sogenannter Aquäduktenmarmor in späteren Zeiten als Baumaterial genutzt. Ein Verfahren zur Prüfung einer Quelle für die Gewinnung von Trinkwasser nennt der römische Architekt und Autor Vitruv: An anderer Stelle findet sich bei demselben Autor: Hochbauten der Eifelwasserleitung Für die Eifelwasserleitung waren nur wenige Hochbauten notwendig, dabei keine nach Art des Pont du Gard. Denn der Verlauf der Leitung querte keine großen oder tiefen Täler. Die Leitung war im Untergrund (meist in Hanglagen) vor Frost geschützt. Weiters behielt das Wasser auf dem Weg nach Köln so auch angenehme Kühle. Zur Überquerung der Swist zwischen Rheinbach und Lüftelberg wurde die Aquäduktbrücke über den Swistbach von 1400 Metern Gesamtlänge mit bis zu 10 Metern Höhe errichtet. Die Archäologen gehen davon aus, dass die Brücke einmal 295 Bögen mit einer lichten Weite von 3,56 m gehabt haben muss. Von dem Bauwerk ist nur ein niedriger Streifen aus Schutt erhalten. Eine Aquäduktbrücke über die Erft zwischen Euskirchen-Rheder und Euskirchen-Stotzheim hatte eine Länge von ca. 500 m. Beide Brücken wurden in nachantiker Zeit zur Gewinnung von Baumaterial vollständig abgebrochen. Eine Bogenbrücke, die Aquäduktbrücke Vussem, überquerte ein Seitental bei Mechernich-Vussem in etwa 10 Metern Höhe und 80 Metern Länge. Der archäologische Befund stellte sich als eindeutig dar, so dass man eine Teilrekonstruktion der Brücke vornehmen konnte, um dem Besucher eine Vorstellung von dem Bauwerk geben zu können. Neben diesen größeren Aquäduktbrücken gab es aber auch viele kleine, die der Überwindung von Bachläufen dienten. Ein gut erhaltenes Beispiel eines solchen Brückchens ist die Aquäduktbrücke in Mechernich-Vollem mit nur einem Durchlass bzw. Bogen. Zur Überwindung eines nicht immer Wasser führenden Trockentals diente ein Durchlass bei Kall-Urft. Hinter der Überquerung der Ville wurden Aquäduktbögen auf die alte Hürther Leitung gesetzt. Ein Abschnitt ist in Hürth am Duffesbach zu besichtigen; zugänglich über den Vussemweg. Der römische Baustellenbetrieb Der Bau der Leitung stellte hohe Ansprüche an die Fähigkeiten und Kenntnisse der ausführenden Ingenieure. Andererseits scheinen Qualitätsmängel am Bau auch bei den Römern nicht unbekannt gewesen zu sein, denn Sextus Iulius Frontinus als leitender Beamter der städtischen Wasserversorgung von Rom schrieb: Aufwand zum Bau der Leitung Ein Bauwerk dieser Länge war von der Vermessung, dem Tiefbau und den Mauerarbeiten her nicht in einem Zuge zu verwirklichen. Stattdessen haben die römischen Ingenieure, die zu den an der Rheingrenze stationierten Legionen gehört haben dürften, die gesamte Baustelle in einzelne Baulose unterteilt. Die moderne Archäologie ist methodisch in der Lage, die Grenzen solcher Baulose festzustellen. Bei der Eifelwasserleitung wurden Baulose mit je 4440 Metern Leitungslänge festgestellt, das sind ziemlich genau 15.000 römische Fuß. Weiterhin ließ sich nachweisen, dass die Vermessung völlig unabhängig vom Bau der Leitung stattfand. In diesem Zusammenhang wird der Leitungsbau ähnlich abgelaufen sein, wie es heute noch auf Großbaustellen üblich ist. Der Bauaufwand wird mit einem Erdaushub von 3 bis 4 Kubikmetern je laufendem Meter Leitung geschätzt, hinzu kommen 1,5 Kubikmeter Mauerwerk und Beton sowie 2,2 Quadratmeter Putz zur Abdichtung der Leitung. Der gesamte Aufwand wird auf 475.000 Tagewerke geschätzt, bei 180 effektiven Bautagen im Jahr wären dafür etwa 2500 Arbeiter 16 Monate lang beschäftigt. Die tatsächliche Bauzeit wird aber deutlich länger gewesen sein, da in dieser Rechnung weder die Vermessung noch die Beschaffung der Baustoffe enthalten sind. Nach der Fertigstellung der Anlage, beziehungsweise ihrer Abschnitte, wurde die Baugrube wieder aufgefüllt, die Oberfläche eingeebnet und ein Weg für die Leitungswärter, die den Trassenverlauf regelmäßig inspizierten, angelegt. Dieser Weg markierte gleichzeitig einen Schutzstreifen, innerhalb dessen eine landwirtschaftliche Nutzung des Geländes verboten war. Ähnliche Einrichtungen sind auch von anderen Aquädukten bekannt. An der römischen Wasserleitung nach Lyon, dem Gier-Aquädukt, fanden die Archäologen eine Verbotstafel mit folgender Aufschrift: Römische Vermessungstechnik Neben der sinnvollen Lage der Leitung im Gelände musste vor allem das notwendige Gefälle der Leitung gewährleistet sein. Die römischen Ingenieure waren mit ihren Chorobates, wasserwaagenähnlichen Messgeräten, in der Lage, ein Gefälle von einem Promille einzuhalten, die Leitung überwand also auf eintausend Meter Entfernung die Höhe von einem Meter. Hinzu kam die Notwendigkeit, an den Grenzen der einzelnen Baulose einen Zwangspunkt in der Höhe einhalten zu müssen, denn bei einer Bautätigkeit leitungsabwärts stieß man irgendwann an den Beginn des nächsten Loses, das vom Nachbarbautrupp bereits begonnen wurde. Die Leitung durfte somit keinesfalls zu tief an diesem Zwangspunkt ankommen. Entsprechend vorsichtig und sparsam sind die römischen Bauleute mit dem zur Verfügung stehenden Gefälle umgegangen. Kam die Leitung dagegen zu hoch an dieser Stelle an, genügte ein kleines Tosbecken in der Leitung zur Beruhigung des herunterfallenden Wassers. Römischer Beton als Baustoff Die römischen Bauleute verwendeten eine Mischung aus gebranntem Kalk, Sand, Steinen und Wasser mit hydraulisch wirkenden weiteren Zuschlägen als eine Art Beton, der zwischen die Baugrube als Außenschalung und eine Innenschalung aus Brettern eingestampft wurde. Proben dieses Materials wurden modernen Prüfungen unterzogen; es zeigte sich dabei, dass der Beton ohne weiteres den heutigen Normen für diesen Baustoff entsprochen hätte. In der Literatur wird für diesen Baustoff auch der Name Opus caementitium verwendet. Betrieb der Leitung Während ihrer wahrscheinlich 180-jährigen Betriebsdauer von 80 bis ungefähr 260 nach Christus musste die Leitung ständig gewartet, ausgebessert, gereinigt und von Sinter befreit werden. Hierzu gab es in regelmäßigen Abständen angelegte Revisionsschächte, von denen aus die Leitung begangen werden konnte. Mitunter wurden die Revisionsschächte auch über Reparatur­stellen und Grenzen der Baulose angelegt. An der Zusammenführung der einzelnen Quellstränge entstanden ähnlich gestaltete offene Becken, damit das Wartungspersonal derartige Problemstellen stets im Auge behalten konnte. Zur Beseitigung von Verunreinigungen und Schwebstoffen aus dem Frischwasser wurden unter geschickter Ausnutzung der Verringerung der Strömungsgeschwindigkeit Absetzbecken eingesetzt. Dies lässt sich zumindest in der ersten Betriebsphase des Vorgängerbaues, der Hürther Leitung, vor dem Anschluss der Eifelwasserleitung an diesen nachweisen. Durch diese Technik wurde die Wasserqualität zusätzlich erhöht. Bei Straßenbauarbeiten an der Berrenrather Straße wurde 1927 ein solches Becken ausgegraben. Es kann dort besichtigt werden. Münzfunde in dieser Anlage lassen einen Einsatz ab etwa dem Jahr 50 vermuten. Bei dem Anschluss der Eifelwasserleitung wurde dieses Becken mit dem Aquädukt überbaut. Verteilung des Wassers in der antiken Stadt Köln Auf den letzten Kilometern vor der antiken Stadt verließ die Leitung das Erdreich und führte das Wasser über eine Aquäduktbrücke, die vor der Stadt eine Höhe von etwa 10 Metern erreichte. Der Grund für diesen zusätzlichen Bauaufwand ist in der Notwendigkeit zu suchen, auch höher gelegene Stadtteile mit Druckrohrleitungen versorgen zu können. Die damaligen Rohre bestanden aus Bleiplatten, die man zu einem Ring walzte und an den Stoßstellen des Ringes miteinander verlötete. Daneben waren auch Flansche zur Verbindung der einzelnen Rohrstücke in Gebrauch. Als Armaturen verwendeten die Römer Absperrhähne aus Bronze. Das ankommende Wasser floss dann in erster Linie in die vielen öffentlichen Laufbrunnen der Stadt, die ständig in Betrieb waren. Das Netz der Laufbrunnen war so dicht, dass kein Einwohner der Stadt weiter als 50 m zu einem dieser Brunnen gehen musste. Weiterhin versorgte die Leitung Thermen, private Hausanschlüsse sowie die öffentlichen Toilettenanlagen. Die Abwässer wurden durch ein im Kölner Untergrund befindliches Kanalnetz in den Rhein geschwemmt. Ein Stück dieser Abwasserleitungen kann unter der Kölner Budengasse auch heute noch besichtigt und begangen werden. Nutzung der Leitung als Steinbruch Im Jahre 260 wurde die Leitung bei einem kriegerischen Überfall durch die Germanen zerstört und nicht wieder in Betrieb genommen, obwohl die römische Stadt Köln weiter Bestand hatte. Zudem ging später in den Wirren der Völkerwanderung das Wissen um den Aquädukt verloren. Die Anlage blieb zunächst ein halbes Jahrtausend unberührt in der Erde liegen, bis zur Zeit der Karolinger eine neue Bautätigkeit im Rheinland einsetzte. Die Leitung wurde in dieser Zeit im steinarmen Rheinland gründlich ausgeschlachtet. So wurden gerade noch eben transportierbare Brocken aus der Leitung herausgebrochen und beispielsweise in der Stadtmauer von Rheinbach erneut vermauert. Teilweise haftet an diesen Brocken aus Beton immer noch der Putz zur Abdichtung der Leitung. Auf diese Art und Weise wurden alle Hochbauten und weite Teile der unterirdischen Anlagen restlos beseitigt und einer neuen Nutzung zugeführt. Besonders begehrt war der so genannte Aquäduktenmarmor, ein Sinterkalk, wie der schon erläuterte Niederschlag aus Kalk auch genannt wurde. Dieses Material hatte sich in der Betriebszeit der Leitung zu einer bis zu 30 cm dicken Gesteinsschicht angesammelt. Das Material hat das Aussehen von bräunlich bis rötlich gefärbtem Marmor und ließ sich problemlos aus dem Querschnitt der Leitung entfernen. Der Sinterkalk konnte ohne weiteres poliert werden und erhielt in Längsrichtung durch die Ansammlung der Kalzitminerale eine Textur, die wie eine Maserung von Holz wirkte, während er rechtwinkelig, gegen sein natürliches Lager dazu wie ein versteinertes Brett erscheint. Der seltene Naturstein war im gesamten Rheinland sehr begehrt, man fertigte Säulen, Fensterleibungen und sogar Altarplatten daraus. Das Material lässt sich im Osten bis nach Paderborn und Hildesheim nachweisen, wo es in den dortigen Domen verbaut wurde. Die nördliche Verbreitung reicht gar bis nach Dänemark im Dom zu Roskilde, wo der auch Eifelmarmor genannte Sinter in Form von Grabplatten Verwendung fand, ferner befindet sich in der ältesten Steinkirche von Schweden in Dalby eine Aquäduktenmarmor-Säule. Im Volksglauben des Mittelalters wurde aus der Eifelwasserleitung eine unterirdische Leitung von Trier nach Köln, wie es unter anderem in der Kölner Dombausage deutlich wird – der Teufel wettete mit dem Dombaumeister, dass er diese Leitung schneller vollenden könne als der Baumeister den Kölner Dom. Der Baumeister ging auf die Wette ein und trieb seine Leute zu höchster Eile an. Eines Tages stießen die Bauleute bei Ausschachtungsarbeiten zum Kölner Dom auf einen unterirdischen Wasserstrom. Das schadenfrohe Gekicher des Teufels trieb den Dombaumeister in den Tod: Er stürzte von den halb fertigen Domtürmen in die Tiefe. Sein Tod wurde als Ursache für den jahrhundertelangen Stillstand der Baustelle des Kölner Doms angesehen. Teilweise wurde der ursprüngliche Zweck der Wasserleitung so stark umgedeutet, dass sie nicht Wasser, sondern Wein transportiert habe – so zum Beispiel in den Gesta Treverorum des heiligen Maternus (4. Jahrhundert) und im Annolied (11. Jahrhundert). Abschließende Wertung Die archäologische Erforschung der Eifelwasserleitung begann erst wieder im 19. Jahrhundert. Dem Mechernicher Bergbeamten C. A. Eick gebührt das Verdienst, schon 1867 die Brunnenstube des Grünen Pützes als die von Köln am weitesten entfernte Quelle erkannt zu haben. Systematisch erforscht wurde die Leitung in den Jahren 1940 bis 1970 durch Waldemar Haberey. Seine 1971 erschienene Schrift (siehe Literaturauswahl) ist immer noch ein brauchbarer Führer entlang der Trasse. Der beim rheinischen Landesamt für Bodendenkmalpflege angestellte Archäologe Klaus Grewe hat ab 1980 die Trasse komplett kartografiert und in die Deutsche Grundkarte eingetragen. Sein „Atlas der römischen Wasserleitungen nach Köln“ gilt als Standardwerk über die Erforschung römischer Aquädukte. Die Eifelwasserleitung stellt sich als technisches Denkmal ersten Ranges dar, an dem sich das römische Vermessungswesen, die römische Organisationsfähigkeit und das Können der römischen Ingenieure eindrücklich studieren lässt. Es ist bezeichnend für den Verlust an technischem Wissen, dass nach der Zerstörung und dem Verfall der Anlage die nachfolgenden Generationen nichts Rechtes mehr mit der Leitung anfangen konnten und sie als Steinbruch verwendeten. Den römischen Stand der Technik auf dem Gebiet der Wasserversorgung erreichte man erst wieder im 19. und 20. Jahrhundert. Somit kommt der gesamten, als bewahrenswert angesehenen Anlage eine Vorbildfunktion zu. Touristische Hinweise Entlang der Route der Wasserleitung führt der 2012 erneuerte „Römerkanal-Wanderweg“ von Nettersheim über Kall, Rheinbach, Brühl und Hürth nach Köln. Die 7 Etappen umfassende Route hat 53 Stationen mit ausführlichen Informationstafeln zu den Sehenswürdigkeiten und gibt eine sehr gute Anschauung vom Verlauf der Leitungstrasse. Der Wanderweg ist ca. 115 km lang und kann dank des dichten Netzes des öffentlichen Personennahverkehrs in mehreren Etappen gegangen oder auch mit dem Fahrrad gefahren werden. Ein Freundeskreis Römerkanal, in dem alle Anlieger und zuständige Institutionen Mitglied sind, kümmert sich um die weitere Erhaltung und Vermarktung des Bauwerks. Er führt auch eigene Ausstellungen und Veranstaltungen durch. Siehe auch Grüner Pütz Aufschluss der Eifelwasserleitung mit Durchlass bei Kall-Urft Klausbrunnen Aquäduktbrücke in Mechernich-Vollem Sammelbecken in Eiserfey Aquäduktbrücke Vussem Aquäduktbrücke über die Erft Aquäduktbrücke über die Swist Römische Wasserleitungen in Hürth Literatur C. A. Eick: Die römische Wasserleitung aus der Eifel nach Köln mit Rücksicht auf die zunächst gelegenen römischen Niederlassungen, Befestigungswerke und Heerstraßen. Ein Beitrag zur Alterthumskunde im Rheinlande. Mit einer Karte. Max Cohen & Sohn, Bonn 1867. Klaus Grewe: Atlas der römischen Wasserleitungen nach Köln (Rheinische Ausgrabungen Band 26). Rheinland-Verlag, Köln 1986. ISBN 3-7927-0868-X. Klaus Grewe: Eifelwasserleitung. In: Heinz Günter Horn (Hrsg.): Die Römer in Nordrhein-Westfalen. Lizenzausgabe der Auflage von 1987. Nikol, Hamburg 2002, ISBN 3-933203-59-7, S. 409–418. Klaus Grewe: Aquädukt-Marmor. Kalksinter der römischen Eifelwasserleitung als Baustoff des Mittelalters. In: Bonner Jahrbücher 191, 1991, S. 277–343. Klaus Grewe: Neue Befunde zu den römischen Wasserleitungen nach Köln. Nachträge und Ergänzungen zum „Atlas der römischen Wasserleitungen nach Köln“. In: Bonner Jahrbücher 191, 1991, S. 385–422. Klaus Grewe: Der Römerkanalwanderweg. Eifelverein, Düren 2005. ISBN 3-921805-16-3. Klaus Grewe, Manfred Knauff: Die lange Leitung der Römer. Der Römerkanal-Wanderweg Nettersheim-Köln. Herausgeber: Eifelverein e. V. 1. Auflage 2012. ISBN 978-3-921805-81-7. Klaus Grewe: Aquädukte. Wasser für Roms Städte. (Begleitband zur Ausstellung „Aquädukte – Wasser für Roms Städte“ im Museum der Badekultur, Zülpich.) Regionalia Verlag, Rheinbach 2014. (Teil A Allgemeines zu Bau und Technik von römischen Wasserleitungen mit vielen Verweisen und Beispielen zur Kölner Leitung, Teil B, S. 240–392: Eifelwasserleitung), ISBN 978-3-95540-127-6, Besprechung: . Waldemar Haberey: Die römischen Wasserleitungen nach Köln. Die Technik der Wasserversorgung einer antiken Stadt. Rheinland-Verlag, Bonn 1971, ISBN 3-7927-0146-4. Waldemar Haberey: Die römische Eifelwasserleitung nach Köln. In: Nordöstliches Eifelvorland – Euskirchen, Zülpich, Bad Münstereifel, Blankenheim. Teil I: Einführende Aufsätze (= Führer zu vor- und frühgeschichtlichen Denkmälern. Band 25). Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein 1974, S. 69–85. Werner Hilgers: Vussem, Aquädukt. In: Walter Sölter (Hrsg.): Das römische Germanien aus der Luft. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 1983, ISBN 3-7857-0298-1, S. 242f. Rudolf Pörtner: Mit dem Fahrstuhl in die Römerzeit. Moewig, Rastatt 2000 (auch andere Ausgaben), ISBN 3-8118-3102-X. Ingrid Retterath: Deutschland: Römerkanal-Wanderweg. Conrad Stein Verlag, Welver 2008, ISBN 978-3-86686-240-1. Film Römische Eifelwasserleitung – der Römerkanal von Nettersheim nach Köln. Dokumentarfilm, Deutschland, 2017, 5:09 Min., Buch und Regie: Norbert Conzen, Produktion: Rhein-Eifel.TV, Reihe: Museen & Römer, Internetpublikation: 25. März 2017 bei YouTube, online-Video und Inhaltsangabe, mit Klaus Grewe. Ausstellungen Aquädukte – Wasser für Roms Städte. Zülpich, Römerthermen Zülpich – Museum der Badekultur, 22. März 2014 – 12. Oktober 2014. Aquädukte – Wasser für Roms Städte. Xanten, LVR-RömerMuseum, 10. Dezember 2015 – 18. Juni 2017. Weblinks Freundeskreis Römerkanal e. V. In: freundeskreis-roemerkanal.de Römerkanal | Eifelwasserleitung nach Köln | Rhein-Eifel.TV. In: youtube.com Literatur Karl Naske: Die Römische Wasserleitung. In: woenge.de Georg May: Der Römerkanal in der Gemarkung Sötenich. In: soetenich.de Wanderweg Klaus Grewe: Römerkanal-Wanderweg (PDF; 5,0 MB) Römerkanal-Wanderweg im Bereich Hürth. In: huerth.de Mechernich-Kallmuth: die Brunnenstube „Klausbrunnen“ im neuen Gewand. In: LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland, 2013, (PDF; 1,6 MB) Römische Wasserleitung von Nettersheim nach Köln. In: NRW-Stiftung, 2013 Verschiedenes Bild eines rekonstruierten Teilstücks einer der Brücken der Wasserleitung Liste von 600 römischen Wasserleitungen, davon 25 im Detail dokumentiert. (englisch) Einzelnachweise Römisches Aquädukt in Deutschland Ruine in Nordrhein-Westfalen Geschichte (Rheinland) Bauwerk in Nettersheim Geographie (Nettersheim) Germania inferior Eifel in der Römerzeit Colonia Claudia Ara Agrippinensium Wasserbauwerk in Köln Wasserversorgungsbauwerk in Nordrhein-Westfalen Erbaut im 1. Jahrhundert Römisches Bauwerk in Nordrhein-Westfalen Archäologischer Fundplatz in Europa
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https://de.wikipedia.org/wiki/Linoleum
Linoleum
Linoleum (Deutschland: []; Österreich und Schweiz: []; Englisch []) ist ein von dem englischen Chemiker Frederick Walton 1860 entwickelter faserverstärkter Bodenbelag, der im Wesentlichen aus Leinöl, Korkmehl und Jutegewebe besteht. Der Name kommt von dem lateinischen Begriff oleum lini für Leinöl und verweist auf das Leinöl als wichtigsten Grundstoff für Linoleum. Verwendung Linoleum dient zur Fertigung elastischer Bodenbeläge sowie als Druckplatte beim Linolschnittverfahren in der bildenden Kunst. Weitgehend historisch ist seine Verwendung für Tapeten (Lincrusta). Vereinzelt wird es auch als Belag für Möbelstücke (Tische, Schränke, Pinnwände) gebraucht. Geschichte Linoleum setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als elastischer Bodenbelag durch. Lange Zeit galt es aber gegenüber traditionellen Fußbodenbelägen – etwa Dielen – als gehobene Ausstattung. Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts war es im Bereich elastischer Bodenbeläge vorherrschend. Mit der Einführung von Bodenbelägen aus PVC in den 1960er Jahren brach der Markt zusammen und erholte sich erst ab Mitte der 1980er Jahre wieder. Weltweit gab es 2008 nur noch vier Werke (alle in Europa) von drei Eigentümern, die Linoleum herstellten. Herstellung Rohstoffe Linoleum besteht hauptsächlich aus oxidativ polymerisiertem Leinöl (Linoxin), Naturharzen (Kolophonium, Copal und ersatzweise Dammar), Kork- oder Holzmehl, Kalksteinpulver, Titan(IV)-oxid als Weißpigment, Farbstoffen und einem Jutegewebe als Trägerschicht. Alternativ zum Leinöl wird heute auch Sojaöl verwendet, zudem können je nach Hersteller und Zeitpunkt der Herstellung auch Anteile von Kautschuk oder Kunststoffen enthalten sein. Die Festigkeit wird allein durch das oxidierte Öl erreicht, die Zusatzstoffe dienen nur der Veränderung der spezifischen Eigenschaften. Linoleum wird in einem mehrstufigen, zeit- und arbeitsaufwendigen Verfahren hergestellt. Das Linoxin und die Harze sind die Bindemittel und machen als Linoleumzement etwa 40 % der Gesamtmasse aus, 60 % entfallen auf organische (Holz-, Korkmehl) und anorganische (Kalksteinpulver, Pigmente) Füllmittel. Das Trägermaterial, im Regelfall Jutegewebe (früher Segeltuch), bildet mit nur etwa einem Prozent den geringsten Teil der Gesamtmasse. Firnis- und Linoxinherstellung Ausgangsprodukt der Linoleumproduktion ist das Leinöl aus den Samen des Ölleins. Es wird per Warmpressung oder Extraktion gewonnen und vor der Weiterverarbeitung zu Leinölfirnis umgewandelt, indem es unter Zugabe von Trockenstoffen (früher oft Blei- und Kobalt-, heute nur Manganverbindungen in Mengen von etwa 20 ppm) bei höheren Temperaturen eingekocht wird. Dabei verliert es rund die Hälfte an Gewicht und wird zäher. Das Einkochen verkürzt die spätere Trocknungszeit. Der Leinölfirnis wird nun zu Linoxin oxidiert, dabei lassen sich drei Verfahren unterscheiden. Historische Verfahren Das älteste Oxidationsverfahren ist das auf Frederick Walton zurückgehende Tücher-Linoxinverfahren (auch Walton- oder Alt-Walton-Verfahren), bei dem in auf 30 bis 40 °C geheizten sogenannten Oxydationsschuppen feine Stoffbahnen aus Baumwolle oder Nesseltuch herabhingen. Sie wurden regelmäßig mit Leinölfirnis berieselt, der mit dem Luftsauerstoff zu Linoxin reagierte. Erst nach vier bis fünf Monaten wurden die auf eine Stärke von 1 bis 1,5 Zentimeter angewachsenen Bahnen abgenommen und das gewonnene Linoxin weiterverarbeitet. Die Methode war langsam und aufwendig, das Linoxin jedoch von hoher Qualität. Das Verfahren war zumindest noch bis in die 1950er Jahre in Gebrauch. Das 1871 von William Parnacott entwickelte und nach dem Fabrikanten Caleb Taylor benannte Taylor-Verfahren war ein künstliches Oxidationsverfahren, bei dem das Leinöl mit Oxidationsbeschleunigern versehen und unter Rühren und Einblasen von Sauerstoff auf gut 300 °C erhitzt wurde. Der gesamte Oxidationsprozess dauerte nur einen Tag, was die Kosten für das Endprodukt erheblich reduzierte. Das gewonnene Linoxin galt als von minderer Qualität und war sehr dunkel, weshalb es sich nur für spezielle Anwendungen eignete, etwa für die Produktion von Korklinoleum, dunkler einfarbiger Ware oder von bedrucktem Linoleum. 1894 ließ Frederick Walton das sogenannte Schnelloxidationsverfahren (auch Bedford- oder Neu-Walton-Verfahren) zur Produktion des Linoxins patentieren. Das Verfahren gliederte sich in zwei Teile, nämlich die Firnisbereitung in großen Oxidationstürmen, wo das Leinöl ‚herabregnete‘, sowie die abschließende Bereitung des Linoxins in großen, liegenden Trommeln, sogenannten Bedford-Trommeln. Darin wurde der Firnis bei 55 °C unter Rühren zu einer zähen, teigartigen gelbroten Masse verdickt. Später wurde das zwischenzeitlich zwecks Reifung gelagerte Linoxin wieder eingeschmolzen und durch Zugabe verschiedener Harze der sogenannte Linoleumzement hergestellt. Dieser lagerte dann für zwei Monate bis zur endgültigen Weiterverarbeitung. Heutiges Oxidationsverfahren Heutige Verfahren basieren auf dem Schnelloxidationsverfahren, die einzelnen Schritte sind aber weitgehend zusammengefasst worden. Das Leinöl in den Bedford-Trommeln wird mit Trocknungsstoffen versetzt, bei einer Temperatur von etwa 80 °C und unter ständigem Rühren erfolgen dann Firnisbereitung und Oxidation. Sobald die Masse eine bestimmte Zähigkeit (Viskosität) erreicht hat, erfolgt die Zugabe der eingeschmolzenen Harze in die Trommeln. Durch computergesteuerte Verfahren können diese Trommeln aufgeheizt und abgekühlt werden, um die richtige Konsistenz und das optimale Mischungsverhältnis zu erreichen. Bis zu diesem Punkt nimmt die Zubereitung heute nicht mehr als einen Tag in Anspruch. Der Masse wird während der Oxidation zudem Linoleummehl zugegeben, das durch Schreddern und Mahlen von Produktionsresten entsteht. Dies dient zum einen der Verringerung der Abfallmenge, zum anderen wird durch das bereits oxidierte Material der Reifeprozess des neuen Linoleumzements beschleunigt. Der fertige Linoleumzement wird durch eine Schneckenpresse in einen Strang gepresst und in definierte Längen gekürzt. Er wird in mit Kreide oder Holzmehl eingestäubten Eisenkästen abgekühlt und anschließend zur Nachreife und Abkühlung bis zur Verwendung gelagert. Mischmassenbereitung, Kalandern und Nachreife Der so produzierte Linoleumzement wird mit Kork- und Holzmehl, Kalksteinpulver als Bindemittel sowie Weißpigmenten (Titandioxid) und Farbstoffen vermischt und verknetet. Dabei werden anteilig etwa 40 % Linoleumzement, 40 % Kork- und Holzmehl und 20 % Kalksteinstaub und Pigmente gemischt, wobei die trockenen Bestandteile in einem Vormischer vermengt und erst dann mit dem dünn ausgewalzten Linoleumzement verknetet werden. Die gründliche Verknetung entsteht durch einen mehrstufigen Mischgang, in dem das Material durch mehrere Ein- und Zweischneckenmischer geführt wird. So ergibt sich eine homogene Mischung des Materials. Zum Kalandern schütten Dosieranlagen das Material als feinkörnige Masse vor den Kalanderwalzen auf das Trägergewebe auf. Diese großen, gegenläufig arbeitenden Walzenpaare können je nach Bedarf in der Drehgeschwindigkeit reguliert und aufgeheizt werden. Die Mischmasse wird durch die Kalander auf das Trägermaterial aufgewalzt, wodurch sich beide fest miteinander verbinden. Nach dem Kalandern werden die langen, ungeschnittenen Linoleumbahnen zum Nachreifen in Reifekammern gebracht. Durch eine zwei- bis vierwöchige regulierte Wärmebehandlung erhält das Linoleum hier die gewünschten Eigenschaften. Die Kammern beherbergen bis zu 20.000 Meter Linoleum und sind im Regelfall 15 Meter hoch, durch mittiges Hängen der Bahnen können die Einzelbahnen bis 30 Meter lang sein. Verlegen Linoleum wird im Regelfall von qualifizierten Bodenlegern verlegt. Als Hilfsmittel werden Klebstoffe sowie Spachtelmasse und spezielle Werkzeuge zur Fußbodenvorbereitung benötigt. Wichtig bei der Verlegung ist die Beachtung des Raumklimas in Bezug auf Luftfeuchtigkeit, Raum- und vor allem die Bodentemperatur. Das bereits mindestens zwei Tage vor Arbeitsbeginn am Einbauort gelagerte Linoleum sollte bei Zimmertemperatur, nicht jedoch unter 15 °C verlegt werden, da es in nicht beheizten Räumen beim Ausrollen brechen sowie der verwendete Klebstoff keine stabile Verbindung zum Unterboden aufbauen kann. Sollte man die produktionsbedingten „Hängebeulen“ aufgrund der Raummaße nicht ausschneiden können, ist in diesem Bereich auch die Rückseite mit Klebstoff einzustreichen sowie eine mindestens 24-stündige, voll abdeckende und beschwerte Auflage während der Klebstoffhärtung aufzulegen. Das Linoleum nimmt normalerweise Feuchtigkeit vom Kleber und vom Untergrund auf, die es vorübergehend erweichen. Moderne Dispersionskleber enthalten bis zu 30 % Wasser, das in den Unterboden oder das Linoleum abgegeben wird. Durch die erhöhte Feuchtigkeit kann es bis zu sechs Wochen dauern, bis das Linoleum vollständig getrocknet und voll beanspruchbar ist; in dieser Zeit ist es vor allem für Kerbschlagbelastungen anfälliger, die z. B. durch Stuhlbeine eingeschlagen werden können. Wird unter dem Linoleum zur Schallisolierung eine Korkschicht verlegt, kann der Trocknungsprozess durch die doppelte Feuchtigkeit nochmals deutlich verlängert werden. Um Räume vollständig und fugenlos an den Wänden abzuschließen, gibt es spezielle Wandanschlusssysteme, die ebenfalls aus Linoleum bestehen und in verschiedenen Ausführungen mit Stützprofil oder mit einfachen Sockelstreifen einen sauberen Abschluss ermöglichen. Ebenfalls zum Zubehör gehört Linoleumschmelzdraht zum Abdichten der Nähte, der aus einem Schmelzklebstoff besteht und transparent oder in den gleichen Farben wie das Linoleum angeboten wird. Zum Abdichten der Nähte nach dem Abbinden des Klebstoffes dient ein Handschweißgerät oder ein Schweißautomat. Oberflächenbehandlung Ein Nachteil des Linoleums gegenüber Bodenbelägen aus PVC ist seine relativ große Pflegebedürftigkeit. Linoleum musste bis in die 1950er Jahre neben der normalen Reinigung regelmäßig mit wachsbasierten Pflegemitteln gebohnert werden, um die Oberfläche vor Verschmutzung und mechanischen Schäden zu schützen. Heutzutage wird nach der Reifung eine Schutzschicht auf die Oberfläche des Linoleums aufgetragen und anschließend getrocknet. Bis Mitte der 1990er Jahre war Acrylharz gebräuchlich, heute verwenden die großen Anbieter dazu entweder Polyurethan (DLW Armstrong) oder spezielle, hauseigene Beschichtungen wie TopShield (Forbo Holding) oder xf – Extreme Finish (Tarkett). Diese versiegeln das Linoleum und machen es ab Werk unempfindlich gegen Verschmutzungen. Der von den Herstellern häufig angeführte Zusatznutzen, dass bisher notwendige Pflegeschritte so entfielen, wird aber von Fachleuten durchaus skeptisch gesehen. Auch werde durch diese vollständigen Versiegelungen Wasser im Material zurückgehalten, was Stippnähte begünstigt. Unversiegelt wird Sportlinoleum für Turnhallen ausgeliefert, da es erst nach der Verlegung mit speziellen rutschfesten Pflegemitteln behandelt werden kann, um vor allem die Aufbringung der jeweils individuellen Sportboden-Linierungen und Markierungen vor Ort zu ermöglichen. Als „Ökoprodukt“ bezeichnet der Handel Linoleum, das unbehandelt vertrieben und erst nach dem Verlegen mit Naturwachsen versiegelt wird. Auch Linoleum für den Linoldruck ist nicht behandelt, da die Oberfläche mit Schnittwerkzeugen bearbeitbar bleiben muss. Reinigung und Pflege Man kann beschichtetes und unbeschichtetes Linoleum durch feuchtes Wischen mit pH-neutralen Reinigungsmitteln reinigen. Anschließend lassen sich zur Versiegelung und Glanzerhöhung Emulsionen von Wachsen auftragen und wischen. Eigenschaften Linoleum besitzt viele Eigenschaften, die es als Bodenbelag auszeichnen. Seine Basiszusammensetzung und technischen Eigenschaften sind national und international genormt. Die wichtigste Norm für Europa stellt EN 548 (Elastische Bodenbeläge – Spezifikation für Linoleum mit und ohne Muster) in der letzten Fassung vom 20. September 2004 dar, die mit zahlreichen weiteren Normen zur Qualität von Sonderformen, Verlegetechniken und anderem verknüpft ist. Nach dieser Norm ist Linoleum nach Art des Bindemittels definiert: Es muss aus Leinöl oder anderen trocknenden Pflanzenölen und Harzen bestehen, und der Mindestanteil an Füllmitteln (Kork-, Holzmehl) muss 30 % betragen. Technische Eigenschaften Hauptvorteil des Linoleums ist seine Widerstandsfähigkeit gegen mechanische und chemische Beanspruchungen. Verformungen (Druckstellen) die durch hohe Belastungen entstehen, bilden sich nach einiger Zeit fast vollständig zurück. Entsprechende Testverfahren und Grenzwerte sind als Qualitätsspezifikation in nationalen Vorschriften enthalten oder werden vom Hersteller angegeben. In Deutschland darf unter genormten Bedingungen (23 °C, 50 % relative Luftfeuchtigkeit) nach 150 Minuten Belastung und weiteren 150 Minuten Entlastung eine Eindrucktiefe von 0,15 Millimeter bzw. bei Materialien über 3,2 mm von 0,2 mm nicht überschritten werden. Linoleum kann als schwer entflammbar (früher B1) bzw. normal entflammbar (früher B2) eingestuft werden. Dies entspricht den europäischen Brandschutzklassen Cfl-s1 bzw. Efl. Die nach der EN 1399 geforderten Eigenschaften zur Beständigkeit gegenüber brennenden Zigaretten, die vor allem bei Bodenbelägen im Publikumsbereich wichtig ist, sieht vor, dass das Material beim Ausdrücken keine und beim Abbrennen einer Zigarette nur leichte Farbveränderungen aufweisen darf. Des Weiteren ist Linoleum beständig gegenüber einer ganzen Reihe von Säuren und Lösungsmitteln sowie anderen Chemikalien. Dazu gehören zum Beispiel Benzin, Ethanol, Öle, sowie die meisten waschaktiven Substanzen. Sehr empfindlich ist das Material allerdings gegen Alkalien mit einem pH-Wert über 9 wie zum Beispiel Seife oder Ammoniak. Hygienische Eigenschaften Linoleum ist antistatisch, leicht fungizid und bakteriostatisch (hemmt also Bakterien-Wachstum). Ursache ist die permanente Emission geringer Mengen verschiedener Aldehyde (Hexanal, Acrolein, Acetaldehyd usw.), die aus der praktisch nie endenden Leinölautoxidation an der Luft stammen oder Reste der Oxidationsreaktion im Herstellungsprozess (‚Reifeprozess‘) sind. Dieser Effekt hat dazu geführt, dass Linoleum bevorzugt als Bodenbelag in Gebäuden mit erhöhten Hygieneanforderungen verwendet wurde und auch heute noch wird. Reifeschleier Linoleum entwickelt durch Dunkelvergilbung aufgrund der enthaltenen natürlichen Öle einen typischen „Reifeschleier“, eine Farbverschiebung, die bei dunkel gelagertem Material vorkommen kann. Der Reifeschleier und die Farbverschiebung sind abhängig von der Linoleumfarbe, so bildet sich der Reifeschleier bei helleren Farben schneller zurück als bei dunklen Farben. Zudem verschieben sich Blau und Grau eher in Richtung Grün und Beige in Richtung Gelb. Dieser Reifeschleier wird durch Licht abgebaut. Eine einstündige Beleuchtung im Freien durch helle Mittagssonne reicht bereits aus, um ihn vollständig abzubauen, dunklere Lichtverhältnisse verzögern den Prozess, in vergleichsweise dunklen Wohnungen kann er teilweise auf Wochen verlangsamt sein. Bei ungleichen Lichtverhältnissen kann es zu Farb- und Helligkeitsunterschieden bei verlegtem Linoleum kommen, sogenannten Belichtungsvorsprüngen. Eine vollständige Anpassung kann Wochen in Anspruch nehmen. Linoleum mit speziellen Eigenschaften Linoleum wird auch für verschiedene Spezialanwendungen produziert. Für Bereiche, in denen mit elektrosensiblen Bauteilen gearbeitet wird, wird ein Bodenbelag verlangt, der keine elektrostatische Aufladung ermöglicht. Er muss entsprechend leitfähig sein und häufig zudem eine Standortisolierung durch einen hohen Oberflächenwiderstand aufweisen. Solche Beläge werden vor allem in Bereichen eingesetzt, in denen elektronische Bauteile gebaut oder fernmeldetechnische Anlagen oder Rechenzentren betrieben werden. Auch Räume mit hoher Explosionsgefahr wie für die Feuerwerksherstellung erfordern elektrisch leitfähige Fußböden, um keine Zündung durch elektrostatische Aufladungen zu provozieren. Das Linoleum wird hier auf einem Ableitsystem mit Kupferbändern verlegt. Eine weitere Spezialanforderung ist verstärkte Schall- und Trittschallreduzierung. Diese wird durch Zusatzstoffe im Bodenbelag (weichfedernder Bodenbelag) oder einen speziellen Untergrund (schwimmender Estrich) erreicht. Hochstrapazierfähiges Linoleum ist insbesondere in Turnhallen zu finden. Mit einer Dicke von 4 mm ist es besonders dick und wird vor allem auf flächenelastischen Böden aufgebracht. Es wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt und auf Kriegsschiffen eingesetzt, wodurch es den Beinamen battle ship linoleum erhielt. Geschichte Vorgeschichte: Öltücher und Kamptulikon Bodenbeläge zum Schutz von Fußböden wurden schon mehrere Jahrhunderte vor dem Linoleum verwendet. Vor allem Wachs- oder Öltücher stellten einen direkten Vorgänger der späteren elastischen Bodenbeläge dar. Wachstuch in Form von bemaltem Gewebe wurde wahrscheinlich bereits im 15. oder 16. Jahrhundert entwickelt, als Fußbodenbelag ist es allerdings erst aus dem frühen 18. Jahrhundert belegt. Es setzte sich zu dieser Zeit vor allem in England durch zum Schutz von Holzböden oder wertvollen Teppichen unter Tischen, von Treppenstufen und in Durchgängen. Im Regelfall quadratische Stücke von etwa zwei Quadratmetern (zwei bis drei square yards) aus Leinen, Hanftuch oder Baumwolle wurden auf die gewünschte Größe vernäht und anschließend mit einer Farbschicht wasserdicht bemalt. Das englische Patent für Wachstuch als Fußbodenbelag wurde 1763 durch Nathan Smith eingereicht. Es bestand aus einem Gewebe, das einem mit einem Gemisch aus Harz, Teer, Spanischbraun, Bienenwachs und Leinöl überzogen war. Smith eröffnete im selben Jahr eine erfolgreich laufende Manufaktur für Bodenöltuch in London und am Ende des 18. Jahrhunderts gab es in England bereits 20 Öltuchfabriken. Auch in den USA etablierte sich das Produkt und eine Reihe von Unternehmen wurden gegründet. Eine der bedeutendsten Fabriken Großbritanniens war die Tuchfabrik von Michael Nairn in Kirkcaldy, die ab 1848 auch Öltücher produzierte. 1844 patentierte der Engländer Elijah Galloway einen elastischen Bodenbelag namens Kamptulikon. Es handelte sich um ein kautschukartiges Material, das auch in großen Gebäuden wie Kirchen verwendet wurde und gegenüber dem Öltuch wärme- und schalldämmender war. Hergestellt wurde Kamptulikon aus Kautschuk, Guttapercha, Abfällen aus der Korkindustrie, Schellack und Leinöl. In den 1860er Jahren gab es in England zehn Fabriken, die Kamptulikon herstellten. Aufgrund des relativ hohen Preises konnte es sich allerdings in weniger wohlhabenden Haushalten nicht durchsetzen. Entdeckung und Entwicklung des Linoleums Zahlreichen Quellen zufolge entdeckte Frederick Walton das Linoleum durch einen Zufall: Bei Arbeiten zur Entwicklung schnelltrocknender Farben sah er auf einer Dose mit Farbe auf Leinölbasis eine feste gummiartige Schicht oxidierten Leinöls. 1860 ließ er einen Prozess zur Herstellung des Linoxins patentieren, bei dem Leinöl der Luft ausgesetzt wurde und sich durch Oxidation verdichtete. Walton versuchte, das von ihm neu entwickelte Linoxin auf Gewebebahnen aufzutragen und so einen Ersatz für Kautschuk zu bekommen. 1863 stellte er sein erstes Stück Linoleum her und ließ das Verfahren im Jahr darauf patentieren. Bei seiner Einführung wurde Linoleum ein breites Verwendungsspektrum zugetraut, dem in dieser Form jedoch erst erdölbasierte Kunststoffe des 20. Jahrhunderts wirklich gerecht werden konnten. Zeitgenössische Quellen formulieren hohe Erwartungen an das Material: Es sollte Verwendung finden als Schutzanstrich für Eisen, Holz und Kutschwagen, als wasserfester Klebstoff sowie – nach Vulkanisierung und weiterer Härtung – als Holz-, Elfenbein- und Marmorersatz, im Alltag für Bilderrahmen, Tischdecken oder Besteckgriffe, im technischen Bereich für Prägestöcke und Gasrohre. Im Verbund mit Korund sollten selbst Schleifräder daraus hergestellt werden. Zur Umsetzung solcher Anwendungen, die Walton weitgehend Lizenznehmern überlassen wollte, kam es jedoch nicht. Sein bereits marktreifes Verfahren zur Herstellung von Bodenbelägen hingegen setzte er selbst mit der Gründung der Linoleum Manufacturing Company in Staines um, die er unter anderem durch eine Partnerschaft mit William J. Turner und anderen Investoren finanzierte. Nach schleppender Einführung konnte sich das neue Material aufgrund seiner Dämmwirkung, Haltbarkeit und Elastizität schnell gegenüber den Öltüchern und dem Kamptulikon durchsetzen. Linoleum wurde aufgrund der leichten Reinigungsmöglichkeit vor allem für öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser oder Büros genutzt. 1877 lief der Patentschutz des Linoleums aus, andere Hersteller begannen ebenfalls mit der Produktion und traten in direkte Konkurrenz zu Walton. Walton hatte es versäumt, den Namen Linoleum schützen zu lassen und verlor eine Klage gegen die mittlerweile von Michael Barker Nairn geleitete Michael Nairn & Co. mit der Begründung, dass der Begriff Linoleum durch seine Bekanntheit bereits ein etablierter Begriff für das Material und nicht mehr nur für das Unternehmensprodukt sei. Innerhalb von nur 14 Jahren hatte sich Linoleum in Großbritannien als allseits bekannte Bezeichnung durchgesetzt. 1877 entwickelte und patentierte Frederick Walton ein Verfahren, Linoxin auch als Wandverkleidung nutzbar zu machen, er nannte das neue Produkt Lincrusta. Es bestand aus einem starken Papier, auf das mit einer plastischen Masse erhabene Muster aufgewalzt wurden. Diese Masse war eine Mischung aus Holzmehl, Kreide, Farbe und einem Harz-Linoxin-Gemisch. Die Produktion begann 1878 in Sunbury-on-Thames, später auch in Paris und Hannover. 1890 gelang es Walton, mit dem Straight-line-inlaid-Verfahren eine Einlegetechnik marktreif zu machen. Zwar hatte es bereits vorher Möglichkeiten gegeben, Linoleum auch zu gestalten, diese waren aber entweder nur wenig vielfältig (z. B. bei granitiertem oder marmoriertem Linoleum) oder technisch nicht überzeugend (wie das nicht verschleißfeste Bedrucken oder ein unpräzises Verfahren nach C. F. Leake). Walton gründete 1894 die Greenwich Inlaid Linoleum Company in Greenwich, die sich auf dieses Verfahren spezialisierte. Michael Nairn bot ab 1881 große nahtlose Linoleumbahnen an und produzierte ab 1895 ebenso wie Walton Linoleum mit einer Einlegetechnik, die mehrfarbige Designs ermöglichte. 1922 übernahm Michael Nairn Ltd. das Unternehmen von Walton und firmierte seither als Michael Nairn and Greenwich Ltd. Internationale Entwicklung Mit dem Erfolg des Linoleums entstanden zum Ende des 19. Jahrhunderts erste Werke außerhalb Englands. Walton hatte zwar bereits vorher einzelne Lizenzen zur Herstellung von Linoleum nach Frankreich und Deutschland verkauft, der entscheidende Impuls war aber das Auslaufen des Patents von Walton im Jahr 1877. Nairn eröffnete 1888 seine erste Linoleumfabrik in Kearny, New Jersey sowie in den 1890er Jahren in Choisy-le-Roi nahe Paris und in Bietigheim (1899, ab 1900 „Germania“) bei Stuttgart. 1886 gründete sich zudem Tarkett in Ronneby, Schweden, als einer der wenigen bis heute existierenden Linoleumhersteller. Ab den 1870er Jahren entstand eine Linoleum-Industrie in den USA, ab den 1880er Jahren auch in Deutschland. Die erste Linoleumfabrik in Deutschland wurde 1882 als „German Linoleum Manufacturing Comp.“ in Delmenhorst gegründet. Die zweite Delmenhorster Linoleumfabrik „Anker-Marke“ wurde zehn Jahre später im Jahre 1892 gegründet, und die Linoleumfabrik „Adler-Marke“ 1893 in Maximiliansau. Vor allem um die Jahrhundertwende sowie zwischen 1920 und 1930 entstanden Werke in vielen Ländern Kontinentaleuropas, aber auch in Kanada oder Japan, seit 1927 auch in Australien. 1928 skizzierte die Continentale Linoleum-Union die Verhältnisse auf dem Weltmarkt mit den Worten: „England erzeugt ungefähr ebenso viel Linoleum wie der europäische Kontinent. Amerikas Produktion ist ca. fünfmal so groß wie die englische. Daneben ist in Japan eine sehr starke Linoleumindustrie erstanden, die den japanischen und den chinesischen Markt vollkommen abdeckt.“ Bereits vor dem Ersten Weltkrieg existierten Abkommen zwischen Herstellern verschiedener europäischer Länder, die sowohl Preise wie auch Verkaufsbedingungen festlegten. Dieses Kartell wurde zunehmend stärker, so existierten 1934 Absprachen zwischen fast allen englischen, deutschen und italienischen Herstellern, die sicherstellten, dass man nicht in die Heimatmärkte des jeweils anderen Vertragspartners exportieren werde. 1939 galt, dass sowohl zahlreiche britische Hersteller wie auch „alle wichtigen Linoleumhersteller des Kontinents Teil förmlicher Übereinkünfte bezüglich der Verkäufe von Linoleum und Bodenbelägen in allen Märkten außer den Vereinigten Staaten“ seien. Der Zweite Weltkrieg inaktivierte diese Verträge. Obwohl sie nach 1945 aufgrund von Anti-Kartell-Gesetzen verschiedener europäischer Staaten nicht erneuert werden konnten, galten die Absprachen informell noch mindestens bis in die Mitte der 1950er Jahre. Nachdem sich die Linoleummärkte in den 1950er Jahren allmählich erholt hatten, begannen sich Mitte der 1960er Jahre synthetische Bodenbeläge insbesondere aus PVC durchzusetzen und der Markt für Linoleum brach zusammen. Zahlreiche Werke mussten schließen oder auf andere Produkte umstellen. Im Gefolge dieser Krise, die bis in die Mitte der 1970er Jahre anhielt, konzentrierte sich der Markt zunehmend. Die letzten noch verbliebenen Hersteller von Linoleum sind heute die aus der Continentalen Linoleum-Union hervorgegangene Forbo Holding, die 1998 von Armstrong Industries übernommenen Deutschen Linoleum-Werke (DLW) und das französische Unternehmen Tarkett. Weltweit werden jährlich rund 38 Millionen Quadratmeter Linoleum verkauft, mit knapp 9 Millionen Quadratmetern ist dabei Deutschland der größte Einzelmarkt, gefolgt von Nordamerika mit 4,5 Millionen Quadratmetern. International besitzt Forbo mit einem Marktanteil von rund 65 % die Marktführerschaft, gefolgt von Armstrong DLW mit 26 % und Tarkett mit 9 %. Großbritannien Bereits ab 1906 begann die britische Linoleum-Industrie sich in einem anfangs lockeren und informellen Rahmen zu organisieren. Aufgrund der Depression Anfang der 1930er Jahre gründeten sieben der neun damaligen Linoleum-Hersteller 1934 die sogenannte Linoleum and Floorcloth Manufacturers’ Association (L.M.A.), die vor allem Formate, Qualitäten und Preise vereinheitlichen und den Absatz des Linoleums fördern sollte. Zeitgleich erwuchs dem Linoleum Konkurrenz durch alternative Bodenbeläge, im unteren Preissegment dem bedruckten Linoleum durch das neue Balatum, im oberen durch Bodenbeläge aus Gummi sowie Teppichböden. Betrug die Jahresproduktion der britischen Linoleum-Industrie 1933 noch nur 47 Millionen m² (56 Millionen square yards), stieg sie bis 1937 auf rund 55 Millionen m² (66 Millionen square yards). Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verringerte sich die Versorgung mit Rohstoffen schlagartig bei gleichzeitig stark steigenden Preisen. Bereits im September 1939 stellte die Regierung den wichtigsten Grundstoff, das Leinöl, unter Kontrolle. Harze, Jute und Farbstoffe folgten bald. Ab 1940 gab es dann erste Abgabebeschränkungen und ab 1942 durfte Linoleum nur noch an staatliche Stellen abgegeben werden, die Zivilbevölkerung konnte nur Linoleum ohne Juterücken und ohne Korkgehalt erwerben. Im Kriegsjahr 1944 wurden so nur 18 Millionen m² Linoleum erzeugt. All diese Beschränkungen blieben bis 1947 in Kraft, nur eine Preiskontrolle hielt sich noch bis 1953. Unmittelbar nach dem Krieg sah sich die britische Linoleum-Industrie gestiegenen Preisen, Rohstoffmangel (Leinöl, Jute) und einem lückenhaften Maschinenpark gegenüber, Schwierigkeiten, die erst um 1954 gelöst waren. In diesem Jahr produzierte die britische Linoleum-Industrie rund 50 Millionen m² (59 Millionen square yards) und knüpfte damit wieder an die Vorkriegszahlen an. Der Verfall des Linoleummarktes führte Mitte der 1960er Jahre dazu, dass viele Werke schlossen (Barry, Ostlere and Shepherd Ltd. in Kirkcaldy 1967, The Linoleum Manufacturing Co. Ltd. 1973, James Williamson & Son Ltd. 1963.) Manche Unternehmen fusionierten (Nairn und Williamson 1963) oder passten sich dem Marktgeschehen an, indem sie von der Produktion von Linoleum auf die der nun erfolgreichen neuen Bodenbeläge auswichen. Gegen die sich bis zur Mitte der 1970er Jahre hin fortsetzende Krise jedoch fand die britische Industrie kein Gegenmittel, 1975 wurde der letzte britische Hersteller, Nairn and Williamson Ltd., von Unilever und 1985 wiederum von Forbo übernommen. Forbo betreibt in Kirkcaldy heute das letzte britische Linoleum-Werk, Forbo Nairn. Nordamerika 1872 wurde Frederick Walton nach New York eingeladen, um gemeinsam mit Joseph Wild die American Linoleum Manufacturing Company in Staten Island aufzubauen. Bereits 1879 konnte von der dortigen Popularität des Linoleums berichtet werden, die amerikanischen Öltuchhersteller bekamen durch Wilds Fabrik spürbare Konkurrenz. Neben Michael Nairn & Co und Joseph Wilds American Linoleum Manufacturing Company entstanden um die Jahrhundertwende insgesamt sechs Linoleumunternehmen in den USA. Während die Unternehmen von George Blabon und Thomas Potter, beide in Philadelphia, sowie Cook in New Jersey jedoch nur kurzzeitig bedeutend waren, dominierte die Armstrong Cork and Tile Company in Lancaster, Pennsylvania bald den amerikanischen Linoleummarkt. Armstrong wurde 1860 von Charles D. Armstrong gegründet und belieferte ab den 1880er Jahren vor allem Joseph Wild mit Korkmehl für die Linoleumproduktion. 1907 beschloss die Geschäftsführung, eine eigene Linoleumproduktion aufzubauen, was 1908 realisiert wurde. Im Gegensatz zu anderen Unternehmen bot Armstrong sein Linoleum direkt dem Privatverbraucher an und startete mehrere Kampagnen, um die Endbenutzer für das Programm Linoleum für jedes Zimmer des Hauses zu gewinnen. Zu Armstrongs Innovationen gehörte die dauerhafte Verlegetechnik: Während Linoleum vorher wie Teppich ausgelegt wurde und so leicht beschädigt werden konnte, wurde Armstrong-Linoleum auf den Boden geklebt. Armstrong entwickelte sich sehr schnell und war in den 1920er Jahren Marktführer im amerikanischen Raum. Der mittlerweile in Armstrong World Industries umbenannte Marktführer konnte in der Krise der 1960er Jahre zwar seine bedeutende Stellung im Bereich der elastischen Fußbodenbeläge bis in die Gegenwart aufrechterhalten, produzierte aber lange kein Linoleum mehr. Erst durch die Übernahme der Deutschen Linoleum-Werke AG 1998 wurde Armstrong wieder im Linoleum-Markt aktiv. Der erste kanadische Linoleumproduzent war die 1872 von einer elfköpfigen Investorengruppe gegründete Dominion Oil Cloth Co., später Dominion Oilcloth & Linoleum Co. Das Unternehmen, das anfangs nur Öltuch herstellte, begann um die Jahrhundertwende, auch Linoleum zu produzieren und war in den 1920er Jahren bekannt für die Qualität seiner Waren. 1934 übernahm Dominion mit der Barry & Staines Canada Ltd. den kanadischen Ableger des britischen Unternehmens, das ebenso wie Michael Nairn Ltd. einen Anteil am Unternehmen hielt. 1940 übernahm Dominion auch Congoleum Canada Ltd. 1967 fusionierten die Unternehmen und firmierten als Domco Industries Ltd., nach weiteren Übernahmen 1991 und 1994 in den USA reorganisierte sich das Unternehmen 1996 zur Domco Inc. 1999 erwarb Domco die Unternehmen Tarkett und Harris Tarkett und firmierte kurz als Domco Tarkett, bevor der Konzern seit 2003 nach weiteren Fusionen global als Tarkett auftrat. Kontinentaleuropa In zahlreichen Ländern Kontinentaleuropas gab es linoleumproduzierende Unternehmen (Skandinavien, Italien, Schweiz, Frankreich, Niederlande, Österreich), meist beschränkte sich dies aber auf einzelne Werke, nur selten kam es zu regelrechten Industrien mit mehreren Herstellern wie in Deutschland. Deutschland In Deutschland konnte sich Linoleum anfangs nur schwer durchsetzen. Der importierte neue Bodenbelag war teuer und unterschied sich deutlich vom vertrauten Dielenboden, die Akzeptanz beim Verbraucher war entsprechend gering. Erst Ende der 1870er und Anfang der 1880er Jahre änderte sich dies, und so wurden 1882 mit der Delmenhorster Linoleumfabrik (Marke „Hansa“) und der Deutschen Linoleum- und Wachstuch-Compagnie in Rixdorf bei Berlin die ersten Linoleumfabriken gegründet. 1883 folgte die Erste Deutsche Patent-Linoleumfabrik in Cöpenick bei Berlin, ab 1907 Teil der Bremer Linoleum-Werke AG Delmenhorst („Schlüssel“-Marke). Viele weitere Werke folgten bis 1899, als letzte wurde die Continental Linoleum Company 1911 gegründet. In Delmenhorst siedelte sich 1892 zusätzlich die Delmenhorster Linoleum-Fabrik AG („Anker“-Marke) an, so wurde die Stadt zum Schwerpunkt der deutschen Linoleumproduktion. Ausschlaggebende Standortvorteile Delmenhorsts waren die dort bereits ansässige Kork- und Juteindustrie, die Nähe zu England, was insbesondere in der Gründungsphase den Personal-, Technik- und Wissenstransfer vereinfachte, und die Nähe Bremens als Seehafen, was kurze Wege für Rohstofflieferungen und Export der Produktion bedeutete. Weitere Schwerpunkte der Linoleumindustrie waren die Region Berlin und Südwestdeutschland. In der Region Berlin gab es neben Rixdorf und Köpenick Werke in Velten (Continental Linoleum Company, ab 1911) und Eberswalde (Eberswalder Linoleumwerke Frentzel & Söhne). In Maximiliansau bei Karlsruhe wurde 1893 die Linoleumfabrik Maximiliansau („Adler“-Marke) gegründet, und im württembergischen Bietigheim entstand 1899 ein Ableger der schottischen Nairn Ltd., die Linoleumwerke Nairn AG. Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 brach die deutsche Linoleumproduktion zusammen, denn fast alle Rohstoffe kamen aus dem Ausland. Nach Kriegsende 1918 dauerte es bis zum Anfang der 1920er Jahre, bis die Branche sich erholt hatte und an die Produktionszahlen der Vorkriegszeit anknüpfen konnte. Mit dem Ende der Gründungsphase um 1900 begann eine Phase der Unternehmenskonzentration. Bis 1922 waren alle Werke der Region Berlin in Delmenhorster Unternehmen aufgegangen, 1926 kam es dann zum Zusammenschluss der Delmenhorster und süddeutschen Unternehmen zur Deutsche Linoleum Werke Aktiengesellschaft, anfangs mit Sitz in Berlin, ab 1938 dann in Bietigheim. Die Konzentration setzte sich auch auf europäischer Ebene fort: 1928 war die Deutsche Linoleum-Werke AG Berlin Mitgründer der Continentale Linoleum Union, schied aber aus politischen Gründen gegen Ende der 1930er Jahre wieder aus ihr aus. Im Zweiten Weltkrieg kollabierte die deutsche Linoleumproduktion aufgrund fehlender Rohstoffe erneut. Erst nach 1949 erholte sie sich wieder. Von 1951 bis 1955 verdoppelte sich die Jahresproduktion von 2,8 Mio. auf 5,6 Mio. Quadratmeter. Eine Außenseiterposition nahmen die Rheinischen Linoleumwerke Bedburg (RLB) ein. Das 1897 gegründete und zeit seines Bestehens im Familienbesitz stehende Unternehmen blieb stets unabhängig von der restlichen Industrie. Im Dritten Reich übernahm die RLB mehrere Unternehmen aus jüdischem Besitz, darunter mit der Österreichischen Linoleum-, Wachstuch- und Kunstlederfabriken AG und dem Prager Unternehmen Linoleum-Industrie Leopold Blum auch zwei Linoleum-Werke. In der Nachkriegszeit wurde das Unternehmen zum zweitgrößten deutschen Hersteller nach der DLW AG und beschäftigte bis zu 1100 Mitarbeiter. Die Krise der 1960er Jahre führte zu einem drastischen Produktionsrückgang. Hatten 1960 Linoleum und ähnliche Bodenbeläge wie Stragula und Balatum noch einen Marktanteil von über 50 %, so fiel er bis 1969 auf rund 10 %. Als Folge mussten alle deutschen Werke bis auf das Werk in Delmenhorst schließen oder die Produktion von Linoleum einstellen. In den 1970er Jahren betrug die Produktion der DLW AG nur noch 150.000 Quadratmeter jährlich, die RLB stellten 1973 die Linoleumproduktion ein und mussten 1978 Konkurs anmelden. Erst ab Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre wuchs die Nachfrage im Zuge wachsenden Umweltbewusstseins bis zur Jahrtausendwende wieder, und der vorwiegend aus natürlichen Rohstoffen bestehende Baustoff erlangte neue Bedeutung. In Deutschland ist die DLW AG traditionell Marktführer, ihr Marktanteil lag um die Jahrtausendwende stabil bei rund 54 Prozent (Forbo 36 %, Tarkett 10 %). Die Gesamtverkaufszahlen stagnierten zwischen 2003 und 2007 bei 9 bis 10 Millionen verkauften Quadratmetern, davon entfielen rund 8 bis 8,5 Millionen Quadratmeter auf den sogenannten Objektbereich. An der Warengruppe der elastischen Bodenbeläge hat Linoleum in Deutschland damit einen Anteil von rund 7 %. Schweden Die schwedische Linoleum AB Forshaga wurde 1896 von Karl Ekström in Forshaga gegründet, zog aber nach einigen Jahren nach Göteborg, um über dessen Hafen besseren Zugang zu Rohstoffen und kürzere Exportwege zu haben. Über ein halbes Jahrhundert beherrschte das Unternehmen den schwedischen Markt für Bodenbeläge. In den 1960er Jahren verbreiterte das Werk sein Produktionsspektrum auf PVC- und Textilböden. Das Gründungsmitglied der Continentalen Linoleum Union ging dann 1968 im Forbo-Konzern auf. Heute wird Linoleum in Schweden nicht mehr hergestellt. Italien In Italien begann die Produktion 1898 mit der Gründung der Società Italiana del Linoleum mit Sitz in Mailand durch den Industriellen Giovanni Battista Pirelli, der seine Kautschukfabrik in Narni zur einzigen italienischen Produktionsstätte für Linoleum umwidmete. Die Società Italiana del Linoleum war Teil des europäischen Linoleumkartells und so gegen Importe weitgehend geschützt. Gestützt auf ihren Heimatmarkt steigerte das Monopolunternehmen den Exportanteil seiner Produktion auf bis zu 30 % in den 1930er Jahren. Auch dieses Werk geriet jedoch zum Ende der 1960er Jahre in die Krise der Branche und musste 1985 schließen. Das Werk wurde von Sommer Allibert übernommen, nach deren Fusion 1997 mit Tarkett in den Folgejahren umfangreich modernisiert und ist heute eines der letzten vier noch aktiven Linoleumwerke. Schweiz Das italienische Unternehmen wurde auch zur Mutter des einzigen Schweizer Linoleumwerkes, das Pirelli 1905 in Giubiasco im Tessin gründete. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten konnte sich das Werk erfolgreich am Markt etablieren, musste aber die Produktion im Ersten Weltkrieg unterbrechen. Zwei Jahre nach der Wiederaufnahme der Produktion 1919 wurde aus dem Filialwerk 1921 ein eigenständiger Betrieb, die Linoleum AG Giubiasco, die 1928 Mitgründer der CLU wurde. Das Werk arbeitete weiterhin erfolgreich und beschäftigte vor der Krise zwischen 1930 und 1940 bis zu 225 Angestellte. Nach dem Zweiten Weltkrieg expandierte das Unternehmen und baute sein Angebot weiter aus. Die Linoleumproduktion stellte das Werk 1965 ein und verlegte sich auf die Produktion synthetischer Bodenbeläge. 1974 ging das Werk dann im Forbo-Konzern auf, dem sie bis heute angehört, heutzutage werden dort Pressplatten für antistatische Bodenbeläge hergestellt. Niederlande Das erste niederländische Linoleumwerk wurde 1898/1899 in Zaanstad errichtet, brannte aber bereits 1903 bis auf die Grundmauern nieder. Zeitgleich wurde von der Nederlandse Linoleum Fabriek ein Werk in Krommenie errichtet, das 1922 um ein weiteres Werk in unmittelbarer Nachbarschaft erweitert wurde. Sowohl das Werk in Zaanstad wie jenes in Krommenie wurden unter Lizenz von Frederick Walton betrieben, der auch sachkundiges Personal bereitstellte. Die NLF schloss sich 1929 der CLU an. 1968 erweiterte die NLF ihre Produktpalette um Vinylböden, um der Krise zu begegnen. Im selben Jahr folgte die Fusion der Betriebe in der CLU zum Forbo-Konzern. Im Rahmen der Reorganisation des Konzerns war es das Werk in Krommenie, das neben dem in Kirkcaldy für die weitere Produktion von Linoleum ausgewählt wurde. Bis heute wird der niederländische Markt von Forbo dominiert, die 2006 einen Marktanteil von über 90 % hatten. 2016 hat eine holländische Firma zum ersten Mal einen flüssigen Linoleum entwickelt. Diese Variante wird nicht in der Fabrik vorproduziert, sondern vor Ort verlegt. Der flüssige Linoleum hat nahezu die gleichen Inhaltsstoffe wie die herkömmliche Bahnenware. Ein großer Vorteil des flüssigen Linoleum ist, dass keine Schnittverluste mehr entstehen und das Produkt dadurch nachhaltiger und umweltverträglicher ist. Österreich Die Erste österreichische Linoleumfabrik (Prima Fabbrica Austriaca di Linoleum) wurde am 28. Mai 1895 in Triest gegründet; Ihr Zentralbüro und Verwaltungsrat befand sich in Wien. Sie war zunächst die erste und einzige Produktionsstätte in Österreich-Ungarn. 1904 führte sie die Herstellung nach dem Walton-System ein. 1905 wurde die Produktion von Taylor-Ware eingestellt, 1910 die von Linkrusta. 1907 wurde die Produktion von Inlaid-Ware begonnen. 1916 wurde die Linoleum-Herstellung in Triest eingestellt. Erst in den 1920er-Jahren gründete die Österreichische Linoleum-, Wachstuch- u. Kunstlederfabriken-Aktiengesellschaft mit einem Werk in Brunn am Gebirge wieder eine Produktionsstätte für Linoleum in Österreich. 1922 gründete das Unternehmen Blum Haas in Traiskirchen die Österreichische Linoleum-, Wachstuch- und Kunstlederfabriken AG. Das Unternehmen wurde 1938 „arisiert“, von den Rheinischen Linoleumwerken Bedburg gekauft und in Wiener Linoleum Wachstuchwerke umbenannt. 1945 wurde das Unternehmen enteignet und als USIA-Betrieb geführt, 1955 wurde es an den aus den USA zurückgekehrten Gründer zurückgegeben, 1958 übernahm es der halbstaatliche Semperit-Konzern. Wann die Linoleumproduktion eingestellt wurde, ist nicht bekannt. Die ÖLW AG produziert heute Kunstleder und Beschichtungen. Kartellbildung 1928 gründete die Deutsche Linoleum-Werke A.G. gemeinsam mit der schwedischen Linoleum Aktiebolaget Forshaga und der Schweizer Linoleum AG Giubiasco die Continentale Linoleum Union (CLU) mit Sitz in Zürich, die nach eigenen Angaben zu diesem Zeitpunkt „ungefähr 80 % der kontinentaleuropäischen Linoleumproduktion“ repräsentierte. Im Folgejahr kam die Nederlandsche Linoleumfabriek (Niederlande) dazu, später auch Unternehmen aus Österreich, Frankreich und Lettland. Die DLW schieden aus politischen Gründen gegen Ende der 1930er Jahre wieder aus der Union aus. Aus der Continentalen Linoleum Union ging dann in den 1970er Jahren die Forbo Holding AG hervor. Konkurrenzprodukte Linoleum war bereits kurze Zeit nach seiner Etablierung das marktbeherrschende Produkt unter den elastischen Bodenbelägen und konnte diese Stellung fast ein Jahrhundert lang behaupten. In dieser Zeit wurden allerdings immer wieder Alternativen entwickelt, die mehr oder weniger stark mit Linoleum konkurrierten. In der Anfangszeit war dies vor allem das bereits erwähnte ältere Kamptulikon, es war allerdings weniger fußwarm und verschleißfest als Linoleum. Durch den Ausgangsstoff Gummi, der zum Ende des 19. Jahrhunderts immer teurer wurde, war es auch preislich immer weniger konkurrenzfähig. Um die Jahrhundertwende verschwand es so endgültig vom Markt. 1871 und damit etwa zehn Jahre nach der Entdeckung des Linoleums wurde das Corticin, später einfach Korkteppich genannt, entwickelt. Dieses bestand aus Korkmehl und polymerisiertem Öl. 1875 patentierte der Designer William Morris ein afrikanisches Design dieses Materials, das bis etwa 1900 erhältlich war. Corticin konnte sich allerdings gegen Linoleum nicht durchsetzen. Ursprünglich als Ersatzstoffe wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Stragula, Balatum, Bedola und Triolin entwickelt. Alle existierten zeitweise parallel und konkurrierten mit Linoleum nur im untersten Preissegment. Ein weiteres, bis in die 1970er häufig verbautes Konkurrenzprodukt waren Fußböden aus Vinyl-Asbest-Platten – optisch kaum von den damaligen Linoleum-Ausführungen zu unterscheiden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich zunehmend PVC als Fußbodenbelag durch und verdrängte neben den verschiedenen Alternativen auch das Linoleum fast vollständig vom Markt. Kulturgeschichte Design und Architektur Technische Voraussetzungen Ursprünglich gab es nur einfarbig pigmentiertes Linoleum. Zwar konnte man es mit Dekoren bedrucken, eine vermutlich schon seit der Erfindung des Linoleums gängige Praxis, solche Aufdrucke waren aber nicht verschleißfest und nutzten sich durch Gebrauch ab. Die wohl früheste Methode einer Gestaltung des Materials selbst war ein bereits 1863 existierendes und 1879 noch einmal verbessertes Verfahren, das dem Linoleum ein granitartiges Erscheinungsbild verlieh. Charles Frederick Leake, einem Mitarbeiter von Walton, gelang es dann 1880 erstmals, eine Methode zur Produktion nicht-granitierten, mehrfarbigen Linoleums zu entwickeln, dem Verfahren mangelte es aber noch an Präzision. Die Kunsthistorikern Pamela Watson sprach 1997 von „etwas verschwommen aussehenden Mustern, die aber die Präzision einer Gestaltung durch Kacheln nicht nachahmen konnten“. 1882 dann erfand Walton das sogenannte Straight-Line-Inlaid-Verfahren, eine Einlegetechnik, die endlich ein dauerhaftes Design ermöglichte. Musterungen wurden hierbei aus verschiedenfarbigen Bahnen ausgeschnitten, mosaikähnlich zusammengelegt und mittels Druck und Hitze zusammengefügt. Anfangs war das so erzeugte Linoleum sehr teuer und entsprechend wenig erfolgreich, da das Schneiden und Zusammenlegen noch von Hand erfolgen musste. Erst als Walton 1890 einen Weg zur maschinellen Erzeugung von Inlaid-Linoleum fand, stand dessen Erfolg nichts mehr im Weg. Walton gründete 1894 die Greenwich Inlaid Linoleum Company, die sich auf diese Linoleumform spezialisierte. Frühes Design Wenn in den ersten Jahrzehnten Linoleum überhaupt gestaltet wurde, orientierten sich die zu dieser Zeit federführenden englischen Hersteller in der Regel am Publikumsgeschmack ihrer konservativen Heimatmärkte, die wenigen Produzenten in anderen Ländern wie den USA oder Frankreich wiederum schauten meist nach England. Mit der Absicht, das Linoleum zur Erhöhung der Akzeptanz optisch aufzuwerten, wurden besonders hochwertige oder wertvolle Materialien wie Orientteppiche, Steinböden oder Parkett imitiert. Diese Gestaltungsprinzipien blieben noch bis weit ins 20. Jahrhundert maßgeblich. 1912 konstatierte Gustav Gericke: „Frankreich pflegt in seinem Geschmack noch konservativer zu sein als England und den in der Entwicklung befindlichen neuen deutschen Stil gegenüber den historischen französischen Stilen als minderwertig, mindestens aber dem französischen Geschmack absolut nicht zusagend anzusehen. Auch die in Schweden, Norwegen, Italien, Österreich und der Schweiz bestehenden Fabriken, welche für den Wettbewerb mit Deutschland in Frage kommen, haben sich bislang darauf beschränkt, es England in der Musterung nachzutun.“ Modernes Design ab 1900 In Deutschland konnte sich ab der Jahrhundertwende ein modernerer Ansatz der Linoleumgestaltung durchsetzen, der Einflüsse aus Jugendstil, Art déco und Neuer Sachlichkeit integrierte. Der erste Hersteller, der hier den Schulterschluss mit progressiven Künstlern für eine zeitgemäße Gestaltung des Linoleums suchte, waren die in Delmenhorst ansässigen Hansa-Werke. Bereits seit 1892 gab es hier einen künstlerischen Beirat, dem es allerdings lange nicht gelang, adäquate Vorlagen zu liefern. 1903 dann starteten die Hansa-Werke ein Preisausschreiben und setzten im Anschluss vier der Entwürfe um, darunter auch einen des Münchner Jugendstil-Künstlers Richard Riemerschmid. Hauptsächlich zurückzuführen ist der Durchbruch des modernen Designs in der deutschen Linoleumherstellung jedoch auf Gustav Gericke, der seit 1903 Direktor der 1892 gegründeten Anker-Werke Delmenhorst war. Gericke war nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern war auch einem reformistischen, kunstverbundenen Ideal verbunden. Wahrscheinlich bereits direkt nach seinem Amtsantritt kontaktierte er den Industriedesigner Peter Behrens, der in den Folgejahren stark vom Jugendstil beeinflusst nicht nur Entwürfe für das Linoleum selbst vorlegte, sondern das gesamte Erscheinungsbild des Unternehmens vom Briefpapier an über Plakate, Broschüren bis hin zu Ausstellungspavillons überarbeitete. Ab 1906 dann verbreiterte sich die auf den sogenannten Künstlermustern basierende Produktpalette der Anker-Werke, neben Behrens entwarfen bedeutende Künstler wie Richard Riemerschmid, Bruno Paul, Albin Müller, Rudolf Alexander Schröder, Josef Hoffmann, Henry van de Velde, Willi Baumeister, Lucian Bernhard, Johann Vincenz Cissarz sowie zahlreiche andere für die Anker-Werke. Das Engagement der Anker-Werke unter Gericke ging weit über das Erschließen einer Marktlücke hinaus. 1907 trat das Unternehmen dem neu gegründeten Deutschen Werkbund bei, dem einige seiner Gestalter angehörten, Gericke war dort zeitweise auch Vorstandsmitglied. Neubauten für das Werk zwischen 1910 und 1912 ließen sie von dem Bremer Architekten Heinz Stoffregen ausführen, seine neusachlichen Bauten fanden insbesondere bei modernen Architekten ebenso viel Beachtung wie die Künstlermuster der Kollektion. Die sehr grafischen und stark geometrischen Entwürfe sorgten dafür, dass die Anker-Werke nicht nur nach Marktanteilen, sondern auch künstlerisch als führend galten. Auch die anderen Werke in Delmenhorst konnten sich dieser Entwicklung nicht entziehen. Die Hansa-Werke veranstalteten 1911 ein weiteres Preisausschreiben und selbst die kleineren Schlüssel-Werke vertrieben unter anderem Entwürfe von Heinrich Vogeler. Wenngleich diese künstlerische Orientierung sich in Deutschland durchaus am Markt erfolgreich zeigte, sollte sie sich international als ein Hindernis erweisen. Gericke musste erkennen, dass „die moderne deutsche Mustergebung im Wettbewerb auf dem Auslandsmarkte bislang verhältnismäßig wenig Boden gewinnen konnte“, allein in der Schweiz, Österreich, Holland, Belgien und den skandinavischen Länder ließen sich „einige Erfolge […] erkennen“. Zu den wenigen Beispielen für gehobenes Design außerhalb Deutschlands gehörten einige Muster von Josef Hoffmann und weiteren Künstlern der Wiener Werkstätte, die von dem nordamerikanischen Unternehmen Armstrong Industries um 1915 in sein Programm aufgenommen wurden, sowie Arbeiten von Christopher Dresser für Frederick Walton. Werkstoff in der Architektur der Moderne Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und dem Kollaps der deutschen Linoleumindustrie endete diese intensive Phase der Zusammenarbeit zwischen den Linoleumwerken und zeitgenössischen Künstlern, sie sollte sich erst Mitte der 1920er Jahre nach dem Zusammenschluss fast aller deutschen Werke zu den Deutschen Linoleum-Werken 1926 neu ergeben, dann aber vor allem unter architektonischen Vorzeichen. Architekten wie Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe oder Bruno Taut schätzten den Belag zwar als modern und hygienisch, gebrauchten aber ihren Konzepten gemäß einfarbiges und ungemustertes Linoleum in klaren Farben. So gestaltete Mies van der Rohe zwischen 1928 und 1930 einen speziellen, rein elfenbeinweißen Linoleumbelag für den Bau der Villa Tugendhat in Brünn. In großem Maßstab wurde dieser Belag in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung eingesetzt, wo man 20 der 21 Bauten mit Linoleum auslegte. Häufig wurden verschiedene einfarbige Beläge verwendet, um den Raum zu strukturieren. Ideal dafür waren Linoleumfliesen. So benutzte Gropius in der Karlsruher Siedlung Dammerstock, wo es auch für die Wände und das Mobiliar verwendet wurde, den Belag als Raumteiler und Bruno Taut legte in seinem zweiten Wohnhaus (Haus Taut II) 1927 in fast allen Räumen große, einfache Muster aus Linoleumfliesen. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 sollte auch diese kurze Phase ihr Ende finden. Als die Produktion in der Nachkriegszeit wiederaufgenommen wurde, spielten gestalterische Fragen zunächst keine Rolle, zumeist wurde einfarbiges Linoleum verlangt. Erst 1957 wurde die Tradition der Künstlermuster mit der von Hertha Maria Witzemann gestalteten Kollektion Inlaid ’57 wiederaufgenommen. In Zusammenarbeit mit Architekten erschienen bei der DLW die beiden Muster Mikado und Konfetti. Aus Kostengründen wurde das Programm 1959 aber wieder eingestellt. Heutzutage gibt es keine Inlaid-Kollektionen mehr, Inlaid wird nur noch für Sonderaufträge hergestellt. Linolschnitt In der bildenden Kunst wird Linoleum für das Hochdruckverfahren des Linolschnitts verwendet, dabei wird ein Negativ in das später als Druckplatte dienende Linoleum geschnitten. Dieses weist, anders als das ähnlich gebrauchte Holz, keine Maserung auf, wodurch die Druckflächen klar und gleichmäßig sind, und die Linienführung weich ist, da es leicht schneidbar ist. Durch diese Eigenschaften begünstigt das Verfahren großflächige Bildelemente. Zur Einfärbung der Druckplatte dienen spezielle Farben, der Druck erfolgt meist auf Papier, aber auch auf Stoff. Wann zum ersten Mal mit Linoleum gedruckt wurde, ist nicht genau zu datieren. Häufig angeführt wird ein Drucker in Stettin, der 1890 auf diese Weise Tapeten bedruckt habe, die Behauptung ist jedoch unbelegt. Ab 1895 etablierte sich der Linolschnitt in Deutschland als Technik im schulischen Kunst- und Werkunterricht und wurde in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts auch von Künstlern genutzt. Der erste bekannte Kunst-Linoldruck stammt von Erich Heckel aus dem Jahre 1903, schnell folgten weitere Künstler, die von der neuen Technik teilweise intensiv Gebrauch machten, so Maurice de Vlaminck, Henri Matisse, Wassili Kandinsky, Gabriele Münter oder Christian Rohlfs. In den 1920er Jahren arbeiteten Konstruktivisten wie Heinrich Hoerle oder Gerd Arntz mit dem Linoldruck stark grafisch und formelhaft. In der Nachkriegszeit begannen Künstler dann den Linoldruck abseits der bisherigen Techniken zu erkunden. Wilhelm Lachnit ätzte Linoleum, Pablo Picasso löste sich vom klassischen Verfahren separater Arbeitsgänge und entwickelte den Einplatten-Farbdruck, bei dem er unter Einsatz zunehmend dunklerer Farben abwechselnd druckte und schnitt und im letzten Gang Konturen nachdruckte. Den größten Teil des Spätwerks von Karl Rössing bilden Linolarbeiten, oft auch in Kombination mit der Offset-Technik. HAP Grieshaber nahm den Linolschnitt als eine zentrale Technik in sein Repertoire auf und schuf damit Großwerke wie die Josefslegende, eine 7 × 9 Meter große Altarwand. In der Kunst der Gegenwart sind vor allem Per Kirkeby und Markus Lüpertz, die Linoldruck und Kupferstich kombinierten, sowie Georg Baselitz, Jörg Immendorff, Norbert Prangenberg und Jess Walter zu nennen. Großflächigkeit und klare Farben machten den Linoldruck insbesondere bei volksnah orientierten Künstlern populär. Lateinamerikanische Kunstgruppen wie Taller de Gráfica Popular (Mexiko) oder der Club de la Estampa (Argentinien) nutzten ihn ebenso wie Künstler der Ostblock-Staaten. In der DDR spezialisierte sich Ingrid Goltzsche-Schwarz auf seine Anwendung. Andere, sehr selten eingesetzte Verfahren auf Linoleumbasis sind das sogenannte Cerataryt sowie die Bronzo-Lino-Technik von Bruce Onobrakpeya, bei dem Linoleum bronziert wird und so Reliefcharakter erhält. Weiterführende Literatur Günther Förster, Josef Eiffler, Uwe Buchholz: Linoleum: Der Bodenbelag aus nachwachsenden Rohstoffen. (= Die Bibliothek der Technik, Band 107). Verlag Moderne Industrie, Landsberg am Lech 1995, ISBN 3-478-93123-1. Gerhard Kaldewei (Hrsg.): Linoleum – Geschichte, Design, Architektur 1882–2000. Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit 2000, ISBN 3-7757-0962-2. Robert Würth: Linoldruck – Motivwahl, Schneiden, Drucken. Englisch Verlag/Christophorus Verlag Freiburg 2012, ISBN 978-3-86230-216-1. Silvia Tauss: Problematik der Erhaltung von Linoleumbelägen in situ – Am Beispiel Warenhaus „Cheesmeyer“ in Sissach. Diplomarbeit, HKB Bern 2007 Pamela H. Simpson: Comfortable, Durable, and Decorative: Linoleum’s Rise and Fall from Grace, in: APT Bulletin 30 (2/3), 1999, The Monopolies and Restrictive Practices Commission (Hrsg.): Report on the Supply of Linoleum (= HC 366, 1955–56). London 1956 () Weblinks MATERIAL ARCHIV: Linoleum – Umfangreiche Materialinformationen und Bilder Einzelnachweise Baustoff Bodenbelag Textiler Verbundwerkstoff Biowerkstoff Holzwerkstoff
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aaron%20Burr
Aaron Burr
Aaron Burr (geboren am 6. Februar 1756 in Newark, New Jersey; gestorben am 14. September 1836 in Port Richmond, Staten Island, New York) war ein amerikanischer Politiker. Von 1801 bis 1805 war er unter Thomas Jefferson der dritte Vizepräsident der Vereinigten Staaten. Burr stieg in den 1780er und 1790er Jahren zu einem der einflussreichsten Politiker in New York auf und bekleidete von 1789 bis 1791 das Amt des New Yorker Attorney General. Von 1791 bis 1797 vertrat er den Bundesstaat im Senat der Vereinigten Staaten. Er gehörte zunächst der Demokratisch-Republikanischen Partei an und wurde von ihr 1796 und 1800 als Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite Jeffersons aufgestellt. Bei der umstrittenen Präsidentschaftswahl 1800, die das Repräsentantenhaus entscheiden musste, wurde ihm unterstellt, er habe mit der föderalistischen Opposition intrigiert, um die Präsidentschaft an sich zu reißen, und somit sah er sich bald in seiner eigenen Partei isoliert. Bei der Wahl 1804 wurde er nicht mehr nominiert und trat daraufhin mit Unterstützung der Föderalisten bei der Gouverneurswahl in New York an, verlor diese aber deutlich. Für seine Niederlage machte er eine Rufmordkampagne seines langjährigen Rivalen Alexander Hamilton verantwortlich und forderte ihn zum Duell. Am 11. Juli 1804 verwundete Burr Hamilton tödlich. Daraufhin wurde er in zwei Bundesstaaten als Mörder angeklagt, stand aber deswegen nie vor Gericht. Um das Ende seiner politischen Karriere oder zumindest seinen finanziellen Ruin abzuwenden, ließ sich Burr von 1806 bis 1807 mit dem General James Wilkinson auf die Ausrüstung einer Expedition im Mississippital ein, deren Ziel es mutmaßlich war, die spanischen Kolonien in Nordamerika anzugreifen. Unter dem Vorwurf, er wolle sich zum Herrscher eines unabhängigen Staates im amerikanischen Westen aufschwingen und strebe eine Spaltung der Vereinigten Staaten an, wurde er 1807 festgenommen und von der Regierung Jeffersons wegen Hochverrats vor ein Bundesgericht gestellt, schließlich jedoch freigesprochen. Ausmaß und Ziel der sogenannten „Burr-Verschwörung“ sind, wie viele Umstände im Leben Burrs, unter Historikern bis heute umstritten. Leben Jugend Burr entstammte einer Familie herausragender Theologen: Sein Vater Aaron Burr war Präsident des presbyterianischen College of New Jersey (der heutigen Princeton University), seine Mutter Esther Edwards eine Tochter Jonathan Edwards’, des berühmtesten amerikanischen Predigers seiner Zeit. John Adams, der zweite Präsident der USA, schrieb 1815 rückblickend, dass wohl noch nie in der Geschichte ein Kind mit einer so vielversprechenden Abstammung zur Welt gekommen sei. Burrs Vater starb jedoch bereits im September 1757, die Mutter ein Jahr darauf. Mit seiner älteren Schwester Sally wuchs er ab 1760 in der Obhut seines Onkels Timothy Edwards auf, der den Kindern eine dem Stand der Familie angemessene Erziehung angedeihen ließ und den Rechtsgelehrten Tapping Reeve als Privatlehrer anstellte. Mit nur elf Jahren stellte Burr einen Antrag auf Aufnahme in das College of New Jersey, wurde aber wegen seines Alters abgewiesen und studierte das Curriculum zwei Jahre zu Hause. Als er 1769 schließlich aufgenommen wurde, stufte man ihn wegen seiner Vorbildung als Sophomore ein; er schloss das Studium nach drei Jahren ab. Unter der Präsidentschaft John Witherspoons entwickelte sich das College of New Jersey während dieser Zeit zum politisch radikalsten College Amerikas, und mit den wachsenden Spannungen zwischen den Kolonien und dem Mutterland Großbritannien verbreiteten sich rasch revolutionäre Ideen unter den Studenten. Viele führende Persönlichkeiten der amerikanischen Revolution gingen aus den Princeton-Jahrgängen dieser Zeit hervor, so allein aus der nur 13 Absolventen zählenden Abschlussklasse von 1771 James Madison, Gunning Bedford, Jr., Philip Freneau und Hugh Henry Brackenridge, aus Burrs Abschlussklasse 1772 Aaron Ogden, Henry Lee und William Bradford. In zwei konkurrierenden studentischen Clubs, der Whig Society, der Madison und Freneau angehörten, und der Cliosophic Society, schulten sich die Studenten Princetons in Rhetorik und Argumentation. Teils entwickelten sich in diesen studentischen Bünden auch persönliche Freund- und Feindschaften, die noch lange Bestand hatten und sich später auch politisch auswirken sollten; Burr etwa knüpfte in diesen Jahren als Mitglied der Clios eine lebenslange Freundschaft mit William Paterson, dem Gründer des Clubs. Nach dem Studium blieb Burr zunächst in Elizabeth und spielte mit dem Gedanken, Pfarrer zu werden. Angesichts seiner Vorfahren schien er vielen seiner Zeitgenossen für diese Laufbahn bestimmt, doch überwogen bei Burr selbst schließlich die Glaubenszweifel. Im Herbst 1774 begann er zwar bei Joseph Bellamy in Bethlehem, Connecticut Theologie zu studieren, doch schon im Frühjahr änderte er seinen Entschluss und begann sich bei seinem einstigen Hauslehrer und jetzigen Schwager Tapping Reeve zum Anwalt ausbilden zu lassen. Soldat im Unabhängigkeitskrieg Bei Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges 1775 meldete sich Burr gemeinsam mit seinem Jugendfreund Matthias Ogden als Freiwilliger zur revolutionären Kontinentalarmee. Im September brach er als Mitglied des Expeditionskorps Benedict Arnolds zu einem Marsch durch Maine zur britischen Stadt Québec auf. Es sollte die Truppen Richard Montgomerys verstärken, die bei den vorigen Schlachten der amerikanischen Invasion Kanadas noch siegreich geblieben waren. Nach dem Zusammenschluss der beiden Heere wurde Burr im November auf Empfehlung Arnolds zum Adjutanten Montgomerys berufen. Als Montgomery am letzten Tag des Jahres in der Schlacht von Québec von einer Kartätschensalve aus einer britischen Stellung getötet wurde, stand Burr in der ersten Reihe. Nach dem Bericht des Kaplans der Expedition, Burrs Studienfreund Samuel Spring, soll Burr unter Lebensgefahr versucht haben, die Leiche Montgomerys zu bergen; so stellt auch Hugh Henry Brackenridge die Situation in seinem Versdrama The Death of General Montgomery at the Siege of Quebec (1777) dar. Die Nachricht von Montgomerys Tod und Burrs Eingreifen verbreitete sich rasch. Im Jahr darauf hob der Kontinentalkongress nach Anhörungen zu den Umständen von Montgomerys Tod ausdrücklich Burrs Mut hervor, was einer militärischen Auszeichnung gleichkam; befördert wurde Burr indes lange nicht. Ob Springs und Brackenridges Version den Tatsachen entspricht, lässt sich kaum beantworten; die Augenzeugenberichte sind widersprüchlich. Nach der Schlacht kehrte Burr im Frühjahr nach Süden zurück. Im Juni 1776 erreichte er New York, das Hauptquartier des Oberbefehlshabers George Washington, dessen Stab Burr auf Empfehlung Joseph Reeds zunächst zugeteilt wurde. Spätere Biografen haben oftmals hervorgehoben, dass schon dieses erste Zusammentreffen der beiden Männer von gegenseitiger Abneigung geprägt gewesen sein soll. Nach wenigen Tagen ließ sich Burr als Adjutant an die Seite General Israel Putnams versetzen. Im August 1776 zeichnete er sich beim britischen Angriff auf Manhattan aus, als er durch sein Eingreifen die Einkesselung der Brigade Gold Selleck Sillimans durch die Briten verhinderte. Dass Washington Burrs Tat am folgenden Tag bei den morgendlichen Ordern zu erwähnen für nicht nötig hielt, soll Burr als persönliche Herabsetzung empfunden haben. Im Juni 1777 wurde Burr zum Oberstleutnant befördert und zunächst ins Grenzgebiet von New York und New Jersey bestellt. Dort übernahm er de facto den Befehl über das Regiment William Malcolms, das einen Pass durch die Ramapo Mountains und somit den Norden New Yorks vor den Briten schützen sollte. Burrs größter militärischer Erfolg in dieser Position war die Gefangennahme eines britischen Trupps ohne eigene Verluste bei Hackensack während einer loyalistischen Invasion des Bergen County im September 1777. Kurz darauf wurde er mit seinem Regiment nach Pennsylvania beordert, wo Washington seine Truppen um das britisch besetzte Philadelphia zusammenzog. Hier soll Burr unter anderem eigenhändig eine Meuterei unter den eigenen Truppen niedergeschlagen haben. Seine letzten Kampfhandlungen erlebte er 1778 in der Schlacht von Monmouth. Wie viele Soldaten in dieser Schlacht erlitt Burr hier einen Hitzschlag, dessen Folgen ihn noch Jahre schwächen sollten, und wurde einige Monate beurlaubt. Sein Urteil über die Leistung Washingtons in dieser Schlacht und das anschließende Kriegsgericht gegen Charles Lee mögen dazu beigetragen haben, dass Washington in Burrs Achtung weiter sank. Im Januar 1779 wurde Burr ins Westchester County nördlich von Manhattan verlegt, wo seit Beginn des Krieges die Frontlinie verlief. Burr suchte im Niemandsland zwischen den Fronten nach Kräften, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen, und bestrafte so auch seine eigenen Milizionäre, wenn sie plünderten. Auch baute er einen Spionagering auf, der die Strukturen der Loyalisten infiltrieren sollte, und begann, Register anzulegen, in denen Informationen über die Zivilbevölkerung und ihre politischen Sympathien gesammelt wurden. Als sein Gesundheitszustand seine Arbeit allzu sehr einschränkte, quittierte er im März 1779 schließlich den Dienst in der Armee. Zeit seines Lebens ließ er sich jedoch weiterhin als Colonel Burr titulieren. Beginn der politischen Karriere Im Jahr 1778 lernte Burr seine spätere Frau kennen, die zehn Jahre ältere Theodosia Prevost. Prevost war zu dieser Zeit noch mit einem britischen Offizier verheiratet, hegte aber Sympathien für die Revolution. So lud sie nach der Schlacht von Monmouth George Washington auf ihr Anwesen The Hermitage in New Jersey ein, wo der General dann für einige Tage sein Hauptquartier einrichtete. Kaum ein Jahr nachdem ihr erster Gatte auf Jamaika dem Gelbfieber erlegen war, heiratete Burr sie am 2. Juli 1782. Aus der Ehe gingen zwei Töchter hervor, von denen jedoch nur eine das Erwachsenenalter erreichte. Belastet wurde die Ehe durch die stets fragile Gesundheit seiner Frau; 1794 verstarb sie im Alter von nur 48 Jahren. Im Umgang mit Frauen vertrat Burr für seine Zeit sehr fortschrittliche, durchaus feministisch zu nennende Positionen und ließ seiner Tochter die bestmögliche Erziehung angedeihen; in seinem Arbeitszimmer hing ein eigens für ihn angefertigtes Porträt von Mary Wollstonecraft. Im Frühjahr 1782 wurde Burr nach einer kaum einjährigen Ausbildung als Anwalt zugelassen und praktizierte zunächst in Albany. Bei Kriegsende ließ er sich 1783 in Manhattan nieder und eröffnete in der Wall Street seine eigene Kanzlei. 1781 hatte der Staat New York loyalistischen Anwälten – die zumindest in der Stadt New York deutlich in der Mehrheit gewesen waren – Berufsverbot erteilt, so dass sich nun viele Möglichkeiten auch für unerfahrene Juristen wie Burr oder auch seinen späteren Erzrivalen Alexander Hamilton boten, sich zu profilieren. Wie Hamilton zählte Burr bald zu den herausragenden und bestbezahlten Anwälten der Stadt, kaum einer der großen Gerichtsprozesse der nächsten 20 Jahre verlief ohne die Beteiligung mindestens eines der beiden. Dabei waren Burr und Hamilton mal Gegner im Gerichtssaal, mal fanden sie sich vereint auf Seiten der Anklage oder Verteidigung wieder, so etwa noch 1800 im aufsehenerregenden Mordfall People v. Levi Weeks. Seine politische Karriere begann 1784 mit seiner Wahl zu einem der neun Abgeordneten der Stadt New York im Unterhaus des Staates, der State Assembly. Nach anfänglicher Passivität arbeitete er erst nach seiner Wiederwahl 1785 in einigen Ausschüssen dieser Parlamentskammer mit. In seinem zweiten Jahr brachte er unter anderem einen Gesetzesvorschlag zur sofortigen Abschaffung der Sklaverei in New York ein, der jedoch scheiterte. Burr hatte jedoch – wie auch Hamilton, der ebenfalls öffentlich als Sklavereigegner bekannt war – weiterhin Haushaltssklaven. Angesichts seiner späteren Positionen ist es erstaunlich, dass sich Burr offenbar nicht an der Debatte um die Ratifizierung der Bundesverfassung beteiligte, in der sich die Befürworter einer starken Zentralregierung (die so genannten Föderalisten um Hamilton) und die Verfechter der Souveränität der Einzelstaaten (die Anti-Föderalisten) gegenüberstanden. Zur ratifizierenden Versammlung des Staates New York im Sommer 1788 war er zwar als Delegierter vorgeschlagen worden, hatte das Ansinnen aber abgelehnt. Vermutlich trifft Hamiltons Vermutung zu, dass Burr der Verfassung ursprünglich ablehnend gegenüberstand, zumal er sich schon zu dieser Zeit vor allem in anti-föderalistischen Kreisen bewegte. War die Nation durch den Streit um die Verfassung ohnehin schon gespalten, so stellte sich die politische Landschaft New Yorks durch familiäre Verwicklungen und regionale Differenzen noch zerklüfteter dar. Wie Burrs Biograf James Parton in einem oft zitierten Bonmot schrieb, war New York zu dieser Zeit „wie Gallien in drei Teile geteilt“ – die Domänen der weitverzweigten Großfamilien Clinton, Livingston und Schuyler und ihrer politischen Freunde. Gouverneur des Staates New York war seit 1777 der Anti-Föderalist George Clinton, der in der von föderalistisch gesinnten Kaufleuten dominierten Stadt New York wie bei den ländlichen Großgrundbesitzern wie den Livingstons und Schuylers verhasst war. Im Jahr 1789 schloss sich Burr einer von Hamilton konzertierten Kampagne der Föderalisten der Stadt an, Robert Yates als Gegenkandidaten zu Clinton aufzustellen. Clinton gewann die Wahl knapp. Wohl um Burr für sein Lager zu gewinnen, ernannte Clinton ihn nach seiner Wahl zum Attorney General des Staates New York, eine Position, die etwa dem Rang eines Justizministers gleichkommt. Senator für New York, 1791 bis 1797 Im Jahr 1791 geriet Burr erstmals in einen politischen Konflikt mit Alexander Hamilton, nun Finanzminister im Kabinett Präsident Washingtons und die prägende Figur der Föderalisten auf Bundesebene wie in New York. Gouverneur Clinton nominierte Burr für den in diesem Jahr neu zu besetzenden Senatorenposten New Yorks im amerikanischen Kongress, um sich des föderalistischen Mandatsträgers, Hamiltons Schwiegervater Philip Schuyler, zu entledigen. Hierzu verbündete er sich mit Robert R. Livingston, Kanzler des Staates New York, der bislang dem Hamiltonschen Lager angehört hatte. Livingston brach mit den Föderalisten aus Verbitterung darüber, dass sein Clan bei der Wahl der beiden Senatoren New Yorks für den Kongress 1789 leer ausgegangen war, nachdem Hamilton gegen „seinen“ Kandidaten James Duane (verheiratet mit Maria Livingston, einer Cousine 3. Grades) intrigiert hatte und stattdessen Rufus King den zweiten Senatorenposten zugeschanzt hatte. Clinton und Livingston einte nun das Verlangen, Hamilton zu demütigen, und so brachten sie mit ihrem Einfluss schließlich die notwendigen Mehrheiten in Ober- und Unterhaus für Burrs Wahl zustande. Im März 1791 trat Burr sein Mandat im Senat an, sein Nachfolger im Amt des Attorney General wurde Livingstons Schwiegersohn Morgan Lewis. Kurz nach seiner Wahl unterredete sich Burr in einem konspirativen Treffen mit Robert R. Livingston und den beiden führenden Antiföderalisten des Staates Virginia, James Madison und Thomas Jefferson. Was die vier Staatsmänner, die sich offiziell zum gemeinsamen Pflanzensammeln für ihre Herbarien im Wald trafen, abmachten, ist unbekannt, doch gilt die „Botanisiertour“ der beiden Südstaatler vielen Historikern als wichtige Wegmarke bei der Entstehung der Demokratisch-Republikanischen Partei, da sie die Antihamiltonianer Virginias mit denen New Yorks vereinte und so eine Voraussetzung für eine landesweit operierende politische Partei im modernen Sinne schuf. Als sich das Erste Parteiensystem in den folgenden Jahren konsolidierte, wollte sich Burr trotz seiner offenkundigen Nähe zu den Republikanern jedoch nicht als Parteigänger sehen. Er war für die bislang nur in den Südstaaten dominierenden Republikaner jedoch in vielerlei Hinsicht ein vielversprechender Verbündeter: Im parteipolitisch gespaltenen New York war er populär, im föderalistisch dominierten Neuengland wurde er schon wegen seiner Abstammung vielerorts geachtet. Dass sein Großvater und Vater führende Presbyterianer gewesen waren, machte ihn für diese Wählergruppe landesweit attraktiv. Bei Wahlen wurde Burr stets von einer Gruppe Getreuer unterstützt, die in der Geschichtsschreibung oft als eigene politische Kraft begriffen werden, welche zwischen den beiden etablierten Parteien lavierte. Zu den „Burrites“ der ersten Stunde zählten die vormaligen Clintonianer Marinus Willett und Melancton Smith sowie der Föderalist Peter Van Gaasbeck; später stießen Matthew L. Davis, die drei Brüder John, Robert und Samuel Swartwout sowie der Arzt Peter Irving hinzu. Burrs Ruf als Unparteiischer mag ein Grund gewesen sein, dass er bei der New Yorker Gouverneurswahl 1792 von Wahlmännern aus dem föderalistischen Lager als Kandidat ins Spiel gebracht wurde, was Hamilton jedoch zu verhindern wusste, so dass schließlich John Jay gegen Clinton antrat. Der Ausgang der äußerst knappen Wahl wurde vor Gericht entschieden – in der darauf folgenden politisch-juristischen Debatte schlug sich Burr als Senator auf die Seite derjenigen, die den Sieg Clintons trotz vieler Unregelmäßigkeiten für rechtmäßig erklärten. Im Jahr 1792 brachte sich Burr erstmals als republikanischer Kandidat für die Vizepräsidentschaft der USA ins Spiel (die Wiederwahl Washingtons als Präsident wurde von keiner Seite bezweifelt), doch sprachen sich die Hauptstrategen der Republikaner, James Monroe und James Madison, gegen eine Kandidatur Burrs aus und schickten stattdessen George Clinton ins Rennen. Bei der Wahl gegen Ende Jahres behauptete sich schließlich John Adams vor Clinton – Burr erhielt trotz seiner eigentlich schon eingestellten Kandidatur die Stimme eines Wahlmannes aus South Carolina. Schon in dieser ersten von drei Präsidentschaftswahlen, in denen Burr antreten sollte, intrigierte Hamilton mindestens in seiner Korrespondenz gegen Burr. In einem Brief an einen unbekannten Adressaten äußerte er, dass er es als seine „religiöse Pflicht“ ansehe, Burrs Karriere zu verhindern. Im Senat stieg Burr bald zu einem der Meinungsführer der Republikaner auf, auch weil die Partei mit dem Rückzug Jeffersons von seinen Ämtern 1793 und der Berufung James Monroes zum Botschafter in Paris 1794 ihre prominentesten Mandatsträger verlor. So gehörte er 1793/94 zu den eifrigsten Verteidigern Albert Gallatins, den die föderalistische Senatsmehrheit seines Mandats enthob, da er angeblich noch nicht lange genug amerikanischer Staatsbürger sei, um wählbar zu sein. 1794 zählte er zu der Minderheit von zehn Senatoren, die gegen die Ratifizierung des Jay-Vertrags mit Großbritannien stimmten; schon die Ernennung Jays als Unterhändler Washingtons erachtete er als verfassungswidrig. Wie Madison und Jefferson trat Burr statt einer Einigung mit Großbritannien für ein Bündnis mit Frankreich ein. So setzte er anlässlich der militärischen Erfolge Frankreichs in den europäischen Koalitionskriegen eine offizielle Gratulation der Vereinigten Staaten an die Adresse der Französischen Republik auf, doch scheiterte der Vorstoß wiederum an der föderalistischen Senatsmehrheit. Als nach der Ankunft des neuen französischen Botschafters Edmond-Charles Genêt in New York und andernorts demokratische Klubs nach Pariser Vorbild entstanden, verteidigte Burr deren Rechte auf Redefreiheit gegen Zensurbestrebungen seitens der Föderalisten. Während dieser Jahre mehrten sich auch die Anzeichen, dass Washington Burr nicht wohlgesinnt war: Als Burr sich im Winter 1792 in den Archiven des Außenministeriums für seine – letztlich nie geschriebene – Geschichte des Unabhängigkeitskrieges zu forschen begann, erging von Washington die persönliche Order, Burr den Zugang zu den Archiven zu verwehren. Als Frankreich 1794 Gouverneur Morris als amerikanischen Botschafter zurückwies, schlugen Monroe und Madison dem Präsidenten Burr als Nachfolger vor, doch lehnte Washington das Ansinnen mit der Begründung ab, dass er niemanden in ein hohes Amt bestellen würde, in dessen „persönliche Integrität“ er kein Vertrauen habe. Es steht zu vermuten, dass Hamilton als Washingtons engster Vertrauter in diesen Episoden nicht unbeteiligt war. Bis zur Präsidentschaftswahl 1796 hatte Burr sein Profil in der Republikanischen Partei so weit geschärft, dass er glaubte, als Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite Thomas Jeffersons gute Chancen zu haben, zumal Clinton politisch geschwächt war. Neben den „Burrites“ war es vor allem John James Beckley, der Führer der Republikaner in Pennsylvania, der Burr zunächst unterstützte. Burr begab sich im Oktober 1795 selbst nach Monticello, um sich mit Jefferson zu unterreden, und reiste im Frühjahr und Sommer des Wahljahres durch Neuengland und New York, um auch föderalistische Wahlmänner für sich zu vereinnahmen. Seine Ausflüge ins gegnerische Lager verleiteten Beckley jedoch zu dem Schluss, dass Burr weniger am Erfolg der Partei als seinem eigenen gelegen war. Aus Sorge, dass Burr mehr Wahlmännerstimmen als Jefferson erreichen könnte, empfahl er Madison, dass die republikanischen Wahlmänner aus Virginia die zweite ihrer beiden Stimmen auf unwahrscheinliche Kandidaten verschwenden sollten. Präsident und Vizepräsident wurden bis 1800 noch in einem Wahlgang gewählt, wobei jeder der Wahlmänner zwei Stimmen zu vergeben hatte; Präsident wurde der Mann mit den meisten Stimmen, Vize derjenige mit den zweitmeisten. Tatsächlich gaben bei der Wahl im Dezember 20 der Wahlmänner aus Virginia Jefferson ihre Stimme, jedoch nur einer Burr. Insgesamt erreichte Burr nur 30 Stimmen. Angesichts der 68 Stimmen Jeffersons war die mangelnde Parteidisziplin offenkundig. Im Lager der Föderalisten spielte sich jedoch Ähnliches ab: Jefferson erhielt insgesamt mehr Stimmen als John Adams’ designierter Vize Thomas Pinckney, so dass zum ersten und einzigen Mal in der amerikanischen Geschichte Präsident und Vize verschiedenen Parteien angehören würden. Abgeordneter im New Yorker Unterhaus, 1798 bis 1800 Burrs sechsjährige Amtszeit als Senator endete 1797. Zu dieser Zeit hatten die Föderalisten die Mehrheit in beiden Kammern der New Yorker Legislative erlangt und wählten wieder Philip Schuyler auf den Senatorenposten. Burr ließ sich, offenbar unbeeindruckt von dem damit verbundenen Prestigeverlust, sogleich zur Wahl für das New Yorker Repräsentantenhaus aufstellen, und wurde 1798 und 1799 für je ein Jahr gewählt. In diesen zwei Jahren war er stets bemüht, einige der föderalistischen Abgeordneten für republikanische Anliegen zu erwärmen, und bewegte einige von ihnen, so etwa Jedediah Peck, sogar dauerhaft dazu, das Lager zu wechseln. War er 15 Jahre zuvor noch mit einem Gesetzentwurf zur sofortigen Abschaffung der Sklaverei gescheitert, so brachte er nun zumindest ein Gesetz zur allmählichen Abschaffung durch. Er scheiterte jedoch mit dem Gesetzesvorschlag, nach dem die Wahlmänner New Yorks bei der Präsidentschaftswahl per Direktwahl und nicht mehr durch die Legislative bestimmt werden sollten; außerdem bemühte er sich um eine Reform des New Yorker Landverkaufs- und Insolvenzrechts und trat etwa für eine Abschaffung der Schuldhaft ein – durchaus eigennützig, denn er war selbst über Jahre stets vom finanziellen Ruin bedroht, was ihn jedoch nicht daran hinderte, sich rege an den blühenden Spekulationen mit Landpatenten auf den noch unerschlossenen Westen New Yorks zu beteiligen. So war es durchaus auch in seinem eigenen geschäftlichen Interesse, dass er als Politiker Infrastrukturprojekte und Steuervergünstigungen für diesen Landesteil durchzusetzen bemüht war. Burrs für alle Seiten erstaunlichste Leistung zu dieser Zeit war die Gründung einer Bank. In New York waren die beiden einzigen öffentlichen Banken, die Bank of New York und die Filiale der Bank of the United States, fest in föderalistischer Hand und verwehrten Republikanern oft Kredite, so dass politische Freunde bevorteilt wurden. Um dieses Monopol zu brechen, griff Burr zu einer List und brachte dem Kongress einen Vorschlag zur Gründung einer privaten Aktiengesellschaft mit öffentlicher Beteiligung und dem Monopol auf die Wasserversorgung der Stadt New York vor, um so die katastrophalen hygienischen Zustände durch den Bau neuer Frischwasserleitungen zu verbessern. Den Gesetzesentwurf brachte er im März 1799 kurz vor einer mehrwöchigen Sitzungspause als dringende Angelegenheit ein und fügte ihm eine nur einen Satz lange Klausel hinzu, die es der „Manhattan Company“ genannten Gesellschaft erlaubte, ihr überschüssiges Kapital in „Geld- und sonstigen Geschäften, so sie nicht mit der Verfassung oder Gesetzen der Vereinigten Staaten unvereinbar sind,“ zu verwenden. Da offenbar weder die wenigen angereisten Abgeordneten, noch die Senatoren und auch nicht Gouverneur John Jay die Tragweite dieser Bestimmung zu erfassen vermochten, wurde der Vorschlag Gesetz. Im September des Jahres öffnete bereits die Bank der Wasserwerke, das föderalistische Bankmonopol war gebrochen. Auch dieser Vorstoß war seitens Burrs nicht ganz uneigennützig; gegen Ende 1802 stand er selbst bei der Bank schon mit 65.000 Dollar im Minus. Aus der Bank der Manhattan Company entwickelte sich schließlich die Chase Manhattan Bank, eines der größten Kreditinstitute der Welt; die New Yorker mussten indes noch 40 Jahre auf eine ordentliche Wasserversorgung warten. Burrs Bemühungen um die Organisation der Republikaner in New York kam umso mehr nationale Bedeutung zu, wie die Präsidentschaftswahl 1800 näher rückte. Schon lange vor der Wahl galt als sicher, dass New York der Swing State sein würde, in dem sich die Wahl entscheiden würde. Die Wahl des New Yorker Repräsentantenhauses, das gemeinsam mit dem Senat die Wahlmänner für die Präsidentschaftswahl bestimmen würde, war den Strategen der Republikaner so von größter Bedeutung. Innerhalb des Bundesstaats kam wiederum der Stadt New York, die 13 Mandate im Unterhaus stellte, eine Schlüsselrolle beim Kampf um die Mehrheit zu, da die jeweiligen Mehrheiten in den ländlichen Wählerbezirken gefestigt schienen. Burr vermochte es im Frühjahr 1800, innerhalb kurzer Zeit eine hocheffiziente Wahlkampagne zu organisieren. Er überredete einige der prominentesten Bürger der Stadt, für die Partei zu kandidieren – auf seiner Vorschlagsliste befanden sich unter anderem der ehemalige Postminister Samuel Osgood, der als Kriegsheld verehrte General Horatio Gates, sowie je ein Vertreter der beiden dominanten politischen Clans: Brockholst Livingston und der ehemalige Gouverneur George Clinton persönlich. Burrs Anwesen Richmond Hill glich wochenlang einem Feldlager, in dem die Parteisoldaten ihre Order erhielten; Burr ließ für jeden einzelnen Wahlberechtigten der Stadt ein Dossier zum vermuteten politischen Standpunkt und der Wahrscheinlichkeit, diesen zu ändern, erstellen. In die vor allem von deutschen Immigranten bewohnten Wahlbezirke schickte er deutschsprachige Wahlhelfer. Am 1. Mai, dem Wahltag, erschien wie aus dem Nichts ein großes Aufgebot von republikanischen Sänftenträgern und Kutschern, die alte und gebrechliche Wähler zu den Urnen beförderten. Nach der Stimmenauszählung stand fest, dass Burrs Kandidaten alle 13 Mandate gewonnen hatten – Burr selbst wurde ebenfalls wieder ins Unterhaus gewählt, diesmal als Abgeordneter des Orange County. Vizepräsident, 1801 bis 1805 Die Präsidentschaftswahl 1800 Nach dem Wahlerfolg in New York schien es den Strategen der Republikaner unausweichlich, dass der Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite Jeffersons ebenfalls aus diesem Staat kommen müsse. Neben Burr kamen wiederum Clinton und Robert R. Livingston in Frage. Die Berichte darüber, wie die Entscheidung zu Gunsten Burrs fiel, gehen auseinander, doch scheint es, dass Albert Gallatin, dem Burr 1794 im Senat so treu zur Seite gestanden hatte, Einfluss auf die Entscheidung nahm. Auf einem nationalen Caucus in Philadelphia bestätigte die Partei die Nominierung offiziell. Auch wurde beschlossen, den republikanischen Wahlmännern ein Gelöbnis abzuverlangen, beide ihrer Stimmen den eigenen Kandidaten zu geben, um den 1796 von beiden Parteien begangenen strategischen Fehler nicht zu wiederholen. Als die Ergebnisse der Wahl im Dezember 1800 bekannt wurden, stellte sich heraus, dass die republikanischen Kandidaten zwar die Wahl gewonnen hatten. Da sich jedoch tatsächlich alle Wahlmänner an die Vorgaben gehalten hatten, gab es zwischen den Siegern Burr und Jefferson ein Patt von 73 zu 73 Stimmen. Für diesen Fall sah die Verfassung eine Wahl im Repräsentantenhaus vor, bei der jeder Staat eine Stimme hatte; zur Wahl benötigte Jefferson eine einfache Mehrheit der Staaten. Von den Delegationen der 16 Bundesstaaten waren jedoch nur acht in republikanischer Hand. Viele Föderalisten witterten in dieser Situation die Möglichkeit, Jeffersons Präsidentschaft doch noch zu verhindern, indem sie für Burr stimmten. Dabei ging es nicht nur darum, eine Entscheidung hinauszuzögern: Nicht wenige Föderalisten glaubten, Burr mit der Aussicht auf das höchste Amt im Staat dazu bewegen zu können, die Seiten zu wechseln. Die verfahrene Situation ließ Gerüchte und Intrigen auf allen Seiten sprießen und spaltete auch die Parteien. Das Verhalten Burrs in dieser Zeit wird bis heute debattiert. Zwar sind keine Äußerungen Burrs überliefert, in denen er sich den Avancen der Föderalisten geöffnet hätte, doch äußerte er nach einiger Zeit auch keine Dementis mehr, was einige Historiker als beredtes Schweigen und Anzeichen dafür deuten, dass Burr sich einer solchen Rochade nicht verschlossen hätte. Bei der Abstimmung im Februar kam es tatsächlich zum erwarteten Unentschieden. Sie musste 35 Mal wiederholt werden, bis Vermont und Maryland nach sechs Tagen ihre Blockade aufgaben und sich der Stimme enthielten. Auch bei dieser Wahl agitierte Hamilton gegen Burr. Einst hatte er geäußert: „Wenn es einen Menschen gibt, den ich hassen sollte, so ist es Jefferson“ – doch als die Föderalisten erwogen, Burr zum Präsidenten zu machen, schien ihm Burr noch das größere Übel. „Um Himmels Willen, möge die Föderale Partei niemals für den Aufstieg dieses Mannes verantwortlich sein“, schrieb er im Januar 1801 an William Sedgwick. Als Folge der turbulenten Wahl wurde 1804 das Prozedere bei der Präsidentschaftswahl durch den 12. Verfassungszusatz geändert. Seither wird die Wahl des Präsidenten und Vizepräsidenten in zwei formell getrennten Abstimmungen durchgeführt. Burr im Amt Jefferson und Burr wurden so am 4. Juni 1801 inauguriert. Jefferson hatte allem Anschein nach spätestens durch die Gerüchte um Burr während der Wahl jegliches Vertrauen in seinen Vize verloren. Rückblickend schrieb er 1807 in einem Brief: „Ich habe ihn [Burr] nie für einen ehrlichen oder freimütigen Mann gehalten, eher vielmehr für eine krumme Flinte, bei der man nie sicher sein konnte, wohin sie zielt oder schießt. Aber solange die Nation ihm vertraute, sah ich es als meine Pflicht an, ihn ebenso zu respektieren, und ihn so zu behandeln; als ob er es verdient hätte“. Schon in den ersten Wochen der neuen Regierung wurde das Zerwürfnis in Personalentscheidungen deutlich. Die neue Administration hatte nicht nur ihre Kabinettsposten, sondern auch hunderte andere Ämter im gesamten Land neu zu besetzen. Gemäß der Praxis des „spoils system,“ der amerikanischen Ausprägung der Ämterpatronage, wurden diese Stellen auf Vorschlag verdienter Parteisoldaten mit Gesinnungstreuen besetzt. Burr reichte eine vergleichsweise bescheidene Liste von fünf „Burrites“ ein, die Ämter in New York erhalten sollten. Nur zwei der Vorgeschlagenen wurden von Jefferson tatsächlich ernannt, doch ging der Präsident auch nach verschiedentlicher Nachfrage nicht auf die anderen Kandidaten ein. Besonders augenfällig erschien Beobachtern die Nichternennung von Burrs engstem Vertrauten Matthew L. Davis; Jeffersons Untätigkeit in dieser Personalie veranlasste etwa Albert Gallatin, nunmehr Finanzminister, Jefferson in einem Brief rundheraus zu fragen, ob die Partei Burr weiterhin zu unterstützen gedenke. Jefferson antwortete auf den Brief nicht. Die Intrige gegen Burr ging aber wohl kaum von Jefferson selbst aus, sondern hatte ihren Ursprung in New York. Unter der Federführung von George Clintons Schwiegersohn DeWitt Clinton hatten sich die zuvor verfeindeten Clans der Clintons und Livingstons wieder verbündet, da sie angesichts von Burrs politischem Aufstieg um ihren Einfluss in New York fürchteten. So war es eben jene Koalition, die Burr 1791 zum Senator gemacht hatte, die nun seine Entmachtung orchestrierte. Die internen Machtkämpfe der Republikaner in New York eskalierten 1802 bis 1804 im so genannten „Pamphletkrieg.“ Der Anlass war der geplante Druck eines politischen Pamphlets des Journalisten John Wood, das in so schrillen Tönen die vergangene föderalistische Regierung John Adams’ kritisierte, dass Burr zu dem Schluss kam, eine Veröffentlichung würde dem Anliegen der Republikaner eher schaden als helfen. Burr bot an, die gesamte Auflage aufzukaufen, um zugleich den Drucker zu entschädigen und den politischen Frieden zu wahren. Dieses Angebot nahm James Cheetham, der Herausgeber der vom Clinton-Clan kontrollierten New Yorker Tageszeitung American Citizen, zum Anlass, Burr nicht nur der Zensur, sondern der Verschwörung mit den Föderalisten zu bezichtigen. In den nächsten zwei Jahren attackierte Cheetham Burr regelmäßig in den Seiten seiner Zeitung in immer heftigeren Beschuldigungen, auch die föderalistische Presse griff das Thema willig auf. Der Historiker Henry Adams fasst die Situation in oft dramatischen Worten zusammen: Burr stellte sich dieser Rufmordkampagne nur zögerlich. Im Herbst 1802 veranlasste er die Gründung einer eigenen Tageszeitung unter Führung von Peter Irving, um der feindlichen Presse etwas entgegensetzen zu können. Im Morning Chronicle erschienen über die nächsten zwei Jahre zahlreiche anonyme Beiträge von Burrs Vertrauten und möglicherweise auch aus seiner eigenen Feder. Besondere Aufmerksamkeit erregte ein unter dem Pseudonym Aristides von William P. Van Ness verfasstes Pamphlet zur Verteidigung Burrs mit dem Titel An Examination of the Various Charges Exhibited against Aaron Burr and a Development of the Characters and Views of his Political Opponents. Diese Polemik war von einer solchen Schärfe und literarischen Qualität, dass sie sich zur meistverkauften politischen Schrift in Amerika seit Paines Common Sense entwickelte. Leistete sie Burr zwischenzeitlich wertvolle Dienste, so war ihre Wirksamkeit auf lange Sicht jedoch begrenzt: Lange nach dem Abflauen des „Pamphletkriegs“ 1804 und Burrs Tod 1836 sollten zahlreiche Historiker Cheethams Anschuldigungen für bare Münze nehmen. Tatsächlich gab es in Burrs Amtszeit einige Umstände, die Föderalisten wie Republikaner rätseln ließen, wie es um seine Gesinnung stand. Eine der ersten Maßnahmen der Jefferson-Regierung war es, Adams’ wenige Tage vor Amtsende erlassene Justizreform rückgängig zu machen, mit der der scheidende Präsident eine Vielzahl neuer Richterposten mit Amt auf Lebenszeit geschaffen hatte, die er durchweg mit Föderalisten besetzt hatte, die so genannten „Mitternachtsrichter“. Als die Abstimmung über den Widerruf der Reform mit einem Patt endete, hatte Burr als Senatspräsident die entscheidende Stimme. Er wies den Gesetzesentwurf zunächst zur Wiedervorlage zurück, was als Warnung an seine Partei verstanden wurde. Als immer deutlicher wurde, dass er von seiner eigenen Partei ausgebootet wurde, griff er schließlich zu einer demonstrativen Provokation: Am 22. Februar 1802, dem Geburtstag des drei Jahre zuvor verstorbenen George Washington, erschien er zur Überraschung der Anwesenden auf einem von den Föderalisten der Hauptstadt ausgerichteten Festbankett und brachte einen vieldeutigen Trinkspruch auf den „Bund aller ehrlichen Männer“ aus – Henry Adams meinte gut hundert Jahre später, dass Burr dem Präsidenten so eine „dramatische Beleidigung ins Gesicht schleuderte.“ Als 1804 die nächste Präsidentschaftswahl bevorstand, war Burrs Bruch mit seiner Partei so deutlich, dass es als Selbstverständlichkeit erschien, dass er nicht wieder als Vizekandidat aufgestellt wurde; die Republikaner entschieden sich wieder für George Clinton. Um das Ende seiner politischen Karriere abzuwenden, stellte sich Burr darauf mit Unterstützung der föderalistischen Opposition als Kandidat für die New Yorker Gouverneurswahl 1804 auf. Nur um den Preis, sich mit den eigentlich republikanisch gesinnten Burrites verbünden zu können, glaubten viele Föderalisten, in New York noch einmal eine Mehrheit erlangen zu können. Henry Adams witterte hinter dieser neuartigen Koalition jedoch einen wesentlich brisanteren Plan. Demnach habe sich Burr mit einigen neuenglischen „Ultraföderalisten“ um Timothy Pickering eingelassen, der sogenannten „Essex Junto“, deren Ziel die Sezession Neuenglands aus der Union war, und die mit Burr auch New York zum Anschluss an den neuen Staat bewegen zu können glaubten. Spätere Historiker haben jedoch nicht nur das Ausmaß dieser Verschwörung relativiert, sondern auch Burrs Beteiligung bestritten. Duell mit Hamilton Bei der Wahl im April des Jahres unterlag Burr dem republikanischen Kandidaten Morgan Lewis deutlich. Burr witterte nicht ganz zu Unrecht hinter seiner Niederlage eine weitere Intrige Hamiltons. Dieser hatte sich schon im ersten Caucus der Föderalisten gegen eine Kandidatur Burrs gewandt. Nachdem er überstimmt worden war, verwandte er viel Energie darauf, Briefe an die föderalistischen Meinungsführer zu verfassen, in denen er in immer schärferen Worten vor Burr warnte. Einige despektierliche Bemerkungen über Burr, die Hamilton bei einem Abendessen in Albany geäußert haben soll, fanden den Weg in die Presse. Burr sah sich derart in seiner Ehre verletzt, dass er Hamilton zum Duell forderte. Diese Form der Beilegung von Ehrenstreitigkeiten wurde in den USA gesellschaftlich noch weithin akzeptiert – sowohl Burr als auch Hamilton hatten sich schon zuvor Duellen gestellt. In New York war das Duellieren jedoch verboten, so dass sich Duellanten üblicherweise am anderen Ufer des Hudson im Wald von Weehawken im Staat New Jersey trafen. Hier war 1801 auch Hamiltons ältester Sohn Philip bei einem Duell getötet worden. Beim Duell am Morgen des 11. Juli 1804 verwundete Burr Hamilton mit einem Schuss in den Unterleib tödlich. Der genaue Ablauf ist bis heute Gegenstand zahlreicher Spekulationen. Hamilton hatte in den Tagen vor dem Duell nicht nur sein Testament aufgesetzt, sondern in einigen persönlichen Bemerkungen auch seinen Entschluss niedergeschrieben, mindestens mit der ersten seiner Duellkugeln nicht auf den Gegner zu zielen, sondern den ersten Schuss zu vergeuden – um Burr zu beschwichtigen, aber auch, da ein Duell seinen religiösen Überzeugungen grundsätzlich zuwider sei. Hamilton hätte dadurch willentlich seinen eigenen Tod in Kauf genommen oder herbeigeführt. Burr, der von Hamiltons Entschluss nichts wissen konnte, und auch sein Sekundant William P. Van Ness gaben später an, dass die Duellanten etwa gleichzeitig geschossen hätten und dass Hamilton durchaus auf Burr gezielt habe, wenn auch die Kugel ihr Ziel weit verfehlte. Hamiltons Sekundant Nathaniel Pendleton gab jedoch an, dass Hamiltons Schuss versehentlich zu früh losgegangen sei. Eine Untersuchung der Duellpistolen durch Experten der Smithsonian im Jahr 1976 legt den Schluss nahe, dass der Abzug der Waffen – die Hamilton als Herausgeforderter wählen durfte – präpariert war. Während Burrs Pistole einen konventionellen Abzug besaß, bei der ein Abzugsgewicht von mehr als 5 Kilogramm aufgebracht werden musste, war Hamiltons Waffe auf einen weitaus niedrigeren Widerstand eingestellt, was Hamilton einen unlauteren Vorteil verschafft hätte; diese Manipulation könnte auch erklären, warum sein Schuss, wie Pendleton angab, tatsächlich zu früh gefeuert wurde. Hamiltons Tod wurde in New York mit Bestürzung aufgenommen und sein Trauerzug von Tausenden begleitet. Selbst der Demokratisch-Republikanische Rat der Stadt ordnete einen Trauertag an. Manche dieser Kondolenzbekundungen mögen aber auch durchaus politisch motiviert gewesen sein; so entdeckte etwa DeWitt Clinton erst nach dem Duell seine Wertschätzung für Hamilton und sah seinen Tod wohl als Chance, sich Burrs als eines politischen Rivalen vollends zu entledigen. Als Burr hörte, dass eine Anklage wegen Mordes wahrscheinlich würde, floh er elf Tage nach dem Duell aus New York, zunächst nach Philadelphia, schließlich dann auf die Insel St. Simons vor der Küste Georgias. Im republikanisch dominierten Süden fiel die Trauer um Hamilton deutlich geringer aus; auch war die Praxis des Duellierens hier kaum so verpönt wie teils im Norden, so dass Burr sich hier weiterhin der Anerkennung als Gentleman erfreuen durfte. So gab er schließlich nach einigen Wochen auch den falschen Namen auf, unter dem er bis dahin gereist war, und begab sich auf den Weg in die Hauptstadt – in vielen Städten wurde er von jubelnden Menschenmassen empfangen. Am 5. November erschien er in Washington und nahm zur Bestürzung der föderalistischen Abgeordneten wieder seinen Sitz als Vorsitzender des Senats ein. In New Jersey war unterdessen tatsächlich ein Haftbefehl wegen Mordes gegen ihn ausgestellt worden, doch verlief sich der Prozess mit den Jahren still und klanglos. Die letzten Monate Burrs als Vizepräsident verliefen für ihn aufgrund neuer politischer Entwicklungen recht erfreulich. Die Regierung Jefferson brachte nun die ersten Amtsenthebungsverfahren gegen die föderalistischen „Mitternachtsrichter“ auf den Weg, insbesondere gegen Samuel Chase, einen der neuen Richter des Obersten Gerichtshofs. Da Burr als Senatspräsident die Anhörungen leiten würde und so über eine Schlüsselstellung in der Entscheidung verfügte, buhlte seine Partei wieder um sein Wohlwollen. Drei seiner Vertrauten – sein Stiefsohn Bartow Prevost, sein Schwippschwager Joseph Browne sowie James Wilkinson wurden auf Burrs Vorschlag rasch auf Regierungsposten im Louisiana-Territorium berufen. Die Anhörungen im Fall Chase leitete Burr mit einer von allen Seiten anerkannten Fairness. Am 2. März 1805, einen Tag, nachdem der Senat in einer Abstimmung die Anklage gegen Chase verworfen hatte, hielt Burr eine Abschiedsrede als Vizepräsident, die viele Mitglieder des Senats zu Tränen rührte. Die „Burr-Verschwörung“ Im Jahr 1805 schien die politische Karriere Burrs beendet, auch war er (wieder) vom finanziellen Ruin bedroht. Seine Energien steckte er in den folgenden zwei Jahren in ein Projekt, das als „Burr-Verschwörung“ (Burr Conspiracy) in die Geschichte eingegangen ist. Ziel und Ausmaß dieser mutmaßlichen Verschwörung sind bis heute umstritten. Offenbar hoffte Burr zunächst, eine Streitmacht ins spanische Mexiko zu führen und die spanischen Kolonien in Nord- und Mittelamerika zu „revolutionieren“, also zur Loslösung vom Mutterland zu bewegen. Im Herbst 1807 begann er, eine Flotte von Flussbooten aufzubauen, die ihn und eine Anzahl Getreuer den Mississippi hinab bringen sollte. Burr bekundete stets, seine Absicht sei es einzig gewesen, friedlich Ländereien am Ouachita River, die sogenannten Bastrop lands, zu besiedeln, die er ein Jahr zuvor anteilig gepachtet hatte. Zeitgenossen wie spätere Historiker argwöhnten jedoch, dass Burr kriegerische Absichten verfolgte und sich zu einem Napoleon gleichen Herrscher über ein neugeschaffenes Reich in Mittelamerika aufschwingen wollte, dem er mutmaßlich auch die westlichen Gebiete der Vereinigten Staaten wie das Louisiana-Territorium und Bundesstaaten wie Tennessee und Kentucky einverleiben wollte – dieser Vorwurf war es, der 1807 zur Anklage wegen Verrats führte. Chronologie Burrs Plan, Mexiko der spanischen Krone zu entreißen, datierte mindestens auf das Jahr 1796, als er sich dahingehend gegenüber John Jay erklärte. Auch Hamilton hatte zur Zeit des Quasi-Kriegs 1798 die Eroberung Floridas und des Louisiana-Territoriums sowie anschließend Mexikos geplant und dafür sogar eine Armee aufgestellt, was ihm die Spottnamen Bonaparte und Little Mars eintrug. Burrs Pläne wurden jedoch erst nach der Westexpansion der Vereinigten Staaten durch den Kauf des Louisiana-Territoriums 1803 konkret. Seitdem schwelte ein Streit wegen des ungeklärten Grenzverlaufs zwischen Louisiana und Neuspanien, ein Krieg mit Spanien schien unausweichlich. Burr hoffte offenbar, sich im kommenden Konflikt mit oder ohne Unterstützung der amerikanischen Regierung als Feldherr hervortun oder sich zumindest als Freibeuter bereichern zu können. Im Jahr 1804 unterredete er sich über diese Pläne mit James Wilkinson, seit 1800 Oberkommandierender der amerikanischen Armee, der 1805 auf Burrs Empfehlung auch zum Gouverneur des nördlichen Louisiana-Territoriums ernannt wurde. Wilkinson sollte im geplanten Feldzug offenbar Burrs Vizekommandant werden und war in der Folge neben ihm die zentrale Figur in der sich entwickelnden Verschwörung. Einige Zeugen behaupteten sogar später, Wilkinson sei deren eigentlicher Kopf gewesen. Burr wusste jedoch nicht, dass Wilkinson seit 1787 als Spion im Dienst der spanischen Krone stand und regelmäßig das Außenministerium in Madrid und die Funktionäre in den spanischen Kolonien unterrichtete. Mindestens um das Projekt zu finanzieren, versuchte Burr zunächst, Großbritannien, das zu dieser Zeit auf einen Krieg mit Spanien (den dritten Koalitionskrieg) zusteuerte, für den Invasionsplan zu gewinnen. Im März 1805 nahm er Kontakt zu Anthony Merry auf, dem britischen Gesandten in Washington. Merrys später in britischen Archiven gefundenen Depeschen nach London belasten Burr auf den ersten Blick schwer: Burr habe ihn, so Merry in einem Brief vom 29. März 1805, um finanzielle und militärische Unterstützung für eine geplante Revolte der Kreolen Louisianas ersucht, die auch einen Feldzug gegen Mexiko, die Abspaltung der westlichen Territorien der USA und die Schaffung eines unabhängigen Staates herbeiführen sollte. Die Bemühungen blieben fruchtlos und hatten allenfalls zur Folge, dass der spanische Gesandte Marqués de Casa Yrujo, dem diese Unterredungen nicht verborgen blieben, Burr nun für einen britischen Spion hielt. Im April 1804 brach Burr dann zu einer Reise in den amerikanischen Westen auf, vorgeblich um den Fortschritt einer Kanalbaugesellschaft in Ohio zu begutachten, an der er Anteile erworben hatte. Auf vielen zu seinen Ehren abgehaltenen Empfängen äußerte er sich jedoch freimütig über seine Pläne zu einer Invasion Mexikos. Die Presse berichtete ausgiebig darüber, und auch Jefferson wurde durch Korrespondenten stets über Burrs Aktivitäten auf dem Laufenden gehalten. Über Pittsburgh reiste Burr ins Ohiotal, wo er den emigrierten irischen Adligen Harman Blennerhassett kennenlernte, der in der Wildnis einer Flussinsel im Ohio River ein herrschaftliches Anwesen errichtet hatte. Blennerhassett ließ sich von Burr für das Projekt einspannen, Blennerhassett Island sollte der Ausgangspunkt der Expedition werden. Weitere Geldgeber und Unterstützer fand Burr auf seiner weiteren Reise flussabwärts bis nach New Orleans, darunter den späteren Präsidenten Andrew Jackson. Während Burrs Tour durch den Westen erschien in der föderalistischen Tageszeitung Gazette of the United States ein landesweit oft nachgedrucktes anonymes Schreiben, das Burr vorwarf, die Sezession der westlichen Bundesstaaten und Louisianas zu betreiben. Verfasser war möglicherweise der Marqués de Casa Yrujo selbst, der Burr als Verräter am eigenen Land darstellen wollte, um die geplante Invasion zu vereiteln. Angesichts dessen erscheint die Wendung verwunderlich, die die „Verschwörung“ nach Burrs Rückkehr nach Washington im Herbst 1805 nahm. Burr entschied sich zu einem gewagten Bluff und nahm über einen Vertrauten, den Senator Jonathan Dayton, nun Kontakt zu Yrujo auf. Gegen eine Geldzahlung würde er Yrujo seine tatsächlichen Pläne offenbaren. Yrujo ging auf das Angebot ein und entlockte Burr gegen Zahlung von 2500 Dollar und dem Versprechen weiterer Gelder die Aussage, er plane nicht etwa einen Angriff auf Neuspanien, sondern die gewaltsame Erstürmung der Hauptstadt Washington sowie die Plünderung ihrer Banken und Waffenarsenale, um mit der Beute nach dem Rückzug nach Westen die Errichtung eines unabhängigen Staates in Louisiana zu finanzieren. Da aber Wilkinson das Außenministerium in Madrid unterdessen darüber unterrichtet hatte, dass Burr seine Angriffspläne gegen Spanien keineswegs aufgegeben hatte, erhielt Burr auf Weisung des spanischen Ministerpräsidenten Pedro Ceballos Guerra nach der ersten keine weiteren Zahlungen aus den spanischen Kassen. Die Expedition trieb Burr im Sommer und Herbst des Jahres 1806 voran. Auf und um Blennerhassett Island ließ er eine Flotte von Flussbooten bauen, die seine Gefolgschaft auf dem Ohio und dem Mississippi flussabwärts gen New Orleans tragen sollte. Im ganzen Land versuchten er und seine Mittelsmänner, junge Männer für sein Projekt anzuwerben, wobei er sie über die konkreten Ziele des Unterfangens stets im Unklaren ließ. Im Westen kursierten zahllose Gerüchte und fanden auch bald den Weg nach Washington. Hamilton Daveiss, der föderalistische Bundesstaatsanwalt von Kentucky, unterrichtete Jefferson in mehreren Depeschen über Burrs Umtriebe und warf ihm darin Umsturzpläne und Landesverrat vor, doch reagierte der Präsident über Wochen nicht. Im Oktober und nochmals im November 1806 brachte Daveiss Burr in Frankfort, der Hauptstadt Kentuckys, vor Gericht, doch konnte keine der beiden zu den Prozessen einberufenen grand juries ein rechtswidriges Verhalten feststellen, so dass Burr, verteidigt von Henry Clay, nach mehrwöchigen Verhandlungen als freier Mann den Gerichtssaal verließ und sich auf den Weg machte, um zu seiner Expeditionsflotte zu stoßen. Diese hatte in der Nacht vom 10. auf den 11. Dezember überstürzt Blennerhassett Island verlassen und sich flussabwärts begeben – kurz zuvor hatte Ohios Gouverneur Edward Tiffin nach alarmistischen Berichten den Kongress seines Staates wissen lassen, Burr habe bis zu 4.000 Mann unter Waffen und müsse aufgehalten werden; die Miliz des Staates wurde beordert, Blennerhassett Island zu durchsuchen. Unterdessen hatte sich auch Wilkinson gegen Burr gewandt. Im Oktober 1806 hatten spanische Truppen einen Vorstoß auf amerikanisch beanspruchtes Gebiet bei Natchitoches unternommen, der fast zum Casus Belli geworden wäre, hätte nicht Wilkinson selbst mit dem spanischen Befehlshaber eigenmächtig eine einstweilige Abmachung über den Grenzverlauf, den so genannten Neutral Ground Treaty, ausgehandelt. Da nun der Krieg abgewendet war, von dessen Ausbruch der Erfolg von Burrs und Wilkinsons Verschwörung abhing, so sie denn einen Angriff auf Spanien zum Ziel hatte, suchte Wilkinson die neue Situation zu seinen Gunsten zu lenken. In einem Brief alarmierte er Jefferson über eine angeblich bevorstehende Invasion New Orleans’ durch Burrs Flotte. Er begab sich nach New Orleans, ließ dort die Verteidigungsanlagen verstärken, Kanonenboote auf dem Mississippi auffahren und setzte eine Belohnung auf die Ergreifung Burrs aus. Sein Vorstoß, das Kriegsrecht auszurufen, was ihm als Oberkommandierendem der Streitkräfte auch die vollständige Kontrolle über die Rechtsprechung gesichert hätte, scheiterte nur an den Bedenken William C. C. Claibornes. Die Unsicherheit über die Lage verschärfte sich, als Jefferson am 27. November den Brief Wilkinsons erhielt, daraufhin sämtliche Amtsträger in den westlichen Staaten vor der Verschwörung warnte und zu erhöhter Wachsamkeit aufrief. Gegenüber dem Kongress erklärte Jefferson voreilig, dass Burr ohne jeden Zweifel der Verschwörung schuldig sei. Während Wilkinson sich so Jefferson gegenüber zum Retter New Orleans’ vor einem Burrschen Angriff aufspielte, versuchte er zugleich, sich gegenüber den Spaniern in ein günstiges Licht zu rücken: Dem Vizekönig zu Mexiko-Stadt stellte er für geleistete Dienste die Summe von 121.000 Dollar in Rechnung, da er einen kostspieligen Krieg abgewendet und die spanischen Besitzungen vor einem Burrschen Angriff gesichert habe. Während Burr im Dezember mit seiner Flotte von vier Booten und kaum 100 Mann langsam flussabwärts vorstieß, verbreitete sich vielerorts Panik. Bürger verbarrikadierten sich entlang des Flusslaufs in ihren Häusern, in Kentucky wurde die Miliz in Bereitschaft versetzt. Im Januar 1807 ging Burr nahe dem heutigen Natchez an Land, um sich in Washington, der Hauptstadt des Mississippi-Territoriums, einer neuerlichen Gerichtsklage zu stellen. Die einberufene Grand Jury konnte wiederum kein Fehlverhalten Burrs feststellen, doch ordnete der vorsitzende Richter dennoch an, Burr in Gewahrsam zu nehmen. Um nicht in Wilkinsons Hände zu fallen, entschied sich Burr zur Flucht. Am 18. Februar wurde er jedoch bei Fort Stoddert im heutigen Alabama festgenommen und schließlich nach Richmond, Virginia verbracht, wo die Regierung Jeffersons einen Prozess gegen ihn angestrengt hatte. Der Hochverratsprozess 1807 Burr wurde zum einen wegen seines mutmaßlich geplanten Angriffs auf die spanischen Kolonien, der Filibusterei und damit eine Verletzung des Neutrality Acts des Jahres 1794 dargestellt hätte, eines „schweren Fehlverhaltens“ (high misdemeanor) bezichtigt, zum anderen auch des Hochverrats (nach der Verfassung Verrat) beschuldigt, da er mindestens das amerikanische New Orleans habe angreifen wollen, wenn nicht sogar einen sezessionistischen Aufstand im amerikanischen Westen geplant habe – für das erstere Delikt drohte ihm eine lange Haftstrafe, für den Verrat die Todesstrafe. Die Entscheidung, den Prozess dem Bundesbezirksgericht für den Rechtsbezirk Virginia anzutragen, gründete sich auf die enge Definition des Strafbestands des Verrats im amerikanischen Rechtssystem. Als einziges Verbrechen überhaupt ist der Verrat in der Bundesverfassung definiert: Der Anklage stellte sich das Problem, wo Burr eine solche „offenkundige Handlung“ begangen haben sollte – im Verlauf seiner Eskapaden im Westen hatten drei verschiedene Jurys ihm kein Vergehen nachweisen können. Am vielversprechendsten erschien der Anklage, als „offenkundige Handlung“ die überstürzte Flucht von Burrs Flotte von Blennerhassett Island am 10. Dezember 1806 zu inkriminieren. Da die Insel zu Virginia gehörte, wurde der Fall also dem Bezirksgericht in Richmond übertragen. Als vorsitzende Richter der Bezirksgerichte fungierten zu dieser Zeit jedoch die Richter des Obersten Gerichtshofs nach einem Rotationsprinzip. Im Fall United States v Burr zeitigte dies die pikante Situation, dass John Marshall dem Gericht vorsitzen würde. Marshall, der als Oberster Richter der Vereinigten Staaten Burr sechs Jahre zuvor als Vizepräsidenten vereidigt hatte, war Jefferson seit Langem in einer innigen wie gegenseitigen Hassbeziehung verbunden. Jefferson selbst war die treibende Kraft hinter der Anklage, wenn er auch vor Gericht nicht selbst erschien. Während des knapp viermonatigen Prozesses schrieb er dem Ankläger der Bundesregierung, dem District Attorney George Hay, fast täglich Briefe mit detaillierten Anweisungen zum Vorgehen. Die Verhandlungen begannen am 22. Mai 1807. In Richmond fanden sich so viele Schaulustige ein, dass sich die Einwohnerzahl der Stadt auf 10.000 verdoppelte, am Stadtrand entstanden ganze Zeltstädte. In vielerlei Hinsicht waren die Dimensionen des Verfahrens beispiellos: Die Regierung gab insgesamt mehr als 100.000 Dollar für die Anklage aus, ließ mehr als 140 Zeugen von Maine bis Louisiana auftreiben und nach Richmond bringen. Burr wurde von sechs namhaften Anwälten verteidigt, darunter Charles Lee und Luther Martin; nicht einer von ihnen verlangte einen Lohn für seine Dienste. Der Prozessverlauf schuf auch einige Präzedenzfälle der amerikanischen Rechtsgeschichte: So verlangte die Verteidigung, Jefferson mit einer Subpoena zu belegen, um an einschlägige Regierungsdokumente zu kommen, die Burr mutmaßlich entlasten könnten. John Marshall gab dem Vorstoß nach einer hitzigen Kontroverse darüber, ob man den Präsidenten der Vereinigten Staaten höchstselbst vorladen könne, statt. Jeffersons Reaktion hierauf ist von Rechtshistorikern unterschiedlich bewertet worden: Er wies zwar an, die Archive nach den Dokumenten durchsuchen zu lassen, kommunizierte dies jedoch nur seinem Ankläger Hay, nicht jedoch Marshall, was auch als mutwillige Missachtung des Gerichts gewertet werden kann. Das zentrale Beweisstück in dem Prozess war ein verschlüsselter Brief (der so genannte cipher letter), den Burr 1806 angeblich Wilkinson geschrieben haben soll und in dem tatsächlich davon die Rede ist, die Westterritorien der USA zum Aufstand zu bewegen. Als Wilkinson als Zeuge vernommen wurde, musste er jedoch vor der Jury zugeben, dass er den Wortlaut des vorgelegten Briefes selbst manipuliert hatte, um seine eigene Beteiligung an der mutmaßlichen Verschwörung zu vertuschen. Wer den cipher letter tatsächlich geschrieben hat, ist bis heute Gegenstand der historischen Debatte; Milton Lomask verdächtigt in seiner Burr-Biografie (1982) Burrs Mitverschwörer Jonathan Dayton als Autor. Als sich dieses Beweisstück als nicht stichhaltig erwies, konzentrierte sich die Anklage darauf, durch Zeugenaussagen über die Nacht vom 10. Dezember die „offenkundige Handlung“ zu belegen, die den Verrat ausmachte, doch krankte die Argumentation daran, dass Burr zum fraglichen Zeitpunkt gar nicht selbst auf der Insel zugegen war. Hay insistierte schließlich, dass schon das Ausheben von Truppen zum verräterischen Zweck den Verrat ausmache, selbst wenn der Verrat nicht in die Tat umgesetzt würde, doch ließ Marshall die bloße vermutete verräterische Absicht nicht als „offenkundige Handlung“ gelten. Am 1. September, lange bevor alle Zeugen vernommen waren, ließ er die Geschworenen zusammentreten. Die Jury verkündete darauf, der Vorwurf der Verschwörung sei „nicht bewiesen“ (not proved), Marshall notierte das Urteil als „nicht schuldig“ (not guilty). Was hatte Burr tatsächlich vor? Die Frage, was Burr mit seiner kleinen Flotte tatsächlich erreichen wollte, stellt Historiker bis heute vor ein Rätsel, schon da Burr so vielen verschiedenen Personen so viele unterschiedliche und widersprüchliche Dinge über seine Ziele mitteilte. Jede Vermutung über seine tatsächlichen Absichten muss Spekulation bleiben. Henry Adams sichtete als erster Historiker die Akten zu Burr in den europäischen Archiven und nahm vieles von dem, was Burr die englischen und spanischen Gesandten wissen ließ, so etwa den angeblich geplanten Angriff auf die Hauptstadt Washington, für bare Münze; spätere Historiker haben hingegen verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Burr sich etwa bei Anthony Merry eher mit taktischen Lügen finanzielle Unterstützung für sein Projekt akquirieren wollte. Auch im 20. Jahrhundert kamen noch einige Historiker der „Burr-Verschwörung“ zu dem Schluss, dass Burr schuldig im Sinne der Anklage war, so etwa Thomas Abernathy (1954) und Francis F. Beirne (1959). Auch Sean Wilentz (2005) teilt die Ansicht, Burr habe die westlichen Staaten zur Sezession treiben wollen, und schätzt die Verschwörung, auch wenn sie auf den ersten Blick wie eine „verwickelte Farce mit einem riesigen Reigen sehr unwahrscheinlicher Charaktere“ scheine, als reale Gefahr für die amerikanische Demokratie ein, insbesondere weil sie die unsichere Loyalität ihrer Militärs (wie Wilkinson) offenbart habe. Nancy Isenberg bestärkte in ihrer Burr-Biografie (2007) die Theorie, dass Burrs Expedition vielmehr als profitable Kaperfahrt geplant war – wäre der Krieg gegen Spanien tatsächlich ausgebrochen, so hätte er vollkommen rechtens spanische Besitztümer angreifen und plündern dürfen; im Friedensfall hätte ebendies Piraterie bedeutet. Mehr oder minder legale Formen der Freibeuterei waren in der Region zu dieser Zeit allgegenwärtig; mit dem Ausbruch der Napoleonischen Kriege und später der lateinamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen machten in der Karibik und dem Golf von Mexiko zahllose Kapitäne Jagd auf Schiffe feindlicher Nationen. Roger G. Kennedy (2002) vermutet, dass Burr durchaus eine Invasion Neuspaniens plante, doch sei es sein Ziel gewesen, dieses Territorium für die USA zu erobern. Ironisch erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Angliederung von Texas an die Vereinigten Staaten 30 Jahre nach der „Burr-Verschwörung“ ganz nach dem Plan verlief, der Burr noch als Verrat angelastet wurde: Amerikanische Siedler, Abenteurer und Landspekulanten riefen hier 1836 einen unabhängigen Staat auf mexikanischem Boden aus und provozierten so einen Krieg, doch gingen die Protagonisten dieser Episode wie Sam Houston und Davy Crockett als Helden in die amerikanische Geschichtsschreibung ein. Als Burr kurz vor seinem Tod von dieser „texanischen Revolution“ hörte, soll er ausgerufen haben: „Seht ihr? Ich hatte recht! Ich war nur 30 Jahre zu früh da! Was bei mir vor 30 Jahren Verrat war, ist heute Patriotismus!“ Peter Charles Hoffer (2008) vermutet hinter Burrs Expedition hingegen eine Art komplizierten Anlagebetrug: Mit immer großspurigeren Versprechungen habe Burr immer mehr Interessierte dazu verleitet, ihm immer mehr Geld zu leihen. Die Expedition wäre demnach nicht mehr als eine Staffage gewesen, die ihr Ziel, was auch immer es vorgeblich war, gar nicht erreichen sollte. Dass sich immer neue Gerüchte etwa über das Ausmaß seiner Invasionspläne oder die Größe seiner „Armee“ verbreiteten, wäre so zunächst durchaus in Burrs eigenem Interesse gewesen, da er so potentiellen Anlegern (wie etwa Blennerhassett) umso leichter den wahrscheinlichen Erfolg seines Vorhabens vorgaukeln konnte. Joseph Wheelan (2005) schließlich sieht den Prozess gegen Burr als Teil eines rücksichtslosen Feldzugs Jeffersons gegen seine politischen Gegner, der neben Burr vor allem die föderalistischen Richter der Bundesgerichte traf. Exil in Europa Nach dem Prozess sah sich Burr einer feindlichen Öffentlichkeit gegenüber: Als er etwa auf der Heimreise nach New York in Baltimore übernachten wollte, fand sich auf den Straßen ein Mob von rund 1500 aufgebrachten Bürgern ein, der Strohpuppen von Burr, Blennerhassett, Martin und Marshall auf einem Galgen aufknüpfte und dann verbrannte – Burr floh überstürzt aus der Stadt. Die nächste Zeit verbrachte er zurückgezogen bei Freunden, bis er sich schließlich im Juni 1808 nach England einschiffte. Seine vier Jahre in Europa hielt er in einem detaillierten Tagebuch fest, das er für seine Tochter Theodosia schrieb. Neben seinen zahlreichen amourösen Abenteuern schildert er darin, wie er für sein Projekt – das er stets nur vage als „X“ bezeichnet – vergeblich die Unterstützung europäischer Mächte suchte. Aufschlussreich für die konkrete Form von „X“ sind die Erinnerungen Jeremy Benthams, mit dem Burr zu seiner Zeit in London eine enge Freundschaft schloss. Burr, so Bentham, hatte „tatsächlich vor, sich zum Kaiser von Mexiko aufzuschwingen.“ Zunächst versuchte Burr sein Glück beim britischen Außenminister Viscount Castlereagh, doch war der Zeitpunkt für das Vorhaben, Großbritannien zu einer Eroberung der spanischen Kolonien zu erwärmen, denkbar ungünstig: Kurz zuvor hatte in Spanien der Volksaufstand gegen die napoleonische Herrschaft begonnen, der bald tatkräftig von den Briten unterstützt wurde und schließlich in den Halbinselkriegen mündete. Castlereagh wies Burrs Ansinnen ab, und am 4. April 1809 wurde Burr dann mitten in der Nacht festgenommen und darüber informiert, dass er das Land umgehend zu verlassen habe; wahrscheinlich kamen die britischen Behörden mit dieser Aktion einem Wunsch des spanischen Botschafters nach. Ursprünglich sollte Burr nach Helgoland deportiert werden, doch konnte er aushandeln, dass er stattdessen nach Schweden ausreisen durfte. Nach einem halben Jahr in Schweden und Dänemark setzte Burr seine Hoffnungen darauf, Napoleon für seine Pläne zu begeistern. Das Vorhaben scheiterte lange schon daran, dass ihm die französischen Behörden keine Visa für die von ihnen kontrollierten Gebiete ausstellen wollten. So musste er zwei Monate in Altona ausharren, bis ihm der französische Konsul Fauvelet de Bourrienne den Zutritt nach Hamburg und die Weiterreise nach Frankfurt ermöglichte, wo er noch einige Wochen warten musste, bis er in Mainz sein Visum für Frankreich abholen konnte. Am 16. Februar 1810 erreichte er schließlich Paris. Hier stieß er auf gemischte Reaktionen: Während es der immer noch einflussreiche ehemalige Außenminister Talleyrand ablehnte, Burr zu empfangen, da Burr ihm als Mörder des „größten Mannes unserer Epoche“ – Hamilton – galt, empfing ihn der Amtsinhaber Nompère de Champagny mehrmals und schenkte ihm durchaus Gehör. Aus den französischen Archiven geht hervor, dass Burr zwar eine Wiederangliederung Louisianas an Frankreich vorschlug, andererseits aber auch, dass er mitnichten eine Zerschlagung der Vereinigten Staaten forderte, wie ihm oft vorgeworfen wurde. Burr fertigte ein detailliertes Exposé seiner Pläne für Napoleon an, doch ist nicht bekannt, ob es jemals die Beachtung des Kaisers fand. Nach einiger Zeit erhielt Burr keine Antworten mehr auf seine Anfragen beim Ministerium – offenbar schenkte Napoleon den Gerüchten Glauben, dass Burr in die Pläne des im Sommer 1810 abgesetzten und darauf geflohenen Polizeiministers Joseph Fouché verwickelt war, hinter dem Rücken des Kaisers in Geheimverhandlungen einen Frieden mit Großbritannien herbeizuführen. Hiermit hatten sich Burrs Pläne zur Eroberung Spanisch-Amerikas endgültig zerschlagen. In der Folge lebte er in zunehmender Armut und ständig auf der Flucht vor Gläubigern in Paris. Eine Ausreise verweigerten ihm die französischen Behörden, ohne weitere Gründe anzugeben. Als er sich an die amerikanische Gesandtschaft wandte, um dort einen Pass zu beantragen, mit dem er ausreisen zu können hoffte, so wurde ihm auch dies verwehrt – der zuständige Konsul in Paris war Alexander MacRae, der vier Jahre zuvor einer der Anwälte der Anklage im Prozess gegen Burr gewesen war. Erst im Sommer 1811 konnte Burr in die Niederlande ausreisen, von wo aus er sich nach England begab, obwohl er dort noch Persona non grata war. Seine Rückreise in die USA drohte zuletzt an seiner bloßen Armut zu scheitern. Im April 1812 sprach er schließlich beim Alien Office vor und erklärte seine Lage. Ohne Zögern stellte ihm die Behörde einen Scheck aus und arrangierte seine Ausreise auf dem nächstmöglichen Segler. Am 4. April 1812 betrat Burr, getarnt mit einer Perücke und einem Schnurrbart, unter dem falschen Namen „Adolphus Arnot“ wieder amerikanischen Boden. Rückkehr nach New York, letzte Jahre und Tod Nachdem Burr erfahren hatte, dass ein Verfahren, das 1808 gegen ihn in Ohio angestrengt werden sollte, ausgesetzt worden war, legte er seine Verkleidung ab. Er lieh sich 10 Dollar und eröffnete in New York wieder eine Anwaltskanzlei. Sein Ruf als fähiger Jurist hatte alle Skandale überstanden, und so konnte er dank zahlreicher Aufträge bald wieder über ein kommodes Einkommen verfügen – allerdings sollte er noch bis zu seinem Lebensende viel Zeit darauf verwenden müssen, alte und neue Gläubiger auf Abstand zu halten. Im Jahr seiner Rückkehr erlitt er jedoch auch persönliche Schicksalsschläge: Im Juli verstarb sein elfjähriger Enkelsohn. Wenige Monate später wollte er ein Wiedersehen mit seiner Tochter Theodosia einleiten, deren Gatte Joseph Alston 1812 zum Gouverneur von South Carolina gewählt worden war. Auf dem Weg von Charleston nach New York verschwand ihr Segler, die Patriot, jedoch spurlos. Es ist plausibel, dass das Schiff in einem Sturm sank, doch hielten sich in den folgenden Jahren hartnäckig Gerüchte, dass Piraten (verdächtigt wurde etwa Dominique You) das Schiff gekapert und Theodosia entweder ermordet oder entführt hätten. Noch im 20. Jahrhundert hat ihr Verschwinden vielfältige Spekulationen beflügelt und Stoff für einige Piratenromanzen geliefert. Der Verlust traf Burr schwer, doch suchte er in den nächsten Jahren Trost darin, immer neue Kinder als Mündel in seinen Haushalt aufzunehmen, darunter die drei Stieftöchter seines verstorbenen Klienten Medcef Eden, die ihn auch als „Papa“ titulierten. Bei einigen der anderen Kinder, die er um sich scharte, darunter etwa Aaron Columbus Burr (1808–1882), ist nachgewiesen oder zumindest wahrscheinlich, dass er tatsächlich ihr leiblicher Vater war; bis ins hohe Alter folgte Burr der nicht unbegründete Ruf, ein „Mann der Frauen“ zu sein. In seinem Testament vermachte er 1836, im Alter von 80 Jahren, einen Teil seines Vermögens zweien seiner Töchter, von denen eine nur zwei Jahre alt war; sein Biograph James Parton merkt dazu an, Burrs Vaterschaft müsse als „physiologisch unmöglich“ zurückgewiesen werden. Der Ruch, der Mörder Hamiltons und ein Verräter am eigenen Land zu sein, verfolgte ihn bis an sein Lebensende. Auf der Straße wurde er oft angefeindet, Mütter zeigten ihn ihren Kindern auf der Straße als Beispiel dafür, was aus den „bösen Männern“ wird. Als Burr einmal auf einer Reise aufs Land ein fahrendes Wachsfigurenkabinett besichtigte, stellte er fest, dass in einem der Tableaus sein Duell mit Hamilton dargestellt war. Unterschrieben war die Szene mit den Versen „O Burr, o Burr, was hast du bloß getan?/ Du hast den großen Hamilton tot geschossen/ Verstecktest dich hinter einem Dornenbusch/ und hast ihn mit einer großen Pistole tot geschossen!“ Am 1. Juli 1833, also im Alter von 77 Jahren, heiratete Burr ein zweites Mal. Die Ehe sorgte für einiges Aufsehen, war doch seine Braut die 58-jährige Witwe Eliza Bowen Jumel, die ihre Laufbahn in jungen Jahren als Prostituierte begonnen hatte, mit einem ausgeprägten Geschäftssinn ein Vermögen von mehreren Millionen Dollar angehäuft hatte und nun als reichste Frau der Vereinigten Staaten galt. Kaum war die Ehe geschlossen, begann Burr, das Geld seiner Frau auszugeben, so dass Jumel bald auf Auflösung der Ehe klagte. Als Scheidungsanwalt engagierte sie pikanterweise Alexander Hamilton Jr. Am 14. September 1836 wurde die Ehe rechtskräftig geschieden; am selben Tag verstarb Aaron Burr in seinem Hotel auf Staten Island. Er wurde auf dem Friedhof des Princeton College neben seinem Vater und seinem Großvater beigesetzt. Bewertungen Bis heute ist Burr eine der umstrittensten Gestalten der amerikanischen Geschichte; noch 2008 kürte ihn etwa die Zeitschrift Time zum „schlechtesten Vizepräsidenten“ der amerikanischen Geschichte. Obwohl er bei dem Verratsprozess 1807 freigesprochen wurde, gilt er im öffentlichen Bewusstsein bis heute neben Benedict Arnold als Inbegriff des Verräters am eigenen Land. Dazu hat vor allem im 19. Jahrhundert beigetragen, dass eine der blumigsten Reden der Anklage beim Prozess in Richmond, William Wirts Who is Blennerhassett?, als Musterbeispiel der Redekunst in zahlreiche Schulbücher aufgenommen wurde. Generationen amerikanischer Schulkinder lernten Burr darin als „Schlange“ kennen, die in den friedlichen „Garten Eden“ eindrang, den sich Harman Blennerhassett auf seiner Flussinsel im Ohio geschaffen hatte. Die Darstellung Burrs als teuflische Macht zieht sich bis in das 20. Jahrhundert; so wurde 1931 ein Drama Booth Tarkingtons mit dem Titel Colonel Satan, or A Night in the Life of Aaron Burr am Broadway uraufgeführt. Besonders ins Gewicht fällt dabei, dass Burr zu Lebzeiten mit vielen der „Gründerväter“ – Washington, Jefferson und Hamilton – verfeindet war, die im kollektiven Bewusstsein quasi als Heilige der amerikanischen „Zivilreligion“ präsent sind. Im 19. Jahrhundert wurde Burrs Leben in einer Vielzahl von oft reißerischen oder rührseligen Gedichten, Dramen, Essays, Pamphleten und Romanen verarbeitet, zumeist unvorteilhaft. Wiederkehrende Tropen sind dabei neben dem Sündenfall die Darstellung Burrs als Kain, als amerikanischer Catilina oder aber als unersättlicher Lüstling. Verschiedentlich musste er als „Held“ in deutlich pornografischen Romanen herhalten (so etwa im anonymen The Amorous Intrigues and Adventures of Aaron Burr, 1861). Im 20. Jahrhundert ist die Bearbeitung der „Burr-Verschwörung“ durch Eudora Welty (First Love, 1943) und Gore Vidal (Burr, 1973) zu nennen. Vidals Roman ist dabei als frühes Beispiel eines gewandelten, positiven Burr-Bildes hervorzuheben. Vidal, der für den Roman intensive Recherchen in historischen Archiven betrieb, deutet an, dass es der Vorwurf eines inzestuösen Verhältnisses mit seiner Tochter Theodosia war, der Burr Hamilton zum Duell fordern ließ. Das Urteil der meisten Historiker über Burr fällt negativ aus. Henry Adams schrieb 1881 offenbar eine Biografie Burrs, verbrannte das Manuskript aber, nachdem sein Verleger eine Veröffentlichung zunächst abgelehnt hatte. Die Burr-Verschwörung nimmt jedoch großen Raum in Adams’ neunbändiger History of the United States During the Administrations of Thomas Jefferson and James Madison (1889–1891) ein, die wegweisend für die Historie der frühen Republik war. Darin stellt Adams Burr durchgehend als skrupellosen Opportunisten dar und bezeichnet ihn an einer Stelle etwa als „Mephistopheles der Politik.“ Zu den Verteidigern Burrs zählen vor allem seine Biografen. Kaum ein Jahr nach seinem Tod veröffentlichte sein langjähriger Freund Matthew L. Davis eine erste apologetische Burr-Biografie, auch James Parton (1892) stellte Burr durchaus wohlwollend dar. In der zweibändigen Standardbiografie von Milton Lomask (1979–1982) werden viele der gegen Burr erhobenen Vorwürfe relativiert oder entkräftet, ebenso in der jüngsten Biografie von Nancy Isenberg (2007). Die erstmalige Veröffentlichung der gesammelten Schriften Burrs 1978 (auf Mikrofilm) bzw. 1983 (gedruckt) durch eine Historikergruppe um Mary-Jo Kline hat wenig dazu beitragen können, die zahlreichen Ungereimtheiten in Burrs Biografie aufzuklären. Viele seiner Papiere verschwanden mit seiner Tochter Theodosia im Atlantik, zahlreiche weitere Dokumente wurden von Matthew L. Davis, zugleich Biograf und Nachlassverwalter Burrs, vernichtet. Während Historiker bei ihrer Arbeit zu anderen „Gründervätern“ auf umfangreiche Quellensammlungen zurückgreifen können, nehmen Burrs gesammelte Schriften nur zwei Bände ein. Viele von ihnen handeln von Geldgeschäften, Landspekulationen und Postenschacherei. Der Historiker Gordon S. Wood konnte nicht einen Brief darin ausmachen, in dem auch nur der Ansatz einer politischen Philosophie erkennbar wäre, auch nicht ein Dokument, aus dem Burrs Haltung zur Verfassungsfrage oder zu Hamiltons Wirtschaftspolitik der 1790er-Jahre hervorginge. Politik schien für Burr ein Spiel zu sein, aus dem sich – in seinen eigenen Worten – „Spaß, Ehre und Profit“ (fun, honor & profit) schlagen ließ. Hierin sieht Wood den gravierenden Unterschied zu den anderen Gründervätern und Burrs „eigentlichen Verrat“: Während etwa Jefferson oder Hamilton Politik ganz als tugendhaften, selbstlosen Dienst zum Wohle der Nation darstellten, scheint Burr resistent gegen diese hehre, aus der Aufklärung geborene Ideologie gewesen zu sein. Durch sein prinzipienloses und oft eigennütziges Verhalten habe Burrs politischer Aufstieg für Jefferson und Hamilton gleichermaßen nichts geringeres als eine Gefahr für das „republikanische Experiment,“ mithin für alle in der Revolution erkämpften Freiheiten bedeutet. Literatur Quellen Mary-Jo Kline und Joane W. Ryan (Hrsg.): Political Correspondence and Public Papers of Aaron Burr. 2 Bände. Princeton University Press, 1983. Reports of the Trials of Colonel Aaron Burr. 2 Bände. Hopkins and Earle, Philadelphia 1808. (Digitalisate: Band I; Band II) Matthew L. Davis (Hrsg.): The Private Journal of Aaron Burr, During His Residence of Four Years in Europe; With Selections from His Correspondence. 2 Bände. Harper & Brothers, New York 1838. (Digitalisate: Band I, Band II) Sekundärliteratur Thomas Abernathy: The Burr Conspiracy. Oxford University Press, New York 1954. Henry Adams: History of the United States of America During the First Administration of Jefferson. 2 Bände. Charles Scribner’s Sons, New York 1903. Francis F. Beirne: Shout Treason: The Trial of Aaron Burr. Hastings, New York 1959. Matthew L. Davis: Memoirs of Aaron Burr. With Miscellaneous Selections from his Correspondence. 2 Bände. Harper & Brothers, New York 1837. (Digitalisate: Band I; Band II) Thomas Fleming: Duel. Alexander Hamilton, Aaron Burr, and the Future of America. Basic Books, New York 1999. Marie B. Hecht und Herbert S. Parmet: Aaron Burr: Portrait of an Ambitious Man. Macmillan, New York 1967. Peter Charles Hoffer: The Treason Trials of Aaron Burr. University of Kansas Press, Lawrence 2008, ISBN 978-0-7006-1591-9. Nancy Isenberg: Fallen Founder. The Life of Aaron Burr. Viking, New York 2007, ISBN 978-0-670-06352-9. Roger G. Kennedy: Burr, Hamilton, and Jefferson: A Study in Character. Oxford University Press, New York 2000, ISBN 0-19-514055-9. James E. Lewis Jr.: The Burr Conspiracy: Uncovering The Story of an Early American Crisis. Princeton University Press, Princeton NJ 2017, ISBN 978-0-691-17716-8. Milton Lomask: Aaron Burr. 2 Bände: Bd. I: The Years from Princeton to Vice President 1756–1805. Farrar, Straus and Giroux, New York 1979. Bd. II: The Conspiracy and Years of Exile 1805–1836. Farrar, Straus and Giroux, New York 1982. Buckner F. Melton: Aaron Burr: Conspiracy to Treason. John Wiley and Sons, New York 2001. R. Kent Newmyer: The Treason Trial of Aaron Burr: Law, Politics, and the Character Wars of the New Nation. Cambridge University Press, Cambridge 2012, ISBN 978-1-107-02218-8. Charles J. Nolan: Aaron Burr and the American Literary Imagination. Greenwood Press, Westport 1980. James Parton: The Life and Times of Aaron Burr. Mason Brothers, New York 1858. (Digitalisat) Arnold A. Rogow: A Fatal Friendship: Alexander Hamilton and Aaron Burr. Hill and Wang, New York 1998. Nathan Schachner: Aaron Burr: A Biography. A.S. Barnes, New York 1961. Romane Gore Vidal: Burr. A Novel (1973), dt. Burr, übersetzt von Günter Panske, Goldmann, München 2001, ISBN 3-442-72846-0. Michael Kurland: The Whenabouts Of Burr (1975), dt. Wo steckt Aaron Burr?, übersetzt von Thomas Ziegler, Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, ISBN 3-548-31058-3. Weblinks Aaron Burr, 3rd Vice President (1801–1805) (United States Senate Historical Office) Einzelnachweise Vizepräsident der Vereinigten Staaten Senator der Vereinigten Staaten aus New York Attorney General (New York) Mitglied der New York State Assembly Mitglied der Demokratisch-Republikanischen Partei Oberstleutnant (Kontinentalarmee) Sklavenhalter (Neuzeit) Person (Duell) Person (Newark, New Jersey) US-Amerikaner Geboren 1756 Gestorben 1836 Mann
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Fernmeldeturm Mannheim
Der Fernmeldeturm Mannheim ist ein von den Architekten Heinle, Wischer und Partner geplanter und von 1973 bis 1975 zwischen dem Luisenpark und dem linken Ufer des Neckars errichteter, 217,8 Meter hoher Fernmeldeturm. Er war seit der Antennenaufstockung Anfang 2016 bis zur Fertigstellung des TK-Elevator-Testturms 2018 das höchste Gebäude Baden-Württembergs und gehört auch zu den höchsten Fernmeldetürmen Deutschlands. In der konstruktiven Entwicklung war der Mannheimer Fernmeldeturm der erste in Westdeutschland, dessen Tragwerk des Turmkorbs über ein spezielles Radialträgersystem gestützt wurde, womit man baulich einen neuen Weg beschritt. Der Turm gilt als ein modernes Wahrzeichen der Stadt Mannheim. Der Mannheimer Fernmeldeturm, für die Versorgung der Funk- und Fernmeldedienste im Raum Mannheim errichtet, war eine öffentlich begehbare Attraktion der Bundesgartenschau 1975. Der Turm beherbergt neben Sendeeinrichtungen für Richtfunk und Funkdienste im UKW- und Fernseh-Bereich in 124 Metern Höhe ein Drehrestaurant und in 121 Metern eine Aussichtsplattform, von der man einen Rundblick über Mannheim und das Umland mit den Städten Ludwigshafen am Rhein, Worms, Heidelberg, Speyer, so wie Neustadt an der Weinstraße bis hin zur Deutschen Weinstraße, den Odenwald, den Pfälzerwald und bei besonders guter Sicht sogar bis zum östlichsten Teil des Nordpfälzer Berglandes mit dem Donnersberg hat. Geschichte Vorgeschichte Die fernmeldetechnisch unbefriedigende Versorgung von Mannheim und seiner Region in den 1960er Jahren war der Auslöser für die Planungen für einen ursprünglich etwa 90 bis 120 Meter hohen Fernmeldeturm. Dieser sollte möglichst zentral liegen; ursprünglich wurde zur Errichtung des Turmes das Gelände der Lanz-Villa in der Mannheimer Oststadt in Erwägung gezogen, wo bislang eine Richtfunkstelle installiert war, die den wachsenden Anforderungen nicht mehr gewachsen war. Aufgrund der Nähe zum Neuostheimer Flugplatz (heute: Mannheim City) opponierte anfänglich die Luftaufsichtsbehörde gegen die Errichtung eines Fernmeldeturms. Auch von der Mannheimer Stadtverwaltung kamen ursprünglich Bedenken, da das Bauwerk nicht dem Charakter der Oststadt mit seinen noblen Wohn- und Geschäftshäusern entspräche. Zeitweise waren als Standort auch der Friedensplatz an der Autobahneinfahrt, der Luisenring sowie das Gewerbegebiet „Wohlgelegen“ in Betracht gezogen. Ende der 1960er Jahre kam der Wunsch der Kommune auf, den Turm in die Nähe der geplanten Bundesgartenschau 1975 zu errichten und damit als neues Wahrzeichen einer modernen Stadt Mannheim zu etablieren. Damit stand neben dem Sendebetrieb die bauliche Attraktion zur Bundesgartenschau deutlich im Vordergrund aller Planungsüberlegungen. Als besondere Attraktion erschien jedoch die bis dahin geplante Höhe als zu niedrig. Bereits Ende der 1950er Jahre war in Dortmund mit dem Florianturm ein Fernmeldeturm anlässlich einer Bundesgartenschau errichtet worden. Die Kommune beschloss, den Turm mit einem Höhenrestaurant und einer Aussichtsterrasse auszustatten. Zur Sicherung der Finanzierung wurde die Gewerbebauträger GmbH aus Hamburg als Investor und Bauherr gewonnen, die zur Finanzierung 30 Millionen DM beisteuerte. Planung Bei der Wahl des charakteristischen Turmkorbes galt es, fünf Anforderungen bestmöglich zu erfüllen. Neben der Stellfläche und der Kabelzuführung sollte der Korb in der Raumnutzung variabel sein, eine bestmögliche Aussicht bieten, einen Innovationsgrad erfüllen und in Bezug auf Außenfläche und umbauten Raum wirtschaftlich sein. Aus 18 möglichen Grundformen wurde die Form zweier umgekehrt zueinander verlaufender, unterschiedlich großer Kegelstümpfe gewählt. Erwin Heinle legte schließlich im Februar 1972 fünf Entwurfsvarianten vor. Als endgültiger Standort wurde das südliche Neckarufer ausgewählt, gleich neben dem Gelände des Luisenparks, wo auch der Aerobus eine Endhaltestelle bekam. Nach ersten Probebohrungen im Mai 1971 begannen im Frühjahr 1972 die Planungsarbeiten zum Fernmeldeturm Mannheim, im September desselben Jahres folgte die Ausschreibung der Rohbauarbeiten. Ende 1972 entstanden Unstimmigkeiten zwischen dem Post- und Gewerbebauträger und der Stadt Mannheim, die für die Gestaltung des Basisgebäudes Auflagen forderte. Die schlugen mit Mehrkosten von rund drei Millionen Mark zu Buche. Aus diesem Grund drohte das Projekt kurz vor Baubeginn komplett zu scheitern. Der damalige Oberbürgermeister Ratzel stockte aus diesem Grund den Etat der Bundesgartenschau um 1,2 Millionen Mark auf. Am 16. Januar 1973 stimmte der Gemeinderat der Etataufstockung zu. Bau und Eröffnung Die Grundsteinlegung erfolgte am 10. April 1973 im Beisein des damaligen Oberbürgermeisters Ludwig Ratzel und des Ministerialdirektors Heinrich Bethmann vom Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen, rund vier Monate nachdem bereits im Januar desselben Jahres mit den Gründungsarbeiten begonnen worden war. Etwa 70 Arbeiter haben in drei etwa gleichstark besetzten Schichten den Turm errichtet. Die Schaftbetonwand wuchs täglich zwischen 0,70 und 1,50 Meter. Die 100-Meter-Marke wurde im August 1973 und die 125-Meter-Marke Anfang September überschritten. Ende 1973 wurde aus 85 Kubikmeter Holz eine 140 Tonnen schwere Rahmenkonstruktion erbaut, mit deren Hilfe man in einer Bauhöhe von 120 bis 137 Metern den Turmkorb errichtete. Am 9. April 1974 wurde der gesamte Betonschaft bis auf eine Höhe von 166,20 Metern hochgezogen. Mit der endgültigen Fertigstellung des gesamten Rohbaus konnte am 5. Juni 1974 das Richtfest begangen werden. Danach folgten die Einrichtung der technischen Installationen und die Inneneinrichtung der Kanzel. Der erste der zwei Personenaufzüge wurde Mitte November 1974 in Betrieb genommen, der zweite Personenaufzug wie auch der Betriebsaufzug folgten Mitte Dezember. Der Ausbau des Betriebsgeschosses und der Funkbetriebsräume begann im Dezember 1974. Die offizielle Einweihung fand am 27. März 1975 statt. In den ersten Wochen der Neueröffnung kamen täglich mehr als 2000 Besucher auf die Aussichtsplattform und rund 600 Personen ins Restaurant. Eine Auffahrt für Erwachsene kostete im Eröffnungsjahr 3,50 DM, für Kinder 1,50 DM. Endgültig fertiggestellt wurde der Turm am 26. Mai 1975 mit einer ursprünglichen Gesamthöhe von 204,9 Metern, was ihn zugleich zum höchsten Bauwerk der Stadt machte. Die Tragwerksplanung erledigten Leonhardt, Andrä & Partner, die Ausführung oblag Grün & Bilfinger. Bauherr war die Gewerbebauträger GmbH, einer Tochtergesellschaft der Neuen Heimat aus Hamburg. Die technischen Anlagen des neuen Fernmeldeturms in Mannheim ermöglichten eine Kapazitätssteigerung von 10.000 auf 25.000 Fernsprechleitungen. Sämtliche technischen Einrichtungen waren so konzipiert, dass der Betrieb ohne Personal vonstattengehen konnte. Betrieb nach Eröffnung Mit der Inbetriebnahme des Mannheimer Fernmeldeturms 1975 waren die Ausbauarbeiten der Bundespost nicht beendet. Bis 1978 investierte das Unternehmen weitere zehn Millionen Mark in die fernmeldetechnischen Einrichtungen, der für den Ausbau des Richtfunksystems sowie für Fernsprech-, Fernschreib- und Datenverkehr vorgesehen war. Seit 1954 stellte Mannheim einen Knotenpunkt im Richtfunksystem dar. Bei Eröffnung waren am Fernmeldeturm erst drei Parabolantennen montiert. Erst in den Folgejahren 1977 und 1978 wurden sukzessive weitere Richtfunkantennen angebracht und so der Ausbau des Netzes betrieben. Im März 1979 installierte die Post einen zweiten Stadtsender des Funkrufdienstes ein. Besitzer von Funkmeldeempfängern konnten mittels Signal angefunkt werden und vom nächsten Fernsprecher aus einen Rückruf durchführen. Dies war Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre eine günstige Alternative zu den damals sehr teuren öffentlich beweglichen Landfunkdiensten. Am 14. Januar 1983 gingen die Eigentumsverhältnisse des Fernmeldeturms Mannheim von der Gewerbebauträger GmbH, dem Bauträger des Turms, an die Deutsche Bundespost über, welche das Bauwerk mit Ausnahme des Restaurants, der Aussichtskanzel, der Eingangshalle und der beiden Schnellaufzüge für rund 18 Mio. DM kaufte. Der Übernahme vorangegangen war der Versuch, den Fernmeldeturm zu verkaufen – die Bundespost hatte anfangs kein Interesse. Nachdem sich kein Interessent gemeldet hatte, retteten die bisherigen Gesellschafter das Objekt mit Zuschüssen vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. In der Nacht des 5. Dezember 1994 kollidierte ein Rettungshubschrauber des Lufttransportgeschwaders 61, eine Bell UH-1D, auf dem Rückflug vom Krankenhaus in Bad Kreuznach mit der Turmspitze des Fernmeldeturms, stürzte über 200 Meter senkrecht ab und brannte völlig aus. Hierbei starben alle Insassen, drei Besatzungsmitglieder und ein Notarzt. Etwa 17 Meter der Mastspitze mit den Sendeantennen wurden beschädigt und stürzten hinunter. Ein Sprecher der Telekom teilte mit, dass um 3:28 Uhr eine Störung an der Beleuchtung des Turms angezeigt wurde. Der erfahrene Hubschrauberpilot hatte keinen Notruf abgesetzt. Jahre später wurde der Turm mit einer neuen Antenne versehen, mit einer neuen Gesamthöhe von 212,8 Metern. Die Spitze wurde nun rot-weiß gestrichen und mit einer neuen Flugsicherheitsbefeuerung ausgestattet. Am Fuß des Turms befindet sich ein Gedenkstein für die Verunglückten. Im April 2014 musste eine rund 600 Kilogramm schwere und rund zwei auf drei Meter große Panzerglasscheibe im Restaurantgeschoss des Turmes von der Feuerwehr herausgeschlagen werden. Das Fenster, welches unter Spannung geraten und gesprungen war, konnte nicht nach innen herausgebrochen werden und fiel aus diesem Grund kontrolliert 120 Meter vom Turmkorb in einen abgesperrten Bereich. Nachdem das scheibenlose Fenster zunächst durch ein Provisorium aus Holz und Metall gesichert war, wurde erst am 16. Januar 2016 eine Ersatzscheibe mittels eines Spezialkrans eingesetzt. Am Vortag hatten die Arbeiten aufgrund von technischen Schwierigkeiten abgebrochen werden müssen. Am 21. Januar 2016 bekam der Fernmeldeturm eine um fünf Meter längere Zylinder-Rundstrahlantenne auf die Spitze montiert, womit er den Stuttgarter Fernsehturm (216,6 m) knapp übertrifft. Die neue Antenne hat eine Masse von 150 Kilogramm. Mithilfe eines Hubschraubers des Typs Ecureuil AS 350 B3E wurden als Vorarbeit dazu am 19. Januar in 14 Flügen die Einzelteile des alten 13 Tonnen schweren Drehkrans in Einzelteilen von der obersten der drei Plattformen am Turm heruntergeschafft. Hintergrund der Antennenaufstockung ist die Einführungsphase von DVB-T2 HD im Jahr 2016. Seit 2017 sind im Großraum Mannheim deutlich mehr Fernsehprogramme in HD-Auflösung empfangbar. Lage Der Mannheimer Fernmeldeturm steht östlich des Stadtzentrums, unweit des Südufers des Neckarkanals am nördlichen Rand des Luisenparks auf einer Höhe von . Direkt am Turm befindet sich am Hans-Reschke-Ufer die Haltestelle Fernmeldeturm der parallel zum Kanal verlaufenden Stadtbahnlinie Mannheim–Heidelberg. Westlich des Fernmeldeturms sind Besucherparkplätze vorhanden. In der näheren Umgebung zum Fernmeldeturm befinden sich Spielstätten und Räumlichkeiten von Sportvereinen, unter anderem auch das Stadion des TSV Mannheim. Direkt gegenüber dem Eingang zum Fernsehturm ist der Eingang zum Luisenpark, der den Namen Eingang am Fernmeldeturm trägt. Zum Baukomplex des Fernmeldeturms Mannheim gehören neben dem eigentlichen Turmbauwerk das südwestlich gelegene Basisgebäude südlich des Besucherparkplatzes sowie die südöstlich gelegene Eingangshalle, die dem Publikumsverkehr den Zugang zum Turm ermöglicht. Beide separaten Bauwerke sind jeweils über unterirdische Gänge mit dem Fernmeldeturm verbunden. Umrahmt wird das Areal von Bäumen, sodass es sich landschaftlich einheitlich in den Luisenpark einfügt, der allerdings ein separates und umfriedetes Grundstück darstellt. Das Grundstück des Fernmeldeturms und seiner Umgebungsbauten, Parkplätze für etwa 80 Fahrzeuge und Wege umfasst eine Größe von rund 4200 Quadratmetern. Beschreibung Basisgebäude und Eingangshalle An der Basis südwestlich des Turms befindet sich ein unterirdisches Gebäude für fernmelde- und hauswirtschaftstechnische Räume sowie Räumen für den Küchenbetrieb. Das Gebäude wurde als sogenannte Stütz-Pilzdeckenkonstruktion ausgeführt; die Fassade besteht aus Fertigteil-Betonelementen. Zwar befindet sich ein Teil der Betriebsräume für die Fernmeldetechnik auch im Turmkorb, der größte Teil ist aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit jedoch im Basisgebäude untergebracht. Vom Basisgebäude aus erreicht man mittels eines unterirdischen Gangs den Fernmeldeturm. Der Verbindungsgang besteht aus Ortbeton und ist mit Dehnungsfugen vom Schaft des Turms getrennt. Südöstlich des Turms befindet sich die Eingangshalle, die von zwei Seiten Eingänge aufweist. Der Eingang auf der Seite des Neckarufers (Paul-Martin-Ufer) führt über eine geschwungene Rampe in den weiter unten liegenden Teil des Wartebereichs. Das Bauwerk mit kreisrundem Grundriss hat im unteren Teil einen weiteren Eingang gegenüber einem Zugang zum Luisenparks (Eingang am Fernmeldeturm) gelegen. Von der Eingangshalle aus erreicht man über einen unterirdischen Verbindungsgang den Stauraum vor den Aufzügen am Turmfuß. Die Dachdecke der Eingangshalle wird von einer schrägliegenden und weit über den Stützen auskragenden Ortbeton-Massivplatte gebildet. Zusammen mit der raumhohen Verglasung soll so der Eindruck einer „schwebenden“ Abdeckung entstehen. Bei der Gestaltung der Eingangshalle legte Erwin Heile Wert darauf, dass der Übergang vom Neckar einerseits und der Parkanlage der Bundesgartenschau andererseits als Bindeglied fungiert. Turmfundament und -keller Das Fundament des Fernmeldeturms wurde aufgrund der Nähe zum Neckar von 160 Ortbeton-Ramm-Pfählen gebildet, die in sechs konzentrischen Ringen unter einer 3 Meter dicken Fundamentplatte von 27,4 Meter Durchmesser bis zu 9 Meter in die Erde reichen. Ein Nachteil dieser Gründungsart sind die unvermeidlichen Ringmomente der Platte als Folge des verhältnismäßig geringen Schaftdurchmessers und der ausladenden Unterbringung der Pfähle erforderlichen Plattengrundrissfläche. Um dem sowie der Verformungen der Platte bedingte Lastumlagerung auf die schaftnahen Pfähle entgegenzuwirken, wurden die Pfähle im Schaftbereich enger gestellt als im Außenbereich der Platte. Zusätzlich wurde die Fundamentplatte mit 24 Spanngliedern unterhalb der Plattenmittelfläche ringförmig vorgespannt (→ Ringfundament). Vier außen liegende Lisene schützen die Spannglieder vor Korrosion. Im Keller des Turmfußes befindet sich ein Maschinen- und Trafohaus. Das darin untergebrachte 370 PS starke Notstrom-Dieselaggregat füllt einen dieser Räume. Damit wird gewährleistet, dass die Aufzüge und die Löschwasserpumpen auch bei einem Stromausfall betrieben werden können. Abgesehen von den Aufzügen werden auch die Wasserpumpen mithilfe der Maschinen betrieben. Ohne zusätzliche Pumpen würde das Wasser aus den städtischen Leitungen mit normalen Druck nur bis zur halben Turmhöhe steigen. Neben Trinkwasser wird auch das Brauch- und Heizungswasser durch das Rohrsystem gepumpt sowie das Kühlwasser für die Klimaanlage. Weiterhin gibt es eine Hebeanlage für das Abwasser. Sämtliche Wasserleitungen im Turm sind beheizt, damit sie nicht einfrieren. Turmschaft Der Mannheimer Fernmeldeturm ist ein Sonderturm mit einem Turmschaft kreisförmigen Querschnitts. Der Schaft verjüngt sich von 13,30 Meter Durchmesser und 60 Zentimeter Wandstärke im Erdgeschoss auf 4,6 Meter Durchmesser und 25 Zentimeter Wandstärke auf 166 Meter Höhe. Der Turmschaft hat aus statischen und gestalterischen Gründen eine konische Form mit parabolischer Mantellinie. Der im Schaft befindliche Schacht für Aufzug und Nottreppe besteht aus einer Stahlkonstruktion. Der Antennenmast, der aus dem Betonschaft herauswächst, ist eine Stahlgitterkonstruktion, die mit einem geschlossenen glasfaserverstärkten Kunstharzmantel umhüllt ist und somit sowohl korrosionsbeständig ist wie auch Eisansatz vermindern soll. Der Mantel setzte die Form und Farbe des Betonschaft ursprünglich bis zur Turmspitze fort. Diese Gestaltung war damals neuartig bei Fernsehtürmen. Nach der Kollision eines Hubschraubers 1994 wurde aus Flugsicherungsgründen die graue Farbe des Antennenmantels in eine weiß-rote Sicherheitskennzeichnung sowie die Sicherheitsbefeuerung umgestaltet. Turmkorb Der Turmkorb besteht aus zwei gegeneinandergesetzten Kegelstümpfen. Der untere Kegelstumpf verbreitert sich von 20,5 Meter auf 30,1 Meter; daran nahtlos aufgesetzt verjüngt sich der obere Kegelstumpf von 20,3 Meter auf 18,4 Meter. Im unteren Teil befinden sich das 250 Personen fassende Aussichtsgeschoss auf 120,9 Meter und das Restaurantgeschoss auf 124,7 Meter. Das Drehrestaurant dreht sich einmal pro Stunde um seine eigene Achse. Die Schräge des unteren, für den Publikumsverkehr vorgesehenen Turmkorbteils wurde bewusst so gewählt, um den unmittelbaren Raum darunter, den Bereich der ehemaligen Bundesgartenschau und die Innenstadt besser überblicken zu können. Die oberen drei Geschosse sind bis auf Bullaugen im Betriebsgeschoss unverglast und beherbergen ein Maschinengeschoss auf 129,5 Meter, ein Betriebsgeschoss auf 132,8 Meter sowie ein Rangiergeschoss mit dem Aufzugsmaschinenraum auf 135,8 Meter. Zusätzlich zum Aufzug führen 650 Stufen zum Turmkorb hinauf. Zugstäbe befinden sich im sogenannten Maschinengeschoss oberhalb des Restaurantgeschosses. Dort stören sie nicht die Nutzung und tragen statisch die angehängten Fachwerke der unteren Geschosse; die oberen Geschosse werden darauf abgestützt. Die von außen nicht sichtbare Befestigungsart des 7000 Tonnen schweren Turmkorbs über diese zwölf radial am Turmschaft angebrachten Stabdreiecke war erstmals in dieser Form angewendet. Antennenplattformen und Spitze Die Außenhaut des Turmkorb besteht aus eloxiertem Aluminiumblech, der im unteren Teil nicht öffenbare Fenster aus bedampftem Mehrscheiben-Isolierglas hat. Über dem Korb schließen sich drei Antennenplattformen aus Beton (145,4 Meter, 153,2 Meter und 160,4 Meter) an, die sich im Querschnitt verkleinern um eine optische Einheit mit dem oberen Teil des Turmkorbs zu bilden. Die Plattformen dienen als Stellfläche für Richtfunkantennen; die zweite Plattform dient außerdem als Luftanalysestation. Auf der obersten der drei Plattformen befand sich für die Antennenmontage bis Januar 2016 ein Hebezeug. Ab einer Höhe von 166,2 Meter schließt sich eine 51,6 Meter hohe weiß-rote Antennenspitze an. Der Stahlgittermast ist zum Schutz gegen Vereisung mit einem Kunststoffmantel verkleidet. Publikumseinrichtungen Der Öffentlichkeit zugänglich sind die unteren zwei Stockwerke des Turmkorbs. Auf 120,9 Meter befindet sich das Aussichtsgeschoss mit Bistro und auf 124,7 Metern Höhe das 390 Quadratmeter große Drehrestaurant Skyline. Mit 156 Sitzplätzen gehört es zu den fassungsreichsten Restaurants in dieser Höhe. Die Tische sind auf einem äußeren Drehring angebracht, der die Gäste in einer Stunde komplett umfahren lässt. Der innere Teil des kreisförmigen Grundrisses ist fest. Das Aussichtsgeschoss ist das niedrigste aller öffentlich zugänglichen Sondertürme in Deutschland. Pro Jahr besuchen über 70.000 Gäste das Drehrestaurant. Zwei Personenaufzüge des Unternehmens Kone befördern mit einer Geschwindigkeit von 6 Metern pro Sekunde die Besucher vom Turmfuß in die beiden öffentlich zugänglichen Geschosse. In Notfällen sind Umstiege zwischen den beiden Aufzügen möglich. Die Aufzugsunterfahrt beträgt 10,60 Meter unter dem Erdgeschoss (Höhe ±0 Meter). Die Beförderungskapazität der beiden Aufzüge beträgt 1600 Besucher pro Stunde. Die Speisen für das Drehrestaurant werden im Basisgebäude zubereitet und mit einem der Personenaufzüge in einem speziellen Container in die Warmhalteküche des Restaurants hochgefahren. Mit einer zusätzlichen Tür durch die Warmhalteküche des Restaurants und die Bar des Aussichtsgeschosses kann die Küche direkt beliefert werden, ohne dass der Publikumsverkehr beeinträchtigt wird. Die Räumlichkeiten für Küche, Haustechnik und Besuchertoiletten sind in beiden öffentlichen Geschossen im Turmkorb kreisförmig um die Wand des Turmschaftes angeordnet. Rezeption Ähnlich wie beim Mannheimer Fernmeldeturm ist im 1976 fertiggestellten Fernmeldeturm Koblenz das Tragwerk des Betriebsgeschoss mittels außen nicht sichtbaren Zugdiagonalen realisiert. Einige Jahre später wurde dies auch bei anderen gleichartigen Türmen verwirklicht. Am augenfälligsten ist diese Befestigungsart am 1981 fertiggestellten Colonius in Köln zu sehen, wo die außen sichtbaren Stabdreiecke auf diese Weise den Turmkorb am Turmschaft tragen. Mit der speziell durch ein Radialträgersystem gestützten Aufhängung beschritt er baulich einen neuen Weg. Der Mannheimer Fernmeldeturm wird aufgrund seiner öffentlichen Zugänglichkeit als Sehenswürdigkeit in fast allen touristischen Reise- bzw. Stadtführern und Darstellungen erwähnt. Trotzdem ist seine touristische Bedeutung, insbesondere wenn man zum Vergleich seine Besucherzahlen heranzieht, mit anderen öffentlich zugänglichen Fernsehtürmen in Deutschland vergleichsweise gering. Aufgrund des flachen nördlichen Oberrheingebietes und nur vereinzelter hoher Bauwerke in der Quadratestadt ist der Fernmeldeturm bereits Kilometer vor den Stadtgrenzen gut zu erkennen. Der Fernmeldeturm gilt als modernes Wahrzeichen der Stadt und ist eine bekannte Landmarke. Frequenzen und Programme Analoges Radio (UKW-Rundfunk) Neben der Nutzung des Fernmeldeturms Mannheim für den Richtfunkverkehr strahlt er folgende UKW-Rundfunkprogramme ab: Digitales Fernsehen (DVB-T2) Bis Mai 2016 wurde der Mannheimer Fernmeldeturm nie zur Übertragung von Fernsehprogrammen genutzt. Seit Juni 2016 werden im Standard DVB-T2 auf Kanal 35 u. a. die Fernsehprogramme ARD HD, ZDF HD, SAT1 HD, PRO7 HD, RTL HD und VOX HD ausgestrahlt. Im Einzelnen strahlt der Mannheimer Fernmeldeturm folgende HD-Fernsehprogramme aus: Literatur Dietrich Elias (Hrsg.): Jahrbuch des elektrischen Fernmeldewesens. Verlag für Wissenschaft und Leben Georg Heidecker, 1974, ISBN 3-87862-125-6, S. 33–51. Jörg Schlaich, Willi Kunzl: Der Fernmeldeturm Mannheim. In: Beton- und Stahlbetonbau. Verlag Wilhelm Ernst Sohn, Berlin, Mai 1977, Nr. 5 V. 72, S. 121–124. Erwin Heinle, Fritz Leonhardt: Türme aller Zeiten, aller Kulturen. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1997, ISBN 3-421-02931-8, S. 232/233. Jörg Schlaich: Ingenieurbauführer Baden-Württemberg. Bauwerk Verlag, Berlin 1999, ISBN 3-934369-01-4, S. 482–483. Andreas Schenk: Mannheim und seine Bauten 1907–2007. Band 4: Bauten für Verkehr, Industrie, Gesundheit und Sport. Mannheim 2004, ISBN 3-923003-87-0. Weblinks Touristinformation Mannheim: Fernmeldeturm Mannheim – Kurzbeschreibung mit Audioguide-Datei Fernmeldeturm: Neue Antenne auf Spitze montiert. Heli-Einsatz beendet. – Zeitungsartikel vom 22. Januar 2016 vom Mannheimer Morgen mit Videobeitrag Einzelnachweise Mannheim Fernmeldeturm Mannheim Fernmeldeturm Mannheim Fernmeldeturm
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https://de.wikipedia.org/wiki/Radjedef-Pyramide
Radjedef-Pyramide
Die Radjedef-Pyramide (auch als Djedefre-Pyramide bekannt) ist die Ruine einer altägyptischen Pyramide, deren Bau in der 4. Dynastie um 2580 bis 2570 v. Chr. für König (Pharao) Radjedef (Djedefre), Sohn und Nachfolger des Königs Cheops, begonnen, aber vermutlich nicht vollendet und später exzessiv ihrer Steine beraubt wurde. Sie befindet sich beim heutigen Ort Abu Roasch und ist nach der nicht mehr vorhandenen Pyramide von Athribis und der benachbarten Lepsius-I-Pyramide die drittnördlichste bekannte Pyramide Ägyptens. In populärwissenschaftlichen Darstellungen wird die Radjedef-Pyramide oft fälschlich als „vierte Pyramide von Gizeh“ bezeichnet, obwohl sie etwa 8 km von der Nekropole von Gizeh entfernt liegt. Erforschung Die Forschungsgeschichte erstreckt sich über weit mehr als 150 Jahre. Zum ersten Mal erforscht wurde die erste Hauptpyramide um 1840 von John Shae Perring; er konzentrierte sich mit seiner Arbeit auf ihre Substruktur. Karl Richard Lepsius katalogisierte die Pyramide und eine mögliche Königinnenpyramide in seiner Pyramidenliste unter den Nummern Lepsius II und III. In den 1880er Jahren untersuchte Flinders Petrie das Bauwerk. Eine systematische Untersuchung des Komplexes fand jedoch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts statt, als 1901 Émile Gaston Chassinat mit weiteren Forschungen begann. In den 1920er Jahren folgten Pierre Montet und Fernand Bisson de la Roque. Weitere Forschungen wurden erst wieder in den 1960er Jahren von Vito Maragioglio und Celeste Rinaldi unternommen. Ein französisch-schweizerisches Team der Expedition des Institut Francais d’Archéologie Orientale, unter Leitung von Michel Valloggia, begann ab 1995 mit der bislang genauesten Ausgrabung des Komplexes. Bauumstände Der Pyramidenkomplex wurde von König Radjedef (auch unter der Schreibweise Djedefre bekannt), dem Sohn des Cheops, während seiner vermutlich nur achtjährigen Herrschaft erbaut. Die Länge der Regierungszeit ist allerdings umstritten und kann nach anderen Theorien bis zu 25 Jahre betragen haben. Radjedef führte die Bestattung seines Vaters in der Cheops-Pyramide in Gizeh durch, was durch Inschriften in den dortigen Schiffsgruben belegt ist. Für sein eigenes Grabmal wählte er einen etwa 8 km weiter nordwestlich gelegenen Ort bei der heutigen Ortschaft Abu Roasch. Die Pyramide war deutlich kleiner als die Bauten seiner beiden Vorgänger, wobei die Gründe für die Größenreduktion ungeklärt sind. Das Grabmal steht auf einer Anhöhe, die das Gizeh-Plateau um etwa 80 m überragt, was trotz der kleineren Pyramide eine prominente und weithin sichtbare Platzierung des Bauwerks ermöglichte, die in der Gesamthöhe somit mit der Cheops-Pyramide vergleichbar war. Für den Ortswechsel könnten theologische Gründe im Rahmen des zunehmenden Sonnenkults verantwortlich sein. Radjedef war der erste König, der den Titel Sohn des Re (Sa Ra) führte. Früher angenommene Streitigkeiten mit seinen Geschwistern um die Thronfolge hat es neueren Forschungen zufolge nicht gegeben. Die neue Ortswahl bedingte einen sehr langen Aufweg zum Pyramidenbezirk, dessen Länge auf ca. 1700 m geschätzt wird. Der Steinbruch für das Material des Pyramidenkerns befand sich etwa 2 km östlich, in der Nähe der Lepsius-I-Pyramide und eines Mastaba-Friedhofs. Die Dicke der Schichten des dort vorkommenden Kalksteins stimmen mit den Steingrößen der Pyramide überein. Grad der Fertigstellung Ob die Radjedef-Pyramide wirklich fertiggestellt und später bis zum heutigen Zustand abgetragen wurde, ist nach wie vor Gegenstand der wissenschaftlichen Kontroverse. Als Tatsache kann festgestellt werden, dass der Komplex so weit fertiggestellt wurde, dass ein funktionierender Totenkult möglich war, da Priester des Radjedef-Kults bis in die 6. Dynastie nachgewiesen sind. Die eigenartige Integration von Werkstattgebäuden in den Totentempel spricht dafür, dass die Fertigstellung der Tempelanlagen überstürzt vonstattengegangen sein muss, da keine neuen Gebäude errichtet, sondern die bestehende Bausubstanz umfunktioniert wurde. Abtragung durch Steinraub Die Radjedef-Pyramide ist als einzige der großen Pyramiden der 4. Dynastie fast vollständig von Steinräubern abgetragen worden, während die meisten anderen Bauwerke dieser Epoche einen ausnehmend gut erhaltenen Kernbereich besitzen. Der Steinraub begann vermutlich bereits in der Ramessidenzeit und setzte sich durch das Mittelalter hinweg bis ins 19. Jahrhundert fort. Der Höhepunkt der Zerstörung lag aber in römischer Zeit. Petrie berichtete, dass selbst in den 1880er Jahren immer noch Steinmaterial in der Menge von etwa 300 Kamelladungen pro Tag abtransportiert wurde. Nicht nur das Kernmauerwerk, sondern auch fast der gesamte Unterbau der Pyramide wurden so zerstört. Begünstigt wurde dies zum einen durch die abgeschiedene Lage des Bauwerks und zum anderen dadurch, dass die Pyramide eine große Menge des wertvollen Rosengranits enthielt. Die Pyramide Die ursprüngliche Basislänge betrug etwa 106,2 m (etwa 200 Königsellen), wovon heute noch 97 m erhalten sind. Bei einem vermuteten Neigungswinkel von 52° hätte die Pyramide eine Höhe von 67 m und ein Gesamtvolumen von 131.043 m³ erreicht. Die Ausrichtung der Pyramide weicht nur um etwa 0,8° von den exakten Himmelsrichtungen ab. Sie war über einem kleinen Hügel errichtet worden, der etwa 44 % des Gesamtvolumens der Pyramide ausmachte und so zu einer deutlichen Arbeits- und Materialersparnis führte und möglicherweise zudem als Symbol des Urhügels der altägyptischen Schöpfungsmythologie diente. Durch den freiliegenden Schacht der Substruktur ist dieser Hügel gut erkennbar. Fertiggestellt entsprach das Bauwerk in der Größe etwa der Mykerinos-Pyramide in Gizeh. Das Kernmauerwerk bestand aus in horizontalen Schichten verlegten Kalksteinblöcken. Diese waren von unterschiedlicher Größe und teilweise unregelmäßiger Form, wobei dadurch entstandene Lücken teilweise mit Gipsmörtel verfüllt wurden. Aufgrund der starken Zerstörung ist heute nicht mehr ersichtlich, ob der Pyramidenkern eine Stufenstruktur, wie sie z. B. bei der Mykerinos-Pyramide nachgewiesen ist, besaß. Die Verkleidung der Pyramide bestand im unteren Bereich erstmals aus Rosengranit, der dazu aus Assuan heran transportiert werden musste. Der obere Bereich sollte vermutlich mit der üblichen Verkleidung aus feinem Tura-Kalkstein versehen werden, jedoch fehlt dafür der Fundbeleg. Bei Ausgrabungen im Bereich der Pyramide fanden sich nur Granit-Verkleidungssteine, die einen Außenwinkel von 60° bis 64° aufwiesen, woraus ursprünglich gefolgert wurde, dass es sich hier um eine überdurchschnittlich steile Pyramide handelte. Allerdings ergaben Grabungen an der Pyramidenbasis ein um 12° nach innen geneigtes Fundament der Verkleidung. Diese Technik diente zur Verbesserung des Halts der Verkleidung und wurde bereits zuvor an den Königinnenpyramiden der Cheops-Pyramide angewandt. Durch die geneigte Anbringung der Verkleidungssteine, nicht aber des Kernmauerwerks, verringerte sich der Neigungswinkel der Pyramide auf 48° bis 52°. Heute geht man von einem Seitenwinkel von 52° aus, was dem Neigungswinkel der Cheops-Pyramide entspricht. Die Neigung des Fundaments wird an den Ecken der Pyramide geringer und geht schließlich in die Horizontale über. Dadurch wird eine komplizierte Formung der Ecksteine vermieden. Das Fehlen von Bruchstücken von Tura-Kalkstein-Verkleidungsblöcken in der Trümmerhalde lässt die Vermutung zu, dass der Bau der Pyramide nicht über den etwa 20 Steinlagen hohen, mit Rosengranit verkleideten Bereich hinausgekommen ist. Der Name der Pyramide, „Sternenzelt des Radjedef“, wurde auf Inschriften gefunden. Eine alternative Übersetzung lautet „Zum Firmament gehört Djedefre“. Die Substruktur Der Unterbau (Substruktur) der Radjedef-Pyramide markiert eine Abkehr von dem seit Snofru zu beobachtenden Trend, die Grabkammer immer höher in den Pyramidenkörper zu verlegen. Hier wurde erneut eine komplett unterirdische Anordnung der Grab- und Vorkammern verwirklicht, wobei der Bau in einem offenen Graben erfolgte und nach Fertigstellung aufgemauert wurde. Die absteigende Passage war in einem Graben mit einer Länge von 44,25 m und einer Breite von 5,5 m am Boden angelegt worden. Das Gefälle beträgt 22° 35′. Der Boden ist immer noch mit feinem Tura-Kalkstein bedeckt, auf dem die Passage gebaut worden war. Im Graben der absteigenden Passage fanden sich Granitfragmente, die Bauarbeiterinschriften des ersten Jahres der Viehzählung des Radjedef tragen. Ob die Passage aus Granitblöcken bestand, ist bislang noch nicht sicher belegt. Die anschließende horizontale Passage erstreckt sich über 5,4 m Länge. Direkt am Anschluss der absteigenden Passage befindet sich eine 3,1 m tiefe Grube, die vermutlich vor eindringendem Wasser schützen sollte. Auf der westlichen Seite des Endes des horizontalen Bereichs finden sich die Überreste eines Grabräubertunnels im Felsmaterial, was ein deutlicher Beleg dafür ist, dass die Kammern und die Passage ursprünglich fertig gebaut waren und erst später durch Steinräuber zerstört wurden. Bearbeitungsspuren der Felswand lassen darauf schließen, dass am Ende der Passage der Bereich des Unterbaus begann, der aus Granit gefertigt war, da die Bearbeitung des umgebenden Kalksteinmaterials einfacher war als die der eingesetzten Granitblöcke. Der Grabräubertunnel bietet zudem den Hinweis auf eine granitene Fallsteinsperre, die über den Tunnel durch das weichere Umgebungsgestein umgangen wurde. Der zentrale Schacht, der die Kammern enthielt, misst 23 m × 10 m und hat eine Tiefe von 21 m. Der Boden der Kammer war mit fünf Lagen feinen Kalksteins aufgemauert, um das Niveau der horizontalen Passage zu erreichen. Auf dem Kalksteinboden konnten nur geringe Reste der Kammern nachgewiesen werden. Offenbar befand sich eine Vorkammer unter dem Mittelpunkt der Pyramide, von der nach Westen ein Durchgang zur Grabkammer führte. Die Vorkammer hatte wahrscheinlich an der Ostseite eine Nische oder eine Erweiterung zu einem Serdab. Der Boden der Grabkammer weist Vertiefungen auf, die darauf hindeuten, dass hier ein Sarkophag und eine Kanopentruhe eingelassen waren, ähnlich wie auch in der Chephren-Pyramide. In der Grube fand sich das Fragment eines großen Granitbalkens, von dem eine Ende nicht mit einem Winkel von 90° zur Seitenfläche abschloss, sondern mit 135°. Daraus ist zu schließen, dass es sich hierbei um einen Teil des Giebeldachs der Grabkammer handelte. Auf diesem Fragment befindet sich zudem eine Inschrift, die auf Radjedef verweist. Ebenso fand sich ein Kalksteinblock mit ähnlichen Inschriften. An den Mauern des Schachts finden sich Mörtelreste, die davon zeugen, dass der Schacht über der Grabkammer aufgemauert und der Unterbau der Pyramide somit vollendet war. Der Pyramidenkomplex Der Pyramidenbezirk weist eine deutliche Nord-Südorientierung auf, wie sie von den Pyramidenkomplexen der 3. Dynastie, beispielsweise dem des Djoser bekannt ist. Die Pyramidenkomplexe des Snofru und des Cheops aus der 4. Dynastie waren hingegen eher quadratisch bzw. in ostwestlicher Richtung orientiert. Äußere Mauer Die äußere Mauer umschließt den Komplex in einer deutlich nordsüdlich ausgerichteten Form. Die südliche Mauer schließt sich dabei nicht mit rechtem Winkeln und in exakt ostwestlicher Richtung an die anderen Mauern an, sondern verläuft in nordöstlicher Richtung, was durch die Topographie des Plateaus bedingt ist. Die Ecken des Komplexes waren abgerundet. In der Mauer befand sich eine Anzahl von monumentalen Toren, was ebenfalls eine Anlehnung an die Bauweise der 3. Dynastie darstellt. Im Bereich nördlich der Pyramide wurden bislang keine Bauten nachgewiesen, jedoch Überreste von Steinbrucharbeiten aus römischer Zeit. Einige Forscher vermuten, in diesem Bereich einen nördlichen Totentempel zu finden, da die nordsüdliche Ausrichtung des Komplexes eine Anlehnung an die Baupraxis der 3. Dynastie darstellt und in diesem Zeitraum der Totentempel im Norden der Pyramide angelegt wurde. Innere Mauer Die innere Mauer, die die Pyramide und auch die Teile des Totentempels, die ursprünglich als Werkstattgebäude dienten, umgibt, besteht aus zwei Begrenzungsmauern aus Trockenmauerwerk, deren Zwischenraum mit losem Steinmaterial aufgefüllt war. Die Außenseiten waren jeweils noch mit einer zusätzlichen Mauerschicht verkleidet und mit Lehm verputzt. Im Bereich der Kultpyramide hat die Mauer eine Ausbuchtung nach Süden um die Kultpyramide ebenfalls zu umschließen. Totentempel Direkt an die Ostwand der Pyramide angrenzend befand sich der eigentliche, aus Stein erbaute Totentempel, der auf seiner Ostseite an das Werkstattgebäude und die Schiffsgrube grenzte. Die geringen Ausmaße von etwa 13 m in ostwestlicher und 26 m (25 × 50 Königsellen) in nordsüdlicher Richtung deuten auf eine eilige Errichtung hin. Der Bereich ist mit einem Steinpflaster versehen, das als Fundament des eigentlichen Totentempels diente. Darauf wurden die Mauern des Tempels errichtet, wovon jedoch nur wenige einzelne Funde zeugen und keine Rekonstruktion der Anordnung der Räume mehr zulassen. Auf dem Fundament befand sich vermutlich das eigentliche Bodenpflaster, das allerdings nicht mehr erhalten ist. Es war aber mit großer Wahrscheinlichkeit verlegt worden, da ein Höhenunterschied zu einem der Zugänge besteht. Das Material des Pflasters ist mangels Funden nicht mehr feststellbar. In der Mitte der Pyramidenostseite befindet sich eine Einbuchtung, die nach Maragioglio und Rinaldi eine Nische mit Stelen beherbergte und mit dem Tempel davor durch einen Opfersaal verbunden war. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass diese Einbuchtung zu hoch liegt, um eine Nische zu sein und durch eine Verdickung der granitenen Pyramidenverkleidung verursacht wurde. Werkstattgebäude Auf der östlichen Seite der Pyramide befinden sich die Überreste von Ziegelgebäuden, die von einer sehr dicken Trockenmauer aus Feldsteinmauerwerk umgeben waren. Die innere Aufteilung der Räume ähnelt denen von Werkstattgebäuden in der Nähe der Chephren-Pyramide, was darauf hindeutet, dass diese Gebäude ursprünglich zur Unterstützung des Pyramidenbaus diente. Später scheinen sie unter Eile der Verwendung im Totenkult zugeführt worden zu sein, was dafür spricht, dass keine Zeit zur Errichtung spezieller Tempelbauten vorhanden war. Direkt südlich des Steintempels befand sich ein kleineres Ziegelgebäude, dessen Ruine Hinweise auf Kornbehältnisse beinhaltet. Zudem fanden sich zahlreiche Bierkrüge und -schalen. Davon ausgehend scheint das Gebäude die Bäckerei und Brauerei zur Versorgung der Bauarbeiter beherbergt zu haben. Kult- oder Königinnenpyramide an der Südostecke Bei Ausgrabungen im Bereich des inneren Hofs fand das schweizerisch-französische Team unter Michel Valloggia im April 2002 an der Südostecke der Pyramide, direkt südlich der Schiffsgrube, die Überreste einer kleinen Pyramide. Das Bauwerk hatte eine Basislänge von 10,5 m (20 Königsellen) und hat heute nur noch eine Höhe von etwa 2 m. Die kleine Pyramide befindet sich innerhalb der inneren Umfassungsmauer der Hauptpyramide, die mit einer Ausbuchtung um die Nebenpyramide herumgeführt wurde. Die Seitenneigung entspricht nach Zahi Hawass der der Hauptpyramide, während Valloggia von einem steilen Winkel von 60° ausgeht. Der Pyramidenkern besteht aus unregelmäßig geformten Kalksteinblöcken und ist in horizontalen Schichten gemauert. Die äußeren Schichten weisen regelmäßigere Blöcke auf, jedoch sind von der Verkleidung keine Blöcke erhalten. Der Zugang zum Unterbau beginnt an der Nordseite, von wo ein senkrechter Schacht zu einem horizontalen Gang und den Kammern führt. In dem horizontalen Gang befinden sich eine Kammer auf der östlichen Seite und zwei auf der westlichen Seite. Gang und Kammern sind relativ unregelmäßig aus dem Felsen herausgehauen. Innerhalb des Unterbaus wurden einige ungewöhnliche Funde gemacht: Neben vollständigen und fragmentierten Alabaster- und Keramikgefäßen sowie Fragmenten eines Kalkstein-Sarkophags, fanden sich auch Fayence-Kacheln, ähnlich jenen, die im Djoser-Komplex entdeckt wurden. Solche Kacheln sind bislang in keinem anderen Pyramidenkomplex gefunden worden. Diese Pyramide wird von einigen Forschern wie Valloggia für eine Königinnenpyramide gehalten. Andere, wie Rainer Stadelmann, halten das Bauwerk für die Kultpyramide des Komplexes. Für Letzteres spricht zum einen, dass sich die Pyramide an der typischen Position der Kultpyramiden befindet und überdies in die innere Einfriedung der Hauptpyramide integriert ist. Zudem weist der Dreikammer-Unterbau nach Stadelmanns Dreikammertheorie die Merkmale einer königlichen Pyramide auf, während die Königinnenpyramiden der Cheops- und Mykerinos-Komplexe lediglich zwei Kammern besitzen. Die gefundenen Sarkophag-Fragmente widersprechen der Einschätzung als Kultpyramide nicht, da diese symbolische Ka-Gräber darstellen und der Sarkophag zu einer symbolischen Beisetzung gehört haben könnte. Valloggia vermutet, dass das ursprünglich als Kultpyramide errichtete Bauwerk in einer zweiten Phase zur Bestattung einer Königin umgebaut wurde, was nicht auszuschließen ist, da ein ähnlicher Umbau an der Königinnenpyramide G-IIIa der Mykerinos-Pyramide bekannt ist. Wenn es sich um das Grabmal einer Königin gehandelt hat, waren dort vermutlich die Königinnen Chentetenka oder Hetepheres II. bestattet. Mögliche Königinnenpyramide an der Südwestecke In der südwestlichen Ecke, im Bereich zwischen innerer und äußerer Einfassungsmauer, identifizierte bereits Lepsius die Ruine einer Nebenpyramide und katalogisierte sie unter Lepsius III. Dieses Bauwerk, das bislang noch nicht intensiv untersucht wurde, stellt nach gegenwärtigen Erkenntnissen eine Königinnenpyramide dar, wurde allerdings über lange Zeit, bis zur Entdeckung der Nebenpyramide an der Südostecke, für eine Kultpyramide gehalten, obwohl keine weiteren Kultpyramiden an der Südwestecke von anderen Pyramidenkomplexen bekannt sind. Sie hat eine Basislänge von etwa 26 m (50 Königsellen). Das Bauwerk ist heute durch Steinraub noch stärker zerstört als die Hauptpyramide und erscheint nur noch als flacher Schutthügel mit Überresten einer Ausschachtung. Der Pyramidencharakter des Baus ist noch nicht sicher belegt. Schiffsgrab Auf der Ostseite, direkt an den Totentempel angrenzend, befindet sich eine Schiffsgrube, die von Émile Chassinat entdeckt wurde. Sie war mit Ausnahme der Nordseite von Steinmauern umgeben. Die Nordmauer bestand hingegen aus Lehmziegeln. Die Ost- und Südmauern gehören zu dem dicken Mauersystem der Werkstattbauten nördlich der Grube. Zwischen der Umgebungsmauer und der eigentlichen Bootsgrube befand sich ein Sockel, der die Abdecksteine der Grube trug. Aufgrund von gefundenen Fragmenten kann man für die Decksteine auf eine Größe von etwa 5,2 × 1,1 m (10 × 2 Königsellen) schließen. Die Mauern der Bootsgrube selbst sind im Bug- und Heckbereich vertikal, im Mittschiffsbereich jedoch nach innen gewölbt. Die Längsachse der Grube folgt der Krümmung des Bootsrumpfs und ist durch eine rote Linie auf dem sorgfältig geglätteten Grund der Grube markiert. Mörtelreste am Nordende deuten darauf hin, dass eine Verkleidungsschicht existiert haben muss. In der Grube wurden keine Überreste der Barke gefunden, jedoch zahlreiche Fragmente von Radjedef-Statuen, die vermutlich von den Steinräubern dort deponiert worden waren. Aufweg Der Aufweg erreicht den Pyramidenkomplex aus nordöstlicher Richtung kommend auf der Nordseite des Komplexes. Dies ist ungewöhnlich, da er in den meisten anderen Fällen aus östlicher Richtung kommend an der Ostseite von Pyramidenkomplexen endet. Aufgrund der abgelegenen Lage des Komplexes dürfte der Aufweg eine Länge von 1.700 m gehabt haben, jedoch wurde bislang nur der obere Teil ausgegraben. Weiter abwärts folgte der Aufweg dem Tal eines Wadis. Der am talseitigen Ende des Aufwegs zu erwartende, dazugehörige Taltempel wurde noch nicht gefunden. Weitere Funde Im Bereich der Schiffsgrube an der Ostseite der Pyramide fanden sich zahlreiche Fragmente von Radjedef-Statuen, die von Émile Chassinat bei seinen Grabungen zwischen 1901 und 1924 gefunden wurden. Keine der Statuen ist vollständig erhalten und nur vier Köpfe des Königs wurden entdeckt. Die Zerstörung der Statuen hat vermutlich zu römischer Zeit im 2. Jahrhundert stattgefunden und ist somit ein Zeugnis des Steinraubs und nicht, wie früher vermutet, einer damnatio memoriae. Die hier gefundenen Statuenfragmente befinden sich heute im Louvre in Paris, im Ägyptischen Museum in Kairo und im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München. Außer den Statuenfragmenten des Königs wurden auch mehrere, teils gut erhaltene, teils fragmentierte Statuen von Familienmitgliedern gefunden. Die aufgrund dieser Funde nachgewiesenen Familienmitglieder waren seine Söhne Baka, Hornit, Setka, Prinzessin Neferhetepes und Königin Hetepheres II. Außerhalb des Korridors zum Taltempel fand sich ein Depot mit Votiv-Keramik. Literatur Allgemein Leslie V. Grinsell: Egyptian Pyramids. John Bellows, Gloucester 1947. Mark Lehner, Geheimnis der Pyramiden. Econ, Düsseldorf 1997, ISBN 3-572-01039-X. Rainer Stadelmann: Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 30). 3., aktualisierte und erweiterte Auflage, von Zabern, Mainz 1997, ISBN 3-8053-1142-7. Alberto Siliotti: Pyramiden – Pharaonengräber des Alten und Mittleren Reiches. Müller, Erlangen 1998, ISBN 3-86070-650-0. Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1. Michel Valloggia: Au coeur d’une pyramide. Une mission archéologique en Egypte. InFolio, Gollion 2001, ISBN 2-88474-100-3. Zahi Hawass: Die Schätze der Pyramiden. Weltbild, Augsburg 2003, ISBN 3-8289-0809-8, S. 224–230. Peter Jánosi: Die Pyramiden – Mythos und Archäologie (= Beck’sche Reihe. Band 2331; C. H. Beck Wissen). Beck, München 2004, ISBN 3-406-50831-6. Thomas Kühn: Das „Sternenzelt des Djed-ef-Re“ in Abu Roasch. In: Gabriele Höber-Kamel (Hrsg.): Kemet Heft 3/2008. Kemet Verlag, Berlin 2008, , S. 18–23. Grabungspublikationen John Shae Perring: Gizeh III., 1848. Émile Gaston Chassinat: Note sur les fouilles d’Abou Roash. (1900–1901), Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles-lettres 1901, S. 616–619. Fernand Bisson de la Roque: Rapport sur les fouilles d’Abou-Roasch. (1922–1923) (= Fouilles de l’Institut français d’archéologie orientale du Caire. (FIFAO) Band 1) 1924. Fernand Bisson de la Roque: Rapport sur les fouilles d’Abou-Roasch. (1924) (= Fouilles de l’Institut français d’archéologie orientale du Caire. (FIFAO) Band 2) 1925. Vito Maragioglio, Celeste Rinaldi: L’Architettura delle Piramidi Menfite, V – Le piramidi di Zedefra e di Chefren. Turin-Rapallo, 1966. Nicolas Grimal: Travaux de l’Institut français d’archéologie orientale en 1996–1997. Chantiers archéologiques et programmes de recherche. Etudes égyptologiques et papyrologiques. 2. Abou Rawash. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale (BIFAO) Band 97, 1997, S. 317–326. Nicolas Grimal: Travaux de l’Institut français d’archéologie orientale en 1997–1998. Chantiers archéologiques et programmes de recherche. Etudes égyptologiques et papyrologiques. 2. Abou Rawash. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale (BIFAO) Band 98, 1998, S. 499–505. Nicolas Grimal: Travaux de l’Institut français d’archéologie orientale en 1998–1999. Chantiers archéologiques et programmes de recherche. Etudes égyptologiques et papyrologiques. 2. Abou Rawash. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale (BIFAO) Band 99, 1999, S. 456–462. Bernard Mathieu: Travaux de l’Institut français d’archéologie orientale en 1999–2000. Chantiers archéologiques et programmes de recherche. Etudes égyptologiques et papyrologiques. 1. Abou Rawash. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale (BIFAO) Band 100, 2000, S. 447–452. Bernard Mathieu: Travaux de l’Institut français d’archéologie orientale en 2000–2001. Chantiers archéologiques et programmes de recherche. Etudes égyptologiques et papyrologiques. 1. Abou Rawash. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale (BIFAO) Band 101, 2001, S. 453–461. Dokumentarfilme Die Pyramiden Staffel 1, Folge 6: Abu Rawash - Verloren in der Zeit. (Abou Rawash et la pyramide disparue. Frankreich 2019) TV-Dokumentation; Deutsche Erstausstrahlung: ZDFinfo 7. Januar 2020 (auf youtube.com). Weblinks Der Grabkomplex des Djedefre (engl.) Alan Winston: The Pyramid of Djedefre at Abu Rowash (engl.) Institut français d’archéologie orientale: Le Caire: Abou Roach (franz.) Einzelnachweise Anmerkungen Ägyptische Pyramide Erbaut im 26. Jahrhundert v. Chr. 4. Dynastie (Ägypten) Abu Roasch
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https://de.wikipedia.org/wiki/Aubing
Aubing
Aubing ist der westlichste Stadtteil von München. Zusammen mit den nördlich gelegenen Stadtteilen Lochhausen und Langwied bildet es seit 1992 den Münchner Stadtbezirk 22 Aubing-Lochhausen-Langwied. Zu Aubing gehören auch Neuaubing und die Siedlung Am Westkreuz. Der ursprüngliche Ortskern liegt auf dem nördlichen Ende der Münchner Schotterebene, am Übergang zum Dachauer Moos. Die urkundlich belegte Geschichte Aubings beginnt am 16. April 1010. Alt-Aubing, dessen Zentrum als Ensemble unter Denkmalschutz steht, spiegelt den dörflichen Ursprung mit noch vorhandenen bäuerlichen Anwesen wider. Hier steht auch die 1489 geweihte Pfarrkirche St. Quirin mit einem Turm aus dem 13. Jahrhundert. Mit dem Eisenbahnanschluss im 19. Jahrhundert begann ein starkes Bevölkerungswachstum auf heute über 30.000 Einwohner, so dass die Bebauung im Norden, Osten und Westen mit den Nachbarstadtteilen und -gemeinden zusammengewachsen oder von diesen nur durch Eisenbahnstrecken getrennt ist. Westlich der heutigen Bebauung liegen der Wald der Aubinger Lohe und viele landwirtschaftlich genutzte Felder. Auf einem Teil dieser Fläche entsteht seit 2006 am Südrand Aubings in der Nähe des Gutes Freiham der neue Stadtteil Freiham, der im Westen durch den Autobahnring der A 99 mit dem Aubinger Autobahntunnel begrenzt ist. Geografie Lage Der alte Ortskern von Aubing liegt nördlich der heutigen S-Bahn-Station Aubing und weitgehend nördlich der Kirche St. Quirin auf einer leichten Erhebung, die den letzten Ausläufer der von Süden kommenden Münchner Schotterebene darstellt. Im Norden des Ortes schloss sich vor den Trockenlegungen des 19. Jahrhunderts direkt das Dachauer Moos an. In den Moorwiesen weidete das Gemeindevieh. Hausbau wäre dort unmöglich gewesen, da die Mooswiesen nach starkem Regen unter Wasser standen. Weiter südlich war eine Ansiedlung ebenfalls kaum möglich, da die zunehmende Dicke des Schotters, in dem Wasser gut abläuft, ein Bohren von Brunnen stark erschwert hätte. Die Humusschicht auf dem Schotter war dünn, mit Heidebewuchs. Ackerbau war dort vor den Zeiten der Landmaschinen ebenso wenig möglich wie in den Moorwiesen. Eine Ausnahme stellte lediglich eine Lehmzunge südlich des Kirchhügels dar, die den Getreideanbau im heutigen Bereich Bahnhof/Pretzfelder Straße erlaubte und in Dreifelderwirtschaft betrieben wurde. Als Wasserquelle diente der später verrohrte Langwieder Bach, der im Bereich der heutigen Altostraße entsprang und nach Norden verlief. Das Aubinger Gebiet ist, abgesehen von der Aubinger Lohe im Nordwesten, flach und nach Norden leicht abfallend, mit etwas über 540 Meter über Null im Südwesten bei Freiham und etwa 520 Meter gut vier Kilometer entfernt im Norden nahe dem Autobahntunnel. Der Höhenunterschied innerhalb des Dorfs Aubing wurde bei der ersten Grundvermessung 1809/10 mit nur sieben Metern ermittelt, der höchste Punkt in Alt-Aubing ist der Baugrund der Dorfkirche St. Quirin mit etwa 525 Meter. Der Hügel der Aubinger Lohe erreicht 541 Meter. Nachbarstadtteile und Nachbargemeinden Nördlich von Aubing liegen Lochhausen und Langwied, die wie Aubing seit 1992 zum Stadtbezirk 22 Aubing-Lochhausen-Langwied gehören. Die beiden um 1270 beziehungsweise um 950 erstmals urkundlich erwähnten Nachbarorte bildeten zusammen mit dem heute selbstständigen Gröbenzell von 1808 bis 1942 die Gemeinde Langwied. Nach der Eingemeindung bildeten sie bis zur Zusammenlegung mit Aubing 1992 gemeinsam den Stadtbezirk 40 Lochhausen-Langwied. Nachbarstadtteil im Nordosten ist Obermenzing. Wegen der Bahnstrecke München–Augsburg ist es von Aubing nur über die Bergsonstraße zu erreichen. Südlich von Obermenzing und somit südöstlich von Aubing liegt der Stadtteil Pasing. Aufgrund seines Bahnhofs mit haltenden Fernzügen und ICEs sowie seiner Infrastruktur mit weiterführenden Schulen, Fachärzten und Ämtern kann die ehemalige Stadt Pasing heute als Zentrum des Münchner Westens angesehen werden. Aufgrund von Bahnstrecken kann man Pasing im Straßenverkehr von Aubing aus nur über die Aubinger Straße (am S-Bahn-Haltepunkt Westkreuz) und über die Bodenseestraße (Bundesstraße 2) erreichen. Nachbarort im Süden ist Lochham, ein Ortsteil von Gräfelfing, das zum Landkreis München gehört. Die Bebauung im Süden Neuaubings geht mittlerweile nahtlos in den Ort Lochham über. Im Westen reichen die Aubinger Felder bis an die Bebauungsgrenze der Stadt Germering. Nördlich davon liegt Puchheim, beide gehören zum Landkreis Fürstenfeldbruck. Stadtteilgliederung Während im Westen noch große unbebaute Flächen vorhanden sind, ist die Bebauung im Osten weitgehend durchgängig und mit den Nachbarorten im Norden, Osten und Süden zusammengewachsen oder von ihnen nur durch Bahnanlagen getrennt. Nördlich der Bahnstrecke München–Buchloe liegt unweit des Bahnhofs Aubing der historische Ortskern Aubings. In dessen Osten liegt die Siedlung Aubing-Ost, die im Nordosten wie auch nördlichere Wohngebiete von der Bahnstrecke München–Augsburg und ihr vorgelagerte Bahnanlagen begrenzt ist. Das sind südlich der Bergsonstraße der Abstellbahnhof Pasing West und nördlich davon der DB-Betriebshof München 2. Nördlich des alten Ortskerns befindet sich die wallartige Erhebung des Autobahntunnels Aubing, dahinter liegen einige neuere Wohngebiete. Die Bebauung zwischen dem Naherholungsgebiet der Aubinger Lohe und der Bahnstrecke München–Augsburg gehört bereits zum benachbarten Lochhausen. Die amtliche Festlegung des Gebiets von Neuaubing von 1914 umfasste die Bebauung südlich der Bahnstrecke Pasing–Herrsching bis an die Lochhamer Grenze sowie nördlich dieser Bahnstrecke beiderseits der heutigen Limesstraße, im Norden etwa bis zur heutigen Altenburgstraße, also etwa die halbe Strecke bis zur Bahnstrecke nach Buchloe. Die Fläche östlich der Brunhamstraße und ein Streifen beiderseits der Bodenseestraße gehörte damals noch zu Pasing. Heute wird auch ein Bereich nördlich der Altenburgstraße als Neuaubing bezeichnet, bis zur Bahnstrecke nach Buchloe; eine genaue Grenzfestlegung gibt es nicht mehr. Ein Straßenschild an der Bodenseestraße verortet den Beginn Neuaubings westlich der Limesstraße. Die Bushaltestelle Neuaubing West liegt im Norden Neuaubings, nahe der S-Bahn-Station Aubing. Die Siedlung Am Westkreuz liegt östlich von Neuaubing, im Dreieck zwischen den Bahnstrecken München–Buchloe und München–Herrsching. An letzterer befindet sich der S-Bahn-Haltepunkt Westkreuz. Die Gleise der Bahnstrecke München–Buchloe, die Alt-Aubing und Aubing-Ost im Norden von Neuaubing und Am Westkreuz im Süden trennen, können vom Straßenverkehr nur an drei Stellen überquert werden: am westlichen Bebauungsrand, über die Limesstraße unweit des Bahnhofs Aubing und über eine weitere Straße, die Aubing-Ost mit dem Westkreuz verbindet. Fußgänger können zusätzlich an den beiden S-Bahn-Stationen Aubing und Leienfelsstraße die Bahngleise unterqueren. Um den südlichen Teil Neuaubings zu erreichen, muss die Bahnstrecke Herrsching–München in der Verlängerung der Limesstraße, der Brunhamstraße, überquert werden. Das Gut Freiham, in Richtung Germering gelegen, ist von Neuaubing aus über die Centa-Hafenbrädl-Straße zu erreichen. Es hatte bis November 2013 einen eigenen Bahnübergang der Freihamer Allee über die Strecke München–Herrsching mit Anschluss an die Bundesstraße 2, Bodenseestraße. Zwischen dem Gut Freiham und dem südlichen Teil Neuaubings wurde der südliche Teil des geplanten Neubaugebiets Freiham begonnen. In Freiham-Süd gibt es vorwiegend Gewerbebetriebe, zum Beispiel ein Möbelhaus (Höffner) und einen Baumarkt (Hornbach). Die Moosschwaige, ein Schwaighof im Moor, gehört historisch zum Gut Freiham. Sie ist die einzige Bebauung westlich der Autobahn. Für statistische Zwecke unterteilt die Münchner Verwaltung die Stadtbezirke in Bezirksteile und weiter in Stadtbezirksviertel. Im Stadtbezirk 22 umfasst Aubing zwei der drei Bezirksteile, die durch die Bahnstrecke München–Buchloe voneinander getrennt sind. Der nördliche dieser beiden Bezirksteile wird hierbei als ‚Altaubing‘ der südliche als ‚Neuaubing‘ oder ‚Aubing-Süd‘ bezeichnet. Der dritte Bezirksteil, ‚Lochhausen‘, umfasst auch Langwied. Geschichte Archäologische Funde und erste urkundliche Erwähnung Eine durchgehende Besiedelung seit vorrömischer Zeit wird vermutet und lässt sich seit dem 5. Jahrhundert nachweisen. Richtung Obermenzing, etwa am Rand der heutigen Wohnbebauung befand sich ein Reihengräberfeld aus dem 5. bis 7. Jahrhundert mit 862 Gräbern, das 1938 und 1961–63 ausgegraben wurde. Zahlreiche gefundene Grabbeigaben geben recht genaue Einblicke in die damalige Lebensweise. Zwei Ringe mit christlichen Symbolen sind der älteste Nachweis des Christentums auf dem Gebiet der Diözese München-Freising. Es besteht die bisher nicht belegte wissenschaftliche Vermutung, "Aubing" sei über dem Umweg von "Ubingas" (bei Ubo und seinen Leuten) über Ubingun vom bajuwarischen Männernamen Ubo abgeleitet. Die älteste erhaltene urkundliche Erwähnung ist von 1010: König Heinrich II. spricht darin dem Kloster Polling Grundrechte in Ubingun und einigen weiteren Orten zu. Ettaler Herrschaft, 1330–1803 Es scheint, dass der Ort trotz der genannten Beurkundung im bayerischen Herzogsgut verblieb, denn der Wittelsbacher Herzog Ludwig der Bayer vergab das Aubinger Herzogsgut nach 1330 an das von ihm 1330 gegründete Kloster Ettal als Teil der Gründungsausstattung. Ettal blieb bis zur Säkularisation in Bayern 1803 wichtigster Grundherr. Seine Herrschaft war im Vergleich zu Adelsherrschaften eher mild. Es ist beispielsweise nicht bekannt, dass Ettal seine Bauern bei Zahlungsschwierigkeiten aus dem Haus vertrieben hätte. Für 1770 ist nach einer großen Missernte die Unterstützung Aubings durch Ettal dokumentiert. Nach etlichen Streitereien zwischen Ettal und dem Landgericht Dachau, das die Interessen des Herzogs vertrat, wurden die Zuständigkeiten 1476 klar geregelt: Ettal wurde die niedere Gerichtsbarkeit für alle Aubinger zugesprochen, auch für die Untertanen anderer Grundherren, die nicht Leibeigene sein mussten, wie etwa der Ortskirche. Das Landgericht behielt die hohe Gerichtsbarkeit, also alle Verfahren, die mit der Todesstrafe enden konnten, sowie weitere hoheitliche Aufgaben wie die Musterung der Aubinger für die herzogliche Armee. In religiösen Dingen war die Diözese Freising maßgebend, zu der die Aubinger Pfarrei gehörte. Im Bayerischen Krieg (1420–1422) wurde Aubing niedergebrannt. Als einziges Gebäude überstand der noch erhaltene Turm der Kirche St. Quirin die Brandschatzung, nicht aber das vermutlich hölzerne Kirchenschiff. Der erhaltene steinerne Neubau des Kirchenschiffs wurde 1489 geweiht. Im Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) brannte Aubing erneut weitgehend ab. Auf Grund der Kriegsschäden und des kriegsbedingten Bevölkerungsverlusts gelang es mehrere Jahrzehnte nicht, die Landwirtschaft wieder im Vorkriegsumfang zu betreiben. Bis ins 19. Jahrhundert gab es unbebaute Flächen, die vermutlich durch Zerstörung im Dreißigjährigen Krieg entstanden waren. Selbstständige Gemeinde, 1818–1942 Mit der Säkularisation in Bayern endete 1803 die Ettaler Grundherrschaft in Aubing. Durch das bayerische Gemeindeedikt vom 17. Mai 1818 entstand die selbstverwaltete Gemeinde Aubing. Der Gemeindeausschuss wurde von allen steuerzahlenden Bürgern gewählt, also im Wesentlichen von Grundbesitzern. An der Spitze stand ein gewählter Gemeindevorsteher, ab 1870 ein Bürgermeister. Das Gut Freiham kam aus dem Landgericht Starnberg mit Aubing zum Landgericht München und über den sog. Steuerdistrikt einschließlich der Moosschwaige zu Aubing. Über Jahrhunderte war Aubing der einwohnerstärkste Ort westlich von München. Die Aubinger Pfarrei umfasste auch die östlichen Nachbardörfer bis Laim. Im Jahr 1810 wurden in Aubing selbst 758 Einwohner verzeichnet und damit beispielsweise über dreimal mehr als im benachbarten Obermenzing. Dies machte sich auch bei den Schülerzahlen bemerkbar. Als am 23. Dezember 1802 für Bayern die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, musste auch die Gemeinde Aubing für einen geregelten Schulbetrieb sorgen. Diese neu hinzugekommene Belastung wog umso schwerer, weil 1803 die Grundherrschaft des Klosters Ettal durch die Säkularisation endete und damit die Möglichkeit der finanziellen Unterstützung durch das Kloster wegfiel. In ihrer Verzweiflung baten 1820 die Gemeindevorsteher Königin Karoline um finanzielle Unterstützung zum Bau eines neuen Schulhauses. Letztlich trugen aber dann doch die Gemeinden Aubing und Langwied und die Pfarrei Aubing die Baukosten (dafür wurde eine Mesnerwohnung im Hause zugesagt). Auch verschiedene staatliche Stellen und Spender, wie Freiherr von Yrsch auf Freiham, unterstützten das Bauvorhaben finanziell. Das nahe der Kirche St. Quirin nach Plänen von Gustav Vorherr errichtete Gebäude (Altostr.16) nahm schließlich 1822 den Schulbetrieb für 80 Kinder auf. Das weitere Anwachsen der Bevölkerungszahl war der Grund für den Bau des 1893 an der Ubostraße errichteten neuen Schulhauses (Architekt: Johann Hieronymus). Das frei gewordene ehemalige Schulgebäude wurde zur Gendarmeriestation umfunktioniert. 1839 wurde das erste Teilstück der Bahnstrecke München–Augsburg von München über Pasing nach Lochhausen eröffnet. In der Folge wuchs das benachbarte Pasing besonders stark und wurde schließlich 1905 zur Stadt erhoben. 1873 bekam auch Aubing einen Bahnanschluss, die heutige S-Bahn-Station Aubing an der Bahnstrecke München–Buchloe, so dass auch dort die Einwohnerzahl auf 1.431 im Jahr 1900 stieg. Um die Wende zum 20. Jahrhundert setzte die Industrialisierung ein, die Chemische Fabrik Aubing und die Aubinger Ziegelei entstanden. 1903 wurde die südliche Bahnstrecke von Pasing nach Herrsching am Ammersee eröffnet, und an dieser 1906 die V. Centralwerkstätte der königlich bayerischen Staatsbahn unmittelbar südlich der heutigen S-Bahn-Station Neuaubing. 1913 hatte das Werk bereits über 500 Mitarbeiter, für die in der Nähe, in der Papinstraße, Wohnungen entstanden. Diese waren die erste Wohnbebauung in Aubing-Süd, das ab 1915 auch amtlich Neuaubing genannt wurde. Als letzter großer Industriebetrieb wurde in den 1930er-Jahren ebenfalls südlich der Bahnstrecke Pasing–Herrsching, aber unmittelbar östlich der Brunhamstraße, die Zweigstelle Dornier-Werke Neuaubing gebaut. Damals gehörte dieses Grundstück zwar zu Pasing, auf Grund der unmittelbaren Nähe wurde der Betrieb jedoch als Werk Neuaubing bezeichnet. Nördlich der Bahnstrecke entstand 1937/38 die heutige Siedlung am Gößweinsteinplatz für die Mitarbeiter. Im Ersten Weltkrieg (1914–1918) verloren 88 Aubinger Kriegsteilnehmer ihr Leben, knapp ein Zehntel der erwachsenen männlichen Bevölkerung. In der Landwirtschaft wurden im Krieg 54 russische Kriegsgefangene aus einem Lager im benachbarten Puchheim eingesetzt. Nach Ausrufung der Münchner Räterepublik am 7. April 1919 wurde der Gemeindeausschuss unter Gewaltandrohung zum Rücktritt aufgefordert. Vier Kommissionen aus Gemeindeausschussmitgliedern und Räten sollten sich um verschiedene Aufgaben der Gemeinde kümmern. Nach einem Protokoll vom 28. April wurde der Gemeindeausschuss jedoch wieder eingesetzt. Wenig später, am 1. Mai, rückten gegenrevolutionäre Truppen in Aubing ein. Am 15. Juni 1919 kam es zur ersten Gemeinderatswahl, bei der auch grundbesitzlose Aubinger und Frauen wählen durften. 1933 hatte Aubing 5789 Einwohner. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 gaben 3331 Wahlberechtigte 2940 gültige Stimmen ab. Die NSDAP wurde stärkste Partei, erreichte aber nur ein Drittel der Stimmen, etwa 10 % weniger als im deutschen Durchschnitt. Fünf Tage nach der Reichstagswahl kam es zu ersten Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Die Aubinger-Neuaubinger Zeitung vom 15. März 1933 berichtete, dass in Aubing und Lochhausen „8 Kommunisten in Schutzhaft genommen“ wurden. Elf Aubinger, die zwischen 1933 und 1944 im Konzentrationslager Dachau inhaftiert waren, sind namentlich bekannt. Soweit bekannt, lag ihre Haftdauer zwischen elf Monaten und drei Jahren und neun Monaten. Einer verstarb in Dachau. Seit 1942: Münchner Stadtteil Im April 1937 wurden erste Gespräche zwischen der Stadt München und der Gemeinde Aubing über eine Eingemeindung nach München geführt. Die Vertreter Aubings waren einer Eingemeindung gegenüber zunächst aufgeschlossen, man konnte sich jedoch nicht auf einen Eingemeindungsvertrag einigen. Auch die Mehrheit der Aubinger Bevölkerung war wohl dagegen. Schließlich entschied der zuständige Reichsstatthalter in Bayern, Ritter von Epp, per Verfügung die Eingemeindung zum 1. April 1942 ohne Vertrag. Die Bekanntgabe in der Zeitung wurde jedoch verboten. Zwischen 1941 und 1945 arbeiteten etwa 700 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Aubing und dem benachbarten Lochhausen in den Industriebetrieben, in der Landwirtschaft oder als Gemeindearbeiter. Von sieben Lagern ist heute nur noch das Kriegsgefangenenlager Neuaubing erhalten. 1943/44 richteten Bombenabwürfe auf das Reichsbahn-Ausbesserungswerk, die Dornier-Werke, eine Flak-Stellung im Bereich der heutigen Siedlung Neuaubing-West und ein Umspannwerk in der Aubinger Lohe große Schäden an. Mindestens 53 Personen starben dabei. Am Morgen des 30. April 1945 kamen die ersten Soldaten der 7. US-Armee nach Aubing. Etwa 400 Soldaten aus Aubing ließen im Krieg ihr Leben. Von 1950 bis 1961 stieg die Bevölkerung nur von 11.305 auf 13.049. In den folgenden neun Jahren bis 1970 kam es jedoch zu mehr als einer Verdopplung auf 27.403. Dies war bedingt durch den Baubeginn der beiden Siedlungen Am Westkreuz und Neuaubing-West. 1987 lag die Einwohnerzahl bei 30.181. Im Rahmen einer Neuordnung der Münchner Stadtbezirke wurde Aubing mit dem vormaligen Bezirk Lochhausen-Langwied 1992 zum Stadtbezirk 22, Aubing-Lochhausen-Langwied zusammengefasst. Einwohner Siehe auch den Abschnitt Entwicklung der Einwohnerzahl im Artikel Geschichte Aubings Die Einwohnerzahl wird von der Stadt München nur noch für den gemeinsamen Stadtbezirk Aubing-Lochhausen-Langwied ausgewiesen, 2008 lag diese bei 38.327, Ende 2019 bei 49.072 in 22.795 Haushalten. Weitere etwa 20.000 Einwohner sind bis 2040 im Neubaugebiet Freiham westlich von Neuaubing geplant. 1987, bei der letzten getrennten Erfassung der ehemals selbstständigen Stadtbezirke Aubing und Lochhausen-Langwied, entfielen 30.181 (85 %) der zusammen 35.550 Einwohner auf Aubing. Der Bezirk hat den dritthöchsten Anteil aller Münchner Bezirke an Mehrpersonen-Haushalten. Der Anteil von Kindern und Jugendlichen ist überdurchschnittlich hoch. 2018 und 2019 zogen jeweils etwa 1100 Menschen mehr in den Bezirk als weg. Für die Zukunft ist im bisher unbebauten Bereich westlich von Neuaubing und nördlich der Bodenseestraße im Baugebiet Freiham der Bau von 9.000 bis 10.000 neuen Wohnungen vorgesehen, so dass auch ab 2020 mit einem entsprechenden weiteren Anstieg der Bevölkerungszahlen gerechnet wird. Religion Die ursprüngliche Aubinger Dorfkirche St. Quirin ist auch heute noch die katholische Pfarrkirche für die Aubinger Gebiete nördlich der Bahnstrecke München–Buchloe. Georg Böhmer, Aubinger Pfarrer von 1912 bis 1922 hielt 1913 fest, dass sich die sozialen Strukturen von Alt-Aubing und Neuaubing so stark unterschieden, dass eine pfarrliche Trennung anzuraten sei. Zur Pfarrei Aubing gehörten 2300 Mitglieder, die Kirche bot aber nur Platz für etwa 300 Besucher. Ein nördliches Seitenschiff wurde 1913 erwogen, aber zu Gunsten des Kirchenbaus in Neuaubing fallen gelassen. Pfarrer Böhmer bat die Königlich Bayerische Staatsbahn um Unterstützung, die der Kirche, am Tag bevor sie in der Reichsbahn aufging (24. April 1920), das Grundstück übertrug, auf dem heute St. Konrad steht. Der erste Kirchenbau im 20. Jahrhundert war in der Folge die katholische hölzerne Behelfskirche St. Joachim und Anna in Neuaubing, auf dem Gelände der heutigen Turnhalle der Limesschule, von 1921 bis 1956. Im Jahr 1939 zählte die Gemeinde bereits 4.000 Mitglieder, neben Neuaubingern auch die Bewohner des Guts Freiham. Eine größere Kirche war daher notwendig geworden, aufgrund des Zweiten Weltkriegs konnte jedoch erst 1955 mit dem Bau begonnen werden. Kardinal Joseph Wendel weihte die erste steinerne Neuaubinger Kirche im November 1956 ein. Aubing war zwischenzeitlich nach München eingemeindet worden, und da es in München eine weitere Pfarrei St. Joachim gab, wurde die Pfarrei bei der Weihe nach St. Konrad von Parzham umbenannt. Das Einzugsgebiet der Gemeinde findet sich heute beiderseits der Limesstraße. St. Markus betreut Neuaubing-West und die dortigen Wohnsiedlungen aus den 1960er-Jahren. Am Westkreuz ist als vierte katholische Kirche St. Lukas zu finden. Die Kirche auf dem Gut Freiham heißt Heilig Kreuz. Unter den Neuaubinger Neubürgern fanden sich auch viele Protestanten. Die evangelisch-lutherische Adventskirche, an der südlichen Limesstraße Ecke Hohensteinstraße gelegen, wurde 1940 fertiggestellt. Eine Neuapostolische Kirche befand sich in der Limesstraße 45, schräg gegenüber der Limesschule. Sie wurde jedoch abgerissen und 2018 durch Wohnbebauung ersetzt. Am 12. September 2011 wurde an der Kastelburgstraße der Grundstein für ein Kirchenzentrum der Rumänisch Orthodoxen Metropolie für Deutschland, Zentral- und Nordeuropa gelegt. Beim feierlichen Gottesdienst war auch der Patriarch der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, Daniel Ciobotea, anwesend. Es handelte sich dabei laut Weihbischof Sofian allerdings um eine symbolische Aktion, da ein Termin für den Baubeginn aus finanziellen Gründen noch nicht fest stand. Der Kaufbetrag von 1,1 Millionen Euro für das 2600 Quadratmeter große Grundstück aus dem Besitz der Stadt München war erst zur Hälfte aufgebracht. Politik Seit der Fusion der Stadtbezirke Aubing und Lochausen - Langwied im Jahr 1992 zum Stadtbezirk 22 Aubing-Lochhausen-Langwied ist Aubing keine eigenständige Gebietskörperschaft mehr und hat dementsprechend auch keine eigenständige politische Vertretung mehr. Die örtlichen Angelegenheiten nimmt jetzt der Bezirksausschuss 22 wahr. Wappen Anfang der 1930er-Jahre entstand in der Gemeinde Aubing der Wunsch nach einem eigenen Wappen. Zuvor enthielten Gemeindesiegel das bayerische Rautenwappen beziehungsweise vor dem Ersten Weltkrieg keine Abbildungen. Der letzte frei gewählte Bürgermeister der Gemeinde, Josef Schmid (BVP, Amtszeit von 1925 bis 1933), veranlasste in Absprache mit dem Gemeinderat eine Suche nach geeigneten Wappenvorlagen im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Dort fand sich eine Urkunde von 1334, an der ein Siegel von „Hartmann von Aubingen“ hing, das drei herzförmige Blätter, sogenannte Seeblätter zeigt, deren Stiele sich in der Mitte treffen. Da es sich um einen Abdruck handelt, hat er keine Farben. Der Heraldiker Otto Hupp entwickelte anhand dieser Vorlage mehrere Vorschläge mit grünen, blauen und weißen Blättern. Der Gemeinderat entschied sich für „Drei grüne Blätter auf Silbergrund“ (so die heraldische Bezeichnung) und bat Otto Hupp um eine entsprechende Ausführung, welche dieser im November 1932 fertigstellte. Nach Antrag im Januar genehmigte das Staatsministerium des Inneren die Führung des Wappens am 23. Februar 1933. Durch Rückgabe der bisherigen Siegel mit dem Rautenwappen trat es am 9. Mai 1933 offiziell in Kraft. Schmid selbst konnte es nicht mehr einsetzen, er war im April von den Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängt worden. Es sollte nicht lange in offizieller Benutzung bleiben, denn schon kurz danach wurde auf Grund der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten auch in Aubing ein Siegel mit Reichsadler und Hakenkreuz verwendet. Durch die Eingemeindung nach München 1942 wurde das Wappen auch nach dem Ende des Dritten Reichs nicht mehr verwendet, da Aubing nun wie alle Münchner Stadtteile das Wappen der Landeshauptstadt München trug. Trotzdem hat sich das Aubinger Wappen im Ortsbild erhalten, es wird auch von verschiedenen Vereinen geführt. Die Rechte für die Verwendung liegen bei der Stadt München als Rechtsnachfolger der Gemeinde Aubing. Kultur und Vereinsleben Aubing hat keine Museen, Kinos oder professionell bespielten Bühnen. In einem ehemaligen Kino in der Limesstraße 21 befand sich zuletzt ein Supermarkt, bevor das Gebäude 2018 abgerissen wurde. Aufführungsmöglichkeiten, die von Theatergruppen oder für Konzerte genutzt werden, gibt es im Saal einer Gastwirtschaft in der Limesstraße, Ecke Altenburgstraße, sowie in den Kirchengemeinden. Eine Aufzählung der Arbeitsgemeinschaft Aubinger-Neuaubinger-Vereine von 2005 listet 36 Mitglieder. Bereits in den 1850er-Jahren gab es eine Aubinger Feuerwehr. Heute wird diese von den Freunden der Freiwilligen Feuerwehr Aubing e. V. unterstützt. Im Jahr 1909 wurde der Katholische Arbeiterverein Aubing mit 60 Mitgliedern gegründet, dem nicht nur Arbeiter aus den Eisenbahnwerkstätten, sondern auch Tagelöhner aus dem Gut Freiham angehörten. Im Jahr 1916 hatte er 132 Mitglieder, davon 37 „im Felde“ (also im Krieg). Bis 1927 sank die Zahl auf nur noch 54 Mitglieder. Im Dritten Reich wurde er 1937 aufgelöst, nach dem Krieg jedoch wiedergegründet: 1947 kam es zu einer gemeinsamen Versammlung der katholischen Arbeitervereine Aubing, Neuaubing sowie des 1918 gegründeten Arbeiterinnenvereins Aubing. Im Jahr 1921 wurde der Eisenbahnersportverein Neuaubing (heute: ESV Sportfreunde München-Neuaubing e. V.) gegründet, der 26 Abteilungen für verschiedene Sportarten und 4000 Mitglieder hat (Stand 2009). Im Jahr 1929 erfolgte die Gründung des SV Aubing, der sich besonders im Fußball engagiert und seit 1962 in der Bezirkssportanlage an der Kronwinklerstraße spielt. Im Jahr 2004 hatte er etwa 650 Mitglieder. Am 6. Dezember 1981 wurde der Freiflächenverein Aubing gegründet, dessen Zweck es ist, sich um die vereinseigene Belandwiese zu kümmern. Dieses 4800 Quadratmeter große Grundstück liegt am Germeringer Weg nahe der Ortsmitte. Es wurde dem Verein vom kinderlosen Aubinger Ehepaar Maria und Josef Beland gestiftet um die seit den 1960er Jahren bestehende Tradition der dort stattfindenden Vereinsfeierlichkeiten langfristig erhalten zu können. Hier findet unter anderem seit 1990 das jährliche Aubinger Herbstfest statt. Mitglieder des Vereins sind satzungsgemäß Vertreter einiger Aubinger Vereine. Der Burschenverein Aubing stellt alle drei Jahre in der Ortsmitte an der Kreuzung Alto-/Bergsonstraße den Maibaum mit dreidimensionalen Figuren aus Holz auf. Er veranstaltet das Aubinger Weinfest und ist Mitinitiator und -organisator des Aubinger Herbstfestes. Das Aubinger Archiv ist ein gemeinnütziger Verein und Stadtteilarchiv für München-Aubing und Umgebung. Es beherbergt eine Sammlung historischer und zeitgenössischer Dokumente. Der 2008 gegründete gemeinnützige Förderverein 1000 Jahre Urkunde Aubing e. V. widmet sich der Kultur- und Heimatpflege im Stadtbezirk Aubing-Lochhausen-Langwied. Er organisierte 2010 Feiern anlässlich der 1000-jährigen Wiederkehr der erstmaligen urkundlichen Erwähnung Aubings. Im ehemaligen Aubinger Heizkraftwerk ist unter dem Namen "Bergson Kunstkraftwerk" ein neues Kulturzentrum geplant. Bauwerke Älteste Bauwerke Die ältesten baulichen Überreste finden sich in der Aubinger Lohe, etwa 1,7 Kilometer entfernt vom Ortsmittelpunkt St. Quirin. Eine Art Turmburg oder Motte, deren Fundamente teilweise erhalten sind, wurde vermutlich im 10./11. Jahrhundert erbaut und im 14. Jahrhundert wieder aufgegeben. Der künstlich aufgeschüttete Lehmhügel hat eine ovale Fläche von etwa 20 × 30 Metern und wird an drei Seiten von einem bis zu 3,50 Meter tiefen Graben umgeben. Die Fundamente, möglicherweise auch das Erdgeschoss, waren aus Stein, darüber befindliche Aufbauten vermutlich aus Holz oder Fachwerk. Die Tuffstein-Fundamente des heutigen Bodendenkmals wurden im 19. Jahrhundert einem Aubinger Maurermeister gegen 45 Kreuzer jährliche Gebühr zur „Ausbeutung der Steine“ überlassen. Möglicherweise hat sie als Fluchtburg für die Aubinger und zur Sicherung der vorbeilaufenden Straße nach Augsburg gedient. Schriftliche Überlieferungen über die Aubinger Burg gibt es keine, der heutige Name „Teufelsburg“ ist für die Nutzungszeit also nicht belegt, sein Ursprung unklar. Neben der offensichtlichen Möglichkeit Teufel kommt auch eine Ableitung von „Tuifel“ (Vertiefung, Tümpel) in Frage, als Bezug auf das unterhalb liegende feuchte Gebiet des Dachauer Mooses. Das älteste erhaltene Bauwerk ist die Kirche St. Quirin. Ihr romanischer Turm wird auf das Ende des 13. Jahrhunderts datiert, denn dendrochronologische Untersuchungen ergaben, dass die Balken für die Glockenstube im Turm im Winter 1283/84 geschlagen wurden. Das Kirchenschiff im gotischen Stil ist 200 Jahre jünger, es wurde 1489 geweiht, nachdem der Vorgängerbau 1422 im Bayerischen Krieg niedergebrannt wurde. Der barocke Hochaltar ist von 1668. Durch das starke Bevölkerungswachstum in Aubing war der Kirchenraum mit vier Jochen Anfang des 20. Jahrhunderts zu klein geworden, daher wurde er 1936/37 Richtung Westen um ein fünftes Joch erweitert. Dieses fügt sich von innen gesehen stilistisch nahtlos an die älteren Abschnitte an. Die Decke des fünften Jochs ist jedoch an Drahtseilen aufgehängt, welche am Dachstuhl befestigt sind. Ensembles unter Denkmalschutz Der die Kirche umgebende Aubinger Dorfkern ist ein denkmalgeschütztes Ensemble. Ebenfalls unter Ensembleschutz stehen die Siedlung am Gößweinsteinplatz, das Zwangsarbeiterlager Neuaubing, sowie das Gut Freiham und die historisch zum Gut gehörige Moosschwaige. Darüber hinaus sind etwa 40 Einzelbauwerke in Aubing denkmalgeschützt, darunter etliche Wegkreuze, Bauernhäuser oder Stallgebäude. Die Wohnsiedlung am Gößweinsteinplatz wurde ab 1938 für die Angehörigen der Dornier-Werke gebaut und wird daher auch als Dornier-Siedlung bezeichnet. Bei der Erbauung grenzte sie nur an der Ostseite, Richtung Limesstraße, an andere Bebauung und war ansonsten freistehend. Zentrum ist ein Platz mit Uhrtürmchen, Wirtshaus und Laden. Das Zwangsarbeiterlager aus dem Zweiten Weltkrieg ist das einzige von 400 solcher Lager im Stadtgebiet München, das erhalten ist. Es wurde Anfang der 1940er Jahre unmittelbar westlich der Siedlung am Gößweinsteinplatz an der heutigen Ehrenbürgstraße gebaut. Von 1943 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 waren mindestens 300 Zwangsarbeiter aus verschiedenen Ländern untergebracht. Ein Teil der Gebäude wird Stand 2010 von Künstler und Handwerkern genutzt. Die älteste erhaltene urkundliche Erwähnung des Guts Freiham als „Villa Frihaim“ geht auf das 12. Jahrhundert zurück. Noch 1514 wurde es ausdrücklich als Schwaige, also als Viehhof erwähnt. Das Schloss wurde 1680 errichtet und 1865/1866 von Carl Theodor von Yrsch (1832–1899) im Stil der Münchner Maximilians-Neugotik umgebaut. Nach einer Renovierung ist Schloss Freiham seit 2010 Deutschlandsitz von Forever Living Products, einer Firma, die Kosmetikprodukte auf Aloe-Vera-Basis vertreibt. Die Kirche Heilig Kreuz gehört ebenfalls zum Gut Freiham. Einzelbauwerke unter Denkmalschutz Das Anwesen „Beim Neumaier“, auch „Schergenhof“ genannt, in der heutigen Ubostraße 21, der ehemaligen Bauerngasse, war von 1700 bis 1803 das Amtshaus des Kastners des Klosters Ettal. Da das Kloster als Grundherr die niedere Gerichtsbarkeit in seiner Hofmark ausübte, befand sich in dem Gebäude ein Karzer, der bis heute erhalten ist. Der 37 Meter hohe Aubinger Wasserturm wurde 1910 zusammen mit einem Wasserwerk auf 12.000 Quadratmetern von der Gemeinde errichtet, um die Wasserversorgung der wachsenden Bevölkerung in der ganzen Gemeinde sicherzustellen. Der denkmalgeschützte Bau im Heimatstil ist heute ein Wahrzeichen Neuaubings. Im Jahr 1954 wurde das Werk außer Betrieb genommen, nachdem die Stadtwerke München den Anschluss an ihr Wasserleitungsnetz hergestellt hatten. Heute stehen der Turm und das Nebengebäude leer. Auch das Kriegerdenkmal, die Mariensäule von 1870, das ehemalige Schulhaus von 1893 in der Ubostraße 23 und das Gebäude der Grundschule an der Limesstraße von 1907 stehen unter Denkmalschutz. Der Bau des letzteren war ein Politikum, da der Bedarf für diesen Bau durch den Zuzug von Arbeitern des Bahnausbesserungswerkes entstand. Weder Bahnwerk noch Arbeiter zahlten Steuern in Aubing, die finanziell schlecht ausgestattete Gemeinde war jedoch zum Bau verpflichtet (siehe Streit um den Neuaubinger Schulbau im Artikel Geschichte Aubings). Südlich des S-Bahnhofs Neuaubing stehen zehn Gebäude des ehemaligen Bahnausbesserungswerks selbst, erbaut zwischen 1902 und 1926, sowie Eisenbahner-Wohnungen in der Papinstraße von 1905 unter Denkmalschutz. Das ehemalige Aubinger Heizkraftwerk im Nordosten Aubings nahe der Bergsonstraße wurde 1940 von der Bahn erbaut. Es steht seit 2007 unter Denkmalschutz. Neuere Bauwerke Das größte Aubinger Gebäude ist der Ramses, ein Wohnhaus in der Siedlung Am Westkreuz. Architekten waren Helmut von Werz und Johann-Christoph Ottow, die zuvor einen städtebaulichen Wettbewerb für die Planung des gesamten Gebiets Am Westkreuz gewonnen hatten. Der Grundstein des Ramses wurde am 12. Juni 1969 von Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel gelegt, ab Sommer 1971 konnten etwa 1000 Bewohner in die 343 Wohnungen mit Größen zwischen 33,5 und 170 m² einziehen, die Gesamtwohnfläche liegt bei 22.500 m². 1970 lag der Wohnungspreis bei durchschnittlich 1100 Mark pro Quadratmeter. Das Gebäude ist 64,5 Meter hoch, 138 Meter lang und 23 Meter breit. Im höchsten, 19. Stockwerk befindet sich ein überdachtes beheizbares Schwimmbad mit Sonnenterrasse und Sauna für die Bewohner. Direkt südlich des Aubinger Bahnhofs wurde 1992 für die Deutschen Telekom (Fernmeldezeugamt) ein Hochregallager gebaut, vorgesehen für Materialien für den Eigenbedarf der Telekom im südlichen Bayern wie Leitungen, Werkzeuge und Messgeräte. Allein die Betriebstechnik des Lagers kostete zur Bauzeit 30 Millionen Mark. Die Halle war 20 Meter hoch, 80 Meter lang, 38 Meter breit und bot Platz für 38.000 Paletten. Es handelte sich um ein „architektonisch reizvolles“ Gebäude, das von außen einen ähnlichen Eindruck erweckt, als seien mehrere aufrechte Zylinder nebeneinander gestellt. Ab 2015 wurde das ganze Gelände abgerissen und mit Wohngebäuden bebaut. Der Aubinger Tunnel ist mit 1935 Metern der längste Autobahntunnel Bayerns. Er verläuft als Teil des Münchner Autobahnrings (A 99) nordwestlich des alten Ortskerns, einige Aubinger Wohngebiete liegen noch nördlich davon. Es handelt sich um einen reinen Lärmschutztunnel. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Die Industriebetriebe, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gegründet wurden (siehe Industrialisierung im Artikel Geschichte Aubings), existieren nicht mehr. Die Gelände der Aubinger Ziegelei und der Chemischen Fabrik Aubing sind heute mit Wohngebäuden bebaut. Auf dem Gelände des ehemaligen Dornier-Werkes befindet sich ein „Business-Park“, der Gewerbeflächen vermietet. Das Bahnausbesserungswerk ist nach der Stilllegung teilweise abgerissen, danach mit Gewerbe- und Wohngebäuden bebaut worden. Ein weiteres Bahngelände zwischen Alt-Aubing und der Siedlung Aubing-Ost (S-Bahn-Station Leihenfelsstraße) wurde bis auf Ausbildungszentrum, (noch in Betrieb Stand 2018) ebenfalls abgerissen und mit Wohngebäuden bebaut. Erhalten geblieben sind dagegen einige landwirtschaftliche Betriebe in der Ubostraße in Alt-Aubing. 48 % der Fläche des Stadtbezirks Aubing-Lochhausen-Langwied wurde zum 1. Januar 2009 als Landwirtschaftsfläche verzeichnet. Vorhanden sind außerdem zahlreiche Handwerksbetriebe und Einzelhändler für die Stadtteilversorgung. Letztere konzentrieren sich auf die Altostraße für Alt-Aubing, die Limesstraße für Neuaubing sowie Ladenzentren an der Wiesentfelser Straße und am Westkreuz. Daneben gibt es im Bereich der Bodenseestraße einige Auto- und Autoteilehändler, Baumärkte (Toom Baumarkt, Obi), Tankstellen und Supermärkte. Im neuen Gewerbegebiet Freiham Süd haben sich bisher ein Möbelhaus (Höffner), ein Baumarkt (Hornbach) und weitere Betriebe niedergelassen. Hier sollen nach Planungen der Stadt München insgesamt 8000 Arbeitsplätze entstehen. Durch die gute Anbindung vieler Aubinger Wohngebiete an das Bahnnetz, heute S-Bahn-Netz, ist der Stadtteil schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts für Pendler in die inneren Stadtbezirke interessant. Gleiches gilt für Touristen. Im Jahr 2008 gab es acht Hotels oder Herbergen mit zusammen 496 Betten und 124.952 Übernachtungen, die Auslastungsquote lag bei 69 %. Öffentliche Verkehrsmittel Aubing ist mit sechs Stationen an vier Linien der S-Bahn München angebunden, die jeweils im 20-Minuten-Takt (Stand 2017 S8 in der Hauptverkehrszeit im 10-Minuten-Takt) angefahren werden. Die Nummerierung der Linien ändert sich gelegentlich, wenn bei einem Fahrplanwechsel westliche und östliche Äste des S-Bahn-Netzes neu kombiniert werden. Alle Linien fahren stadteinwärts über Pasing und München Hauptbahnhof zum Karlsplatz (Stachus) und zum Marienplatz. Die Stationen Leienfelsstraße und Aubing liegen an der Linie nach Geltendorf (S4) auf der Bahnstrecke München–Buchloe. Das Westkreuz wird von zwei Linien angefahren, der Linie nach Starnberg und weiter nach Tutzing (S6) über die Bahnstrecke München–Gauting sowie der Linie nach Herrsching am Ammersee (S8) über die Bahnstrecke München-Pasing–Herrsching. Die Station Neuaubing liegt ebenfalls an der Linie nach Herrsching, wie auch die 2013 eröffnete Station Freiham für den gleichnamigen neuen Stadtteil. Die Station Langwied an der Grenze zum benachbarten Obermenzing liegt an der Linie nach Mammendorf (S3). Mehrere Buslinien erschließen ferner den Stadtteil, darunter der Metrobus Linie 57, der vom U-Bahnhof Laimer Platz über Pasing nach Neuaubing West fährt. U-Bahnen oder Straßenbahnen gibt es nicht. Straßenverkehr Im Februar 2006 wurde das Teilstück der A 99 (Münchner Autobahnring) zwischen der Anschlussstelle München-Lochhausen und der A 96 München-Lindau mit dem Aubinger Tunnel eröffnet. Seitdem ist Aubing über die Anschlussstelle München-Freiham-Mitte direkt an das Autobahnnetz angebunden. Die nördlich davon gelegene Anschlussstelle Germering-Nord liegt zwar ebenfalls auf Aubinger Gebiet, hat jedoch keine Straßenverbindung nach Aubing. Das neue Gewerbegebiet Freiham Süd wurde mit einer Halbauffahrt an die A96 angeschlossen, so dass diese von und nach München, nicht aber Richtung Lindau erreicht werden kann. Die Anschlussstelle Freiham-Mitte führt auf die Bundesstraße 2, die bis Pasing als Bodenseestraße und weiter Richtung Münchner Innenstadt als Landsberger Straße eine der großen Münchner Ein- und Ausfallstraßen ist. Medien Neben den Münchner Tageszeitungen und kostenlosen Anzeigenblättern hält sich die am 4. Oktober 1926 vom Aubinger Buchdrucker Joseph Heinrich Jeup (1862–1947) gegründete und wöchentlich erscheinende Aubing-Neuaubinger Zeitung. Noch 1926 wurde die Zeitung das offizielle Amtsblatt der Gemeinde Aubing und blieb dies bis zur Eingemeindung. Im Jahr 1939 unterlag sie der nationalsozialistischen Gleichschaltung, sie wurde 1948 neu gründet. Öffentliche Einrichtungen Städtische Einrichtungen im Stadtteil beschränken sich abgesehen von den Schulen auf eine Zweigstelle der Münchner Stadtbibliothek am Westkreuz. Das nächstgelegene Bürgerbüro sowie ein Standesamt befinden sich im Pasinger Rathaus. Schulen Zur Geschichte der Schulen siehe auch Geschichte Aubings In Aubing gibt es vier Grund- und zwei Mittelschulen, die jeweils nach der angrenzenden Straße benannt sind. Die Zahl der Schüler und Klassen im Schuljahr 2008/09 ist in Klammern angegeben. Die Grundschule an der Gotzmannstraße (295/12) befindet sich in Alt-Aubing. Sie wurde 1960 als Nachfolgerin der Volksschule in der Ubostraße 23 eröffnet, die mit fünf Klassenräumen ab 1893 auf die erste Schule der Gemeinde Aubing in der Altostraße 16 folgte. Die Grundschule an der Limesstraße (270/12) steht in der Mitte Neuaubings. Bei einer zweiten Erweiterung 1955/56 (Neubau) entstand das Hauptgebäude im heutigen Umfang. Im Jahr 1960 kamen eine zweite Turnhalle und ein Schwimmbad hinzu. Heute werden die Jahrgangsstufen 1–4 in je drei Klassen unterrichtet. Die Grundschule am Ravensburger Ring (352/15) befindet sich am Westkreuz und die Grundschule an der Wiesentfelser Straße (243/10) in Neuaubing-West. Dort steht auch die Mittelschule an der Wiesentfelser Straße (268/12). Diese wurde mit mehreren nationalen Schulpreisen ausgezeichnet und kam 2010 unter die besten 15 Schulen aller Schularten beim Deutschen Schulpreis. Die Mittelschule an der Reichenaustraße (292/13) befindet sich in der Siedlung Am Westkreuz und eine Filiale der Staatlichen Fachoberschule, Ausbildungsrichtung Technik, in der Kronwinkler Straße, östlich des alten Ortskerns. Neben den Aubinger Schulen gibt es im Stadtbezirk 22 (Aubing-Lochhausen-Langwied) noch eine Grundschule in Lochhausen. Im Neubaugebiet Freiham ist eine weitere Grundschule geplant. Ob dort für die nach Vollendung des Neubaugebiets dann über 50.000 Einwohner des Stadtbezirks auch ein Gymnasium und/oder eine Realschule entstehen werden, ist noch unsicher. Derzeit müssen Realschüler und Gymnasiasten in benachbarte Gemeinden und Stadtteile, zum Beispiel Pasing, Laim, Germering, Gröbenzell und Unterpfaffenhofen ausweichen, eine Situation, die von Vertretern benachbarter Gemeinden kritisch gesehen wird. Aubing als Projektgebiet für „Smarter Together München“ Neuaubing-Westkreuz und Freiham sind seit dem 1. Februar 2016 das Projektgebiet des Projektes „Smarter Together München“. Das Projekt der Europäischen Union zielt darauf ab, Konzepte der Stadtentwicklung im Bereich Mobilität, Energie, Bürgerbeteiligung und Datenmanagement im Sinne einer lebenswerteren und nachhaltigeren Stadt zu erproben. Innerhalb der Projektlaufzeit von Februar 2016 bis Januar 2021, welcher auf Grund der Corona-Pandemie bis Juli 2021 verlängert wurde, wurden in Freiham und Neuaubing-Westkreuz verschiedene Smart-City Konzepte implementiert. Die Ziele des „Smarter Together München“ Projektes sind, die Lebensqualität der Anwohner zu verbessern, CO2-Emissionen zu senken, die Nutzung Erneuerbarer Energien zu steigern, die Energieeffizienz im Wohnraum zu steigern und neue Mobilitätsangebote zu schaffen. Insgesamt wurden rund 20 Millionen Euro in das Projekt investiert, wovon 6,85 Millionen Euro seitens der Europäischen Union investiert wurden. Für die Vorbereitung und Organisation des Projektes war das Referat für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München zuständig. Die Evaluierung des Projektes obliegt dem Referat für Stadtplanung und Bauordnung der Stadt München. Im Rahmen des Projektes wurden in Aubing acht Mobilitätsstationen als Ergänzung zur bestehenden öffentlichen Infrastruktur eingerichtet. Diese Mobilitätsstationen umfassen laut einem Bericht des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München folgende Angebote: 10 E-Carsharing-Fahrzeuge 40 Mieträder „MVG Rad“ 24 Pedelecs 20 E-Trikes (lastenfähige E-Dreiräder) 16 Ladestationen für E-Mobile Im Bereich der energetischen Sanierung wurden laut einem Bericht des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München über 42.000 Quadratmeter Wohnfläche im Projektgebiet energetisch saniert. Ebenso wurde 2017 in Freiham eine Geothermieanlage errichtet, sowie mehrere Photovoltaikanlagen. Laut einem Bericht des Referats für Arbeit und Wirtschaft der Stadt München konnten dadurch mehr als 20 % Endenergie im Projektgebiet eingespart werden. Ebenso wurde 2018 in Freiham ein Batteriespeicher eingerichtet, wodurch überschüssiger Strom kurzfristig in den Batteriespeicher geladen und nach Bedarf an anderer Stelle wieder entladen werden kann. Personen Gebürtige Aubinger Georg Gotzman (auch Gotsmann, Gottsmann; genannt Theander; * um 1508 in Aubing; † 19. Januar 1570 in Ingolstadt), Philosoph und Professor der Theologie in Ingolstadt Johann Eichhorn (1906–1939), Vergewaltiger und Mörder Philipp Müller (1931–1952), Arbeiter und Kommunist. Er war der erste Demonstrant in der Bundesrepublik, der durch die Polizei getötet wurde. Manfred Berger (* 1944 in München), ist ein deutscher Erziehungswissenschaftler und Freizeithistoriker. Nach Aubing gezogene Personen Franz Tausend (1884–1942), der „Goldmacher“, ein Alchemist und Betrüger. Walter Rinke (1895–1983), Volkswirt, Verwaltungsbeamter und Politiker (CSU). Alois Brem (1930–2016), von 1964 bis 2001 Pfarrer von St. Quirin. Literatur Steinbacher Josef: Aubing, Pfarrdorf bei München. Diessen 1914. Aubinger Archiv e.V. (Hrsg.): Chronica Aubingensis – Die Tagebücher des Josef Steinbacher (1911–1922). Edition Josef Feneberg, München-Aubing 2002. Stangl Hans: Aubing Anno Dazumal. München-Aubing 1975. Pfarrei St. Quirin Aubing: 500 Jahre Aubinger Kirchweih. München-Aubing 1980. Pfarrei St. Quirin Aubing: Wanderungen zwischen Tag und Jahr, Aubing und seine Menschen. München-Aubing 1984. Siegfried Bschorer, Barbara Sajons: Dokumentation zur Ausstellung 1000 Jahre Aubing. München-Aubing 2010. Aubinger Archiv e.V.: Dokumentation zur Ausstellung „1000 Jahre Aubing“. München-Aubing 2010. Verein „1000 Jahre Urkunde Aubing“ (Hrsg.): Festschrift 1000 Jahre Aubing. München-Aubing 2010. Weblinks Einzelnachweise Stadtteil von München Ehemalige Gemeinde (München) Ehemaliger Stadtbezirk Ersterwähnung 1010 Gemeindegründung 1818 Gemeindeauflösung 1942
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https://de.wikipedia.org/wiki/Gabelbock
Gabelbock
Der Gabelbock (Antilocapra americana), auch als Gabelhornantilope, Gabelantilope, Gabelhorntier, Gabelhornträger oder Pronghorn bekannt, ist ein nordamerikanischer Wiederkäuer der Prärie, ist aber auch in der Sonora-Wüste zu finden. Obwohl seine Gestalt an die Antilopen Afrikas und Asiens erinnert, gehört er nicht zu deren Familie der Hornträger. Er bildet die heute monotypische Familie der Gabelhornträger (Antilocapridae) als ihr einziger rezenter Vertreter. Merkmale Habitus Der Gabelbock ist etwa so groß wie ein Damhirsch. Er hat eine Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 150 Zentimetern (der Schwanz ist 8 bis 15 cm lang), eine Körperhöhe von 90 Zentimetern und ein Gewicht von 50 bis 70 Kilogramm. Die Männchen sind etwas größer als die Weibchen (Sexualdimorphismus). Das Fell ist oberseits gelb- bis rotbraun und unterseits bis zu den Flanken weiß gefärbt; weiße Bänder finden sich zudem auf der Vorderseite des Halses und um das Maul herum. Die Männchen haben außerdem eine schwarze Zeichnung im Gesicht und am Hals. Ein Gabelbock kann seine Körperhaare aufrichten. Durch das Aufstellen der weißen Rumpfhaare gibt er ein weithin sichtbares Signal, das in einer Herde als Warnung wahrgenommen wird. Unterscheidbar sind die Geschlechter auch durch die Hörner. Beim Männchen können sie bis zu 25 cm lang werden (meist sind sie doppelt so lang wie die Ohren) und gabeln sich in ein kurzes nach vorne gerichtetes und ein langes nach oben gerichtetes und etwas zurückgebogenes Ende – von dieser Eigenschaft leitet sich ihr deutscher Name ab. Weibchen haben oft gar keine Hörner; falls doch, dann sind diese niemals länger als die Ohren. Unter den Sinnesorganen des Gabelbocks kommt dem Auge die größte Bedeutung zu. Durch die Lage der Augen an den Kopfseiten hat ein Gabelbock die Möglichkeit, ein Blickfeld von nahezu 360° zu beobachten. Gehör- und Geruchssinn sind von etwas geringerer Bedeutung, beide sind aber dennoch gut entwickelt. Die Ohren können aufgestellt und in verschiedene Richtungen gewendet werden. Die Nase spielt vor allem beim Erkennen von Reviergrenzen eine Rolle. Anders als bei anderen Paarhufern fehlen die Afterklauen vollständig, die Gliedmaßen tragen also nur die dritte und die vierte Zehe. Gabelböcke zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Sprungkraft aus. So können sie mit einem einzigen Sprung bis zu sechs Meter vorwärts schnellen. Schädel- und Gebissmerkmale Der Gabelbock besitzt ein reduziertes Gebiss: im Unterkiefer sind je Kieferhälfte 3 Schneidezähne, 1 Eckzahn, 3 Prämolaren und 3 Molaren ausgebildet, im Oberkiefer fehlen die Schneide- und Eckzähne. Die Zahnformel lautet somit , insgesamt sind also 32 Zähne ausgebildet. Die unteren Schneidezähne besitzen eine spachtelartige Form, ähnlich ist der Eckzahn gestaltet (incisiform). Die Backenzähne sind allgemein hochkronig (hypsodont) und weisen auf den Kauflächen ein mondsichelartig geformtes (selenodontes) Zahnschmelzmuster auf. Hervorzuheben ist vor allem die Hochkronigkeit, die teilweise jene der spezialisierten Grasfresser unter den Rindern übertrifft. Hörner Eine Besonderheit stellen die Hörner dar, die direkt oberhalb des Augenfensters ansetzen. Wie die der Hornträger bestehen sie aus einer knöchernen Grundlage (Schaft), die mit Keratin überzogen ist (Hornscheide). Dabei gabelt sich der Hornschaft beim heutigen Gabelbock selber nicht, nur der Keratinüberzug bildet die beiden Hornspitzen aus. Jedes Jahr werden die Hornscheiden nach der Brunft etwa ab Oktober gewechselt. Nur die Knochenzapfen bleiben zeitlebens bestehen, während die Hornscheide sich ablöst und zu Boden fällt. Darunter hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits neue Hornmasse gebildet, die noch mit einem pelzigen Überzug bedeckt ist. Das jährliche Wachstum des Keratinüberzuges ist nach rund zehn Monaten abgeschlossen. In dieser Hinsicht ähnelt der Gabelbock den Hirschen, die ihr Geweih jährlich wechseln, weicht aber markant von den Hornträgern ab, bei denen es nicht zu einem Austausch der Hornscheide kommt. Fossile Vertreter der Gabelhornträger besaßen zum Teil sehr komplexe Hörner mit mehreren oder vielfach gegabelten beziehungsweise in sich gedrehten Schäften. Hier ist unklar, ob es ebenfalls zu einem jährlichen Abrieb der Hornscheide kam. Einige Experten sehen darin ein besonderes Merkmal des heute lebenden Gabelbocks. Die frühesten Gabelhornträger besaßen noch mit Haut überzogene Hörner, was anhand von Blutkanälchen an den Hornschäften nachgewiesen wurde. Allgemein wird das Wachstum der Hörner – wie bei anderen Stirnwaffenträgern auch – gesteuert über Gene, die für die Bildung von Haut, Knochen und Nerven verantwortlich sind. Verbreitung Der Gabelbock entwickelte sich in den Grasländern Nordamerikas und war einst weit über die Prärie und auch in den Wüsten und Halbwüsten der südwestlichen USA sowie des nordwestlichen Mexiko verbreitet. Er bevorzugt Regionen mit weitem Sichtfeld und einer mosaikartigen Vegetation aus offenen Steppen- und Staudenlandschaften. Ursprünglich über weite Bereiche der Großen Ebenen bis hin zum Saskatchewan River im Norden verbreitet, ist er seit der Besiedlung Nordamerikas durch die Europäer in höhere Gebirgslagen des westlichen Kontinentalteiles zurückgedrängt worden. In den Rocky Mountains kommt er bis in Höhen von 3350 m vor. Generell meidet der Gabelbock geschlossenere Landschaften (siehe auch: Bedrohung und Schutz). Lebensweise Gabelböcke können zu allen Tages- und Nachtzeiten aktiv sein, sind dies jedoch überwiegend während der Dämmerung. Wo die Umstände es erforderlich machen, führen sie jahreszeitliche Wanderungen durch, die über Strecken von bis zu 260 Kilometern führen können. Dies ist beispielsweise in Wüsten notwendig, um Wasserläufe zu suchen, oder in felsigen Gegenden, die im Winter kein ausreichendes Nahrungsangebot haben. Die weitesten untersuchten Wanderungen führen aus dem Grand-Teton-Nationalpark über die Gros Ventre Range zum Oberlauf des Green Rivers in Wyoming. Im Sommer werden ältere Männchen zu Einzelgängern und versuchen, durch Kämpfe ein Territorium zu erstreiten. In diesem sammeln sie einen Harem um sich. Ein Territorium kann vier Quadratkilometer umfassen und wird durch Urin markiert und somit abgesteckt. Das Männchen ist fortan damit beschäftigt, andere Männchen am Betreten und Weibchen am Verlassen des Territoriums zu hindern. Bei einem Aufeinandertreffen zweier Männchen reichen meistens Drohgebärden mit lauten Schreien und Scheinattacken aus, um über Sieger und Verlierer zu entscheiden. Kommt es doch einmal zum Kampf, können die scharfkantigen Hörner ernsthafte Verletzungen und sogar den Tod verursachen. Im Herbst und im Winter tun sich all die kleinen Verbände mit einzelgängerischen Männchen zu großen Herden zusammen, die in historischen Zeiten mehrere zehntausend Tiere umfassen konnten, heute jedoch maximal aus wenig mehr als 1000 Tieren bestehen. Jüngere Männchen, die noch nicht kämpfen können, finden sich zu kleinen Verbänden zusammen; alte Männchen, die zu schwach zum Kämpfen geworden sind, bleiben einzelgängerisch und versuchen, den Revieren der Artgenossen auszuweichen. Die Weibchen leben in Gruppen von etwa 20 Tieren. Nach einer Tragzeit von achteinhalb Monaten sondert sich das Weibchen von der Herde ab und bringt ein bis zwei, sehr selten drei Junge mit einem Geburtsgewicht von etwa drei Kilogramm zur Welt. Diese haben zunächst ein graues Fell, das nach drei Monaten die typischen Farben der Alttiere annimmt. Die ersten drei Tage werden sie in einem Versteck gehalten, und etwa nach einer Woche können junge Gabelböcke selbst rennen. Obwohl sie schon nach drei Wochen Gras zu sich nehmen, werden sie noch fünf bis sechs Monate lang gesäugt. Die Geschlechtsreife erreichen die Weibchen mit 15 bis 16, die Männchen mit etwa 24 Monaten. Gabelböcke haben eine geringe Lebenserwartung und werden selbst unter günstigen Umständen selten älter als zehn Jahre. Ernährung Der Gabelbock ist stark wählerisch in seinem Nahrungsverhalten. Generell ernährt er sich von verschiedenen Pflanzen, vor allem von Kräutern, Blättern, Sprossen und Gräsern. Häufig verbringt ein Tier nur relativ kurze Zeit, etwa eine halbe Minute, an einer Nahrungsressource. Vor allem im Frühjahr und zu Beginn des Sommers bevorzugt der Gabelbock Gras, während er im Herbst und Winter Blätter an Stauden frisst. Bedeutend sind hierbei vor allem Artemisia-Gewächse. In Trockenlandschaften bilden zudem Kakteen einen Teil der Ernährungsgrundlage. Geschwindigkeit Im Laufen können Gabelböcke Geschwindigkeiten von 60 bis 70 km/h erreichen; anhand von gemessenen Schrittlängen wurde sogar eine Geschwindigkeit von 86,5 km/h angenommen. Derart hohe Geschwindigkeiten können über eine Strecke von bis zu fünf Kilometern durchgehalten werden. Eine Distanz von 11 Kilometern können sie in 10 Minuten bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 65 km/h überwinden. Die Tiere sind also eher Langstreckenläufer als Sprinter. Die körperliche Anpassung an solche Geschwindigkeiten besteht nicht nur in dem schlanken Körperbau und den kräftigen Beinen, sondern auch in einer Vergrößerung von Lungen und Herz – das Herz eines Gabelbocks ist etwa doppelt so groß wie das eines Hausschafs. Weitere Anpassungen bestehen beispielsweise in einer erhöhten Anzahl der Mitochondrien pro Muskelvolumen. Es sind solche Verstärkungen der allgemeinen Säugetierstrukturen – und nicht die Entwicklung neuer Strukturen –, die es dem Gabelbock ermöglichen, einen höheren Sauerstoffanteil aus der Atemluft aufzunehmen und zu verwerten, als es für ein Säugetier seiner Größe zu erwarten ist. Oft stößt man auf die Aussage, Gabelböcke seien nach dem Gepard die schnellsten Säugetiere der Welt. Hier ist aber die Frage, ob die Höchst- oder die Durchschnittsgeschwindigkeit gemeint ist. Über sehr kurze Distanzen können manche afrikanisch-asiatische Antilopen, wie zum Beispiel die Hirschziegenantilope, die gleiche Geschwindigkeit erreichen. Allerdings sind Gabelböcke die schnellsten Säugetiere des amerikanischen Doppelkontinents und, gemessen über eine Strecke von fünf Kilometern, wahrscheinlich sogar die schnellsten Säugetiere überhaupt. Natürliche Feinde Die natürlichen Feinde des Gabelbocks sind vor allem der Wolf, der Kojote und der Puma. Diese reißen ob der Schnelligkeit ihrer Beutetiere jedoch meistens nur junge, alte oder kranke Individuen. Durch gezielte Tritte mit den Hinterhufen versuchen Gabelböcke, sich gegen die Angreifer zur Wehr zu setzen, was vor allem bei Kojoten oft Erfolg hat. Als Hauptwaffe gegen Fressfeinde gilt aber ihre Geschwindigkeit. Neben diesen natürlichen Feinden stellt jedoch auch der Mensch eine große Bedrohung für den Gabelbock dar. Zu den ursprünglichen natürlichen Feinden gehörten unter anderem der Gepard Miracinonyx trumani, der Löwe Panthera atrox und möglicherweise auch der Kurznasenbär. Da die maximale Höchstgeschwindigkeit von 86 km/h weit höher ist als nötig, um den heutigen Jägern zu entkommen, wurde teilweise angenommen, dass der Gabelbock aufgrund von Nachstellungen durch Miracinonyx seine guten Laufeigenschaften entwickelt habe. Dieses mutmaßliche Beispiel einer Koevolution in der Räuber-Beute-Beziehung (auch Red-Queen-Hypothese) lässt sich nach Ansicht zahlreicher Wissenschaftler jedoch nicht belegen: Während schon die frühesten Vertreter der Gabelhornträger vom beginnenden Miozän an vor rund 20 Millionen Jahren aus anatomischen Gründen als extrem schnelle Läufer anzusehen sind, stammt der älteste Nachweis der Katze in Nordamerika erst aus dem ausgehenden Pliozän. Systematik und Evolution Taxonomie Der Gabelbock wird als eigenständige Art und monotypische Gattung Antilocapra den Wiederkäuern (Ruminantia) innerhalb der Paarhufer (Artiodactyla) zugeordnet. Dort bildet er zudem die Familie der Gabelhornträger (Antilocapridae). Die nähere Verwandtschaft des Gabelbocks war lange Zeit vollkommen unklar. Obwohl er schon frühzeitig in eine eigene Familie gestellt wurde, wurde er von manchen Autoren bis in die 1980er Jahre als Teil der Hornträger (Bovidae) betrachtet und dort der eigenen Unterfamilie Antilocaprinae zugeordnet. Auf der Basis morphologischer Daten wurde der Gabelbock ursprünglich als Schwesterart der Hirsche (Cervidae) eingeordnet, vor allem aufgrund des Aufbaus des Tränenbeines, der sich bei den beiden Gruppen ähnelt und sie von allen anderen Paarhufern abgrenzt. Genetische Untersuchungen legten dagegen ein Schwestergruppenverhältnis der Moschustiere (Moschidae) und der Hirsche nahe, während der Gabelbock nicht mehr in die nähere Verwandtschaft der Hirsche gestellt wurde. Karyologische Analysen ergaben, dass der Gabelbock mit seinen aus 58 Chromosomen bestehenden Genom einen vergleichsweise ursprünglichen Zustand innerhalb der Stirnwaffenträger (Pecora) repräsentiert. Obwohl die Giraffen (Giraffa) mit nur 30 Chromosomen zahlreiche Verschmelzungen im Genom aufweisen, wird eine nahe Verwandtschaft dieser beiden Taxa an der Basis der Pecora angenommen. Die Struktur des X-Chromosoms deutet dabei darauf hin, dass der Gabelbock die Schwesterart der Giraffen sein könnte, alternativ stellen sie – wie hier im Kladogramm dargestellt – die Schwesterart aller übrigen Stirnwaffenträger dar. Diesbezüglich sind auch die molekulargenetischen Daten noch etwas variabel. Die Verschiebung der Antilocapridae an die Basis der Stirnwaffenträger zeigt auf, dass die Ausbildung der mit Keratin überzogenen, knöchernen Hörner eine echte konvergente und nicht nur parallele Entwicklung zu den Hörnern der Boviden ist. Zudem nehmen die Antilocapridae und somit auch der Gabelbock dadurch eine Schlüsselstellung für das Verständnis der Entwicklung der Stirnwaffen bei den Wiederkäuern ein. Die Gabelhornträger stellen heute eine monotypische Familie mit dem Gabelbock als einzigem Mitglied dar. Fossil sind aber wenigstens 20 Gattungen mit insgesamt rund 60 Arten bekannt, die alle aus Nordamerika stammen. Der phylogenetische Vorgänger der Antilocapridae ist unbekannt, dürfte aber in asiatischen Paarhufern des Oligozän zu finden sein. Die Unterscheidung der einzelnen Mitglieder der Gabelhornträger erfolgt überwiegend anhand der unterschiedlich gestalteten Hornschäfte, weniger anhand schädel- und skelettanatomischer Merkmale. Da die letzte Revision der Familie im Jahr 1937 erfolgte, wird eine neue angemahnt, die auf Gattungs- und Artebene durchgeführt werden sollte und bei der ebenfalls Merkmale des Skelett- und Schädelbaus mit einzubeziehen wären. Die Familie teilt sich in zwei Hauptlinien auf. Zur einen gehören die kleineren „Merycodontinae“, die nur 7 bis 10 kg schwer wurden, aber möglicherweise eine paraphyletische Unterfamilie darstellen. Charakterisiert sind sie neben der allgemein geringeren Körpergröße durch schmalere und runde Hornschäfte mit einem oder mehreren knöchernen Graten oder Ringen an der Basis, durch das Vorhandensein der oberen Eckzähne und durch rudimentäre, seitliche Zehen an den Vorderfüßen. Sie kamen vor allem im Unteren Miozän bis zum Beginn des Oberen Miozän vor etwa 20,6 bis 10,3 Millionen Jahren vor. Die spätesten Formen überlappen zeitlich ein wenig mit den Antilocaprinae, der stammesgeschichtlich jüngeren Gruppe mit durchschnittlich größeren Tieren (30 bis 80 kg), die erstmals im Mittleren Miozän vor rund 15 Millionen Jahren auftritt. Deren besondere Merkmale umfassen seitlich abgeflachte Hornschäfte ohne basale Grate, eine Keratinhülle um die Hörner, eine hochkronige Bezahnung und fehlende Seitenstrahlen an den Vorderfüßen. Zudem sind die Metapodien deutlich verlängert und erinnern an jene der Hirsche. Innerhalb der Antilocaprinae bestehen ebenfalls einige Entwicklungslinien. So stellen die Ilingocerotini Formen mit gedrehten Hörnern dar, die entfernt an jene der Kudus erinnern. Die Stockocerotini kennzeichnen wiederum vier bis sechs knöcherne Hornschäfte, die oberhalb der Orbita wachsen. Die Antilocaprini werden durch den Gabelbock repräsentiert. Dessen nächste verwandte Gattung stellt hier Texoceros dar, der im Gegensatz zum Gabelbock einen gegabelten knöchernen Hornschaft besitzt. Innerhalb der Gattung Antilocapra ist Antilocapra pacifica die Schwesterart, welche 1991 anhand mehrerer Hornschäfte und Schädelfragmente beschrieben worden war. Gefunden wurden diese im Contra Costa County im US-Bundesstaat Kalifornien, sie können aber nur allgemein in das Pleistozän datiert werden. Die Vertreter dieser Art erreichten etwa die Größe des heutigen Gabelbocks, besaßen aber ausgeprägtere Hörner. Vom heutigen Gabelbock können je nach Lehrmeinung vier bis sechs Unterarten unterschieden werden, von denen der Status der vier folgenden unumstritten ist: A. a. americana (Ord, 1815); in der Prärie der USA und Kanadas A. a. mexicana Merriam, 1901; in den Halbwüsten des Südwestens der USA und den angrenzenden Gegenden Mexikos A. a. peninsularis Nelson, 1912; in Baja California A. a. sonoriensis Goldman, 1945; in Süd-Arizona und Nordmexiko Die manchmal ebenfalls als Unterarten geführten Antilocapra americana anteflexa und Antilocapra americana oregona sind dagegen wohl Synonyme der Unterart Antilocapra americana americana. Die Erstbeschreibung der Art erfolgte 1815 durch George Ord als Antilope americanus anhand von Individuen aus den Ebenen und dem Hochland entlang des Missouri River in den Vereinigten Staaten. 1818 richtete Ord zudem die Gattung Antilocapra ein und ordnete dieser Antilocapra americana als Typusart zu. Stammesgeschichte Die einst artenreiche Familie der Gabelhornträger trat erstmals im Unteren Miozän vor rund 20 Millionen Jahren in den Gras- und Savannenlandschaften des westlichen Nordamerika auf. Die Tiere waren schon relativ gut entwickelt und mit ihrem grazilen Körperbau und langen Gliedmaßen von Beginn an an die offenen Landschaften angepasst, sie stellten somit schnellläufige (cursoriale) Paarhufer dar. Hinweise auf phylogenetische Vorgänger gibt es nicht. Da aus Nordamerika keine älteren Stirnwaffenträger bekannt sind, wanderten die Vorläufer der Gabelhornträger möglicherweise aus Eurasien ein. Als nächster Verwandter kann Amphimoschus angesehen werden, der aus zahlreichen Fundstellen des Unteren und Mittleren Miozäns Europas belegt ist. Dieser besaß allerdings keine Stirnwaffen, die Übereinstimmungen zu den Gabelhornträgern finden sich überwiegend im Bau des Innenohrs. Unter den Gabelhornträgern Nordamerikas erschienen zuerst die kleinen „Merycodontinae“, deren Hörner noch mit Haut überzogen waren. Der früheste bekannte Vertreter war Paracosoryx mit einem sehr langen, weit oben gegabelten Gehörn. Andere frühe Formen werden durch Meriamoceros repräsentiert, das kurze, am oberen Ende zu kleinen Schaufeln umgebildete Hörner aufwies. Recht erfolgreich war Ramoceros, das erst vor 10 Millionen Jahren verschwand und ein vielfach gegabeltes, den Geweihen der Hirsche ähnelndes Gehörn besaß. Dieses war aber teilweise asymmetrisch aufgebaut, so dass eine Seite länger war als die andere. Die Typusform der frühen Antilocapridae stellte Merycodus dar, dessen Besonderheit ein gegabelter Hornschaft mit zwei gleich langen Sprossen ist. Da etwas mehr als die Hälfte der aufgefundenen Schädel hornlos ist, gehen Wissenschaftler davon aus, dass weibliche Tiere nicht über Hörner verfügten. Als einer der ersten Vertreter der Gabelhornträger ist Merycodus auch im nördlichen Teil des heutigen Mexikos nachgewiesen. Trotz ihres Vorkommens in offenen Landschaften ernährten sich die frühen Gabelhornträger weitgehend von gemischter Pflanzenkost. Im Mittleren Miozän vor rund 15 Millionen Jahren sind dann mit Plioceros, ein kurzhalsiges Tier mit sehr breiten und kurzen Hörnern, die ersten Vertreter der Antilocaprinae mit Keratin überzogenen Hornbildungen nachgewiesen. Plioceros war dabei noch relativ klein, besaß aber schon extrem hochkronige Zähne. Es stellt zudem eine der am weitesten verbreiteten Angehörigen der Gabelhornträger dar und ist von der Westküste des nordamerikanischen Kontinentes bis nach Florida an der Ostküste überliefert. Ein bedeutendes Fundgebiet ist zudem die Ash-Hollow-Formation im Mittleren Westen. Im Oberen Miozän und im Pliozän erreichten die Antilocaprinae ihre größte Vielfalt, sie sind zu jener Zeit mit 9 Gattungen und 30 Arten bekannt. Osbornoceros aus dem Oberen Miozän sah dabei dem heutigen Gabelbock schon ähnlich, besaß aber eher gewundene Hörner. Er gehörte weiterhin zu den ersten Vertretern, die vermehrt hartes Gras zu sich nahmen. Im Verlauf des Pliozän begann langsam der Niedergang der Gabelhornträger. Allerdings erschienen zu dieser Zeit mit den Stockocerotini eine Gruppe gedrungener Tiere, die sich dem eiszeitlichen Klima anpassten und die eine heute ausgestorbene Seitenlinie repräsentieren. Der älteste Vertreter aber war Hexameryx, der durch sechs weit zueinander divergierende Hornschäfte, drei an jeder Kopfseite, geprägt war, allerdings bisher nur aus dem Oberen Miozän von Florida bekannt ist. Capromeryx stellt weiterhin eine Form dar, die sich durch eine markante Körpergrößenreduktion auszeichnete. Im Durchschnitt waren Individuen des Oberen Pleistozän rund 14 bis 30 % kleiner als solche des Unteren. Der Verzwergungsprozess verlief dabei isometrisch. Die jeweils zwei Hornschäfte je Kopfseite standen bei Capromeryx sehr eng beieinander und waren Untersuchungen zufolge wohl zusammen von einer Keratinschicht umgeben. Dabei gehört die Gattung zu den häufig aufgefundenen Gabelhornträgern sowohl in den heutigen USA als auch im angrenzenden Mexiko. In die gleiche Entwicklungslinie sind auch Hexobelomeryx und Hayoceros zu stellen, die zu den am stärksten angepassten Grasfressern innerhalb der Gabelhornträger gehörten. Das für die Gruppe namengebende Stockoceros wies insgesamt vier gleich lange Hornschäfte, die von beiden Geschlechtern getragen wurden, und weniger hypsodonte Backenzähne auf, es verblieb weitgehend bei der gemischten Pflanzenkost. Zudem gehört Stockoceros zu den spätesten Vertretern der fossilen Gabelhornträger und trat etwa zeitgleich mit den ersten Angehörigen der heutigen Gattung Antilocapra auf. Allein 7 Teilskelette, 55 Schädel und fast 800 weitere Skelettreste sind von dieser fossilen Gattung aus der Papago Springs Cave nahe Sonoita in Arizona bekannt. Während am Ende der Letzten Kaltzeit all diese Arten ausstarben, überlebte der Gabelbock, den es auch bereits im Pleistozän gegeben hatte, als einziger. Menschen und Gabelböcke Bedeutung des Gabelbocks für die Indianer Für die Indianer der Prärie waren Gabelböcke wertvolle Fleischlieferanten. Da sie ein überaus häufiges Wild waren – noch 1800 gab es etwa 40 Millionen Einzeltiere in der Prärie – spielten sie im indianischen Alltag oft eine große Rolle. Die Westlichen Shoshone kannten eine zeremonielle Gabelbockjagd, die von einem Schamanen eingeleitet wurde. Wie die Bisonjagd hatte die Jagd auf Gabelböcke eine religiöse Dimension. Eine Gruppe Jäger trieb die Tiere mit Hilfe eines Feuers in die Hände einer zweiten Gruppe Jäger, in die Richtung eines Flusses oder in einen zuvor vorbereiteten Korral, ein Fanggehege für wilde Tiere. Die Nördlichen Shoshone hingegen streiften sich Felle von Gabelböcken über und pirschten sich so getarnt möglichst nah an eine Herde heran. Auch nach der Verfügbarkeit des Pferdes war die Gabelbockjagd eine anspruchsvolle Herausforderung, da Gabelböcke schneller als Pferde zu laufen vermögen. Die Lakota begehrten die Gabelböcke nicht nur wegen ihres Fleisches, sondern auch wegen ihrer Felle, die sie gerne für die Herstellung von Kleidung verwendeten. Den Bestand des Gabelbocks konnten die amerikanischen Ureinwohner mit ihren Jagdmethoden jedoch nicht in nennenswerter Weise beeinträchtigen. Moderne Entwicklungen, Bedrohung und Schutz Den europäischen Kolonisten war der Gabelbock lange Zeit unbekannt, bis die Art von Lewis und Clark auf ihrer Expedition (1804–1806) beschrieben wurde. In jener Zeit waren die Grasländer des nordamerikanischen Westens überreich an Großwild wie Bisons und Gabelböcken. Nach der großflächigen Besiedlung Nordamerikas durch weiße Siedler glich das Schicksal des Gabelbocks dem des Amerikanischen Bison. Sie wurden zunächst wegen ihrer Felle und ihres Fleisches geschossen, später nur noch zum Sport bzw. aus Vergnügen. Aus den fahrenden Zügen entlang der Eisenbahnstrecken schossen Reisende Tausende von Gabelböcken ab, deren Kadaver zu beiden Seiten der Bahnlinien verwesten. Bis 1920 war die Bestandszahl durch unkontrollierte Jagd auf nur noch 20.000 Tiere gesunken. Erst danach wurden Schutzmaßnahmen erlassen, weshalb es heute wieder eine Million Gabelböcke in den USA und in Kanada gibt, so dass die Art als Ganzes nicht als gefährdet gilt. In Mexiko hat sich der Bestand dagegen nie erholen können. Dort gibt es auch heute nur wenig mehr als 1000 Tiere. Folgerichtig listet die internationale Organisation zur Koordinierung des Naturschutzes (IUCN) die beiden mexikanischen Unterarten als bedroht. Dies sind der Sonora-Gabelbock (A. a. sonoriensis) und der Baja-California-Gabelbock (A. a. peninsularis). Letzterer ist nur auf der Halbinsel Baja California beheimatet und wird als stark bedroht geführt. Gabelböcke sind für einige bedeutende Infektionskrankheiten der Paarhufer empfänglich. So bilden sie ein Erregerreservoir für das bösartige Katarrhalfieber, BVD/MD und die Epizootic Hemorrhagic Disease (EHD). Daneben besteht eine hohe Empfindlichkeit für Milzbrand, Tollwut und diverse Parasitosen. Gabelböcke im Zoo Als Beitrag zur Bestandssicherung werden Gabelböcke auch als Zootiere gehalten. Ihre Schreckhaftigkeit und ihre Neigung zur Panik im Umgang mit Menschen stellt hier ein besonderes tierpflegerisches Problem dar. Bei Unterschreitung der Fluchtdistanz reagieren die Tiere nicht selten mit einem kompromisslosen Angriff, der infolge der wirkungsvoll eingesetzten Hörner durchaus gefährlich werden kann. Jegliche Anwendung von Zwangsmaßnahmen kann zu Selbsttraumatisierung oder Stressmyopathie führen. Körperliche Untersuchungen können daher nur unter Sedation oder Narkose erfolgen. Eine wirkungsvolle Narkose ist dabei nur durch hochpotente Betäubungsmittel vom Morphintyp erreichbar. Gabelböcke lassen sich im Zoo nur schwer mit anderen Huftierarten vergesellschaften, schon das Eingliedern handaufgezogener, männlicher Tiere kann aufgrund ihrer Aggressivität zu Konflikten führen. Auch das natürliche Sprung- und Schwimmvermögen der Gabelböcke muss bei der Einrichtung des Geheges berücksichtigt werden. Anders als in freier Wildbahn beträgt die Lebenserwartung der Tiere in Gefangenschaft bis zu 17 Jahre. Literatur Heinrich Weidinger: Pronghorn, die nordamerikanische Antilope. Weidinger, Fürth, 1995, ISBN 3-00-005546-0 John A. Byers: Built for Speed. A Year in the Life of Pronghorn. Harvard University Press, Cambridge Mass, 2003, ISBN 0-674-01142-2 Gary Turbak: Pronghorn. Portrait of the American Antelope. Northland Publishing, Flagstaff (Arizona), 1995, ISBN 0-87358-595-X Valerius Geist; Michael H. Francis (Fotograf): Antelope Country: Pronghorns – The Last Americans, Krause Publications 2001, ISBN 978-0-87349-279-9 Weblinks National Wildlife Federation (engl.) North American Pronghorn Foundation (Organisation zum Schutz und zur Erforschung des Gabelbocks, engl.) U.S. Fish & Wildlife Service PDF (engl.) Einzelnachweise Paarhufer
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https://de.wikipedia.org/wiki/Plateosaurus
Plateosaurus
Plateosaurus („Breitweg-Echse“) ist eine basale (ursprüngliche) Gattung der sauropodomorphen Dinosaurier. Sie ist Typus- und namensgebende Gattung der Familie Plateosauridae. Funde dieser Tiere stammen aus der Obertrias (mittleres Norium bis Rhaetium), vor allem Mitteleuropas, und sind damit etwa 217 bis 201 Millionen Jahre alt. Derzeit werden zwei Arten von Plateosaurus anerkannt: die Typusart P. engelhardti aus dem späten Norium und Rhaetium sowie die erdgeschichtlich etwas ältere Art P. gracilis aus dem frühen Norium. Systematik und Taxonomie der plateosauriden Dinosaurier sind allerdings noch immer umstritten, und es besteht eine Vielzahl von Gattungs- und Artsynonymen. Der erste Fund eines Plateosaurus gelang 1834 Johann Friedrich Engelhardt in der Region Heroldsberg unweit von Nürnberg. Er übergab das Material dem Frankfurter Wirbeltier-Paläontologen Hermann von Meyer zur Bearbeitung. Dieser beschrieb es 1837 unter dem Namen Plateosaurus engelhardti. Damit war Plateosaurus der fünfte wissenschaftlich beschriebene Dinosaurier, wenn auch die Gattung von Richard Owen nachfolgend nicht zur Definition der Dinosauria herangezogen wurde, da das seinerzeit bekannte Material recht unvollständig und nach damaligem Kenntnisstand schwer als Dinosaurier zu erkennen war. Heute ist Plateosaurus einer der am besten bekannten Dinosaurier, von dem weit über 100 teils vollständige Skelette in sehr guter Erhaltung gefunden wurden. Plateosaurus war ein bipeder (zweibeiniger) Pflanzenfresser mit einem kleinen Schädel, der auf einem langen, biegsamen Hals saß, scharfen, aber gedrungenen Zähnen, kräftigen Hinterbeinen und einer starken Greifhand mit vergrößerter Daumenkralle, die möglicherweise bei der Nahrungsbeschaffung oder dem Abwehrverhalten eingesetzt wurde. Ungewöhnlich für einen Dinosaurier ist die bei Plateosaurus stark ausgeprägte Entwicklungsplastizität (englisch: developmental plasticity): Ausgewachsene Individuen waren nicht alle mehr oder minder gleich groß, sondern zwischen 4,8 und 10 m lang und wogen zwischen 600 kg und 4 Tonnen. Die Lebensdauer der meisten Individuen, die bislang untersucht wurden, lag zwischen 12 und 20 Jahren. Trotz der reichhaltigen Funde und der guten Erhaltung des Materials war das Erscheinungsbild von Plateosaurus lange Zeit umstritten, was zu teilweise einander widersprechenden Rekonstruktionen führte. Einige Forscher entwarfen Hypothesen zur Fortbewegung, Ernährung, Paläobiologie und -ökologie sowie zur Taphonomie der Fundstücke, die nach aktuellem Stand der Forschung in klarem Widerspruch zu den geologischen und paläontologischen Befunden stehen, die sich aus der Skelettanatomie und den Gegebenheiten der Fundstellen ableiten lassen. Seit 1980 wurden die Taxonomie und Taphonomie, seit 2000 die Biomechanik und andere Aspekte der Paläobiologie von Plateosaurus neu untersucht, wodurch sich das Gesamtbild der Gattung grundlegend geändert hat. Wegen seiner Häufigkeit in Süddeutschland verlieh der Paläontologe Friedrich August Quenstedt Plateosaurus den Spitznamen „schwäbischer Lindwurm“. Beschreibung Plateosaurus gehört zu einer Gruppe früher pflanzenfressender Echsenbeckendinosaurier, die traditionell als Prosauropoden bezeichnet wurden. Heute sprechen die meisten Forscher statt von „Prosauropoden“ von „basalen Sauropodomorpha“, also Sauropodomorphen, die im Stammbaum unterhalb der Sauropoda stehen. Plateosaurus zeigt einen für zweibeinig laufende Pflanzenfresser typischen Bauplan: ein kleiner Schädel sitzt auf einem langen, biegsamen Hals aus zehn Halswirbeln, der Rumpf ist gedrungen und geht in einen langen, flexiblen Schwanz aus über 40 Wirbeln über. Die Arme von Plateosaurus gehören zu den kürzesten, die bei „Prosauropoden“ vorkamen, waren aber kräftig, und die Hand an das Greifen großer Objekte angepasst. Der Schultergürtel war schmal (in Skelettmontagen und Zeichnungen oft falsch rekonstruiert), mit sich in der Mitte berührenden Schlüsselbeinen, wie sie auch von anderen „Prosauropoden“ bekannt sind. Die Beine waren lang und wurden senkrecht unter dem Körper gehalten, und der Fuß war digitigrad. Plateosaurus war also ein Zehengänger und an zügiges zweibeiniges Laufen angepasst. Der Schädel von Plateosaurus war klein und schmal. Die Schnauze war von vielen kleinen, blattförmigen Zähnen besetzt, von denen fünf oder sechs im Prämaxillare (Zwischenkieferbein), 24 bis 30 im Maxillare (Oberkieferknochen) und zwischen 21 und 28 im Unterkiefer standen. Die geriffelt, breit blattförmigen Zahnkronen waren geeignet, Pflanzenmaterial zu zerquetschen. Es ist wahrscheinlich, dass Plateosaurus sich ausschließlich von Pflanzen ernährte. Die Augen waren seitlich gerichtet, nicht nach vorne, so dass eine gute Rundumsicht, nicht aber ein stereoskopisches Sehen gegeben war. Bei einigen Funden sind sklerotische Augenringe erhalten. Solche Ringe aus verknöcherten Platten schützen den Augapfel vor Verletzungen. Wie für Dinosaurier allgemein üblich, waren die Rumpfrippen von Plateosaurus zweiköpfig, das heißt, sie gabelten sich an ihrem oberen Ende in einen oberen und einen unteren Ast, die jeweils mit einem Gelenkkopf (Capitulum bzw. Tuberculum) versehen waren. Die Gelenkköpfe bildeten mit entsprechenden Gelenkflächen (Diaposphyse bzw. Parapophyse) des jeweiligen Rückenwirbels ein mit mäßigem Spielraum ausgestattetes Scharniergelenk. Das Zusammenspiel aller dieser Gelenke mit der Atemmuskulatur ermöglichte es dem Rippenkorb sich im Atemrhythmus zu weiten und wieder zu verengen. Mithilfe eines computermodellierten Skeletts konnte, unter Berücksichtigung der natürlichen Stellung jedes Wirbels und der daraus folgenden Ausrichtung der Drehachsen der beiden jeweils gelenkenden Rippen, ein Atemzugsvolumen von ca. 20 l für ein Exemplar mit ca. 690 kg Körpergewicht abgeschätzt werden, was einem Wert von 29 ml pro Kilogramm Körpergewicht entspricht. Dieser letztgenannte Wert ist typisch für viele Vögel, zum Beispiel Gänse, und deutlich höher als der Durchschnittswert für Säuger. Daraus lässt sich schließen, dass Plateosaurus vermutlich eine vogelartige Lunge mit unidirektionalem Luftfluss und Ventilation durch Luftsäcke besaß, auch wenn Plateosaurus keine postkraniale Pneumatisierung des Skeletts zeigt (Öffnungen und Hohlräume, die das Vorhandensein von Luftsäcken in den Knochen anzeigen). Zusammen mit Indizien aus dem Aufbau und Wachstum der Knochen deutet dies auf eine Warmblütigkeit von Plateosaurus hin. Die Typusart von Plateosaurus ist P. engelhardti. Ausgewachsene Individuen dieser Art erreichten eine Körperlänge zwischen 4,8 und 10 Metern und ein Körpergewicht von 600 kg bis zu 4 Tonnen. Die zweite, ältere Art P. gracilis (ehemals Sellosaurus gracilis) war etwas kleiner und erreichte Körperlängen von 4 bis 5 Metern. Über den Schädel dieser Art gibt es keine gesicherten Erkenntnisse, da die Zugehörigkeit eines sehr gut erhaltenen Schädels (Exemplarnummer GPIT 18318a) in der Sammlung des Instituts für Geowissenschaften Tübingen zu P. gracilis fraglich ist. Entdeckung und Historie Der Chemieprofessor Johann Friedrich Philipp Engelhardt entdeckte 1834 einige Wirbel und Beinknochen nahe Heroldsberg bei Nürnberg. Diese überließ er Hermann von Meyer zur Bearbeitung, der sie 1837 als neue Gattung Plateosaurus mit dem Artnamen engelhardti beschrieb. Seitdem sind insgesamt Reste von weit über 100 Individuen von Plateosaurus gefunden worden. Insgesamt ist an über 50 Fundstellen in Deutschland Material von Plateosaurus gefunden worden, hauptsächlich entlang des Neckars und der Pegnitz, außerdem in der Schweiz und in Frankreich. Drei Fundstellen sind von besonderer Bedeutung, weil hier besonders viel und besonders gut erhaltenes Material gefunden wurde. Zwischen 1910 und 1930 wurden bei Ausgrabungen in einer Tongrube in Halberstadt in Sachsen-Anhalt zwischen 39 und 50 Skelette gefunden, die zum Großteil zu Plateosaurus, aber auch zu Liliensternus und Halticosaurus gehören. Ein Teil des Plateosauriermaterials wurde von Otto Jaekel zu P. longiceps gestellt, einer Art, die heute als jüngeres Synonym von P. engelhardti und somit als ungültig angesehen wird. Der Großteil des Materials ging an das Museum für Naturkunde in Berlin, wo große Teile im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Die Fundstelle in Halberstadt ist heute mit einem Wohngebiet überbaut. An der zweiten reichhaltigen Fundstelle von Plateosaurus in Deutschland, einem Steinbruch in Trossingen, zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts von Kindern Knochen entdeckt und ihrem Lehrer übergeben. Dieser verständigte Eberhard Fraas, Konservator an der Stuttgarter Naturaliensammlung (heute Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart). In drei Grabungen zwischen 1911 und 1932 wurde die Fundstelle erschlossen. Bei Grabungskampagnen unter der Leitung von Fraas (1911–1912), Friedrich von Huene (1921–23), und schließlich Reinhold Seemann (1932) wurden insgesamt 35 vollständige oder großenteils vollständige Skelette von Plateosaurus gefunden, sowie Teile von weiteren ca. 70 Individuen. 2007 begann eine neue Grabung (Stand Oktober 2010). Die Plateosaurus-Fossilien in der Tongrube Gruhalde der Tonwerke Keller AG in Frick (Schweiz) wurden erstmals 1976 bemerkt. Die Knochen dieser Fundstelle wurden meist bei der Kompaktion und Verfestigung der Tone im Rahmen der Diagenese stark deformiert. Dennoch bietet Frick Skelette, die in Bezug auf Vollständigkeit und Körperhaltung mit denen von Trossingen und Halberstadt vergleichbar sind. 2015 legte ein Grabungsteam in Frick ein acht Meter langes Skelett eines Plateosaurus frei; es handelt sich um das größte je in der Schweiz gefundene Saurierskelett. Bei einer Ölsuchbohrung im Snorre-Ölfeld in der nördlichen Nordsee wurde 1997 aus 2651 m Tiefe unter dem Meeresspiegel ein Knochen erbohrt, der von den Arbeitern zunächst für ein Pflanzenfossil gehalten wurde. Der Knochen wurde 2003 allerdings als Bruchstück eines Beinknochens von Plateosaurus identifiziert. Weitere Funde wurden auch auf dem grönländischen Festland gemacht. Systematische Einordnung und Typusmaterial Schon in der Ersterwähnung 1837 postulierte von Meyer eine enge Verwandtschaft von Plateosaurus mit den aus England beschriebenen „Saurier“-Gattungen Iguanodon und Megalosaurus. 1845 prägte er die Gruppenbezeichnung „Pachypodes“ für Plateosaurus, Iguanodon, Megalosaurus und Hylaeosaurus, die jedoch aufgrund der Prioritätsregel in Synonymie mit dem bereits 1842 von Owen geprägten Namen „Dinosauria“ fiel. Plateosaurus ist die Typusgattung der Familie Plateosauridae, der sie ihren Namen gegeben hat. Diese wurde 1895 erstmals von Othniel Charles Marsh innerhalb der Theropoda aufgestellt und 1926 von Huene in die Prosauropoda verlegt; eine Zuordnung, die von den meisten späteren Bearbeitern akzeptiert wurde. Lange Zeit beinhaltete die Familie nur Plateosaurus und seine Synonyme (u. a. Sellosaurus), bis 2004 eine Zugehörigkeit von Unaysaurus vorgeschlagen wurde. Plateosaurus ist auch der erste wissenschaftlich beschriebene „Prosauropode“. Die Taxonomie der „Prosauropoda“ wird in der wissenschaftlichen Literatur kontrovers diskutiert, und es wird mittlerweile von vielen Forschern angezweifelt, dass sie eine monophyletische Gruppe sind. Stattdessen stellen sie wohl eine Reihe von Abzweigen aus der Stammlinie der Sauropoden dar, weswegen der Begriff in Anführungszeichen verwendet wird. Eine aktuelle Studie von Adam Yates findet Plateosaurus als Schwestertaxon zu Unaysaurus, beide zusammen als Plateosauridae als Schwestergruppe zu Ruehleia, und zusammen mit dieser in den Plateosauria als Schwestergruppe zu einem Taxon das unter anderem Riojasaurus, Massospondylus und die Sauropoda umfasst. (Der Begriff „Prosauropoda“ wird heute meist für alle Taxa von Efraasia bis zu den Sauropoda verwendet, allerdings besteht bei einigen Taxa keine klare Einigkeit, ob sie Sauropoden oder eher hochentwickelte „Prosauropoden“ sind. Oft wird auch der Begriff „basale Sauropodomorpha“ verwendet, der aber wegen der teils stark abgeleiteten Merkmale von u. a. Plateosaurus nicht allgemeine Akzeptanz findet. Auch innerhalb des Stammbaums werden stark unterschiedliche Beziehungen vorgeschlagen. Der obige Stammbaum ist also nur als Beispiel für mögliche Verwandtschaftsverhältnisse zu sehen.) Die Typenserie von Plateosaurus engelhardti bestand aus „ungefähr 45 Knochen“, von denen jedoch fast die Hälfte verloren gegangen sind. Das restliche Material wird am Institut für Paläontologie der Universität Erlangen-Nürnberg aufbewahrt. Aus dieser Serie wählte Markus Moser ein unvollständiges Sakrum als Lectotypus. Die Typuslokalität ist nicht genau bekannt, aber Moser kam aufgrund der alten Literatur und der Knochenfärbung und -erhaltung zu dem Schluss, dass das Material vom Buchenbühl, etwa 2 km südlich von Heroldsberg nahe Nürnberg in Bayern stammt. Der Holotyp von Plateosaurus gracilis, ein unvollständiges Skelett ohne Kopf aus dem Stuttgarter Stadtteil Heslach, wird am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart aufbewahrt. Etymologie Die Ableitung des Namens „Plateosaurus“ ist nicht einwandfrei zu klären. Wie von Markus Moser ausführlich dargelegt, enthält die Erstbeschreibung durch von Meyer keine Angaben. Eine ganze Anzahl von Interpretationen sind vorgeschlagen worden, die erste davon von Agassiz. Dieser gab Altgriechisch platy (sic)/πλάτη (Paddel, Ruder; Agassiz übersetzte dies Lateinisch pala = Spaten) an, sowie sauros/σαῦρος (Echse, Eidechse). Konsequent änderte er den Namen in Platysaurus, was er vermutlich vom Griechischen platys/πλατύς (breit, flach, breitschultrig) ableitete. Dieser Name stellt ein jüngeres und somit ungültiges Synonym dar. Spätere Autoren kopierten diese Ableitung, so dass Plateosaurus oft als „Breite Echse“ oder „Flache Echse“ übersetzt wird. Dabei wird oft behauptet, dass sich platys/πλατύς auf die seitlich abgeflachten Zähne von Plateosaurus beziehen soll. Dies ist aber nicht möglich, da bei der Erstbeschreibung gar keine Zähne vorlagen. Moser schlägt daher als wahrscheinlichen Stamm Altgriechisch plateia/πλατεία (breiter Weg) vor, was besser zum Stamm von Plateosaurus passt, der klar „plate“- und nicht „platy“- lautet. Daher sollte Plateosaurus als „Breitwegechse“ übersetzt werden. Arten von Plateosaurus Gültige Arten Die Geschichte der Taxonomie von Plateosaurus ist komplex und verwirrend. Nach dem Stand von 2009 werden nur zwei Arten als gültig anerkannt, die Typusart P. engelhardti und die etwas ältere Art P. gracilis, die vormals in einer selbstständigen Gattung als Sellosaurus gracilis geführt wurde. Peter Galton zeigte, dass alles Schädelmaterial aus Trossingen, Halberstadt und Frick zu einer Art gehört. Markus Mosers detaillierte Untersuchung nahezu allen plateosauriden Materials aus Deutschland und der Schweiz ergab, dass alles bisher zu Plateosaurus und der Großteil des zu anderen plateosauriden Gattungen gestellten Materials aus dem Keuper zur gleichen Art gehört, wie das Typusmaterial (d. h. zu P. engelhardti). Moser stellte die Eigenständigkeit von Sellosaurus als Gattung in Frage, äußerte sich jedoch nicht dazu, ob dieses Material eine eigenständige Art in der Gattung Plateosaurus darstellt. Adam Yates von der University of the Witwatersrand legte dar, dass es sich wohl in der Tat bei diesem Material um eine zweite, ältere Art von Plateosaurus handelt, also P. gracilis. Dies hatte von Huene schon 1926 vorgeschlagen. Ungültige Arten Alle Arten von Plateosaurus außer P. gracilis haben sich als jüngere Synonyme der Typusart oder als ungültige Namen erwiesen. Von Huene erstellte für fast jedes einigermaßen vollständige Skelett eine Art oder sogar Gattung, insgesamt drei Arten von Pachysaurus und sieben von Plateosaurus für die Trossinger Funde sowie eine Art von Gresslyosaurus (benannt nach Amanz Gressly) und acht von Plateosaurus aus dem Halberstädter Material. Später synonymisierte er viele dieser Arten, blieb aber ebenso wie Jaekel überzeugt, dass mehr als eine Gattung und auch mehr als eine Art von Plateosaurus an beiden Fundorten vorkam. Systematische Studien durch Galton reduzierten die Anzahl der als gültig angesehenen Gattungen und Arten drastisch. Galton synonymisierte zunächst alles Schädelmaterial, beschrieb aber Unterschiede zwischen den Syntypen von P. engelhardti und dem Trossinger Material, welches er zu P. longiceps stellte. P. trossingensis, P. fraasianus und P. integer erkannte er als synonym zu P. longiceps. Markus Moser zeigte jedoch, dass P. longiceps selbst ein jüngeres Synonym zu P. engelhardti ist. Darüber hinaus bestanden eine Reihe von Arten in anderen Gattungen für Material, das zu P. engelhardti zählt, darunter Dimodosaurus poligniensis, Gresslyosaurus robustus, Gresslyosaurus torgeri, Pachysaurus ajax, Pachysaurus giganteus, Pachysaurus magnus und Pachysaurus wetzelianus. Allerdings lagern eine ganze Reihe von „Prosauropoden“-funden aus dem Knollenmergel in Museumssammlungen, meist als Plateosaurus im Katalog geführt, die nicht zur Typusart und eventuell auch nicht in die Gattung Plateosaurus gehören. Teils ist dieses Material nicht diagnostisch verwertbar, anderes ist als nicht zugehörig erkannt, aber nie ausführlich beschrieben und benannt worden. Taphonomie Die Taphonomie der drei großen Plateosaurus-Fundstellen Trossingen, Halberstadt (beide D) und Frick (CH) ist in verschiedener Hinsicht ungewöhnlich: An allen dreien wurden fast monospezifische Ansammlungen gefunden, was heißt, dass fast alle Funde zur selben Art gehören. Ausgefallene Zähne von Theropoden wurden jedoch an allen drei Fundstellen ausgegraben, wie auch die frühe Schildkröte Proganochelys. An allen Fundstellen wurden vollständige und fast vollständige Skelette gefunden, wie auch Teilskelette und Einzelknochen. Die Teilskelette bestehen meist aus Hinterbeinen, der Hüfte und dem gesamten oder Teilen des Schwanzes, partielle Vorderkörper und Hälse sind dagegen selten. Alle Funde stammen von ausgewachsenen oder zumindest fast erwachsenen Tieren; Jungtiere oder gar Schlüpflinge wurden nie gefunden. Diejenigen Funde, die vollständig sind oder aus Hinterbeinen plus anderen Resten bestehen, liegen fast immer „richtig“, d. h. mit dem Bauch nach unten, wie auch die Schildkröten. Außerdem sind sie meist gut artikuliert, und die Hinterbeine sind dreidimensional in gefalteter Haltung positioniert, so dass die Füße oft deutlich tiefer im Sediment liegen als die Hüfte. Frühere Deutungen In der ersten Veröffentlichung über die Plateosaurus-Funde von Trossingen schlug Fraas vor, dass die Tiere im Schlamm stecken geblieben seien, weil nur eine solche Einbettungssituation die Erhaltung des damals einzigen bekannten vollständig artikulierten Skeletts erklären könne. Ähnlich interpretierte Jaekel die Halberstädter Funde als Tiere, die zu tief in Sümpfe gewatet und dort stecken geblieben und ertrunken waren. Teilskelette waren Jaekels Meinung nach durch Wasser in die Fundstelle eingeschwemmt, und standen im klaren Widerspruch zu einer katastrophalen Einbettung einer Herde. Von Huene hingegen interpretierte die Sedimente als äolisch, vom Wind in einer Wüste zusammengetragen, wo die schwächsten Individuen, zum großen Teil subadult (nicht ganz ausgewachsen), den harten Bedingungen zum Opfer fielen und im Schlamm ephemerer Wasserlöcher versanken. Von Huene begründete seine Sichtweise damit, dass der hohe Vollständigkeitsgrad Transport ausschließe, und sah Teilskelette und isolierte Knochen als Folge von Verwitterung und Zertrampeln durch andere Tiere an. Seemann entwickelte ein anderes Szenario, wonach Herden von Plateosauriern sich an großen Wasserlöchern versammelten, wobei einige Herdenmitglieder ins Wasser gedrückt wurden. Leichtere Tiere kamen frei, schwere blieben stecken und starben. Eine andere Sichtweise, fast ein halbes Jahrhundert später von Weishampel vorgeschlagen, sieht die Funde in den unteren Schichten von Trossingen als eine Herde an, die in einem Schlammstrom umkam, während die Skelette der oberen Schichten über einen längeren Zeitraum zusammengetragen wurden. Weishampel erklärte die ungewöhnliche monospezifische Ansammlung damit, dass Plateosaurus während dieser Zeit sehr häufig war. Diese Theorie wurde in einer populärwissenschaftlichen Veröffentlichung des Instituts und Museums für Geologie und Paläontologie (heute Institut für Geowissenschaften) der Eberhard Karls Universität Tübingen fälschlicherweise Seemann zugeschrieben und ist seitdem zur Standarderklärung auf den meisten Internetseiten, in Kinderbüchern und anderen populären Darstellungen geworden. Reiber schlug ein komplizierteres Szenario vor, bei dem die Tiere verdursteten und die Kadaver später von Schlammströmen zusammengeschwemmt wurden. Heutige Interpretation Eine ausführliche Neuuntersuchung der Taphonomie durch Martin Sander ergab, dass die erstmals von Fraas vorgeschlagene „Im-Schlamm-versunken“-Hypothese am wahrscheinlichsten ist: Tiere oberhalb eines gewissen Gewichts sanken in den Schlamm ein, der durch das Gestrampel bei ihren Befreiungsversuchen weiter verflüssigt wurde. Das Fraas-Sander’sche Szenario ist das einzige, das alle taphonomischen Beobachtungen schlüssig erklärt. Die Vollständigkeit der einzelnen Funde wurde nicht vom Transport beeinflusst, was daran zu erkennen ist, dass es keine Anzeichen für einen solchen gibt, sondern davon, inwieweit Aasfresser an den Kadavern gefressen haben. Jungtiere von Plateosaurus und andere Pflanzenfresser waren zu leicht, um einzusinken, oder konnten sich befreien, und sind somit unter den in Trossingen fossil überlieferten Tieren nicht vertreten. Ähnlich blieben Theropoden, die von den verendeten Plateosauriern fraßen, nicht im Schlamm stecken, weil ihr Gesamtgewicht geringer war und auf eine proportional größere Fußfläche verteilt wurde. Es gibt keine Anzeichen für ein Auftreten von Plateosaurus in Herden (sowie auch keines dagegen) oder eine durch ein Einzelereignis hervorgerufene Akkumulation („Zusammenspülung“) von zuvor anderswo vereinzelt verstorbenen Tieren. Paläobiologie Haltung und Fortbewegung Im Laufe der Zeit wurde in der Fachliteratur beinahe jede denkbare Körperhaltung für Plateosaurus vorgeschlagen. Von Huene nahm für die von ihm in Trossingen ausgegrabenen Tiere digitigrade Bipedie mit unter dem Körper (also vertikal) stehenden Hinterbeinen an, wobei der Rumpf zumindest beim schnellen Rennen steil aufgerichtet sein sollte. Im Gegensatz dazu schloss der Bearbeiter des Halberstädter Materials, Otto Jaekel, zunächst auf eine eidechsenähnliche Fortbewegung, also vierbeiniges, plantigrades Laufen im Spreizgang mit starker seitlicher Beugung des Körpers. Nur ein Jahr später jedoch favorisierte Jaekel ein schwerfälliges, känguruartiges Hopsen, eine Sinneswandlung für die er vom Zoologen Gustav Tornier verspottet wurde, der die Form der Gelenkflächen in der Hüfte als typisch reptilisch ansah. Auch Eberhard Fraas, der die ersten Grabungen in Trossingen leitete, sprach sich für eine reptilienartige Haltung aus. Eine weitere Publikation zu diesem Thema stammt von Müller-Stoll, der eine Reihe von Merkmalen auflistete, die für eine parasagittale (von vorn gesehen senkrechte) Beinhaltung notwendig sind, Plateosaurus jedoch angeblich fehlen, so dass nur ein Kriechgang möglich sei. Diese Merkmale sind jedoch bei Plateosaurus sehr wohl vorhanden. Ab 1980 führten ein besseres Verständnis der Biomechanik von Dinosauriern im Allgemeinen und insbesondere Studien der Widerstandskraft gegen Biegung im Rücken und der Struktur des Beckens von Plateosaurus durch Andreas Christian und Holger Preuschoft dazu, dass eine parasagittale, zehengängerische Beinstellung und eine mehr oder weniger waagerechte Stellung des Rückens allgemein akzeptiert wurden. Viele Forscher waren der Meinung, dass Plateosaurus sich sowohl biped (schnell) wie quadruped (langsam) fortbewegen konnte, während Peter Wellnhofer wegen einer starken Abwärtskrümmung des Schwanzes darauf schloss, dass eine bipede Fortbewegung unmöglich sei. Allerdings zeigte Moser, dass der Schwanz in Wirklichkeit gerade verlief. Diese beinahe universelle Meinung, nach der Plateosaurus einen Übergang zwischen ursprünglichen zweibeinigen Dinosauriern und den obligat quadrupeden (ausschließlich vierbeinigen) Sauropoden darstellte, wurde 2007 von einer detaillierten Studie widerlegt, in der Bonnan und Senter zeigten, dass Plateosaurus nicht die Fähigkeit besaß, seine Hand zu pronieren (mit der Handfläche nach unten zu drehen). Die pronierte Position einiger Skelettaufbauten in Museen wird durch einen anatomisch unmöglichen Austausch der Positionen von Radius und Ulna (Speiche und Elle) im Ellenbogen erzeugt. Dies bedeutet, dass Plateosaurus obligat biped war (d. h., ausschließlich auf zwei Beinen lief). Weitere Indizien für eine rein bipede Fortbewegung sind der große Unterschied in der Beinlänge (das Hinterbein ist mehr als doppelt so lang wie das Vorderbein), der stark eingeschränkte Bewegungsraum des Vorderbeins, sowie die Lage des Schwerpunkts über den Füßen. Plateosaurus zeigt eine Reihe von Anpassungen an ein schnelles Laufen, darunter einen relativ langen Unterschenkel, einen verlängerten Mittelfuß und eine digitigrade Fußstellung. Im Gegensatz zu an das Laufen angepassten Säugetieren sind die Hebelarme der beinstreckenden Muskulatur jedoch kurz, besonders im Knöchel, wo ein nach hinten gerichteter Fortsatz am Calcaneus (Fersenbein) fehlt. Dies bedeutet, dass Plateosaurus vermutlich im Gegensatz zu Säugern keine schnellen Gangarten nutzte, bei denen es eine Flugphase gibt (d. h., für einen kurzen Zeitraum kein Fuß Kontakt zum Boden hat). Plateosaurus konnte also nicht rennen. Stattdessen muss Plateosaurus hohe Geschwindigkeiten durch hohe Schrittfrequenzen bei kleiner Schrittlänge erzielt haben, die durch kräftiges Vor- und Rückziehen des kaum gebeugten Beins erzielt wurden. Dieser Schwerpunkt auf dem Rückziehen, nicht Strecken, des Beins ist typisch für Nichtvogel-Dinosaurier. Ernährung Eine Reihe wichtiger Merkmale am Schädel der ursprünglichen Sauropodomorpha wie Plateosaurus, wie beispielsweise die Kiefergelenkung, sind pflanzenfressenden Reptilien ähnlicher als fleischfressenden, und die Zahnform gleicht der moderner herbivorer oder allesfressender Leguane. Die größte Breite der Zahnkrone ist größer als die der Wurzel, was zu einer Schnittkante wie der bei heutigen omnivorer oder herbivorer Echsen führt. Die geriffelt, breit blattförmigen Zahnkronen waren geeignet, Pflanzenmaterial zu zerquetschen. Das Kiefergelenk bot der kieferschließenden Muskulatur durch seine tiefe Position einen guten Hebelarm, so dass Plateosaurus einen kräftigen Biss besaß. Zusammenfassend scheint es daher wahrscheinlich, dass Plateosaurus sich ausschließlich von Pflanzen ernährte. Barrett schlug vor, dass ursprüngliche sauropodomorphe Dinosaurier ihre pflanzliche Ernährung mit dem Greifen kleiner Beute oder dem Verzehr von Aas aufbesserten, diese Spekulation wird vom Fossilbericht weder gestützt noch widerlegt. Bislang ist kein Fossil von Plateosaurus mit Gastrolithen (Magensteinen) bekannt. Die weit verbreitete Ansicht, dass fast alle großen Dinosaurier, mithin auch Plateosaurus, wegen ihres Unvermögens die Nahrung zu zerkauen, Magensteine zur Verdauung einsetzten, wurde in einer Studie über die Häufigkeit, das Volumen und die Oberflächenstruktur von fossilen vorgeblichen Gastrolithen und denen von Vögeln und Alligatoren widerlegt. Abgesehen von Psittacosauriern, bei denen Magensteine wohl als parallele Neuanpassung vorlagen, scheint die Verwendung von Magensteinen als Verdauungshilfe in der Stammlinie der Vögel entstanden zu sein. Wachstum, Stoffwechsel und Lebensdauer Ähnlich wie bei fast allen anderen bis heute untersuchten Nichtvogel-Dinosauriern wuchs Plateosaurus nach einem Muster, das sich von dem der Säuger und der vogelartigen Dinosaurier unterscheidet. Die eng verwandten Sauropoden, die ein für Dinosaurier typisches Wachstumsmuster zeigten, wuchsen zunächst sehr schnell und setzten ihr Wachstum nach der Geschlechtsreife mit etwas erniedrigter Rate fort. Das Wachstum der Sauropoden war jedoch determinat (begrenzt) – die Tiere erreichten also ein Stadium, in dem sie kaum noch weiterwuchsen. Säuger wachsen ebenfalls sehr schnell, bei ihnen fällt aber die Geschlechtsreife meist mehr oder weniger mit dem Erreichen des Wachstumsstopps zusammen. In beiden Gruppen ist die Endgröße recht konstant. Heutige Echsen zeigen ein sauropodenartiges Wachstumsmuster, mit anfangs schnellerem Wachstum, dann einer Reduktion der Rate etwa ab der Geschlechtsreife, und einem nur noch minimalen Wachstum im Alter. Ihre anfängliche Rate ist jedoch deutlich geringer als die von Säugern, Vögeln und Dinosauriern. Außerdem ist sie starken Schwankungen unterworfen, so dass Individuen gleichen Alters deutlich verschiedene Größen erreichen können und die erreichte Endgröße ebenfalls stark variiert. In heute lebenden Tieren ist dieses Wachstumsmuster mit einer verhaltensgebundenen Thermoregulation und einer niedrigen Stoffwechselrate verbunden (Poikilothermie und Ektothermie) und wird Entwicklungsplastizität (developmental plasticity) genannt. Plateosaurus folgte einer Wachstumskurve, die der von Sauropoden ähnelt, aber eine variable Wachstumsrate und Endgröße wie bei heutigen Eidechsen und Schlangen zeigte, wohl als Reaktion auf Umweltvariablen wie das Nahrungsangebot. Einige Individuen waren bei Körperlängen von nur 4,8 Metern ausgewachsen, andere erreichten 10 Meter Länge. Die Zellstruktur der Knochen deutet aber auf schnelles Wachstum hin, wie es von Sauropoden und Säugern bekannt ist, was auf Endothermie hindeutet. Somit stellt Plateosaurus wohl ein frühes Stadium in der Entwicklung der Endothermie dar, in dem diese von der Entwicklungsplastizität abgekoppelt war. Diese Hypothese beruht auf einer detaillierten Studie der Langknochen-Histologie von Martin Sander und Nicole Klein. Für eine Endothermie von Plateosaurus spricht auch die wohl vogelartige, von Luftsäcken belüftete Lunge, auf die aus dem Atemzugsvolumen geschlossen werden kann. Mittels der Knochenhistologie kann auch das Alter eines Individuums abgeschätzt werden. Ähnlich den Jahresringen von Bäumen werden Wachstumsmarken im Knochen als Ausdruck unterschiedlich starken Wachstums im Verlauf eines Jahres angesehen. Die Anzahl der Wachstumsmarken liefert somit Anhaltspunkte für das Mindestalter des entsprechenden Individuums. Allerdings wird mit zunehmendem Alter zunehmend Knochensubstanz wieder resorbiert („aufgelöst“), wodurch ältere Wachstumsmarken verloren gehen, sodass eine nur schwer genau abschätzbare Anzahl an Jahren hinzugerechnet werden muss. Hierbei wird beispielsweise bei Langknochen der dickste noch sichtbare Wachstumsring benutzt, um aus dem Durchmesser der Markhöhle auf die maximal resorbierte Anzahl von Wachstumsmarken zu schließen. Mit dieser Methode wird das Alter des Tieres wahrscheinlich etwas überschätzt. Sander und Klein fanden auf diese Weise heraus, dass einige Individuen von Plateosaurus schon mit mindestens 12 Jahren ausgewachsen waren, während andere noch mit mindestens 20 Jahren langsam wuchsen. Ein Exemplar muss demnach sogar noch mit mindestens 18 Jahren relativ schnell gewachsen sein. Das Alter der meisten in dieser Hinsicht untersuchten Tiere betrug bei Eintritt des Todes zwischen 12 und 20 Jahren. Das älteste Individuum war etwa 27 Jahre alt. Es ist aber anzunehmen, dass Plateosaurus durchaus ein noch höheres Alter erreichen konnte, da die in Trossingen und Frick fossil überlieferten Tiere, die Gegenstand dieser Analyse waren, nicht an Altersschwäche starben, sondern in einem Sumpf verunglückt waren. Weil Tiere unter 4,8 Meter Körperlänge fehlen, ist es nicht möglich, eine vollständige Wachstumsserie von Plateosaurus zu erstellen oder die Wachstumsraten in den ersten zehn Lebensjahren abzuschätzen. Weblinks Dinosaurier wuchs je nach Umweltbedingungen Norwegens erster Dinosaurier kommt aus der Nordsee Einzelnachweise Sauropodaähnliche Sauropodomorpha
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https://de.wikipedia.org/wiki/Sizilienexpedition
Sizilienexpedition
Die Sizilienexpedition der Athener 415 bis 413 v. Chr. war eine vorübergehende Ausweitung des Peloponnesischen Krieges (431 bis 404 v. Chr.) nach Sizilien. Die Belagerung von Syrakus durch eine athenische Streitmacht blieb vergeblich. Sie endete mit einer vernichtenden Niederlage Athens – ein tragischer Höhepunkt des Krieges, der für Athen den Anfang vom Ende bedeutete. Wichtigste Quelle für das Ereignis ist das Geschichtswerk des griechischen Historikers Thukydides (VI. und VII. Buch). Des Weiteren sei auf Diodor und Plutarch sowie – als soziokulturelle Quellen – auf die Theaterstücke Die Vögel von Aristophanes und Die Troerinnen von Euripides hingewiesen. Thukydides, der ein Zeitzeuge der Expedition war, fasste ihre Bedeutung mit den folgenden Worten zusammen: Man kann wohl sagen, dass dies Ereignis von allen in diesem Kriege das bedeutendste war, meines Erachtens sogar von allen, die wir aus der Überlieferung der Hellenen kennen, für die Sieger der größte Ruhm, für die Untergegangenen das größte Unglück: auf der ganzen Linie besiegt und unter Leiden, von denen keines etwa klein war, hatten sie in buchstäblicher Vernichtung Fußvolk und Schiffe und überhaupt alles verloren, und nur wenige von so vielen kehrten nach Hause zurück. (Buch VII, Kap. 87, übersetzt von G. P. Landmann) Vorgeschichte Im Jahr 416 v. Chr. ging der Nikiasfrieden, der den Peloponnesischen Krieg zwischen Athen und Sparta vorerst unterbrochen hatte, in sein fünftes Jahr. In Athen gab es jedoch Kräfte, die den Frieden von Anfang an abgelehnt hatten. Unter diesen spielte der ehrgeizige und charismatische Staatsmann Alkibiades eine ausschlaggebende Rolle. Hier bot sich nun eine Möglichkeit, diese Ambitionen zu verwirklichen, denn im Herbst 416 v. Chr. baten Gesandte der sizilischen Stadt Segesta Athen um Beistand im Konflikt mit Syrakus. Sie argumentierten, dass das mächtige Syrakus, wenn es erst ganz Sizilien beherrsche, bald Sparta, seinem dorischen Verwandten auf der Peloponnes, zu Hilfe kommen und gegen Athen in den Krieg ziehen würde. Ein Eingreifen Athens sei also ein Präventivkrieg. Außerdem versprachen sie die Finanzierung der Kriegskosten; Geld stehe reichlich zur Verfügung. Athen schickte eine Gesandtschaft nach Segesta, um sich vom Vorhandensein des Geldes zu überzeugen. Diese wurde hinters Licht geführt: Die Segestaer liehen sich von Nachbarstädten Schmuck und Geschirr und präsentierten dies bei allen Bewirtungen der Gesandten, die so Abend für Abend Gold und Silber im Überfluss vorfanden, ohne zu ahnen, dass es sich stets um dasselbe Geschirr handelte. Als die Gesandten im Frühjahr 415 v. Chr. nach Athen zurückkehrten, berichteten sie folglich vom Reichtum Segestas. Daraufhin wurde die Volksversammlung einberufen. Der Politiker und Heerführer (Strategos) Nikias warnte vor dem geplanten Feldzug, da man bereits genug Feinde habe und Sizilien groß und zu weit entfernt sei; das Risiko sei daher nicht kalkulierbar. Alkibiades, der den Nikiasfrieden ablehnte und sich von einem Sizilienzug Ruhm und Macht versprach, plädierte für den Feldzug und überzeugte die Athener mit einer leidenschaftlichen Rede. Nikias wollte die Volksversammlung noch einmal zur Besinnung bringen: Man müsse eine zu gewaltige Flotte und ein zu großes Heer ausrüsten, wenn man denn Erfolg haben wollte. Bestürzt musste er feststellen, dass sich die Versammlung davon nicht abschrecken ließ – man rüstete nun tatsächlich eine Expedition aus, die größer war als die Vorgabe des Alkibiades. Allein die Zahlen der Expedition sind für die damalige Zeit durchaus beeindruckend: 134 Trieren (davon 100 aus Athen, der Rest Verbündete), 5100 Hopliten (davon 1500 Athener), 480 Bogenschützen, 700 Schleuderer, 30 Reiter (der einzige wirkliche Schwachpunkt, da die Stärke der Reiterei von Syrakus bekannt war); weiterhin 30 Frachter und 100 Kähne mit Getreide, dazu Bäcker, Steinmetzen, Bauleute sowie Belagerungsgerät. Viele Handelsschiffe schlossen sich der Flotte an. Mit der Führung wurden Nikias (gegen seinen Willen), Alkibiades und Lamachos, ein erfahrener General und Kriegsbefürworter, betraut. Die allgemeine Begeisterung der Athener für das Unternehmen war groß, doch neben Nikias gab es weitere Skeptiker, z. B. Sokrates oder den Astronomen Meton, von dem Plutarch berichtet, dass er sein eigenes Haus in Brand setzte und so erreichte, dass man ihn für verrückt hielt und seinen Sohn von der Teilnahme an der Expedition freistellte. Während des Peloponnesischen Krieges hatte Athen bereits 427 und 425 v. Chr. mit mäßigem Erfolg in Sizilien gegen Syrakus interveniert. Dennoch war dadurch das Interesse der Athener an einer Herrschaft über die Insel geweckt worden. Sizilien, Teil von Magna Graecia, galt den Griechen als die Neue Welt. Die Insel hatte in den vergangenen 200 Jahren einen glänzenden ökonomischen Aufschwung erlebt und war reich an Ressourcen, vor allem an Getreide. Teile der Insel, vor allem der Westen, gehörten zum Einflussgebiet Karthagos. Zur Zeit der Kolonisierung durch die Griechen lebten Sikanen, Sikeler und Elymer auf der Insel. Segesta etwa war eine Stadt der Elymer, hatte aber dennoch seit 480 v. Chr. ein Hilfsabkommen mit Athen. Syrakus war zu jener Zeit die größte Stadt in Sizilien, von der Größe und Einwohnerzahl her mit Athen (40.000 Einwohner) vergleichbar. Die Regierungsform war eine Demokratie, obwohl die Tyrannis eine längere Tradition besaß. Als Tochterstadt des dorischen Korinth, mit dem es enge Handelsbeziehungen unterhielt, war Syrakus ein natürlicher Verbündeter Spartas, des Erzfeindes von Athen. Die Überfahrt Der Auszug der Flotte im Sommer 415 v. Chr. wurde vom Hermenfrevel überschattet: In der Nacht vor dem Ablegen wurden in ganz Athen Hermes-Statuen, die man auch als Zeichen der attischen Demokratie betrachtete, verstümmelt. Man beschuldigte Alkibiades der Tat; ein Prozess wurde allerdings verschoben, um die Expedition nicht zu verzögern. Damit stiegen jedoch die Chancen für eine Verurteilung des Alkibiades während seiner Abwesenheit, was auch bald darauf geschah. Die Flotte setzte zunächst nach Italien über, wo die griechischen Städte aus Angst, in den Krieg hineingezogen zu werden, die Aufnahme verweigerten. Nach Segesta vorausgeschickte Schiffe kehrten zur Flotte zurück und berichteten, dass das versprochene Geld nicht vorhanden sei. Man beschloss nach einigen Beratungen, bei denen Nikias vergeblich auf die baldige Rückkehr nach Athen drängte, zunächst in Sizilien Verbündete für einen Angriff auf Syrakus zu suchen. Unterdessen wurde Alkibiades nach Athen zurückberufen, um sich einem Prozess wegen des Hermenfrevels zu stellen. Auf dem Rückweg nach Athen entkam Alkibiades jedoch nach Sparta, das er in den folgenden Jahren im Kampf gegen seine Heimatstadt beraten sollte. Die athenische Flotte fuhr währenddessen die Küste Siziliens entlang, gewann einige wenige Verbündete, wie die ionischen Poleis Naxos und Katane, eroberte die mit Segesta verfeindete sikanische Stadt Hykkara und widmete sich dem Sklavenhandel, während der Sommer verstrich. Bei Syrakus kam es zur ersten Feldschlacht mit dem syrakusischen Heer, die die Athener für sich entscheiden konnten. Da sich jedoch der Mangel an Kavallerie als schwerwiegend herausstellte, beschloss man, in Katane und Naxos zu überwintern und Verstärkung abzuwarten. Syrakus schickte ein Hilfsgesuch nach Korinth und Sparta, wo der Flüchtling Alkibiades die Spartaner aufstachelte und ihnen dazu riet, nicht nur Syrakus beizustehen, sondern auch Dekeleia bei Athen zu besetzen. Sparta schickte kein Heer, entsandte aber den erfahrenen General Gylippos. Nur Korinth beschloss die Entsendung einer Flotte. Athen schickte unterdessen dem Expeditionsheer 250 Reiter zur Verstärkung und Geld, um 400 weitere anzuwerben. Die Expedition, die so erfolgversprechend gestartet worden war, sollte nun immer mehr Ressourcen Athens binden. Die Belagerung Im Frühling 414 v. Chr. ergriffen die Athener wieder die Initiative (zum letzten Mal) und nahmen die Belagerung von Syrakus in Angriff. Durch einen Handstreich gelang es ihnen, das strategisch wichtige Epipolai (Hochfeld) nördlich der Stadt einzunehmen. Dies war die Voraussetzung, um die Stadt mit einem Belagerungsring zu umgeben und vom übrigen Festland abzuschneiden. Da man dank der starken Flotte auch die Seehoheit besaß, würde man alle Vorteile auf seiner Seite haben. Unverzüglich baute man ein Fort am nördlichen Steilhang des Hochfelds (Labdalon) und ein weiteres näher an der Stadt, den wegen seiner Form so genannten Ring. Außerdem begann man, vom Ring ausgehend, in beiden Richtungen Belagerungsmauern zu errichten. Die Syrakuser versuchten, dies zu vereiteln. Zweimal bauten sie Gegenmauern, die senkrecht zur beabsichtigten Linie der athenischen Mauern verliefen; beide wurden von den Athenern zerstört. Es kam dabei zu mehreren Scharmützeln; der Athener General Lamachos wurde getötet, womit Nikias jetzt der alleinige Befehlshaber war. Unterdessen nahm die athenische Flotte den Hafen ein. Drei Tage waren seit dem Beginn der Belagerung vergangen, und die Bauarbeiten an den Mauern machten schnelle Fortschritte. Bei diesen handelte es sich um doppelte Mauern: zwei Mauern mit einem Zwischenraum, so dass die Belagerer zusätzlich gegen Entsatzversuche vom Landesinneren geschützt waren. Der Abstand zwischen den Mauern wurde, je näher man dem Hafen kam, allmählich verbreitert, um letztendlich einen großen Teil (1.000 m) des zum Hafenbecken gehörenden Strandes einzuschließen. So fand die ganze athenische Flotte innerhalb des ummauerten Bereichs Platz. Die Syrakuser sahen keine Hoffnung mehr und erwogen die Kapitulation. Doch dazu kam es nicht, denn kurz bevor das letzte Stück der nördlichen Mauer fertiggestellt werden konnte (die Steine dafür lagen schon bereit) und somit die Abriegelung komplett gewesen wäre, traf Gylippos ein. Der spartanische General war zunächst nach Himera in Nordsizilien gefahren und hatte ein 3000-köpfiges Heer auf die Beine gestellt. Gylippos griff Labdalon an und eroberte das dortige Fort. Die Syrakuser begannen mit dem Bau einer Gegenmauer von der Stadt nach Labdalon und verwendeten dafür die Steine, die die Athener für ihre Mauer herbeitransportiert hatten. Die Athener mussten dies verhindern und es kam zu einer Schlacht, in der Gylippos siegte, so dass die Syrakuser ihre Mauer fertigstellen konnten. Die Schließung des athenischen Ringes um Syrakus war damit endgültig vereitelt, eine Vorentscheidung war gefallen. Die Belagerung der Belagerer Nikias, der mündlichen Boten nicht zutraute, den Ernst der Lage eindringlich genug zu schildern, schickte einen Brief nach Athen, in dem er erklärte, dass die Belagerer nun selbst zu Belagerten geworden seien. Da nämlich die Ummauerung der Stadt unvollständig sei, könnten die Syrakuser zwischen der Stadt und dem übrigen Land frei verkehren, während die Athener auf den Bereich innerhalb ihrer Belagerungsmauern und den Hafen beschränkt seien. Nun seien sie selbst es, die unter Nahrungs- und Wassermangel litten. Er forderte die Erlaubnis zur Heimkehr oder aber beträchtliche Verstärkung. Athen beschloss letzteres und ernannte zwei Offiziere vor Ort, Menandros und Euthydemos, zu Strategen, um Nikias gleich zur Hand zu gehen. Außerdem wurden die erfahrenen Strategen Demosthenes und Eurymedon in Athen mit der Vorbereitung einer Hilfsexpedition beauftragt. Syrakus erhielt Verstärkung aus Sparta, Korinth und dem übrigen Sizilien (ganz Sizilien ergriff inzwischen Partei für Syrakus); auch die syrakusische Flotte wurde aufgerüstet, während der Winter verstrich. Im Frühjahr 413 v. Chr. wagte die mit 25 korinthischen Trieren verstärkte syrakusische Flotte eine Schlacht gegen die (traditionell überlegene) athenische Flotte im Hafen, die die Athener gewannen. Auf Athener Seite brannten vor allem die beiden neu ernannten Strategen Menandros und Euthydemos auf den Kampf noch vor Eintreffen der erwarteten Verstärkungen. Der vorsichtige Nikias hatte das Gefecht dagegen vermeiden wollen und sollte schließlich recht behalten, denn während dieser Seeschlacht eroberte Gylippos mit dem Syrakuser Heer drei Athener Außenposten (Plemmyrion), die die Hafeneinfahrt kontrollierten – ein Verlust, der für die Athener später noch verhängnisvoll sein sollte. Die Syrakuser nahmen inzwischen Neuerungen an ihren Trieren vor – sie verstärkten den Bug mit zusätzlichen Streben, um ein Bug-auf-Bug-Rammen zu ermöglichen. Dazu muss man wissen, dass die übliche Taktik von Trieren darin bestand, den Gegner mit dem Rammsporn in die Seite zu rammen, niemals jedoch in den Bug (letzteres nannte man „Steuermanns-Torheit“). Zum seitlichen Rammen war aber Raum zum Manövrieren erforderlich, an dem es im Syrakuser Hafenbecken mangelte. Dank dem verstärkten Bug konnten die Syrakuser nunmehr den frontalen Rammstoß wagen; dieser Vorteil war später folgenreich. Während die Syrakuser eine dritte Schlacht vorbereiteten, trafen Demosthenes und Eurymedon mit der Verstärkung für die Athener ein: 73 Trieren mit 5.000 Hopliten und vielen Peltasten. Nikias und seine Truppen schöpften nun wieder Mut. Die Athener unternahmen einen nächtlichen Angriff auf das Hochfeld, in der Hoffnung, die nördliche Mauer doch noch vollenden zu können. Dieser Angriff endete im Chaos – Kämpfe bei Nacht waren damals unüblich – und mit einer athenischen Niederlage. Das Ende Als nun Demosthenes die Heimkehr nach Athen empfahl, war es Nikias, der zögerte. Er fürchtete, für diesen Fehlschlag zur Verantwortung gezogen zu werden: Er wisse wohl, dass es die Athener niemals gutheißen würden, wenn sie ohne Volksbeschluss abzögen. […] Auch viele der hier anwesenden Soldaten, ja die meisten, sagte er, die jetzt zeterten, welche Not sie auszustehen hätten, würden, wenn sie erst zu Hause wären, das umgekehrte Geschrei erheben über Bestechung und schmählichen Verrat der Feldherrn. Darum wolle er selbst, der die Art der Athener kenne, statt mit Schimpf und Schande in Athen ungerecht den Tod zu erleiden, lieber vorm Feind […] fallen. (Buch VII, Kap. 48, übersetzt von G. P. Landmann) Zudem war er überzeugt, dass die Lage der Syrakuser noch schlechter sei als die der Athener. Erst als die Syrakuser kurz darauf weitere Verstärkung erhielten, war auch Nikias einverstanden und man rüstete heimlich für die Heimfahrt. Als jedoch alles zur Abfahrt bereit war, ereignete sich eine Mondfinsternis. Die Athener, vor allem Nikias, werteten dies als schlechtes Omen und beschlossen auf den Rat ihrer Seher, drei mal neun Tage abzuwarten. Die Syrakuser erfuhren von den heimlichen Fluchtplänen der Athener, fühlten sich ermutigt und beschlossen nun, sie nicht entkommen zu lassen. Sie versperrten die über 1 km breite Hafenmündung mit quergestellten Schiffen. Als den Athenern die Nahrungsmittel ausgingen, versuchten sie den Durchbruch. Sie gaben bis auf den Strand ihre Mauern auf und bemannten ihre verbliebenen 110 Trieren; nur die Kranken verblieben am Ufer. Im ca. 4 km × 2,5 km großen Hafenbecken entbrannte eine Schlacht, wobei die ca. 200 beteiligten Trieren – bei 200 Mann pro Triere also 40.000 Kämpfende bzw. Rudernde – kaum Raum zum Manövrieren hatten; oft verkeilten sich mehrere Schiffe ineinander und gingen unter. Den Athenern gelang es nicht, die Sperre zu durchbrechen, so dass sie sich an den Strand zurückziehen mussten. Demosthenes schlug vor, am nächsten Morgen mit den nunmehr verbleibenden 60 Trieren einen erneuten Versuch zu unternehmen (die Syrakuser hatten auch nur noch 50 Schiffe). Nikias stimmte zu, doch die Schiffsbesatzungen waren demoralisiert und weigerten sich zu gehorchen. Man beschloss daher, einen Ausbruchsversuch auf dem Landweg zu unternehmen und sich noch in der gleichen Nacht ins von den neutralen Sikelern beherrschte Landesinnere durchzuschlagen. Die Syrakuser streuten jedoch das Gerücht aus, die Wege seien bereits von ihren Truppen versperrt, woraufhin die Athener den Aufbruch auf den übernächsten Tag verschoben. Diese Verzögerung gab den Syrakusern Zeit, Engpässe zu besetzen und Wegsperren zu errichten. Als die Athener endlich aufbrachen (wobei sie die Kranken zurückließen), waren es angeblich immer noch 40.000 Mann, die marschfähig waren. Ihre Zahl wurde jedoch rasch kleiner. Sie wurden ständig von Reitern und Bogenschützen angegriffen, litten unter Wasser- und Nahrungsmangel und mussten sich teilweise jeden Meter Weges freikämpfen. Das ursprüngliche Ziel, das Landesinnere, erwies sich nach zwei Tagen als unerreichbar, da die Syrakuser einen Engpass besetzt und vermauert hatten. Nach mehreren vergeblichen Versuchen der Athener, diesen zu überwinden, beschlossen Nikias und Demosthenes nun nach Süden zu marschieren, denn der Weg zum verbündeten Katane im Norden war ebenfalls versperrt. Nach vier Tagen verlor während eines Nachtmarsches die Nachhut unter Demosthenes den Anschluss und wurde von der Hauptstreitmacht abgeschnitten. Diese 6.000 Mann wurden am Fluss Kakyparis (heute Cassibile, 14 km südlich von Syrakus) eingekreist. Sie ergaben sich, nachdem man ihnen Schonung versprochen hatte. Nikias und der Rest des Heeres marschierten noch einen Tag. Am Fluss Assinaros wurden sie gestellt. Es kam zu einem blutigen Gefecht, bei dem die entkräfteten Athener unterlagen. Thukydides schildert das Geschehen mit nüchternen Worten: Die Athener eilten vorwärts an den Assinaros, teils gejagt von dem allseitigen Angriff vieler Reiter und des übrigen Haufens, sie merkten, es würde ihnen leichter werden, wenn sie erst überm Fluß wären, teils auch wegen ihrer Abmattung und aus Begier zu trinken. Als sie hinkamen, stürzten sie sich hinein in aufgelöster Ordnung, ein jeder wollte der erste drüben sein, und die nachdrängenden Feinde machten den Übergang nachgerade schwierig. Dann zu geschlossenem Zug gezwungen, stürzten sie übereinander und traten sich nieder, wobei die einen wegen der Speere und des Gepäcks sofort umkamen, andere im Schlamm hängenblieben und weggeschwemmt wurden. Am anderen Ufer stellten sich die Syrakuser auf (es war Steilhang) und schossen von oben auf die Athener, von denen die meisten begierig tranken und in der Krümmung des Flusses sich selber in die Quere kamen. Die Peloponnesier stiegen nieder, ihnen entgegen, und schlachteten die im Flusse fast alle hin. Das Wasser war auch sofort verdorben und wurde trotzdem getrunken, schlammig und blutig wie es war, und die Menge raufte sich darum. (Buch VII, Kap. 84. übers. von G. P. Landmann) Nikias ergab sich Gylippos mit der Bitte, die verbliebenen Athener zu schonen. Dem kam Gylippos nach; der Rest des Heeres wurde gefangen genommen. Einem großen Teil des Heeres (Thukydides nennt keine Zahl) war jedoch während des Marsches die Flucht gelungen. Sowohl Nikias als auch Demosthenes wurden von den Syrakusern hingerichtet – gegen den Willen Gylippos’, der die beiden Athener Generäle gern als Trophäen nach Sparta gebracht hätte, besonders Demosthenes, der Sparta zehn Jahre zuvor in der Schlacht von Sphakteria eine folgenschwere Niederlage beigebracht hatte. Die Gefangenen, insgesamt 7.000, wurden in einem Steinbruch bei Syrakus zusammengepfercht, wo jene, die nicht als Sklaven verkauft wurden, unter elenden Zuständen starben. Folgen der sizilischen Expedition In Athen stieß die Nachricht von der Vernichtung des Expeditionsheeres auf Unglauben, selbst heimkehrenden Überlebenden wurde zunächst kein Glauben geschenkt. Als man allmählich die Wahrheit erkannte, wich die Empörung über die Politiker und Wahrsager, die zur Expedition geraten hatten, schnell der Verzweiflung. Der Verlust der Flotte war noch am leichtesten zu verschmerzen – die damaligen Schiffe hatten ohnehin keine lange Lebensdauer –, wenn freilich auch ein Rückschlag, zumal die Versorgung Athens mit Holz zum damaligen Zeitpunkt problematisch war. Schwerer wog jedoch der Verlust an Menschenleben, gerade nach den vorherigen verlustreichen Ereignissen (Tod durch die Pest und die vorangegangenen Expeditionen und Kämpfe). Auch der Ansehensverlust Athens innerhalb des Attischen Seebundes und in ganz Griechenland war enorm. Bisher neutrale Stadtstaaten waren nun bereit, gegen Athen Partei zu ergreifen. Zudem hatte sich Sparta in der letzten Phase der Expedition in der Festung Dekeleia in Attika festgesetzt und band so athenische Ressourcen. Athen hatte seine Macht überschätzt. Der Peloponnesische Krieg dauerte zwar noch neun weitere Jahre, doch die Niederlage Athens war nun absehbar. Eine gewisse Ironie dieses Geschehens liegt darin, dass – Thukydides zufolge – noch beim Ausbruch des Peloponnesischen Krieges der große Athener Stratege Perikles seine Landsleute gewarnt hatte: Noch manch andere Hoffnung habe ich, dass wir gewinnen, wenn ihr euch entschließt, euer Reich nicht zu erweitern, solange ihr Krieg habt, und nicht freiwillig noch mehr Gefahren sucht. Fürchte ich doch weit mehr unsere eigenen Fehler als die Anschläge unserer Gegner. (Buch I, Kap. 144, übers. von G.P. Landmann) Dabei ist zu berücksichtigen, was Thukydides selbst zur Authentizität der Reden in seinem Werk einschränkend angemerkt hat, wobei er bei der Kriegsrede des Perikles noch am ehesten selbst anwesend gewesen sein dürfte. Bemerkenswert ist auch, dass die größte Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg ohne Beteiligung eines spartanischen Heeres zustande gekommen war: Sparta war ja nur durch Gylippos vertreten. Quellen Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Übersetzt von G. P. Landmann. Düsseldorf 2002, ISBN 3-7608-4103-1 Diodorus Siculus: Bibliotheca historica: Buch 13 beginnt mit der Sizilienexpedition. Plutarch: Große Griechen und Römer. München 1984, ISBN 3-423-05989-3 (die Biographien von Alkibiades und Nikias behandeln ausführlich die Sizilienexpedition) Literatur Donald Kagan: The Peace of Nicias and the Sicilian expedition. Ithaca NY 1988, ISBN 0-8014-1367-2 (beste und umfassendste Darstellung der Sizilienexpedition) Donald Kagan: The Peloponnesian War. Athens and Sparta in savage conflict 431–404 BC. London 2003, ISBN 0-00-711505-9, S. 253ff. (interessante Darstellung für ein breiteres Publikum) Raimund Schulz: Athen und Sparta. Reihe Geschichte kompakt. Antike. Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15493-2, S. 108–121 (knappe, aber gute Zusammenfassung) Karl-Wilhelm Welwei: Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert. Darmstadt 1999, ISBN 3-89678-117-0, S. 200ff. (Standardwerk zur Geschichte des klassischen Athens mit zahlreichen Verweisen auf die moderne Forschungsliteratur) John Warry: Warfare in the Classical World. Norman (Oklahoma) 1995, ISBN 0-8061-2794-5, S. 41, 49 (kurze Übersicht zur Belagerung, außerdem Details zu Belagerungstechnik, Hoplitenkampf, Trieren-Rammtaktik u. a.) Weblinks Peloponnesischer Krieg Massaker Militärgeschichte (Sizilien) 415 v. Chr. 414 v. Chr. 413 v. Chr. Konflikt (5. Jahrhundert v. Chr.) Sizilien in der Antike
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https://de.wikipedia.org/wiki/Redwood-Nationalpark
Redwood-Nationalpark
Der Redwood-Nationalpark (Redwood National and State Parks) ist ein Nationalpark der USA an der kalifornischen Pazifikküste nahe der Grenze zu Oregon. Im Schutzgebiet wachsen knapp 50 Prozent des natürlichen Bestands an Küstenmammutbäumen Sequoia sempervirens (englisch: Coast Redwood oder California Redwood), den höchsten Bäumen der Erde. Zum Park gehören der naturbelassene, vielgestaltige Küstenstreifen, der von der zerklüfteten Kliffküste über flache Felsstrukturen mit Gezeitentümpeln bis zum Sandstrand reicht, und die Hänge des Küstengebirges, an denen die Mammutbäume die Leitart des Ökosystems gemäßigter Regenwald sind. In den 1920er Jahren wurden zunächst die drei kalifornischen State Parks Prairie Creek Redwoods State Park, Del Norte Coast Redwoods State Park und Jedediah Smith Redwoods State Park eingerichtet. Der Nationalpark wurde am 2. Oktober 1968 gegründet und 1994 die Verwaltung mit den State Parks vereint. Seit 1980 ist das Gebiet als Weltnaturerbe der UNESCO ausgewiesen. Der Park wird gemeinsam durch den National Park Service und das California Department of Parks and Recreation verwaltet. Geschichte Im Gegensatz zu den meisten anderen Nationalparks der Vereinigten Staaten wurde der Redwood-Nationalpark nicht zum Schutz einer geologischen Formation oder eines anderen ortsfesten Objektes geschaffen. Er verdankt seine Einrichtung der Geschichte der Landnutzung in Nordkalifornien, nachdem die ehemals flächendeckenden Wälder der Küstenmammutbäume fast völlig abgeholzt worden waren und der ursprüngliche gemäßigte Regenwald nur noch in den abgelegensten Teilen des Bundesstaates zu finden war. Die Ureinwohner Die nordkalifornische Pazifikküste hat eine lange Besiedelungsgeschichte. Einwanderer zogen entlang der Küste und erschlossen sich über die Flussläufe das Innere des Kontinents. Die Vorfahren der im Gebiet des Parkes nachweisbaren Volksgruppen stammen von der „Na-Dené-Kultur“ ab. Der Zeitpunkt ihres Eintreffens auf dem Kontinent ist umstritten. Linguistische Vergleiche ergaben, dass die Vorfahren der Karok bereits 300 v. Chr. im Hinterland des heutigen Parkes lebten. Um die Zeitenwende sprossen die ältesten, heute noch stehenden Redwoods. Ab dem 14. Jahrhundert sind Yurok nachweisbar, im 16. Jahrhundert stießen die Tolowa, Chilula und die Hoopa in die Region vor. Diese Völker bestanden aus einigen hundert bis wenigen tausend Personen und lebten in kleinen Dorf- und Familiengemeinschaften. Das milde Klima, der Fischreichtum im Meer und in den Flüssen und das Wild der Wälder und Prärien boten eine großzügige Grundlage für die Ernährung, die Wälder das Baumaterial für Häuser. Diese günstigen Bedingungen erlaubten ihnen die größte Bevölkerungsdichte aller bekannten Jäger- und Sammler-Gesellschaften weltweit. Die Yurok flochten kunstvolle Körbe aus Wurzeln, Farnsprossen und Gräsern, die sie zu profanen und zeremoniellen Zwecken nutzten. Sie verfügten über Speere als Jagdwaffen und setzten auch zum Fischen leichtere Speere und Netze ein. Sie sammelten Pflanzen und Früchte und nutzten Feuer, um das Unterholz in Laubwäldern abzuflammen, damit sie Eicheln und andere Baumfrüchte besser zusammentragen konnten. Feuer diente ihnen auch als Werkzeug, um Baumstämme auszuhöhlen und Kanus in Form eines Einbaums zu bauen. Zur feineren Holzbearbeitung benutzten sie Werkzeug aus Stein und dem Horn von Tiergeweihen. Die Yurok bauten ihre Häuser aus Planken, die aus Redwood- und Zedernstämmen gespalten wurden. Zusammengehalten wurden die Wände vielfach durch Seilbindungen. Auffallend an den rekonstruierten Häusern sind kleine runde, mit Balken verstärkte Eingänge oder besser Schlupflöcher, durch die sich die Yurok vor den heute in ganz Kalifornien ausgestorbenen Grizzlybären schützten. Die Kultur der Yurok war ganz auf die sie umgebende Natur ausgerichtet. Tiere und Pflanzen, aber auch ihre aus den Bäumen gebauten Häuser galten bei ihnen als von Geistern bewohnt. Die Redwoods selbst waren ihre „ewigen Geister“. Die Lebensweise der nordkalifornischen Küstenindianer lässt sich über mehrere Jahrhunderte nahezu unverändert nachweisen. Erst mit dem Eintreffen der ersten Europäer veränderten sich die Kulturen innerhalb weniger Jahrzehnte. Entdecker und Goldsucher Erste Entdecker erreichten die Region im Jahr 1775. In der Trinidad-Bucht, wenige Kilometer südlich des heutigen Parks ging die Heceta-Bodega-Expedition vor Anker und erklärte die Küste zum spanischen Besitz für das Königreich Neuspanien. Mit den Ureinwohnern gab es hier nur wenig Kontakt, doch wahrscheinlich schleppten die Entdecker Pocken ein, der zahlreiche Angehörige der Küsten-Salish-Stämme zum Opfer fielen (Vgl. Pockenepidemie an der Pazifikküste Nordamerikas ab 1775). Doch da die Küste zu flach war für gute Häfen, ignorierten nachfolgende Seefahrer die Region für längere Zeit. Erst 1828, das Gebiet gehörte nun zum von Spanien unabhängigen Mexiko, durchquerte der Trapper Jedediah Smith mit 20 Pelzjägern und einer Karawane aus 300 Mulis die Küstenberge auf der Suche nach einer neuen Route zwischen dem Pazifik und den Rocky-Mountains. Die dichten Wälder waren schon zu Fuß schwer zu passieren, mit den Packtieren wurde es zur Qual. 1849 zog der Wissenschaftler und Autor Josiah Gregg mit sechs Gefährten auf der Suche nach Gold entlang der nördlichen Küste des kurz zuvor als Ergebnis des Mexikanisch-Amerikanischen Krieges von Mexiko zu den Vereinigten Staaten übergegangenen Kaliforniens. Er erkundete als Erster die Redwood-Wälder und machte systematische Aufzeichnungen, etwa von einem Küstenmammutbaum mit einem Durchmesser von über 6,50 m. Im Jahr zuvor, 1848, war während des kalifornischen Goldrausches am Oberlauf des Trinity Rivers Gold gefunden worden. Entlang der Flüsse drangen die Goldgräber immer tiefer in die Wälder des Küstengebirges vor. Neue Siedlungen entstanden über Nacht, zunächst als Zeltstädte, Bäume wurden gerodet und erste Hütten errichtet. Muli- und Esel-Karawanen bahnten Wege für Siedler und Händler. Entlang des Trinity Rivers erreichten die Goldsucher den Klamath River und das Gebiet des heutigen Parks. Als im Umfeld von dessen Mündung am Gold Bluff Beach Gold gefunden wurde, schwoll der Zustrom der Weißen stark an. Das Eindringen der Siedler in die Lebensräume der Urbevölkerung führte unweigerlich zu Konflikten. Übergriffe der Yurok auf das Eigentum der Siedler lösten Überfälle auf ihre Dörfer aus, das Verhältnis wurde feindselig. Aus dem Kreis der erfolglosen Goldgräber bildeten sich Milizen, die zu „Strafaktionen“ gegen die Dörfer der Urbevölkerung aufbrachen. Sie mordeten, brandschatzten und vergewaltigten und wurden als Helden reich belohnt. Nach der Anerkennung Kaliforniens als US-Bundesstaat 1850 wurden zwei kleine Militärposten an der Mündung des Klamath und in Crescent City errichtet und die Dominanz der Weißen klargestellt. Die meisten Goldsucher fanden wenig bis gar nichts – und wo Goldadern oder Ablagerungen goldhaltigen Sandes entdeckt wurden, waren die Fundstätten schnell erschöpft. Nach nur ein paar Jahren war der Boom vorbei und die Siedler zogen entweder ab oder richteten ihr Interesse auf andere Schätze. Eine schier unerschöpfliche Einkommensquelle wurde das „rote Gold“ – das Holz der Mammutbäume. Das Zeitalter der Holzindustrie Der ungeheure Bevölkerungszuwachs im Zuge der Besiedelung des Westens führte zu einem enormen Bedarf an Bauholz. Die Holzindustrie wurde innerhalb weniger Jahre zum führenden Wirtschaftszweig westlich des Mississippis. Das Holz des Coastal Redwoods war als gutes Nutzholz mit vielen Verwendungsmöglichkeiten sehr begehrt, weil es besonders witterungsbeständig und weitgehend resistent gegen Pilze, den Holzbock und sogar Termiten ist. Vor allem wächst der Küstenmammutbaum in dichten Beständen und durch die Höhe liefert jeder gefällte Baum große Mengen Holz (1902 deckte ein durchschnittlicher Redwood den Materialbedarf von 22 Häusern ab), was die Arbeit der Holzfällerteams sehr wirtschaftlich machte. Auf legalem und illegalem Wege erlangten Abenteurer und Unternehmer Einschlagslizenzen auf dem öffentlichen Grund und Boden in Bundesbesitz. Strohmänner beriefen sich auf Gesetze zum Ansiedlungs- und Bergbaurecht, um Eigentum an Grundstücken zu erhalten, die dann entgegen allen Auflagen nie besiedelt, sondern nur abgeholzt wurden. Ganze Schiffsbesatzungen ließen sich an einem Tag Siedlungsgrundstücke eintragen, traten die Rechte gegen ein Handgeld und Alkohol an Holzindustrielle ab und fuhren am nächsten Tag wieder hinaus auf die nächste Reise. Die Zahl der Holzfällercamps im Kalifornischen Küstengebirge wuchs in den 1860er bis 1880er Jahren gewaltig. Zunächst reichten die Technik und die Werkzeuge nur für kleinere Bäume, schon bald bildeten sich Spezialisten heraus, die im arbeitsteiligen Zusammenwirken den Hunger nach Baumaterial befriedigten. Die Choppers fällten den Baum mit großer Präzision, so dass er weder so hart aufschlug, dass er splitterte, noch Nachbarbäume beschädigte. Peelers schälten die Rinde ab und Sawers zerlegten den Stamm in transportable Teile. Diese wurden mit Ochsen- oder Pferdegespannen über Rückegassen aus dem Wald geschleppt, die von Hilfskräften ständig bewässert wurden, um den Boden rutschig zu machen. Die Mechanisierung brachte dampfgetriebene Seilzüge. In den Sägewerken wurden ebenfalls Dampfmaschinen eingesetzt. 1853 gab es in dem kleinen, erst 1850 entstandenen Ort Eureka, 40 km südlich des heutigen Parks, schon neun Sägewerke, später entstanden weitere in Crescent City und Orick. Dampfgetriebene Traktoren hielten Einzug, später wurde eine kurze Eisenbahn gebaut, um die Stämme zu befördern. Raupenschlepper wurden ab 1925 eingesetzt, die ersten Motorsägen ab 1930. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Holzgeschäft endgültig zur Industrie: Bulldozer bauten Straßen in die Hänge, Schwerlaster brachten die Stämme zu den Sägewerken. Die Abholzung betraf nicht mehr einzelne Wälder, sondern ganze Regionen wurden per Kahlschlag verwertet. Aus Redwood waren die Stützpfeiler in den Erzminen des amerikanischen Westens genauso wie Schiffsplanken von Handelsflotte und Kriegsschiffen. Eine enorme Nachfrage brachten die Schwellen der Eisenbahn. Aber die größte Menge ging in den Hausbau. Die meisten Gebäude der amerikanischen Westküste seit der viktorianischen Zeit wurden aus dem Holz des Mammutbaums errichtet. Besonderer Bedarf entstand beim Wiederaufbau von San Francisco nach dem Erdbeben und den Bränden von 1906, darunter die berühmten Häuser von Haight-Ashbury. Der Nationalpark Frühe Anläufe zum Schutz der Redwoodwälder gingen zurück bis 1879, als US-Innenminister Carl Schurz auch die Redwoods auf eine Vorschlagsliste für weitere Nationalparke infolge der Errichtung des Yellowstone-Nationalparks 1872 setzte. Die Idee stieß auf hinhaltenden Widerstand der Wirtschaftsinteressen und versank in den Archiven. Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert und verstärkt nach dem Wiederaufbau von San Francisco wurden in konservativen Kreisen Stimmen laut, die einen Schutz von Restbeständen des Küstenmammutbaums forderten. Die Save the Redwoods League wurde 1918 von Honoratioren der kalifornischen Gesellschaft gegründet. Binnen kürzester Zeit brachten sie aus privaten Spenden enorme Mittel auf, die ausreichten, um die Kerngebiete der drei State Parks Jedediah Smith, Del Norte Coast und Prairie Creek zu kaufen. Der Staat Kalifornien brachte eigenes Land ein, löste Einschlagslizenzen ab und gründete die State Parks zwischen 1923 und 1929. Am Ende des Zweiten Weltkriegs rief die Save the Redwoods League zu Spenden im Gedenken an gefallene Soldaten des Kriegs auf und konnte rund 20 km² Redwood-Wälder angrenzend an den Jedediah Smith State Park erwerben. Sie wurden als National Tribute Grove dem Gedenken an alle US-Soldaten, Heimkehrer und Gefallene, gewidmet und erweiterten den State Park. Außerhalb dieser Schutzgebiete und in den Anfangsjahren vereinzelt auch illegal innerhalb der unmarkierten Grenzen ging das Abholzen weiter. In den 1960er Jahren waren beinahe 90 % der ursprünglichen Bestände verschwunden. Erst jetzt wurde die Bewegung zum Schutz weiterer Gebiete und insbesondere nach einer Verbindung der isolierten State Parks lauter. Die National Geographic Society finanzierte aus Spendengeldern eine Studie über die letzten erhaltenen Urwaldgebiete in den Küstenbergen und den Entwurf geeigneter Grenzen eines neuen Nationalparks. Im Rahmen dieser Studie wurden die drei bis dahin höchsten Bäume der Erde am Ufer des kleinen Redwood Creeks gefunden und vermessen. Der Bericht der National Geographic Society erregte in Washington Aufmerksamkeit. Der US-Kongress begann mit Anhörungen, in denen die Holzindustrie die Umwandlung der bestehenden State Parks in einen Nationalpark vorschlug und die Naturschutzorganisation Sierra Club einen neuen Park mit 225 km² forderte. Wieder sammelten die Save the Redwoods League und andere Organisationen Spenden und kauften Flächen an. Nach zweijährigen Verhandlungen stand das Gesetz und Präsident Lyndon B. Johnson unterzeichnete am 2. Oktober 1968 die Gründungsurkunde des neuen Redwood-Nationalparks, durch den neben den bestehenden Staatsparks fast 150 km² unter den Schutz der Bundesregierung gestellt wurden. Seine Frau, Lady Bird Johnson, wurde für ihren Einfluss auf die Entscheidung geehrt und ein Hain auf den Namen Lady Bird Johnson Grove getauft. Im März 1978 wurde der Park um rund 120 km² erweitert und eine zusätzliche Schutzzone entlang des Oberlaufs von in den Park fließenden Flüssen mit rund 90 km² eingerichtet. Die neuen Gebiete sind großteils keine Redwood-Altbestände, sondern umfassen Süß- und Brackwasser-Seen, Prärien und eine mit Laubwald bestandene Hügelkette. 1980 erklärte die Weltkulturorganisation der Vereinten Nationen UNESCO den Redwood-Nationalpark zum Weltnaturerbe. 1994 wurde die Verwaltung der State Parks mit dem Nationalpark zusammengefasst. Der Kongress der Vereinigten Staaten erweiterte den Park Ende 2005 um rund 100 km², als er das gesamte Wassereinzugsgebiet des Mill Creeks im Nordosten des Parks vom kommerziell genutzten Six-Rivers-National-Forest und dem Forest Service an die Parkverwaltung übertrug und damit unter Schutz stellte. Geografie Der Redwood National and State Park erstreckt sich im Norden des US-Bundesstaates Kalifornien fast 90 km entlang der Pazifikküste in den Hügeln des Küstengebirges. Der höchste Punkt ist der Grashoppers Peak (1014 m) in den Bald Hills. Jeweils etwa die Hälfte des Parks liegen in den kalifornischen Counties Humboldt und Del Norte. Der Park umfasst eine Fläche von 534 km² und besteht überwiegend aus bewaldeten Hängen, einem 52 km langen Küstenstreifen, mehreren Flüssen und Seen sowie kleinen Prärieflächen. Der Park umfasst in den Küstenabschnitten auch den Pazifischen Ozean bis 400 m vor der Normalwasser-Marke. Nicht zum Park gehören die weitgehend vom Parkland umschlossenen Ortschaften Crescent City, Orick und Klamath mit zusammen etwa 5000 Einwohnern sowie die Mündung des Klamath Rivers. Der Park liegt 500 km nördlich von San Francisco und 500 km südlich von Portland, etwa 15 km südlich der Staatsgrenze zwischen Kalifornien und Oregon. Andere Nationalparks in der Region sind der Crater-Lake-Nationalpark in Oregon (225 km entfernt) sowie der Lassen-Volcanic-Nationalpark (370 km) und der Yosemite-Nationalpark (750 km) in Kalifornien. An die Nordhälfte des Parks grenzt im Osten der Six-Rivers-National-Forest, der großteils durch kommerziellen Holzeinschlag genutzt wird. Teile des National Forest sind wiederum als Smith River National Recreation Area ausgewiesen, ein Gebiet, das für die Freizeitnutzung, insbesondere den Angelsport erschlossen wurde. Geologie Nordkalifornien ist ein geologisch besonders aktives Gebiet. Nur 60 km südlich des Parks und wenige Kilometer vor der Küste stoßen drei tektonische Platten zusammen. Die Pazifische Platte verschiebt sich nordwärts entlang der Nordamerikanischen Platte (mit der bekannten San-Andreas-Verwerfung als Folge) und von Nordwesten kommt dem Kontinent die Juan-de-Fuca-Platte, beziehungsweise ihr „Gorda-Platte“ genannter Teil entgegen. Bei dem Frontalzusammenstoß taucht die Gorda-Platte unter die Pazifische und die Nordamerikanische Platte, die dabei angehoben und aufgefaltet wird. So entstand die Küstenkette, deren Teile Siskiyou Mountains im Norden und Salmon Mountains im Süden das Hinterland des Nationalparks bilden. Diese geologisch instabile Lage führt zu häufigen Erd- und Seebeben in der Region – das Karfreitagsbeben vor Alaska im Jahr 1964 löste den schwersten Tsunami in der Geschichte des USA aus und führte zu massiven Schäden an der Stadt Crescent City am Rand des Parks mit 11 Todesopfern. Das Grundgestein der Küste und des Küstengebirges besteht aus dem so genannten Franciscan-Komplex, der aus kreidezeitlichen Sandsteinen, Schluffsteinen und Schiefern aus Sedimenten eines Urmeers zusammengesetzt ist. Die zwischen 100 und 150 Millionen Jahre alten Schichten sind vielfach gefaltet, gebrochen und durch Scherkräfte zerrissen. Geringere Anteile bilden metamorphe Gesteine, teils vulkanischen Ursprungs. Häufig sind diese durch einen hohen Anteil von Epidot grün gefärbt. An verschiedenen Stellen im Park finden sich Einschlüsse von Feuerstein. Im Nordosten liegen Schichten mit Serpentin nahe der Oberfläche. Vereinzelt liegen über dem kreidezeitlichen Gestein dünne Schichten aus wesentlich jüngeren Sand- und Tonsteinen. Ihr Ursprung liegt in Ablagerungen von Flüssen oder an flachen Küsten am Beginn des Pleistozäns vor etwa 1,8 Millionen Jahren. Im Bereich des Gold Bluff Beach in der südlichen Hälfte des Parks deponierte die Strömung aus diesen Gesteinen ausgewaschenes Gold und in den 1850er Jahren wurden in der Nachfolge des kalifornischen Goldrauschs die Stätten ausgebeutet. Sie sind heute erschöpft. Der Redwood Creek im Süden des Parks markiert die „Grogan-Verwerfung“, südlich-westlich von der die metamorphen Gesteine vorherrschen. Im Norden des Parks liegt die „South-Fork-Verwerfung“, an der die Schichtung der Sedimentgesteine gut sichtbar ist. Klima Die Küstenregion ist durch ein maritimes Klima mit geringen jahreszeitlichen Schwankungen geprägt. Die Höchsttemperaturen bewegen sich nur zwischen 12 und 17 °C, die Tiefsttemperaturen von 4 bis 11 °C. Der Niederschlag beträgt im langjährigen Mittel 2540 mm (Berlin: 589 mm), womit die Wälder die Definition eines Regenwalds der gemäßigten Breiten erfüllen. Die größten Niederschlagsmengen verteilen sich auf die Wintermonate, die Sommer von Juni bis September sind verhältnismäßig trocken, häufiger Nebel in den Wäldern sorgt aber für eine durchgehend hohe Luftfeuchtigkeit. Die hohe Niederschlagsmenge entsteht durch landeinwärts gerichtete, feuchtigkeitsgesättigte Seewinde, die am Küstengebirge zum Aufsteigen gezwungen werden und dabei abkühlen, was zu Steigungsregen führt. Ökosysteme Im Zentrum des Interesses am Redwood-Nationalpark steht natürlich der Regenwald der gemäßigten Breiten mit den namensgebenden Küstenmammutbäumen. Daneben gibt es Laubwälder auf trockeneren Standorten, kleinere Prärieabschnitte, mehrere Flüsse und Seen sowie die Felsküste und den zum Park gehörende Streifen des Pazifischen Ozeans. Regenwald Die beiden Hauptbaumarten des gemäßigten Regenwaldes im Küstengebirge sind der Küstenmammutbaum (Sequoia sempervirens, engl. „coast redwood“) aus der Familie der Zypressengewächse und die Douglasie (Pseudotsuga menziesii), ein Kieferngewächs. Je nach Standort wachsen sie gemischt mit anderen Arten. Die klassischen Wälder begleiten Flüsse und Bäche oder stehen auf Schwemmland. Hier sind die Wuchsbedingungen für den Küstenmammutbaum ideal; das Gewässer bringt seit Hunderten von Jahren Nährstoffe und versorgt den Baum mit den enormen Wassermengen, die er für seinen Stoffwechsel benötigt. Nur hier erreichen Küstenmammutbäume ihre maximale Höhe von über 100 m und bilden über die Jahrhunderte dichte Bestände, die nur gelegentlich von anderen Baumarten ergänzt werden. Am Redwood Creek im Süden des Parks steht mit Hyperion der mit 115,85 m (Vermessung 2017) höchste bekannte Baum der Erde. Die als old-growth bezeichneten Urwälder sind durch die Küstenmammutbäume und ihre Eigenschaften geprägt: Redwoods haben im Alter so dichte Baumkronen, dass kaum Sonnenlicht bis zum Boden durchdringt. Alle anderen Arten müssen sich diesen Bedingungen anpassen, daher gibt es in den Wäldern nur wenig Unterholz. Die Küstenmammutbäume sind zusammen mit ihrer Mykorrhiza, einem Geflecht aus den Wurzeln des Baumes und angepassten Pilzen, sehr effizient in der Verwertung der Nährstoffe im Boden. Das gleichmäßige Klima und die hohe Feuchtigkeit beschleunigen die Abbauprozesse der Destruenten. Die Folge ist, dass in den Böden der Redwoodwälder für andere Arten nur wenige Nährstoffe zur Verfügung stehen. Redwoods sind besonders widerstandsfähig und langlebig. Ihre dicke Borke und die hohe Feuchtigkeitsmenge in den Wasser führenden Schichten schützen sie vor den im Küstengebirge häufigen Waldbränden durch Blitzschlag. Selbst wenn bei einem schweren Waldbrand die Borke eines alten Redwoods partiell zerstört wird und das Feuer das Kernholz erreicht, brennt der Baum nur im Inneren aus, die für den Wasser- und Nährstofftransport entscheidenden Schichten bleiben oft verschont. Auch wenn der Baum dadurch völlig ausgehöhlt wird, genügt die Stabilität der äußeren Schichten, um ihn mehrere Jahrhunderte weiterleben zu lassen. Das besonders tanninreiche Holz bewahrt den Küstenmammutbaum außerdem vor den meisten Schädlingen. An der Stelle kleinerer Verletzungen des Stamms kann er einen Burl genannten Knoten bilden, aus dem später ein neuer Spross entstehen kann, der im Fall einer schweren Beschädigung der Krone diese ersetzen kann. Durch diese Faktoren erreicht der Küstenmammutbaum ein Alter von über 2000 Jahren und schafft sich selbst angepasste Wälder, in denen er einen Wettbewerbsvorteil vor anderen Baumarten hat. Nur wenige Arten können in einem Redwood-Altbestand erfolgreich leben. Der Douglasie gelingt dies, weil sie einen Wartezustand entwickelt hat. Junge Douglasien wachsen etwa zehn Jahre lang auch im Schatten. In dieser Zeit erreichen sie eine Höhe von 4 bis 7 Metern und stoppen ihr Wachstum dann für Jahrzehnte fast vollständig. Nur wenn durch den Tod eines Nachbarbaumes, einen Waldbrand oder einen Erdrutsch am Hang die Kronenschicht über ihnen aufgerissen wird, nehmen sie das Wachstum wieder auf und entwickeln sich zu großen Bäumen. Im Regenwald finden sich neben den Nadelbaumarten Douglasie, Riesen-Lebensbaum und Küsten-Tanne Laubbäume wie Lithocarpus densiflorus und der Oregon-Ahorn sowie der Madrona aus der Gattung der Erdbeerbäume, der Kalifornische Lorbeer und die Amerikanische Roterle. Soweit der Boden bewachsen ist, herrschen hier Schwertfarne, Rotholzsauerampfer, Sauerklee, übermannshohe Sträucher aus der Familie der Heidelbeeren und Heidekrautgewächse vor. In den Monaten Mai und Juni setzen der Rhododendron Rhododendron macrophyllum und Azaleen mit ihren Blüten Farbakzente. Auf höher gelegenen und trockeneren Standorten wachsen die Küstenmammutbäume nicht mehr über 60 m. Zu den bereits genannten Arten kommen hier die Westamerikanische Hemlocktanne, Eichen und Jeffreys Kiefer. Weil die Bestände hier weniger dicht und die Kronen nicht vollständig geschlossen sind, dringt hier mehr Licht bis zum Boden vor, und es gibt wesentlich mehr Unterholz. Hier leben auch weitere Blütenpflanzen wie die Feuerwerksblume, das Kürbisgewächs kalifornischer Manroot und an offeneren Standorten die Douglas-Iris und der Stinktierkohl, der auch Gelbe Scheincalla genannt wird. Weiterhin häufig bleiben der Rhododendron und die Westliche Azalee. Die Tierwelt des Redwood-Waldes gehört zu den artenreichsten aller Ökosysteme der gemäßigten Breiten. Allerdings tragen dazu im Wesentlichen die Wirbellosen bei und darunter vor allem die Destruenten der oberen Bodenschichten. Auch die Spinnentiere am Boden und in den Kronen der Bäume sind besonders artenreich. Für den Menschen leichter wahrnehmbare Charakterarten des Waldes sind die nördliche Unterart des Fleckenkauzes, der nur in ungestörten Urwäldern vorkommt, und die Kalifornische Zwergeule. Auch die Bananenschnecke ist für die Wälder typisch. Sie kann bis zu 25 cm lang werden und fällt durch ihre gelbe Farbe auf. Unauffällig sind die 15 verschiedenen Schwanzlurche, die in den Regenwäldern vorkommen. Beispielhaft sei der Rauhäutige Gelbbauchmolch genannt. Totholz spielt eine wesentliche Rolle als Lebensraum für spezialisierte Arten. Selbst nach dem Absterben kann ein Redwood noch 200 Jahre aufrecht stehen bleiben. In dieser Zeit dient er holzbewohnenden Insekten und deren Fressfeinden als Nahrungsgrundlage. Bricht die Krone ab, sind die Höhlungen in großer Höhe ein attraktiver Lebensraum für lichtliebende Arten. Daneben leben in den lockereren Bereichen des gemäßigten Regenwaldes viele Tiere, die auch die benachbarten Ökosysteme bevölkern. Schwarzbären, Maultierhirsche, Graufuchs und Waschbären, Weißkopfseeadler und Fischadler sind hier zu nennen. Ungewöhnlich ist das Brutverhalten des Marmelalks. Dieser Seevogel lebt nicht wie seine Verwandten in Kolonien an der Felsküste, sondern baut Nester in exponierten, besonders hohen Bäumen, die bis zu 60 km von der Küste entfernt liegen können. Küstenmammutbäume gehören zu seinen bevorzugten Nistbäumen. Im März 2022 wurden fünf Kalifornische Kondore aus einem internationalen Nachzucht-Programm im Nationalpark ausgewildert. Sie und die in den kommenden Jahren folgenden Tiere sollen eine weitere Population der fast ausgestorbenen größten Vogelart Nordamerikas im Pazifischen Nordwesten etablieren. Weitere Wälder In unmittelbarer Nähe der Küste herrscht die salzbeständige Sitka-Fichte vor, wird aber landeinwärts schnell von anspruchsvolleren Arten verdrängt. Auf trockenen Standorten in den Hügeln des mittleren und nördlichen Parks können sich die Zypressengewächse nicht mehr durchsetzen; hier dominieren Eichen, insbesondere die Kalifornische Schwarzeiche, Buchengewächse wie Lithocarpus densiflorus (engl. Tanoak), der Oregon-Ahorn sowie unter den Nadelgehölzen die Douglasie. Prärien Die Bald Hills im Südosten des Parkes sind der trockenste und höchstgelegene Teil des Nationalparks. Die runden Kuppen erreichen 1000 m über Meereshöhe. Hier wechseln sich offene Prärien mit lockeren Laubwäldern ab. Im Frühling wird das offene Grasland zur farbenfrohen Blumenwiese, in den Spätsommer fällt eine zweite Blüte. Typische Blütenpflanzen dieser Gebiete sind verschiedene Rittersporne. Der Charakterbaum ist die Oregon-Eiche (auch Gerry-Eiche genannt). Sie bildet Baumgruppen und Waldsäume, daneben finden sich die Roteiche und der Oregon-Ahorn. Die Hügelkette mit den Prärien ist der Lebensraum für Maultierhirsch und Strauchkaninchen, in den Sträuchern leben die Schwarzkopfphoebe aus der Familie der Tyrannen und die Singammer. Am Boden jagen Kojoten und Füchse, selten sind Puma und Rotluchs. In der Luft jagen Greifvögel wie Rotschwanzbussard, Turmfalke und in der Dämmerung und nachts der Virginia-Uhu. Im Nordosten des Parks liegen weitere Präriegebiete, die ihre Besonderheiten den geologischen Bedingungen verdanken. Hier ist das Gestein so reich an Magnesium, dass nur wenige Baum- und Straucharten diese Standorte ertragen. Einige Kiefern, die Tanoak, Kreuzdorngewächse und die Manzanita genannte Form der Bärentrauben können hier noch wachsen. Dafür ist die Vielfalt an Süßgräsern umso höher. Mehr als 30 Arten wurden hier bislang gefunden. Unter den Blütenpflanzen fällt besonders das Bärengras auf. Flüsse und Seen In den Hügelketten des Parks liegen viele kleinere und größere Bäche und Flüsse sowie einige Seen. Im Nordteil des Parks fließen der Smith River und sein Nebenfluss Mill Creek, als letztes unverbautes Flusssystem Kaliforniens. Hier leben Lachse und Forellen seit Jahrtausenden in vom Menschen unbeeinflussten Gewässern, die Cutthroatforellen haben hier ihre größte Population. Der Redwood Creek im Süden wurde von den Auswirkungen der Holzindustrie massiv geschädigt. In seinem Einzugsgebiet sind große Flächen abgeholzt, so dass die Erosion gewaltige Mengen an Erdreich in den Fluss einbringt. Dadurch verschlammt die Flusssohle und die Laichgründe der meisten Fischarten werden zerstört. Die Fische sind Nahrungsquelle für Kanadareiher, Gänsesäger, Gürtelfischer und den Nordamerikanischen Fischotter. Der Park wird in der Mitte durch die Mündung des Klamath Rivers geteilt, der nicht zum Parkgebiet gehört, sondern im Besitz der Yurok-Indianer ist. An den Ufern des Flusses leben mehrere Herden Wapitis aus der größten Unterart Roosevelt-Elk Cervus elaphus roosevelti. Im Süden des Küstenabschnitts liegen innerhalb und außerhalb des Parks mehrere Lagunen, ursprünglich Buchten des Ozeans, die durch schmale, angelagerte Sandbänke vom Meer abgetrennt wurden. Bei der Freshwater Lagoon ist die Trennung so weit fortgeschritten, dass ihr Wasserhaushalt mittlerweile vom Pazifik unabhängig ist und sie Süßwasser führt. Entlang der Pazifikküste verläuft im Frühling und Herbst der wichtigste Zugweg Nordamerikas für Millionen von Zugvögeln, die den Winter im Süden verbringen. Die Lagunen sind wichtige Rastplätze, auch für Arten, die nicht im Park brüten. In dieser Jahreszeit können hier arktische Arten, insbesondere Limikolen und Gänsevögel beobachtet werden. Küste und Ozean Die Küstenabschnitte Nordkaliforniens im und in der Nähe des Redwood-Nationalparks sind überwiegend Felsküsten. Die Kette des Küstengebirges fällt schroff zum Ozean ab. Ausnahmen sind die Flussmündungen und wenige flache Strände in den tieferen Buchten. Auch dort mischen sich meist Abschnitte des dunklen Sandes mit markanten Felsbrocken und flachen Felsstrukturen. Je näher die Küste rückt, umso mehr verändert sich die Zusammensetzung des Waldes. Die Sitka-Fichte verträgt das Salz in der Luft am besten und nimmt stark zu. Am Waldsaum und in den Strauchgesellschaften auf Felsstrukturen und Sanddünen überwiegen verschiedene Kreuzdorngewächse. Hier kommt häufig auch die Gifteiche vor, bei der bereits das Berühren von Blättern oder anderen Pflanzenteilen zu ernsten Vergiftungserscheinungen führen kann. Kalifornischer Manroot, aus der Familie der Kürbisgewächse, rankt sich in den Sträuchern. Blütenpflanzen, insbesondere Wasserblattgewächse und Korbblütler, wachsen an Rändern und auf offenen Flächen. An einigen Stellen des Parks bauen Braunpelikane in den Sträuchern und Bäumen ihre Kolonien. Felsklippen sind Brutplätze für Trottellumme, Klippen-Austernfischer, Taubenteiste und Ohrenscharbe. In den Dünen halten sich nur wenige Arten mit weitverzweigtem Wurzelwerk: Strandnelken, Meersenf, Sandverbenien und die Chile-Erdbeere, eine der Urformen, aus denen die Zuchtformen gezogen wurden. Hier brüten Seeregenpfeifer, Keilschwanz-Regenpfeifer und Sanderling. Hinter den Dünen liegt in einigen Abschnitten die California coastal prairie, ein Kurzgras-Lebensraum, der von den Wapiti-Herden genutzt wird. Im Gegensatz zur relativen Artenarmut an Land steht die Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt in den direkt vom Ozean beeinflussten Lebensräumen. An diesem Abschnitt der Pazifikküste bringen Meeresströmungen das nährstoffreiche, kalte Wasser aus großen Tiefen an die Oberfläche und machen die Region zur artenreichsten Küste der gemäßigten Breiten. In der Gezeitenzone zwischen Hoch- und Niedrigwasserstand liegen die interessantesten Biotope. Gezeitentümpel in flachen Felsküsten sind nur bei Flut mit dem Meer verbunden, bei Ebbe sind ihre Bewohner in dem Becken gefangen. Hier leben Krebstiere, Seesterne, Seeanemonen, Meeresschnecken und verschiedene Nacktkiemer. Selten geworden ist die Grüne Riesenanemone. Einige der Arten vertragen es, ganz trockenzufallen, andere müssen sich mit dem sinkenden Wasserspiegel tief in die Spalten zurückziehen. Im offenen Wasser, dessen erste 400 m noch zum Parkgebiet gehören, lebt eine vielfältige maritime Artengemeinschaft. Seetang bildet große Bestände in Form von Tangwäldern vor der Küste, in denen der Stellersche Seelöwe jagt. Bemerkenswert sind die Werkzeug gebrauchenden Seeotter in den Buchten der Felsküste und Grauwale, die auf ihren jährlichen Wanderungen auch von Land aus beobachtet werden können. Insbesondere die Flussmündungen mit ihren Sandbänken sind wichtige Laichgebiete für Fische, wie die vom Aussterben bedrohte Kalifornische Meergrundel, und Schleusen für Lachse, darunter der seltene Königslachs, und Stahlkopfforellen, die als sogenannte anadrome Wanderfische im Süßwasser laichen, aber den Großteil ihres Lebens im Ozean leben. Schutzprojekte des Nationalparks Nachdem rund 95 Prozent der Altbestände abgeholzt sind, wachsen im Redwood National and State Park knapp 50 Prozent aller Coast Redwoods der Erde. Der Rest verteilt sich auf andere Schutzgebiete in Kalifornien und wenige kleine Bestände in privaten Wäldern. Die ursprünglichen State Parks der 1920er Jahre und die Oldgrowth Forests sind in nahezu unbeeinflusstem Naturzustand und bedürfen keiner speziellen Naturschutz- oder Pflegemaßnahmen. In Einzelfällen regeln die Ranger des National Park Service den Strom der Besucher, um negative Einflüsse zu minimieren. Zum Tall-Tree-Grove, einem Waldabschnitt am Redwood Creek im Süden des Parkes, in dessen Umfeld mit Hyperion der höchste bekannte Baum der Erde wächst, dürfen täglich nur 50 PKW anfahren. Wer keine Genehmigung reserviert hat und auch last-minute kein Glück hatte, muss auf einen der nächsten Tage warten oder zu Fuß die knapp 30 km wandern. In anderen Teilen des Parks sind jedoch beinahe genauso eindrucksvolle Wälder besser erschlossen und auch für Tagesbesucher problemlos zu erreichen. Die Erweiterungsgebiete von 1978 bestehen im Kontrast dazu überwiegend aus in früheren Jahrzehnten kommerziell abgeholzten Flächen oder sind durch Wegebau und andere Folgen des Holzeinschlages weit von der ursprünglichen Beschaffenheit entfernt. In diesen Teilen des Parkes läuft seit den 1980er Jahren das Watershed Restauration Programm, das den natürlichen Wasserhaushalt der Hänge wiederherstellen und so die Bedingungen für eine möglichst ursprüngliche Wiederbewaldung verbessern soll. Dazu werden in einem ersten Schritt die von den Holzfällern angelegten Straßen wieder planiert und die beim Straßenbau gebauten Drainageeinrichtungen entfernt. Niederschläge sollen entlang den natürlichen Linien in die Bäche und Flüsse abfließen, den Böden ihre ursprüngliche Feuchtigkeit zurückgeben und die nach der Abholzung massiv gestiegene Erosion und die Gefahr von Erdrutschen reduzieren. Der geringere Eintrag von Erdreich in die Flüsse verbessert die Lebensbedingungen der Lachse in den Gewässern des südlichen Parks. Erste Ergebnisse sind vielversprechend, auch wenn es Jahrhunderte dauern wird, bis die Wälder sich dem Urzustand nähern. In einigen der locker bewaldeten Gebiete und insbesondere auf den trockenen Standorten der Prärien, die durch Nutzung vor der Unterschutzstellung beeinflusst wurden, setzen die Ranger auf prescribed fire (absichtlich gelegte, kontrollierte Waldbrände) in längeren Abständen. Diese kleinen Feuer brennen sich schnell durch den Wald, schaden den angepassten Baumarten kaum, vernichten aber eingewanderte Bäume und insbesondere Gräser, die sich in die Wälder ausdehnen und die Ökosysteme deutlich verändern. Die Parkverwaltung simuliert dabei natürliche, durch Blitzschlag entstandene Waldbrände, die zum Ökosystems der Küstenwälder gehören, und erhöht nur deren Häufigkeit solange, bis die Verteilung der Ökosysteme und die Artenzusammensetzung möglichst nahe an dem Zustand liegt, der bei der Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents durch Europäer vorhanden war. Touristische Einrichtungen Der Nationalpark gehört nach Fläche (534 km²) und Besucherzahl (rund 400.000 im Jahr) zu den mittelgroßen Nationalparks der USA. Er wird durch den Küstenhighway 101 in Nord-Süd-Richtung erschlossen; der einzige durch die Küstenberge nach Nordosten abzweigende U.S. Highway 199 ist die Verbindung zum Interstatesystem. Wegen der Gründung als drei Stateparks und einem Nationalpark gibt es im Redwood-Nationalpark vier Besucherinformationszentren, die sich auf die Besonderheiten in ihrem jeweiligen Abschnitt spezialisiert haben. Die Zentrale der Parkverwaltung und die größte Besucherinformation mit einem kleinen Museum liegt in Crescent City am Nordrand des Parkes. Im Park gibt es keine Unterkünfte, Hotels und Motels gibt es nur in den benachbarten Ortschaften. Vier auf Straßen erreichbare Campingplätze verteilen sich auf die verschiedenen Teile des Parks und Landschaftsformen, acht weitere im Hinterland sind nur zu Fuß erreichbar. Zu den meistbesuchten Attraktionen des Parks gehört neben den Redwood-Hainen der Gold-Bluff-Beach-Strandabschnitt mit dem Fern-Canyon – eine kleine Bachmündung in Form einer Schlucht mit bis zu 13 m hohen, senkrechten und vollständig mit Farnen bewachsenen Wänden. In der Nähe des Parkes liegen: Sue-meg State Park unmittelbar südlich des Parks: Ein Abschnitt der Felsküste, der für Seeotter berühmt ist. Battery Point Lighthouse Museum in Crescent City: Ein kleines Museum über die Geschichte der Schifffahrt in einem alten Leuchtturm. Trees of Mystery in Klamath: Ein privat betriebener Naturerlebnispark mit Redwoods und einer Seilbahn, die Besucher in die Höhe der Baumwipfel und auf einen Hügel mit herausragender Aussicht befördert. In voller Länge des Parkes verläuft der im Jahr 2001 ausgewiesene Fernwanderweg California Coastal Trail entlang der Küste. Trivia Im Jedediah Smith Redwoods State Park hat George Lucas die Szenen für Die Rückkehr der Jedi-Ritter gedreht, die auf dem Waldmond von Endor spielen. Südlich von Klamath steht auf einer Küstenklippe eine als Scheune getarnte Radarstation aus dem Zweiten Weltkrieg. Sie ist eine der letzten erhaltenen Einrichtungen, die vor einer japanischen Invasion warnen sollten, und steht heute unter Denkmalschutz. 1997 bestieg die damals 23-jährige Julia Hill südlich des Parkes einen tausendjährigen Redwood und lebte für 738 Tage in einem winzigen Baumhaus, um durch diese Baumbesetzung die bereits laufende Abholzung des Gebietes zu stoppen. Zitate Hat man die Redwoods einmal gesehen, hinterlassen sie einen Eindruck oder erzeugen eine Vision, die man nie wieder los wird – John Steinbeck Sie sind nicht einfach Bäume, sie sind wie Geister. Die Haine in denen sie wachsen sind nicht einfach Orte, sie sind wie Lieblingsorte – Lieblingsorte der Kentauren oder der Götter – John Masefield Einzelnachweise Literatur Richard Rasp: Redwood. KC Publications, Las Vegas, 1989, ISBN 0-88714-022-X Eugene Kozloff: Plants and Animals of the Pacific Northwest. University of Washington Press, Seattle 1976, ISBN 0-295-95449-3 Kathleen B. Lyons: Plants of the Coast Redwood Region. Looking Press, Boulder Creek CA 1988, ISBN 0-9626961-0-2 Read F. Noss (Hrsg.): The Redwood Forest – History, Ecology and Conservation of the Coast Redwood. Island Press, Washington DC 2000, ISBN 1-55963-725-0 Edwin C. Bearss, Redwood National Park – History Basic Data, U.S. Department of the Interior, National Park Service, Washington DC, 1969 (auch im Volltext online: Redwood National Park – History Basic Data) Ed Zahniser: Redwood – Official Handbook for Redwood National and State Parks. U.S. Gov. Printing Office, Washington DC, 1997, ISBN 0-912627-61-1 Weblinks Film „The Big Trees“ (dt.: „Für eine Handvoll Geld“), mit Kirk Douglas, von 1952 Nationalpark in Nordamerika Nationalpark in den Vereinigten Staaten Welterbestätte in Amerika Welterbestätte in den Vereinigten Staaten Weltnaturerbestätte Regenwald der gemäßigten Breiten Waldgebiet in Nordamerika Waldgebiet in den Vereinigten Staaten Humboldt County (Kalifornien) Del Norte County
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dionysios%20I.%20von%20Syrakus
Dionysios I. von Syrakus
Dionysios I. (; * um 430 v. Chr.; † Frühjahr 367 v. Chr.) war Tyrann von Syrakus. Er gehörte zu den mächtigsten Tyrannen der Antike. Seine Herrschaft dauerte von 405 v. Chr. bis zu seinem Tod. Daher und durch die Umstände seines Aufstiegs wurde er zum Musterbeispiel eines Gewaltherrschers. Er begann seine Laufbahn im Rahmen der demokratischen Institutionen und betätigte sich zunächst als Volksredner und Agitator. Nach seiner Wahl ins Feldherrnkollegium diskreditierte er systematisch seine Amtsgenossen, ließ sich von der Volksversammlung mit Sondervollmachten ausstatten, baute seine Leibgarde zu einer privaten Miliz aus und ergriff schließlich mit einem Staatsstreich die Macht. Formal blieb die Demokratie bestehen, faktisch nahm die Herrschaft des Machthabers monarchische Züge an. Das antike Tyrannenbild war stark von der Persönlichkeit des Dionysios und den über ihn kursierenden Anekdoten geprägt. Der von ihm geschaffene sizilische Staat, einer der ersten griechischen Territorialstaaten, war damals die stärkste griechische Militärmacht. Dionysios machte Syrakus zur größten Stadt und gewaltigsten Festung der damaligen griechischen Welt. Zentrale Elemente der Außenpolitik des Tyrannen waren die verheerenden Kriege gegen die Karthager, die Unterwerfung der griechischen Städte Siziliens und das militärische Ausgreifen nach Norden auf das Festland Unteritaliens. Trotz seines eindrücklichen Erfolgs als Staatsgründer, mit dem er in mancher Hinsicht die künftigen Reichsbildungen hellenistischer Herrscher vorwegnahm, war er nicht in der Lage, seinem Lebenswerk eine dauerhaft tragfähige ideelle und institutionelle Basis zu verschaffen. Aufstieg zur Macht Dionysios stammte aus einer angesehenen, wenn auch nicht begüterten syrakusischen Familie; sein Vater Hermokritos konnte ihm eine gute sophistische Ausbildung verschaffen. Er begann seine Laufbahn als Parteigänger des Politikers und Befehlshabers Hermokrates, der sich für die Unabhängigkeit der sizilischen Griechen gegenüber äußeren Mächten einsetzte. Als Hermokrates, der zu den Aristokraten gehörte, im Jahr 407 v. Chr. mit privaten Söldnern erfolglos einen Staatsstreich in Syrakus versuchte, gehörte Dionysios zu seinen Mitkämpfern und wurde gefährlich verwundet. Hermokrates fiel im Kampf und seine Anhänger wurden verbannt. Dionysios konnte aber nicht nur der Verbannung entgehen, sondern sogar eine Anstellung als Sekretär des Kollegiums der syrakusischen Feldherrn finden. Als die Karthager, die traditionellen Feinde von Syrakus, im Dezember 406 die Stadt Akragas (Agrigent) eroberten, trat Dionysios, der gegen die Karthager mitgekämpft hatte, als Volksredner gegen die Feldherrn auf, welche diese Niederlage nicht verhindert hatten, und beschuldigte sie des Verrats. Damit verband er allgemeine Beschuldigungen gegen die „Mächtigen“ und „Reichen“, denen er unpatriotische Gesinnung vorwarf. So profilierte er sich als Vertreter typischer Anliegen der Demokraten, aber als ihm wegen seiner Agitation eine Geldbuße auferlegt wurde, bezahlte für ihn Philistos, ein Angehöriger der Oberschicht, der sein treuer Verbündeter war. Es gelang Dionysios, die Absetzung der Feldherrn durchzusetzen; zu deren neu gewählten Nachfolgern gehörte er selbst. Im Frühjahr 405 wurde er von der Volksversammlung zum alleinigen Feldherrn mit unbegrenzten Vollmachten (strategós autokrátor) gewählt. Das war ein für solche Krisenzeiten gedachtes außerordentliches, aber im Rahmen der Verfassung legales Amt. Von dieser Basis ausgehend konnte Dionysios im Sommer 405 mit seinen Truppen den Staatsstreich unternehmen, der faktisch die Verfassung umstürzte und ihn zum Tyrannen machte. Ein wesentlicher Schritt bei der Vorbereitung der Machtergreifung war, dass Dionysios nach einem fingierten Attentat auf ihn bei der Heeresversammlung die Bewilligung zur Schaffung einer persönlichen Leibgarde erlangte. Es wurden ihm 600 Mann genehmigt, worauf er die Mannschaftsstärke sofort eigenmächtig auf über 1000 erhöhte und diese Truppe vorzüglich bewaffnete. Die Leibwache war nur ihm unterstellt und verschaffte ihm eine vom demokratischen Willen der Bürgerschaft völlig unabhängige Machtbasis. Dieser Aufstieg des Dionysios zur Macht wurde dadurch möglich, dass er einerseits als begabter Volksredner im Sinne der demokratischen Anliegen zu agitieren wusste, andererseits aber schon von seiner Rolle als Gefolgsmann des Hermokrates her ausgezeichnete Beziehungen zu Aristokraten und Repräsentanten der Oberschicht wie Philistos unterhielt. Zu den Aristokraten, die ihn schon vor seiner Machtübernahme energisch unterstützten, gehörte Hipparinos, der Vater des später berühmten Politikers Dion von Syrakus. Familienpolitik Das enge Verhältnis des Tyrannen zu Teilen der aristokratischen Schicht zeigte sich auch in seiner Heiratspolitik. In erster Ehe war er mit einer Tochter des Hermokrates verheiratet. Sie wurde bei einem gescheiterten Aufstand gegen Dionysios im Jahr 405 misshandelt und nahm sich daraufhin das Leben. Im Jahr 398 oder nach einer anderen Datierung erst 393 heiratete er erneut: Er verband sich gleichzeitig oder kurz nacheinander mit zwei adligen Damen, Doris aus Lokroi und Aristomache, der Tochter des Hipparinos. Eine solche Bigamie war damals unter Griechen völlig unüblich, sie scheint aber keinen Anstoß erregt zu haben. Die Ehe mit Doris war bündnispolitisch motiviert: Wegen der militärischen Konfrontation mit den Karthagern wollte der Tyrann verhindern, dass sich die Griechenstädte Unteritaliens mit seinen Feinden verbündeten. Daher bot er zunächst der Stadt Rhegion eine Allianz an, die er durch Heirat mit einer Rhegierin bekräftigen wollte. Erst nachdem die Volksversammlung der Rhegier dies abgelehnt hatte, schloss er ein Bündnis mit Lokroi. Im Rahmen dieses politischen Manövers heiratete er die Lokrerin. Aus der Ehe mit Doris ging der spätere Nachfolger des Tyrannen, Dionysios II., hervor. Aus dieser Ehe stammte auch ein jüngerer Sohn, Hermokritos, der wahrscheinlich nach seinem Großvater benannt wurde. Aus der Ehe mit Aristomache stammten die Söhne Hipparinos und Nysaios, die später kurzzeitig ebenfalls Herrscher von Syrakus waren, sowie eine Tochter Arete, die Dionysios dem Sohn seines Schwiegervaters Hipparinos, dem später berühmten Dion, zur Frau gab. Dion, der später ein Freund Platons wurde, genoss das volle Vertrauen des Tyrannen. Ferner hatte Dionysios mit Aristomache auch eine Tochter namens Sophrosyne, die ihren Halbbruder Dionysios II. heiratete. Erster Krieg gegen Karthago Schon Anfang 405, also noch vor der Wahl zum alleinigen Feldherrn, zog Dionysios mit seinem Heer nach Gela, einer Stadt, die von der karthagischen Offensive bedroht war. Wie in Syrakus tobte auch dort ein Konflikt zwischen Demokraten und Aristokraten (Oligarchen), in dem Dionysios der demokratischen Seite zum Sieg verhalf; er sorgte für die Verurteilung und Hinrichtung reicher Angehöriger der Oberschicht und nutzte deren konfiszierte Besitztümer für die Bezahlung der Söldner, die auf ihren Sold warteten. So machte er sich sowohl bei der armen Stadtbevölkerung von Gela als auch im Heer beliebt. Im Juli 405 begann der karthagische Feldherr Himilkon die Belagerung von Gela. Dionysios, der inzwischen Tyrann geworden war, zog ihm mit einer zahlenmäßig deutlich unterlegenen Streitmacht entgegen. Die Schlacht von Gela endete mit einer Niederlage der Griechen. Dennoch gilt der letztlich erfolglose, aber klug ersonnene Angriffsplan des Dionysios als militärhistorisch bedeutsame Neuerung. Das Konzept scheiterte nur daran, dass es für damalige Verhältnisse zu kompliziert war und der kombinierte Einsatz dreier getrennt operierender Heeresteile die Koordinationsfähigkeit der griechischen Befehlshaber überforderte. Nach der Niederlage ließ Dionysios Gela evakuieren und ordnete auf seinem Rückzug nach Osten auch die Evakuierung der Bevölkerung von Kamarina an. Damit wurde die ganze Südküste Siziliens den Karthagern preisgegeben. Die Karthager fanden sich dann aber noch vor dem Ende des Jahres 405 zum Friedensschluss bereit, nachdem in ihrem Heer eine Seuche ausgebrochen war. Die Bedingungen des Friedensvertrags weiteten den Machtbereich der Sieger stark aus. Dionysios wurde als Herr von Syrakus anerkannt. Die griechischen und nichtgriechischen Städte jedoch, die er seinem Reich hatte einverleiben wollen, wurden teils den Karthagern tributpflichtig und mussten unbefestigt bleiben, teils wurden sie für autonom erklärt. Der Vertrag betraf die gesamte Insel, auch eine Stadt wie Messana (heute Messina), die weder an karthagisches noch an syrakusisches Gebiet grenzte. Als Gesamtregelung der Machtverhältnisse wurde dieser Vertrag zum Vorbild für die späteren vertraglichen Abmachungen zwischen Karthago und den sizilischen Griechen. Existenzbedrohende Krise Mit der Vertragsbestimmung, die auch den in unmittelbarer Nachbarschaft von Syrakus gelegenen Gemeinden Autonomie zusicherte, konnte Dionysios sich nicht abfinden, da sie ihm jede Expansion unmöglich machte. Daher brach er schon im Jahr 404 den Vertrag, indem er die Stadt Herbessos angriff. Dabei kam es aber zu einer gefährlichen Meuterei seiner Truppen. Dionysios wagte es nicht, mit seinen loyal gebliebenen Söldnern den Meuterern im Gebiet des unbesiegten Herbessos entgegenzutreten. Er eilte nach Syrakus, um einem Übergreifen des Aufruhrs auf die Stadt zuvorzukommen. Die Aufständischen verbündeten sich jedoch mit oligarchischen Gegnern des Tyrannen aus Syrakus sowie mit den Städten Messana und Rhegion (Reggio Calabria), die über Seestreitkräfte verfügten. Unter diesen Umständen konnte Dionysios Syrakus nicht halten, sondern musste sich auf die Insel Ortygia zurückziehen. Auf dieser Insel vor Syrakus, die mit der Stadt durch einen Damm verbunden war und den Hafen gegen das offene Meer hin abschloss, hatte er eine Festung errichtet. Diese gegen die übrige Stadt befestigte Anlage war sein Machtzentrum, dort waren seine Söldner kaserniert. Es kam zu einer mehrmonatigen Belagerung Ortygias durch die Syrakuser, wobei die Lage des Tyrannen immer verzweifelter wurde und seine Söldner, denen die Syrakuser das Bürgerrecht in Aussicht stellten, überzulaufen begannen. Damals fiel einer Anekdote zufolge im Umkreis des Tyrannen der später berühmt gewordene Ausspruch, die Tyrannis sei ein schönes Leichentuch. Schließlich gelang es aber Dionysios, während er zum Schein mit den Syrakusern Kapitulationsverhandlungen führte, in Westsizilien Söldner anzuwerben, die zuvor auf karthagischer Seite gekämpft hatten. Sie traten in seinen Dienst und konnten nach Ortygia durchbrechen. Außerdem gewann Dionysios die Unterstützung Spartas. Das traditionell mit Syrakus verbündete Sparta war damals nach dem Sieg über Athen im Peloponnesischen Krieg die dominierende Macht in Griechenland. Der spartanische Staatsmann Lysandros schickte einen Gesandten, dessen Vorgehen die Position des Tyrannen stärkte. Schließlich konnte Dionysios mit einem Überraschungsangriff von Ortygia aus das Festland zurückerobern. Nach seinem Sieg zeigte er sich gegenüber den Unterlegenen milde. Von nun an bis zu seinem Tod gab es keinen Aufstand gegen die Tyrannenherrschaft mehr. Zweiter Krieg gegen Karthago Nach der Niederwerfung der Rebellion wandte sich Dionysios schon im Jahre 403 wieder seiner Expansionspolitik zu. Er unternahm Feldzüge gegen autonome Städte in Zentral- und Nordostsizilien und verwüstete deren Gebiete. Die Bürger eroberter Städte wurden zumindest teilweise in die Sklaverei verkauft. Dabei handelte es sich um fortlaufende Verletzungen des Friedensvertrags mit Karthago, die bereits zur Vorbereitung eines neuen Kriegs gegen die Karthager gehörten. Diesem Ziel diente auch die Errichtung neuer, großer Befestigungsanlagen in Syrakus. Dionysios ließ die Hochfläche von Epipolai im Nordwesten der Stadt ummauern und in den Mauerring von Syrakus einbeziehen. Dort errichtete er das Fort Euryalos (heute Castello Eurialo). Diese bedeutende technische Leistung war ein Meilenstein in der Entwicklung der griechischen Festungsbaukunst. Dionysios soll rund 60.000 Arbeiter aufgeboten und die Arbeit an den Baustellen täglich persönlich überwacht haben, wobei er auch eigenhändig mit anpackte. Gleichzeitig rüstete er massiv auf. Er erweiterte seine Flotte um über 200 Schiffe von teils neuer Bauart (Fünfruderer) sowie Belagerungsmaschinen. Dafür zog er Ingenieure heran, die damals in seinem Auftrag das Katapult erfanden, das die Belagerungstechnik revolutionierte. Zahlreiche Söldner wurden angeworben, auch in Griechenland, wo nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges viele kampferprobte Soldaten unbeschäftigt waren. Nach dem Abschluss der Rüstungen berief Dionysios eine Volksversammlung ein und ließ sich von ihr zum Angriff auf die Karthager ermächtigen; er respektierte also weiterhin formal die Demokratie. Zur Begründung des Krieges wurde angegeben, es gehe um die Befreiung aller Griechenstädte von der karthagischen Fremdherrschaft. Vor dem Angriff forderte Dionysios im Frühjahr 398 die überraschten Karthager zur Kapitulation auf. Rätselhaft ist, dass die Karthager die jahrelangen Vertragsverletzungen hingenommen und den offensiven Charakter des syrakusischen Rüstungsprogramms nicht erkannt hatten. Dionysios zog mit einem Heer von angeblich 80.000 Mann, ohne auf Widerstand zu stoßen, durch ganz Sizilien bis zum äußersten Westen, wo er die auf einer kleinen Insel gelegene Stadt Motye belagerte und nach Abwehr eines Überraschungsangriffs einer karthagischen Flotte einnahm. Wegen des erbitterten Widerstands der Bewohner waren die Kämpfe verlustreich. Der Bau eines Angriffsdamms, über den die Griechen zur Insel vordrangen, war eine bedeutende technische Leistung. Im Frühjahr 397 begann die karthagische Gegenoffensive mit einer an Schiffen und Mannschaft überlegenen Streitmacht unter dem im vorherigen Krieg erfolgreichen Feldherrn Himilkon. Die Karthager landeten in Panormos (Palermo) und eroberten rasch eine Reihe von Städten zurück, darunter Motye. Dionysios riskierte keine Schlacht, sondern gab Westsizilien auf und zog sich nach Osten zurück. Himilkon sicherte erst den Westen und drang dann zügig entlang der Nordküste vor, um den Gegner vom italienischen Festland abzuschneiden, was ihm mit der Eroberung Messanas gelang. Zahlreiche Bundesgenossen der Syrakuser wechselten nun die Seite. Dionysios musste Tausende von Sklaven freilassen, um mit ihnen seine Schiffe zu bemannen. Mit seinem stark verkleinerten Heer bezog er eine defensive Position im Gebiet von Syrakus. Als seine schlecht geführte Flotte bei Katane (Catania) eine schwere Niederlage erlitt und hundert Schiffe einbüßte, musste er sich hinter die Mauern von Syrakus zurückziehen und sich dort belagern lassen. Die Belagerung zog sich bis in den Sommer 396 hin. Die Karthager wurden durch eine Seuche geschwächt und demoralisiert. Schließlich gelang es Dionysios, der neue Söldner angeworben und aus Sparta Unterstützung erhalten hatte, mit einem Überraschungsangriff das feindliche Landheer weitgehend zu vernichten. Zugleich errangen die Syrakuser einen Seesieg. Himilkon flüchtete mit dem Rest seiner Schiffe nach Afrika. Darauf konnte Dionysios wieder zur Offensive übergehen. Nach Kämpfen mit wechselndem Erfolg entsandten die Karthager 392 erneut eine große Flotte. Da inzwischen aber beide Seiten sehr erschöpft waren – die Karthager waren zusätzlich durch einen Aufstand in Afrika geschwächt worden –, riskierten sie keine Entscheidungsschlacht. Es kam zu Verhandlungen. Der Frieden, der 392 geschlossen wurde, bestätigte die traditionelle Aufteilung der Insel zwischen den beiden Mächten, war aber in den Einzelheiten für Dionysios wesentlich günstiger als der von 405. Außerhalb des karthagischen Gebiets hatte er von nun an freie Hand. Expansion in Unteritalien und an der Adria In Unteritalien hatten sich die meisten Griechenstädte zu einem Bund zusammengeschlossen, der sie zu gegenseitiger Militärhilfe verpflichtete. Dabei ging es sowohl um die Abwehr von Angriffen der kriegstüchtigen nichtgriechischen Bevölkerung der Region (Lukanier) als auch um Vorbeugung gegen ein befürchtetes Ausgreifen des Dionysios aufs Festland. Im Herbst 390 ging Dionysios gegen die Stadt Rhegion (Reggio Calabria) – ein Mitglied des Bundes – vor, um die Meerenge von Messina unter seine Kontrolle zu bringen. Dabei stützte er sich auf ein Bündnis mit Lokroi, der Heimatstadt seiner Frau Doris. Zunächst missglückte der Angriff. Darauf entschloss sich Dionysios zu einem Bündnis mit den Lukaniern. 388 unternahm er einen neuen Feldzug, auf dem er zunächst die Stadt Kaulonia nördlich der Mündung des Flusses Elleporos (heute Stilaro) belagerte. Ein Heer der verbündeten Städte kam den Belagerten zu Hilfe, wurde aber am Elleporos entscheidend geschlagen. Nach der Einnahme Kaulonias zerstörte Dionysios die Stadt und überführte ihre Einwohner nach Syrakus, wo er ihnen für fünf Jahre Steuerfreiheit gewährte. Er eroberte auch Skylletion, das heutige Squillace. Durch milde Behandlung der Unterlegenen konnte er sich Sympathien verschaffen; zehntausend Gefangene ließ er ohne Lösegeld frei. Die eroberten Städte Kaulonia, Skylletion und Hipponion (Vibo Valentia) überließ er seinen Verbündeten, den Lokrern. Lokroi blieb formal autonom, unterstand aber faktisch der Oberhoheit des Tyrannen. Die weiter nördlich gelegenen Städte blieben unabhängig und schlossen mit Dionysios Frieden. Den Abschluss der militärischen Operationen der Syrakuser bildete die Eroberung und völlige Zerstörung von Rhegion 386 nach elfmonatiger Belagerung. Die Bürger der Stadt wurden versklavt, mit Ausnahme derer, die sich mit einer hohen Summe loskaufen konnten. Damit hatte Dionysios endgültig auf dem Festland Fuß gefasst; der Süden Kalabriens bis zum Golf von Squillace und zum Golf von Sant’ Eufemia gehörte fortan zu seinem Macht- bzw. Einflussbereich. Die Ausdehnung der syrakusischen Macht auf das Festland war wegen der Kontrolle der Meerenge auch von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Die Erfolge in Unteritalien ermöglichten dem Tyrannen ein Ausgreifen zur Adria. Dabei war sein Ziel, den Seeweg nach Epirus über die Meerenge von Otranto in die Hand zu bekommen und an der Adriaküste Hafenplätze zu besitzen. Bei diesen Bemühungen erzielte er beträchtliche Erfolge. Ein weiteres Vordringen nach Nordwestgriechenland kam jedoch nicht in Betracht, da dort mit entschlossenem Widerstand der Großmacht Sparta, mit der Dionysios weiterhin verbündet war, gerechnet werden musste. 384/383 unternahm Dionysios einen Vorstoß an der Westküste Italiens, der sich gegen die Etrusker richtete, traditionelle Gegner der Griechen und Verbündete der Karthager. Die Syrakuser nahmen Pyrgi ein, den Hafen der Etruskerstadt Caere, deren Heer sie besiegten. Sie machten reiche Beute und erreichten auf diesem Raubzug auch das damals etruskische Korsika. Dritter und vierter Krieg gegen Karthago Den Frieden mit den Karthagern betrachtete Dionysios nur als Waffenstillstand. Er verbündete sich mit Städten im karthagischen Machtbereich, die bereit waren, sich gegen die Karthager zu erheben. Dieser Schritt bedrohte die Existenz der karthagischen Macht auf Sizilien. Daher brach 382 der dritte Krieg zwischen den beiden Mächten aus. Diesmal verbündeten sich die Karthager mit Feinden der Syrakuser in Unteritalien und entsandten erstmals ein Heer aufs italienische Festland. Dionysios konnte jedoch die Stadt Kroton (Crotone) erobern, die das Zentrum seiner Gegner auf dem Festland war. Auf Sizilien errang er bei Kabala einen bedeutenden Sieg. Daraufhin forderte er die Karthager auf, Sizilien ganz zu räumen; sein Kriegsziel war also ihre Verdrängung von der Insel. Das war jedoch für Karthago unannehmbar. Nach einem Sieg der Karthager bei Kronion trat auf beiden Seiten Kriegsmüdigkeit ein, und es wurde im Jahr 374 erneut Frieden geschlossen. Dabei musste Dionysios wegen seiner letzten Niederlage gewichtige Konzessionen machen. Als Grenze wurde der Fluss Halykos (heute Platani) festgelegt. Diese Grenzziehung erwies sich als dauerhaft. 368 brach Dionysios den Frieden und griff die Karthager erneut an. Den Anlass dazu bot eine irrige Meldung, ein Brand habe die gesamte karthagische Flotte vernichtet. Wie im ersten Krieg stießen die griechischen Truppen rasch bis zur Westspitze der Insel vor, mussten sich dann aber nach einem erfolgreichen Gegenangriff der karthagischen Flotte auf ihr Gebiet zurückziehen. Darauf wurde ein Waffenstillstand vereinbart. Zu weiteren Kampfhandlungen kam es offenbar nicht mehr, denn im Frühjahr 367 starb Dionysios. So endete der Konflikt wiederum unentschieden. Innenpolitische und kulturelle Aktivität Ebenso wie andere griechische Tyrannen hat Dionysios die alte Verfassung nicht formell aufgehoben. Die Institution der Volksversammlung als Vertretung der Bürgerschaft bestand fort, und der Tyrann legte Wert darauf, bei wichtigen Entscheidungen ihre Zustimmung einzuholen. Allerdings entfiel das Recht der Volksversammlung, die höchsten Beamten zu wählen, und sie konnte auch nicht von sich aus Initiativen ergreifen. Dionysios ergriff verschiedene Maßnahmen, welche die Besitzverhältnisse und die demographische Struktur veränderten. Nach dem Zusammenbruch eines Aufstands von Angehörigen der Oberschicht im Jahre 405 verteilte er den Haus- und Grundbesitz seiner geflüchteten Gegner an seine Günstlinge sowie an Bürger und Söldner. Im Lauf der Kriege gegen die Karthager ordnete er an, dass ganze Bürgerschaften anderer Städte nach Syrakus verpflanzt wurden. Aus seinen hohen Offizieren und sonstigen Günstlingen (phíloi „Freunde“) entstand eine neue Oberschicht, die an die Stelle der beim Aufstand von 405 unterlegenen und vertriebenen Aristokraten trat. Den Kern dieser Oberschicht bildeten die Familie des Tyrannen und die mit ihr verschwägerten Familien, eine Gruppe, deren Zusammenhalt er durch seine Heiratspolitik förderte und deren Angehörigen er die wichtigsten politischen, diplomatischen und militärischen Aufgaben übertrug. Das monarchische Prinzip ließ Dionysios auch äußerlich in seinem Auftreten und seiner prunkvollen Hofhaltung hervortreten. So trug er einen an persischem Vorbild orientierten Herrscherornat, was zu dem Umstand passte, dass seine faktisch absolute Macht die Zeitgenossen an persische Verhältnisse erinnerte. Wegen der Hofhaltung, der Rüstung, der Bautätigkeit und vor allem der Leibwache und der Söldnerheere muss der Geldbedarf des Tyrannen außerordentlich hoch gewesen sein. Dennoch konnte er immer wieder die entstandenen Ausgaben decken und neue Söldner anwerben. Die Einzelheiten seiner erfolgreichen Finanzpolitik sind großenteils unklar. In Krisenzeiten wurden hohe Sonderabgaben verlangt; ob es daneben auch eine reguläre direkte Besteuerung nach orientalischem Vorbild gab, die damals in griechischen Städten nicht üblich war, ist ungewiss. Dionysios konfiszierte nicht nur den Besitz seiner politischen Gegner, sondern auch Tempelschätze. Eine wichtige Einnahmequelle war die Kriegsbeute; zu ihr gehörten die Kriegsgefangenen, die als Sklaven verkauft wurden. Besonders einträglich war der Raubzug gegen Etrurien. Dionysios zog – wie auch andere griechische Tyrannen – Dichter an seinen Hof. Unter ihnen waren Philoxenos von Kythera und der Tragiker Antiphon, den er später hinrichten ließ. Der Herrscher dichtete auch selbst; bei seinen eigenen Werken handelte es sich vorwiegend oder ausschließlich um Tragödien, aus denen nur einige Verse erhalten sind. Mit unterschiedlichem Erfolg bemühte er sich in Griechenland um Anerkennung für seine Dichtung; bei den Olympischen Spielen des Jahres 388 ließ er daraus vortragen, erntete aber Ablehnung. Die Qualität seiner Verskunst wird in den Quellen meist negativ beurteilt, doch mag dabei politische Antipathie eine wichtige Rolle gespielt haben. Dionysios soll Philoxenos zur Zwangsarbeit in den berüchtigten Latomien (Steinbrüchen) verurteilt haben, angeblich zur Strafe für Kritik an den Gedichten des Herrschers. Jedenfalls machte Philoxenos den Tyrannen in seinem Dithyrambus Kyklops lächerlich. In die Regierungszeit des Dionysios fiel die erste Sizilienreise des Philosophen Platon, der damals noch nicht überregional berühmt war. Dabei soll es zu einem Gespräch der beiden gekommen sein, das aber anscheinend ohne Verständigung endete und folgenlos blieb. Platon kritisierte in seinem siebenten Brief das luxuriöse Leben am Hof von Syrakus. Die legendenhafte Überlieferung, wonach der erzürnte Dionysios Platon als Sklaven verkaufen ließ, ist nach heutigem Forschungsstand nicht glaubwürdig. Erst nach dem Tod Dionysios’ I. begann Platon in Syrakus eine politische Rolle zu spielen. Die Nachfolge Gegen den Rat Dions bestimmte Dionysios seinen Sohn Dionysios II. zum alleinigen Nachfolger und überging seine beiden zur Zeit seines Todes noch nicht erwachsenen Söhne aus der Ehe mit Aristomache. Dank der Loyalität der Söldner zur Dynastie konnte der Machtwechsel reibungslos vollzogen werden. Dionysios II. war aber nicht auf seine Herrscherrolle vorbereitet, denn sein Vater hatte ihn von den Staatsgeschäften ferngehalten und ihm kein Vertrauen geschenkt. Am Hof des unerfahrenen neuen Tyrannen konnte zunächst Dion eine Machtstellung erlangen, obwohl er als Onkel der übergangenen Söhne Aristomaches zur rivalisierenden Linie der Tyrannenfamilie gehörte. Dion wollte Dionysios II. entweder dauerhaft unter seine Kontrolle bringen oder ihn zugunsten seiner Neffen entmachten. Diese Konstellation führte zu einem Machtkampf, der schließlich militärisch ausgetragen wurde und den Untergang der Dynastie herbeiführte. Der von Dionysios I. gegründete Staat brach zusammen und zerfiel in eine Vielzahl lokaler Tyrannenherrschaften. Damit wurde das wesentliche Verdienst Dionysios’ I. aus der Sicht seiner Zeitgenossen, der Zusammenschluss des sizilischen Griechentums gegen die Karthager, schon im zweiten Jahrzehnt nach seinem Tod zunichtegemacht. Der gewaltsam geschaffene Territorialstaat erwies sich als nicht überlebensfähig, da seine Existenz nur auf dem politischen und militärischen Geschick und der Willenskraft seines Gründers basierte und eine ideelle und institutionelle Verankerung fehlte. Quellenlage Die Hauptquelle, aus der fast alle brauchbaren Informationen über Dionysios stammen, ist das als Bibliothek betitelte universalgeschichtliche Werk Diodors, das im 1. Jahrhundert v. Chr. entstand. Der Aufstieg und die Herrschaftszeit des Dionysios sind in dem Teil beschrieben, der vom 91. Kapitel des 13. Buches bis zum 74. Kapitel des 15. Buches reicht. Die Zeit bis um die Mitte der achtziger Jahre des 4. Jahrhunderts ist wesentlich ausführlicher geschildert als die späteren Regierungsjahre des Tyrannen; offenbar konnte Diodor seine Kenntnisse über die früheren Jahre aus einer detaillierteren Darstellung schöpfen. Da die Einschätzung der Glaubwürdigkeit seiner Nachrichten von deren Herkunft abhängt, ist die Klärung der Fragen, welche Angaben er welchen verlorenen Werken entnommen hat und woher deren Verfasser ihr Wissen bezogen, eine zentrale Aufgabe der modernen Quellenforschung. Die Herkunft des Materials wird seit langem kontrovers diskutiert. Sicher ist, dass die Autoren der von Diodor verwendeten Darstellungen die Persönlichkeit und Regierung des Tyrannen sehr unterschiedlich beurteilten. Rezeption Schon zu Dionysios’ Lebzeiten war sein Bild in der Öffentlichkeit maßgeblich von der Propaganda geprägt, die sowohl von ihm selbst als auch von seinen Gegnern betrieben wurde; seine Feinde waren vor allem in Athen aktiv. Eine ausführliche Darstellung aus der Sicht seiner Anhänger bot das große Geschichtswerk des Philistos, in dem vier Bücher seiner Regierungszeit gewidmet waren. Plutarch bezeichnete Philistos als „größten Tyrannenfreund“. Von dieser Schrift sind nur Fragmente erhalten. Den schärfsten Gegensatz dazu bildete das ebenfalls verlorene Geschichtswerk des Timaios von Tauromenion, das die Epoche aus radikal tyrannenfeindlicher Perspektive schilderte. Timaios zeichnete viele der in gegnerischen Kreisen kursierenden Anekdoten auf, die wesentlich dazu beitrugen, dass Dionysios nach seinem Tod generell als typischer Gewaltherrscher betrachtet wurde – eine Einschätzung, die schon für Aristoteles selbstverständlich war. Timaios fand in der Antike wesentlich mehr Beachtung als Philistos. Hinzu kam für philosophisch orientierte Kreise die fundamentale Kritik Platons an der Tyrannenherrschaft, die unter anderem aus den Erfahrungen des Philosophen auf seiner ersten Sizilienreise resultierte. Der in Platons Dialog Politeia beschriebene Typus des Tyrannen trägt großenteils die Züge des Dionysios. Der von der antiken Kritik erzeugte sehr negative Gesamteindruck von Dionysios blieb bis in die Moderne vorherrschend. Cicero, der zur Übermittlung des tyrannenfeindlichen Überlieferungsguts an spätere Epochen wesentlich beitrug, bezog die berühmte Anekdote vom Damokles-Schwert und die Erzählung von Damon und Phintias irrtümlich auf Dionysios I.; beide waren ursprünglich als Begebenheiten am Hof Dionysios’ II. überliefert worden. Unter dem Eindruck dieser Tradition versetzte Dante den Tyrannen in die Hölle. In neuerer Zeit haben Lionel Sanders und Brian Caven die Grundlagen der traditionellen Bewertung des Dionysios kritisch untersucht und sind zu einem günstigeren Urteil gelangt. Die moderne Forschung hat für die Epoche, die mit der Machtergreifung Dionysios’ I. begann, die Bezeichnung „Jüngere Tyrannis“ eingeführt. Sie dient der Abgrenzung von der „Älteren Tyrannis“ des 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. Zwischen ihnen lag eine tyrannenlose Zeit. Quellenausgaben und -übersetzungen Friedrich Vogel (Hrsg.): Diodori bibliotheca historica. Band 3, Teubner, Stuttgart 1964 (Nachdruck der 3. Auflage von 1893; kritische Ausgabe). Diodoros: Griechische Weltgeschichte, Buch XI-XIII. Übersetzt von Otto Veh, Hiersemann, Stuttgart 1998, ISBN 3-7772-9739-9. Diodoros: Griechische Weltgeschichte, Buch XIV-XV. Übersetzt von Otto Veh, überarbeitet von Thomas Frigo, Hiersemann, Stuttgart 2001, ISBN 3-7772-0125-1. Literatur Helmut Berve: Die Tyrannis bei den Griechen. 2 Bände, Beck, München 1967 (Band 1 S. 221–260, Band 2 S. 637–656). Brian Caven: Dionysius I. War-Lord of Sicily. Yale University Press, New Haven/London 1990, ISBN 0-300-04507-7. Eduard Frolov: Organisation und Charakter der Herrschaft Dionysios’ des Älteren. In: Klio. 57, 1975, S. 103–122 und 58, 1976, S. 377–404. Hans Meier-Welcker: Dionysios I. Tyrann von Syrakus (= Persönlichkeit und Geschichte. Band 57). Musterschmidt, Göttingen u. a. 1971, ISBN 3-7881-0057-5. Frances Pownall: Dionysius I and the Creation of a New-Style Macedonian Monarchy. In: Ancient History Bulletin 31, 2017, S. 21 ff. Lionel J. Sanders: Dionysius I of Syracuse and Greek Tyranny. Croom Helm, London 1987, ISBN 0-7099-5403-4. Karl Friedrich Stroheker: Dionysios I. Gestalt und Geschichte des Tyrannen von Syrakus. Franz Steiner, Wiesbaden 1958. Weblinks Anmerkungen Grieche (Antike) Person (Sizilien) Tyrann (Sizilien) Herrscher (Syrakus) Literarische Figur Geboren im 5. Jahrhundert v. Chr. Gestorben 367 v. Chr. Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Dion%20von%20Syrakus
Dion von Syrakus
Dion von Syrakus (; * 409 v. Chr.; † 354 v. Chr. in Syrakus) war ein griechischer Politiker auf Sizilien und Freund des Philosophen Platon. Als Vertrauter, Schwager und Schwiegersohn des Tyrannen Dionysios I. gehörte Dion zu den maßgeblichen Persönlichkeiten seiner Heimatstadt Syrakus, die damals einen großen Teil Siziliens beherrschte. Unter Dionysios II., dem Sohn und Nachfolger des Tyrannen, versuchte er seinen Einfluss zu wahren und mit Platons Hilfe zu festigen, wurde aber vom Herrscher in die Verbannung geschickt. Es gelang ihm, mit einer in Griechenland angeworbenen Söldnerstreitmacht Dionysios II. zu stürzen und die Staatsführung zu übernehmen. In den folgenden Machtkämpfen verlor er aber an Rückhalt in der Bevölkerung, wurde selbst tyrannischer Bestrebungen verdächtigt und büßte auch die Unterstützung der Oberschicht ein. Er geriet in zunehmende Isolation und wurde schließlich ermordet. Damit scheiterte sein Versuch, eine neue Verfassung einzuführen. Inwieweit er sich von Prinzipien der platonischen Staatstheorie leiten ließ, ist umstritten. Die Nachwelt hat ihn meist als Musterbeispiel eines an der Realpolitik tragisch gescheiterten Idealisten betrachtet. Manche Historiker beurteilen jedoch seine Motive ungünstig; sie sehen in ihm einen machtgierigen Opportunisten. Leben Herkunft und Kindheit Dion wurde 409 v. Chr. geboren. Sein Vater Hipparinos war einer der vornehmsten und angesehensten Bürger von Syrakus. Schon vor der Machtübernahme des Tyrannen Dionysios I. war er dessen Gefährte und Vertrauter. Dions ältere Schwester Aristomache heiratete Dionysios. Die Ehe wurde im Jahr 398 geschlossen, als der Tyrann bereits an der Macht war. Aus ihr gingen vier Kinder hervor: zwei Töchter, Arete und Sophrosyne, und zwei Söhne, Hipparinos und Nysaios. Arete wurde zunächst mit Thearides, einem Bruder oder Halbbruder des Tyrannen, verheiratet; nach dessen Tod wurde sie um 375 die Frau Dions, der mütterlicherseits ihr Onkel war. Somit war Dion mit Dionysios I. doppelt verschwägert: Durch die Ehe des Tyrannen mit seiner Schwester Aristomache war er dessen Schwager und zugleich durch seine eigene Ehe mit seiner Nichte Arete, der Tochter des Tyrannen, dessen Schwiegersohn. Dionysios I. schloss 398 eine – damals bei den Griechen unübliche – Doppelehe: Er heiratete zugleich Dions Schwester Aristomache und Doris, die aus einer vornehmen Familie von Lokroi in Kalabrien stammte. Doris wurde die Mutter seines ältesten Sohnes und künftigen Nachfolgers Dionysios II. Aus dieser Konstellation ergab sich die Perspektive einer Rivalität zwischen den Söhnen der beiden Ehefrauen. Dionysios II. war der älteste und damit zum Nachfolger prädestiniert, doch konnten sich auch seine beiden jüngeren Halbbrüder Hipparinos und Nysaios Hoffnung auf eine Beteiligung an der Herrschaft machen. Dabei konnten sie sich auf die Unterstützung Dions verlassen, denn er war ihr Onkel. Mit Dionysios II. hingegen war Dion nicht blutsverwandt. Allerdings stand er auch zu ihm in einer familiären Beziehung, denn die Frau Dionysios’ II. war Sophrosyne, die Schwester von Dions Gemahlin Arete. Sophrosyne war als Tochter Dionysios’ I. eine Halbschwester ihres Ehemanns und als Tochter Aristomaches Dions Nichte. Dions Vater Hipparinos starb, als seine Kinder noch unmündig waren. Daher übernahm Dionysios I. die Vormundschaft für die Kinder, und Dion wuchs in der Umgebung des Tyrannen auf. Damals brachte Dionysios in wechselhaften Kämpfen gegen die Karthager, die traditionellen Feinde von Syrakus, einen Großteil Siziliens unter seine Herrschaft. Rolle am Tyrannenhof Als Platon um 388 v. Chr. nach Syrakus kam, lernte er den noch jungen Dion kennen. Die beiden schlossen eine lebenslange Freundschaft. Eine Legende, wonach Dion den Tyrannen bewogen hatte, Platon nach Syrakus einzuladen, ist nicht glaubwürdig. Es war jedoch vermutlich Dion, der dem Philosophen eine Audienz beim Tyrannen verschaffte. Dieses Gespräch verlief offenbar unerfreulich. Bald darauf reiste Platon ab. Platon schrieb in seinem heute meist als echt betrachteten „siebten Brief“, Dion sei zu einem überzeugten Anhänger der platonischen Philosophie geworden. Er habe die Tyrannenherrschaft grundsätzlich scharf missbilligt. Daher sei er innerlich in Opposition zu seinem Schwager Dionysios I. getreten und bei den Höflingen verhasst gewesen. Allerdings geht aus den Quellen hervor, dass Dions Verhältnis zu Dionysios ausgezeichnet war. Er genoss das volle Vertrauen des Tyrannen, der ihn nicht nur zu seinem Schwiegersohn machte, sondern ihm auch wichtige Gesandtschaften übertrug, darunter eine nach Karthago. Dionysios gab sogar seinem Schatzmeister die Anweisung, Dion jeden gewünschten Betrag auszuzahlen, allerdings auch ihm – dem Tyrannen – umgehend über jede solche Zahlung zu berichten. Damals erwarb Dion ein außerordentliches Vermögen, welches so groß war, dass er später aus privaten Mitteln ein Söldnerheer anwerben und finanzieren konnte. Als der Tyrann im Jahre 367 tödlich erkrankte, drohte eine instabile Lage einzutreten, denn sein ältester, rund dreißig Jahre alter Sohn Dionysios II. war nicht auf die Herrscherrolle vorbereitet worden. Vergeblich versuchte Dion, den todkranken Tyrannen zu einer Nachfolgeregelung zu bewegen, mit der seine beiden jungen Neffen an der Macht beteiligt worden wären, was ihm selbst eine sehr starke Stellung verschafft hätte. Nach dem Tod Dionysios’ I. verlief die Machtübernahme des neuen Herrschers anscheinend problemlos. Am Hof Dionysios’ II. gelang es Dion zunächst, seine einflussreiche Stellung zu bewahren. Dabei kam ihm zugute, dass sich sein politischer Gegenspieler Philistos in der Ferne aufhielt. Philistos war ein wichtiger Vertrauensmann Dionysios’ I. gewesen, hatte dann aber das Missfallen des Tyrannen erregt und war seither Sizilien ferngeblieben. Dion bewog den jungen Tyrannen, Platon als Berater an den Hof einzuladen; davon konnte er sich eine Stärkung seines Einflusses erhoffen. Er stellte Platon die Gelegenheit in Aussicht, die politischen Verhältnisse im Sinne der platonischen Staatsphilosophie umzugestalten. So kam es zur zweiten Sizilienreise Platons im Jahr 366. Dionysios II. war jedoch misstrauisch; um ein Gegengewicht zu Dions Umfeld zu schaffen, berief er noch vor Platons Ankunft Philistos an den Hof. Philistos war ein treuer Anhänger der Tyrannenfamilie und der tyrannischen Staatsform. Als Platon eintraf, bestand am Hof bereits eine starke Spannung zwischen den beiden feindlichen Gruppierungen. Anscheinend beabsichtigte Dion schon damals, Dionysios entweder mit Platons Hilfe unter seinen Einfluss zu bringen oder ihn zu stürzen. Da sich Dionysios zumindest oberflächlich für Philosophie interessierte und von Platons Persönlichkeit stark beeindruckt war, schien die erste Möglichkeit greifbar nahe zu sein. Dem widersetzten sich jedoch die um Philistos gruppierten Kräfte, denen die Ausschaltung drohte. Sie versuchten Dionysios davon zu überzeugen, dass Dion ihn nur mit der Philosophie von der Politik ablenken wolle, um schließlich doch noch seinen Neffen die Macht zu verschaffen oder sie selbst zu ergreifen. Bald bot sich den Gegnern Dions die Gelegenheit, einen entscheidenden Schlag zu führen. Syrakus befand sich damals noch in einem von Dionysios I. begonnenen Krieg gegen die Karthager, die den Westen Siziliens kontrollierten. Es bestand ein Waffenstillstand, über dessen Umwandlung in einen Frieden zu verhandeln war. Dion schrieb einen Brief an Bevollmächtigte der Karthager, worin er sich ihnen als Berater und Vermittler für die bevorstehenden Verhandlungen mit Dionysios empfahl. Dieser Brief wurde abgefangen und gelangte in die Hände des Tyrannen, der ihn Philistos vorlas. Dionysios fasste Dions eigenmächtiges Vorgehen als Landesverrat auf und schickte ihn in die Verbannung. Im Spätsommer 366 ging Dion ins Exil nach Griechenland. Aus Rücksicht auf seine zahlreichen, teils prominenten Angehörigen, Freunde und Anhänger, zu denen die Gattin des Tyrannen und Platon gehörten, gab Dionysios zu verstehen, dass der Bruch nicht unheilbar sei. Dions Abwesenheit wurde als vorübergehend dargestellt und sein Vermögen nicht angetastet. Im folgenden Jahr reiste Platon ab, nachdem ihm Dionysios eine Begnadigung Dions in Aussicht gestellt hatte. Exil in Griechenland In Griechenland wurde Dion ein freundlicher Empfang bereitet. Er verfügte über reichliche Mittel, da ihm die Einkünfte aus seinem Vermögen aus Syrakus zuflossen. Sein Reichtum ermöglichte ihm ein glänzendes Auftreten. In Korinth, wo er längere Zeit lebte, stieß er auf Sympathie; in Sparta wurde ihm das Bürgerrecht verliehen, obwohl die Spartaner mit dem Tyrannen von Syrakus im Kampf gegen Theben verbündet waren; in Athen trat er in Platons Akademie ein. Sein Gastgeber in Athen war Kallippos, der später sein Mörder wurde. Die beiden ließen sich gemeinsam in die kleinen und großen Mysterien von Eleusis einweihen. Zunächst hoffte Dion auf die Erlaubnis zur Rückkehr in die Heimat. 361 reiste Platon auf Drängen von Dionysios, der ihm erneut die Rehabilitierung Dions zusagte, zum dritten Mal nach Sizilien. Dionysios wollte Platon für sich gewinnen, Platons Absicht war es hingegen, seinem Freund Dion zu helfen. In der Begleitung Platons befanden sich einige seiner Schüler, darunter Speusippos und Xenokrates. Speusippos, der später Platons Nachfolger als Scholarch (Leiter der Akademie) wurde, war ein radikaler Anhänger Dions. Während seines Aufenthalts in Syrakus zog er in der Stadt Erkundigungen über die Stimmung der Bürger ein, um die Chancen für einen gewaltsamen Sturz des Tyrannen zu prüfen, was Dionysios aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verborgen blieb. Das dadurch entstandene Misstrauen brachte Platon in Schwierigkeiten. Von einer Begnadigung Dions war nun keine Rede mehr, vielmehr konfiszierte Dionysios die in Syrakus verbliebenen Besitztümer des Verbannten. Außerdem befahl der Tyrann seiner Halbschwester Arete, Dions Gattin, die mit ihrem Sohn Hipparinos in Syrakus geblieben war, ihre Ehe aufzulösen und einen seiner Günstlinge zu heiraten, einen hohen Offizier namens Timokrates. Ob dieser Befehl ausgeführt wurde, ist unklar, doch war unter diesen Umständen an eine Versöhnung Dions mit dem Herrscher nicht mehr zu denken. Platon, der nichts erreicht hatte, reiste im folgenden Jahr ab. Rückkehr und militärischer Sieg Auf seiner Heimreise traf Platon Dion in Olympia und setzte ihn von dem Scheitern seiner Bemühungen in Kenntnis. In diesem Stadium des Konflikts kam für Dion, der anscheinend schon zuvor gegen Dionysios agitiert hatte, nur noch eine militärische Lösung in Betracht. Er begann Söldner anzuwerben und fand für seine Pläne in der Akademie starken Rückhalt. Platon, der durch die Regeln der zwischen ihm und Dionysios bestehenden Gastfreundschaft gebunden war, hielt sich heraus, duldete aber die Beteiligung seiner Schüler an der Unternehmung. Syrakus war zwar die größte Militärmacht der damaligen griechischen Welt, aber Speusippos berichtete Dion, dass angesichts der allgemeinen Verhasstheit des Tyrannen eine kleine Truppe für den Umsturz ausreiche, da eine tyrannenfeindliche Streitmacht in Sizilien mit offenen Armen aufgenommen werde. Anscheinend war Dions Söldneranwerbung besonders in Korinth erfolgreich; ein großer Teil seiner Streitmacht bestand aus Peloponnesiern, darunter vermutlich vor allem Korinther. Vom Sammelplatz auf der Insel Zakynthos aus wagte Dion im Jahre 357 mit rund 800 Mann auf fünf Schiffen die Überfahrt. Unter den Teilnehmern waren nur zwei bis drei Dutzend Griechen aus Sizilien. Die kleine Flotte erreichte nach 12 Tagen Pachynos, die Südostspitze Siziliens, und wurde auf der weiteren Fahrt durch einen Sturm nach Süden abgetrieben. Es gelang ihr aber schließlich die Landung an der Südwestküste Siziliens bei Herakleia Minoa, einer Stadt, die sich unter der Kontrolle der Karthager befand. Trotz der traditionellen Feindschaft zwischen Karthago und Syrakus hatte Dion offenbar ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis zu den Karthagern; vermutlich war die Landung in ihrem Machtbereich geplant. Der karthagische Befehlshaber Synalos nahm die Truppe gut auf, verpflegte sie und gewährte ihr logistische Unterstützung. Dionysios war mit seiner Flotte nach Süditalien gefahren, da er den Angriff von dort erwartete. Die Abwesenheit des feindlichen Oberkommandierenden nutzte Dion zu einem raschen Vormarsch. Eine Reihe von Städten entzogen sich nun der Herrschaft des Dionysios und schlossen sich dem Aufstand an, so dass sich das Heer auf einige tausend Mann vergrößerte. Diese neuen Verbündeten der Invasoren hatten andere Interessen als Dion: Ihm ging es um die Eroberung seiner Heimatstadt, ihnen um die Erlangung der Autonomie. In Syrakus hatte der abwesende Tyrann, dessen Herrschaft auf seinen Söldnern beruhte, kaum noch Anhänger. Die Stadtbevölkerung erhob sich gegen ihn. Der für Dionysios in Syrakus kommandierende Timokrates floh. Die Syrakuser bereiteten Dion einen begeisterten Empfang. Gemeinsam mit den Verbündeten aus den anderen Städten wählten sie ihn und seinen Bruder Megakles zu Heerführern mit unbeschränkter Vollmacht (strategoí autokrátores). Nur in der Stadtfestung, die sich auf der Insel Ortygia befand, konnten sich die Söldner des Tyrannen halten. Dorthin kehrte der inzwischen von der Niederlage verständigte Dionysios zurück. Er begann Verhandlungen mit Dion, wobei er sich den Umstand zunutze machte, dass sich Dions Schwester, Gattin und Sohn in seiner Gewalt befanden. Eine Einigung scheiterte jedoch daran, dass die Vorstellungen der beiden Seiten zu weit auseinander lagen. Ein Überraschungsangriff der Söldner des Dionysios wurde in schweren Kämpfen zurückgeschlagen. Dennoch befand sich der Tyrann in einer relativ günstigen Lage; er konnte sich auf die Truppen seines fähigen Befehlshabers Philistos verlassen und seine Flotte beherrschte weitgehend das Meer. Die Kräfteverhältnisse änderten sich jedoch, als aus Griechenland eine Flotte unter Herakleides von Syrakus zur Unterstützung Dions und der Syrakuser eintraf. Herakleides übernahm als Nauarch (Flottenführer) das Kommando über die syrakusischen Seestreitkräfte. Der Tyrann wurde auch auf dem Seeweg von der Zufuhr abgeschnitten; eine Seeschlacht endete mit dem Sieg der Syrakuser und dem Tod des Philistos. Darauf begann Dionysios erneut Verhandlungen mit dem Ziel eines Friedensschlusses, um für sich freien Abzug aus Ortygia zu erreichen. Anscheinend versuchte er, einen Teil seines Machtbereichs und seiner Besitztümer außerhalb der Stadt zu retten. Sein Vorschlag scheiterte aber an der Siegesgewissheit der Syrakuser. Schließlich konnte Dionysios mit einigen Schiffen, beladen mit Schätzen, aus Ortygia entkommen, ohne dabei die Festung aufzugeben; ein Teil seiner Truppen blieb mit den gefangenen Angehörigen Dions dort. Äußerer Krieg und innere Machtkämpfe Schon bald nach Dions triumphalem Einzug in Syrakus kam es in der Stadt zu Spannungen zwischen seinen Anhängern und Kreisen, die ihn verdächtigten, der Bürgerschaft nicht Freiheit zu bringen, sondern für sich selbst nach einer neuen Tyrannenherrschaft zu streben. Seine Verdienste und seine militärischen Erfolge, bei denen er sich auch durch persönliche Tapferkeit auszeichnete, konnten die grundsätzlichen Gegensätze nur zeitweilig in den Hintergrund drängen. Der vornehme, sehr reiche Dion galt als Aristokrat. Er war lange eine Stütze der Tyrannenherrschaft gewesen und war mit dem Tyrannen verschwägert. Dies machte ihn demokratisch gesinnten prinzipiellen Gegnern der Tyrannis suspekt. Man verdächtigte ihn, auch im Interesse seiner gefangenen Angehörigen eine Einigung mit Dionysios hinter dem Rücken der Bürgerschaft in Betracht zu ziehen. Auf eine solche innerfamiliäre Lösung des Konflikts zielten die Friedensvorschläge des Dionysios tatsächlich ab. Außerdem bestand der Verdacht, Dion habe die Flucht Dionysios’ II. aus Syrakus zugelassen. Tyrannenfeindliche Kreise verübelten ihm auch sehr, dass er die Zerstörung des Grabmals Dionysios’ I. nicht gestattete. Die aus diesen Gründen Dion misstrauisch oder feindlich gegenüberstehenden Kräfte, die mit radikaldemokratischen Parolen hervortraten, fanden schließlich in dem Flottenbefehlshaber Herakleides einen Wortführer. Herakleides war schon unter Dionysios I. ein angesehener Offizier gewesen und hatte unter Dionysios II. die Reiterei befehligt. Später hatte er aber das Misstrauen des jungen Tyrannen erregt und deswegen ins Exil gehen müssen. In Griechenland war er an der Vorbereitung des Feldzugs gegen Dionysios II. maßgeblich beteiligt gewesen und hatte sich dann als Flottenführer bewährt. Als Befehlshaber der syrakusischen Flotte unterstand er Dions Oberbefehl, profilierte sich aber zunehmend als dessen Rivale. Dabei kam ihm zustatten, dass er im Gegensatz zu dem aristokratisch auftretenden Dion befähigt war, sich in der Bevölkerung anhaltende Popularität zu verschaffen. Im Sommer 356 fasste die Volksversammlung Beschlüsse, die einen entscheidenden Sieg der Parteigänger des Herakleides bedeuteten. Die Bürgerschaft entschied sich für eine Neuverteilung des Grundbesitzes und die Beendigung der Zahlungen an Dions Söldner. Außerdem wurden neue Befehlshaber gewählt, unter denen Herakleides war, nicht jedoch Dion. Darauf zog sich Dion mit seinen Söldnern in die Stadt Leontinoi zurück, deren Bürger sich dem Machtbereich von Syrakus entziehen wollten. In Leontinoi hatte Dionysios I. Söldner angesiedelt, die nun mit ihren Nachkommen dort lebten. Die Leontiner hießen den aus Syrakus vertriebenen Politiker willkommen und verliehen seinen Söldnern das Bürgerrecht. Die Lage änderte sich dramatisch, als ein Überraschungsangriff, den Dionysios’ Feldherr Nypsios von Ortygia aus unternahm, die Syrakuser in schwere Bedrängnis brachte. Nun setzten sich Dions Parteigänger für einen Hilferuf an ihn ein. Diese Initiative ging von „Rittern“ (vornehmen Syrakusern) und den Bundesgenossen – den Kämpfern aus anderen sizilischen Städten – aus. Die Bundesgenossen stammten aus Städten, die früher zum Reich Dionysios’ I. gehört hatten und seit Dions Feldzug faktisch unabhängig waren; sie hatten von einem Sieg des Tyrannen eine erneute Unterwerfung unter die Herrschaft von Syrakus zu befürchten. Eine Delegation dieser Kräfte begab sich zu Dion, worauf er umgehend mit den Söldnern anrückte. Allerdings widersetzten sich seine Gegner in Syrakus der Rückberufung trotz der Notlage heftig. Sie besetzten die Stadttore, um ihm den Einzug zu verweigern. Erst als Nypsios einen neuen, noch verheerenderen Angriff unternahm, bei dem seine Truppen in der Stadt Massaker anrichteten und Brände legten, erlosch in der Bürgerschaft der Widerstand gegen die Rückkehr Dions. Nun konnten die Söldner einziehen. Es gelang Dion, die Streitmacht des Tyrannen, die bereits einen großen Teil der Stadt erobert und verwüstet hatte, zurückzuschlagen. Die Truppen des Nypsios zogen sich in die Festung zurück. Die Gegner Dions waren nun geschwächt, da ihre Anführer die Krise nicht hatten militärisch meistern können. Es kam zu einer Machtteilung: Dion wurde vom Volk wieder zum Oberbefehlshaber gewählt und Herakleides erhielt das Kommando über die Flotte. Diese Einigung hatte aber nicht lange Bestand, denn die fundamentalen Konflikte um die Grundbesitzfrage und die künftige Verfassung konnten nicht entschärft werden. Dion setzte die Wiederherstellung der früheren Besitzverhältnisse durch. Inzwischen war, nachdem zu Lande und zu Wasser mancherlei Kämpfe mit wechselndem Erfolg stattgefunden hatten, die Lage der Besatzung von Ortygia unhaltbar geworden. Man einigte sich auf freien Abzug, und Dions Familie wurde freigelassen. Damit fiel ganz Syrakus in die Hand Dions. Nun machte sich Dion energisch daran, seine politischen Vorstellungen zu verwirklichen. Schon vor dem Fall der Inselfestung hatte er einen Beschluss durchgesetzt, die künftig angeblich nicht mehr benötigte Flotte, die eine Hochburg seiner Gegner und für demokratische Parolen anfällig war, aufzulösen. Er berief ein Kollegium (synhédrion), das als gesetzgebende Versammlung eine neue Verfassung ausarbeiten sollte. Dem Synhedrion gehörten neben Syrakusern auch Bürger Korinths, der Mutterstadt von Syrakus, an. Da Korinth oligarchisch regiert wurde, musste dies den Demokraten missfallen. Um Herakleides einzubinden, ernannte ihn Dion zu einem Mitglied des verfassunggebenden Gremiums. Herakleides weigerte sich jedoch, dort mitzuarbeiten, und begann wieder gegen Dion zu agitieren. Der Umstand, dass Dion den Oberbefehl nach dem Sieg nicht niederlegte und die Festung nicht zerstören ließ, nährte den Verdacht, dass er nach der Tyrannenherrschaft strebte. Der Konflikt eskalierte erneut, und Herakleides wurde von Anhängern Dions ermordet, wenn nicht auf Dions Befehl, so doch zumindest mit dessen Billigung. Niedergang und Tod Der Mord an Herakleides erregte ungeheures Aufsehen. In weiten Kreisen der Bevölkerung setzte sich die Überzeugung durch, dass Dion die Gewaltherrschaft wolle und faktisch bereits der neue Tyrann sei. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass die gesetzgebende Versammlung ihre Tätigkeit fortsetzte und im Sinne von Dions Wünschen eine Verfassung mit vorwiegend aristokratischen Elementen ausarbeitete. Da Dions Rückhalt in der Bürgerschaft dramatisch geschwunden war, war die Aufrechterhaltung seiner Machtposition mehr denn je von der Zuverlässigkeit der Söldner und damit von deren Finanzierung abhängig. Nach dem Sieg über Dionysios wurden die Söldner aber für die äußere Sicherheit nicht mehr benötigt, und die Volksversammlung ließ sich nicht zu weiterer Besoldung der Truppe bewegen. Dion, dessen eigene Mittel erschöpft waren, versuchte mit Zwangsmaßnahmen wie der Konfiskation von Gütern seiner Gegner die benötigten Mittel aufzutreiben und musste auch seine Anhänger zu Zahlungen verpflichten. Dennoch kam es zu Rückständen bei der Soldauszahlung. Damit erregte Dion allgemeinen Unmut, und sogar bei den Söldnern, welche die Unhaltbarkeit der Lage erkannten, schwand die Loyalität. Ein Vertrauter Dions, der Offizier Kallippos aus Athen, machte sich diese Lage zunutze und unternahm einen Staatsstreich. Seine Anhänger besetzten Schlüsselstellungen in der Stadt, drangen in Dions Haus ein und ermordeten ihn. Die Berichte über Dions Tod sind in den Einzelheiten widersprüchlich, stimmen aber darin überein, dass von den anwesenden zahlreichen Freunden und Leibwächtern niemand für ihn gekämpft hat. Möglicherweise gelang das Attentat durch Überrumpelung. Kallippos rechtfertigte sein Vorgehen als Tyrannenmord. Ein Bericht, wonach es nach der Tat zu einem Stimmungsumschwung kam und ein öffentliches Begräbnis stattfand, ist kaum glaubwürdig, zumindest stark übertrieben. Kallippos konnte sich als führender Politiker durchsetzen. Eine Tyrannenherrschaft hat er aber nicht – wie manchmal fälschlich behauptet wird – errichtet, vielmehr blieben die demokratischen Einrichtungen bestehen. Der Kampf gegen die restlichen Anhänger des Dionysios in Sizilien wurde fortgesetzt. Dions Schwester Aristomache und seine Gattin Arete wurden nach seinem Tod ins Gefängnis geworfen, wo Arete anscheinend einen Sohn gebar. Sie hatte bereits einen Sohn, der nach seinem Großvater Hipparinos hieß. Ein Grund für die Festnahme war wohl die Befürchtung des neuen Regimes, dass Parteigänger Dions künftig dynastische Ansprüche erheben könnten. Die Frauen wurden später, nach dem Sturz des Kallippos, freigelassen und nach Griechenland geschickt, kamen aber auf der Überfahrt ums Leben. Einer legendenhaften, unglaubwürdigen Überlieferung zufolge hat Dions Sohn Hipparinos seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Rezeption Antike und Mittelalter In der Antike gab es ein reichhaltiges, heute größtenteils verlorenes Schrifttum über Dion. Die Urteile der antiken Nachwelt über ihn sind zwar zwiespältig ausgefallen, doch setzte sich eine sehr positive Bewertung durch. Ausschlaggebend war dabei die Autorität Platons. Platon hielt unerschütterlich an der Überzeugung fest, dass sein Freund ein edler, vorbildlicher Philosoph gewesen sei, der aus Patriotismus gehandelt habe. Dionfreundliche Tradition In einem von Diogenes Laertios überlieferten berühmten Epigramm, das angeblich von Platon stammte und Dions Grabinschrift war, wird das letztliche Scheitern des ruhmreichen Siegers über die Tyrannis auf das Eingreifen übermenschlicher Mächte zurückgeführt: δάκρυα μὲν Ἑκάβῃ τε καὶ Ἰλιάδεσσι γυναιξὶ Μοῖραι ἐπέκλωσαν δὴ τότε γεινομέναις, σοὶ δέ, Δίων, ῥέξαντι καλῶν ἐπινίκιον ἔργων δαίμονες εὐρείας ἐλπίδας ἐξέχεαν. Tränen haben Hekabe und den Trojanerinnen die Moiren schon bei der Geburt zugesponnen. Dir aber, Dion, vernichteten Daimonen die weitreichenden Hoffnungen, als du durch deine edlen Taten den Siegespreis errungen hattest. Platon richtete an die überlebenden Verwandten und Parteigänger Dions seinen siebten Brief, in dem er ausführlich seine Sicht der Vorgänge schilderte. Der Brief wird heute überwiegend als authentisch betrachtet, doch sind die Zweifel an seiner Echtheit nicht verstummt. Jedenfalls ist auch im Fall der Unechtheit davon auszugehen, dass der Verfasser ein gut informierter, allerdings parteiischer Zeitgenosse Dions war. In dem Brief wird behauptet, Dion habe seine Heimatstadt und ganz Sizilien von der Knechtschaft befreien und Syrakus mit den besten Gesetzen ausstatten wollen, um seinen Mitbürgern die größten Wohltaten zu erweisen. Demnach war es Dions Absicht, den platonischen Idealstaat soweit möglich zu verwirklichen. In dem vierten der Platon zugeschriebenen Briefe wird Dion ermahnt, seine Ruhmsucht zu zügeln und zu bedenken, dass Selbstherrlichkeit in die Isolation führe. Der Verfasser des in der Antike als echt geltenden Briefes war wohl ein zeitgenössischer, Dion wohlgesinnter Platoniker. Aus seinem Text ist ersichtlich, dass man auch in Kreisen der Akademie, die viel Sympathie für Dion aufbrachten, seinen Mangel an Konzilianz für bedauerlich und schädlich hielt. Aristoteles führte in seiner Politik Dion als Musterbeispiel für einen Kämpfer gegen die Tyrannis an, dem es nicht um die Erlangung von Macht oder Reichtum gehe, sondern um den Ruhm, den er mit seinem Angriff auf den Gewaltherrscher gewinnen könne. Für den Ruhm setze ein solcher Mann sein Leben aufs Spiel. Außerdem habe Dion Dionysios II. wegen dessen Trunksucht verachtet. In Zusammenhang mit Erörterungen über das Unrechttun äußerte sich Aristoteles auch beiläufig über den Mord an Dion. Die früher gängige Interpretation seiner Bemerkung, wonach er die Tat für nahezu entschuldbar hielt, beruht auf einem Missverständnis. Aischines von Sphettos, der ein Schüler des Philosophen Sokrates war und zeitweilig in Syrakus lebte, verfasste eine Schrift zur Rechtfertigung Dions, die heute verloren ist. Die Mitglieder der platonischen Akademie, darunter Speusippos und der Offizier Timonides von Leukas, der an Dions Feldzug teilgenommen hatte und einen Bericht darüber verfasste, teilten Platons Auffassung und trugen zu ihrer Verbreitung bei. Auch spätere Autoren zeichneten ein vorteilhaftes Bild. Die nur bis zur Rückkehr aus Leontinoi reichende Erzählung Diodors, die auf heute verlorenen Quellen fußt, vermittelt einen günstigen Eindruck von Dions Charakter. Cicero meinte, Platon komme das Verdienst zu, seinen Schüler Dion zur Befreiung von dessen Heimat ermutigt und durch philosophische Unterweisung darauf vorbereitet zu haben. Valerius Maximus teilte eine Anekdote mit, der zufolge Dion als prinzipienfester Philosoph erklärte, er wolle lieber seinen Tod riskieren als Freunde zu Unrecht verdächtigen und wie Feinde behandeln. Plutarch schilderte Dion als von edlen philosophischen Idealen durchdrungenen Helden und verglich ihn in seinen Parallelbiographien mit Brutus. Allerdings erwähnte er auch als problematischen Charakterzug des Befreiers von Syrakus Schroffheit im Umgang und unbeugsame Strenge. Er räumte ein, dass das Motiv für den Feldzug nicht grundsätzliche Tyrannenfeindschaft, sondern die persönliche Kränkung des einstigen Tyrannendieners gewesen sei. Plutarchs Darstellung fußt wohl zu einem erheblichen Teil auf der Schilderung des Timonides, der zwar Augenzeuge war, aber als überzeugter Anhänger Dions in propagandistischer Absicht schrieb. Plutarchs jüngerer Zeitgenosse Arrian verfasste ein Werk über Dion als Befreier, das nicht erhalten geblieben ist. Gegnerische Darstellungen Die Werke der Dion feindlich gesinnten Autoren sind verloren. Philistos, Dions Gegenspieler am Tyrannenhof, betätigte sich auch als Geschichtsschreiber. Er verfasste eine Geschichte der Regierung Dionysios’ I. und ein weiteres Werk, in dem er die Regierungszeit Dionysios’ II. bis 362 aus tyrannenfreundlicher Sicht behandelte. Vermutlich war seine Darstellung nicht nur von seiner persönlichen Auseinandersetzung mit Dion, sondern auch von grundsätzlichen politischen Meinungsverschiedenheiten geprägt. Philistos war wohl ein Wortführer karthagerfeindlicher, expansionistischer Kräfte, die hinter der Kriegspolitik Dionysios’ I. standen und in dem karthagerfreundlichen Dion einen Verräter sahen. Das Werk des Philistos wurde fortgesetzt von Athanis von Syrakus, der an Dions Feldzug teilgenommen hatte und später zu den Anführern einer dionfeindlichen Gruppierung gehörte. Seine Darstellung, von der nur wenige Fragmente erhalten sind, schilderte die Ereignisse vielleicht aus der Sicht der Anhänger des Herakleides; jedenfalls dürfte er Dion kritisch beurteilt haben. Zu den heute verlorenen dionfeindlichen Quellen gehört auch ein offizieller Brief, den Kallippos nach Athen sandte, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Spuren einer dionfeindlichen Tradition finden sich bei Cornelius Nepos. Nepos verfasste im 1. Jahrhundert v. Chr. eine große Biographiensammlung; im Rahmen dieser Lebensbeschreibungen berühmter Männer schilderte er auch Dions Leben. Er lobte zwar anfangs die intellektuellen und charakterlichen Qualitäten des syrakusischen Politikers, stellte dann aber dessen Vorgehen gegen Oppositionelle als hart und willkürlich dar. Nach Nepos’ Interpretation überblickte Dion die Konsequenzen seines Tuns nicht und war nach dem Mord an Herakleides von den Reaktionen in der Öffentlichkeit überrascht und über den unerwarteten Verlust seiner Popularität besorgt. Nach dieser Wende sei er in Furcht und Ratlosigkeit verfallen. Als entschiedener Gegner der Tyrannis wollte Nepos am Beispiel Dions demonstrieren, wie ein ursprünglich moralisch integrer Mensch schließlich scheitert, wenn er sich auf tyrannische Methoden der Machterhaltung einlässt. Auch in der römischen Kaiserzeit, in der Dion überwiegend als Philosoph und Befreier seiner Heimat wahrgenommen wurde, wirkte die Sichtweise seiner Gegner noch vereinzelt nach. So meinte Athenaios, Dion sei ermordet worden, als er die Tyrannenherrschaft für sich erstrebte. Spätmittelalter Im 15. Jahrhundert befasste sich der byzantinische Platoniker Georgios Gemistos Plethon in seiner Darstellung der griechischen Geschichte nach der Schlacht von Mantineia auch mit Dion, von dem er ein eindrückliches Bild im Sinne der platonischen Überlieferung zeichnete. Moderne Altertumswissenschaft Ein Hauptthema der modernen Forschung ist die kontrovers diskutierte Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit Dion tatsächlich von der platonischen Staatsphilosophie geprägt war und unter deren Einfluss idealistische, mehr oder weniger utopische Ziele anstrebte. Das Spektrum der Meinungen reicht von der Ansicht, dass er ein begeisterter Platoniker war, bis zur Deutung, dass er ein ausschließlich an seiner persönlichen Macht interessierter Politiker war, der Platon und die Platoniker als Werkzeuge in den Dienst seines Ehrgeizes zu stellen wusste. Die antike Überlieferung, die Dion als tragisch gescheiterten Idealisten darstellt, hat auch in der Moderne eine starke Wirkung entfaltet, besonders – angesichts der Autorität Platons – in philosophisch orientierten Kreisen. Zu den namhaften Vertretern dieser Richtung zählten Eduard Meyer, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und Werner Jaeger. Nach Eduard Meyers 1902 veröffentlichter Darstellung schloss sich Dion „mit voller Hingebung“ an Platon an und „nahm seine ethischen und politischen Anschauungen mit Begeisterung in sich auf“; das Ideal habe er in seinem eigenen Leben umgesetzt und im Staat verwirklichen wollen. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff betonte 1919, zwischen Dion und Platon sei der „platonische Eros“ auf beiden Seiten „stark und heiß“ gewesen; Dion habe „die Tyrannis in ein legitimes, verfassungsmäßiges Königtum verwandeln“ wollen; „Herrscher sollte das Gesetz werden“, Platon und Dion hätten gemeinsam die künftige Verfassung von Syrakus geplant. Letztlich sei Dion an seiner mangelnden Entschlossenheit gescheitert: „[…] zum rechten Herrscher war er zu sehr Philosoph.“ Sehr dezidiert trat Renata von Scheliha in ihrer Dion-Monographie von 1934 für das traditionelle Bild vom heldenhaften Idealisten Dion ein. Für Werner Jaeger, der sich 1947 äußerte, stand Dions absolute Zuverlässigkeit und Reinheit des Charakters außer Zweifel; er meinte, Platons Menschenkenntnis könne sich über den Freund nicht völlig getäuscht haben. Weitere Altertumswissenschaftler, die in Dion einen aus philosophischer Überzeugung handelnden Idealisten sahen, waren u. a. Hermann Breitenbach (1960), Kurt von Fritz (1968) und Wolfgang Orth (1979). In neuerer Zeit hat diese Sichtweise trotz verbreiteter Kritik auch weiterhin grundsätzliche Zustimmung gefunden, wenngleich sie nicht mehr mit solcher Gewissheit vorgetragen wird wie in der älteren Forschung. So schreibt Karl-Wilhelm Welwei, Dion habe sich für die politischen und philosophischen Thesen Platons begeistert und auf dieser Basis politische Reformen angestrebt; seine Gegner könne man „nur mit großem Vorbehalt“ als Demokraten bezeichnen. Allerdings bilanziert Welwei: „Als Person bleibt Dion ein Rätsel, und seine letzten Ziele sind nicht zu erkennen.“ Zu letzterem Ergebnis gelangt auch Henry D. Westlake. Die Vertreter der gegenteiligen Interpretation sehen in Dion einen reinen Opportunisten. Schon 1897 urteilte Karl Julius Beloch, Dion habe eine Tyrannis nach dem Vorbild Dionysios’ I. errichten wollen, „freilich ohne die nötige Konsequenz“. Er habe Platon nur „zum Werkzeug einer politischen Intrigue bestimmt“ und „niemals an die Realisierbarkeit der politischen Träume Platons geglaubt“; Platon habe ihn nicht durchschaut. Dass Platon sich täuschen ließ, glaubte auch Fritz Taeger, der sich 1942 dazu äußerte. Hermann Bengtson gelangte 1950 ebenfalls zu einer negativen Gesamteinschätzung; er schrieb, Dion sei „weder ein Staatsmann noch ein Charakter“ gewesen und habe den Weg zur Tyrannis beschritten. Auch Jürgen Sprute kam 1972 zum Ergebnis, Dion habe „Platons schwieriges Vorhaben nicht um der Sache willen unterstützt, sondern sich so verhalten, wie es für ihn persönlich am günstigsten zu sein schien“. Platon sei aufgrund der Freundschaft nicht in der Lage gewesen, dies zu erkennen. Ein weiterer Vertreter dieser Auffassung war Kai Trampedach. Er urteilte in seiner 1994 erschienenen Untersuchung, Dion habe nicht nach der Verwirklichung eines Ideals, sondern nach Ruhm und Macht gestrebt. Michael Zahrnt äußerte 1997 die Meinung, es sei nur um persönliche Machtkämpfe gegangen, nicht um gegensätzliche Verfassungsvorstellungen; das Volk habe keine Rolle gespielt und der Ruf nach Demokratie sei nur Propaganda gewesen. Lionel Sanders vertrat 2008 die Ansicht, die teilweise hypothetisch rekonstruierbaren Ausführungen der dionfeindlichen Geschichtsschreiber seien glaubwürdiger als die überlieferten Schilderungen von Bewunderern Dions. Dies gelte sowohl für die tyrannenfreundliche als auch für die ihr entgegengesetzte demokratische Richtung der Gegner und Kritiker Dions. Karl Friedrich Stroheker sprach 1958 beiden Ansätzen eine gewisse Berechtigung zu; er ging von einer Mischung idealistischer Motive und persönlicher Interessen aus. Auch Helmut Berve nahm in seiner 1957 erschienenen gründlichen Untersuchung eine Verbindung idealistischer und persönlicher Motive an, wobei aber die idealistische Zielsetzung im Sinne Platons der maßgebliche Aspekt gewesen sei. Auch Forscher, die Dions Charakter und seine Ziele eher ungünstig beurteilen, unterstellen ihm nicht die Absicht, selbst Tyrann zu werden, denn er hat wiederholt gute Gelegenheiten zu einem solchen Schritt nicht genutzt. Marta Sordi meint, er habe für sich eine außerordentliche, hinsichtlich der Befugnisse tyrannenähnliche Machtstellung angestrebt, die aber nicht auf nackter Gewalt beruhen sollte, sondern auf einem Konsens mit den Regierten. Sein Ziel sei eine von philosophischen Grundsätzen geprägte „aufgeklärte Tyrannis“ gewesen. Nach Helmut Berves Interpretation geriet Dion in eine Lage, in der er zu tyrannischen Maßnahmen Zuflucht nehmen musste, und wurde so zum „Tyrannen wider Willen“. Einigkeit besteht unter den Historikern darüber, dass die Ermordung des Herakleides – unabhängig von der Frage ihrer moralischen oder philosophischen Bewertung – ein verhängnisvoller Fehler war, der wesentlich zum Untergang Dions beitrug. Wirklichkeitsfremd war Dions Entscheidung, die syrakusische Flotte aufzulösen. Dieser rein innenpolitisch motivierte Schritt stand in Einklang mit Platons prinzipiellem, innenpolitisch begründetem Misstrauen gegen das See- und Flottenwesen. Für eine Hafenstadt und Seemacht wie Syrakus war das aber keine realistische Option. Lukas de Blois billigte Dion echten Reformwillen im Sinne einer platonischen Staatskonzeption zu. Die Ursache des Scheiterns sah de Blois vor allem in ökonomischen Faktoren. Er wies 1978 darauf hin, dass die Weigerung, einer Neuverteilung des Grundbesitzes – dem Hauptanliegen des Volkes – zuzustimmen, Dion der breiten Masse entfremdete und die Zwangsmaßnahmen zur Finanzierung der Söldnertruppe ihn die Unterstützung der Oberschicht kosteten, während Rückstände bei der Soldzahlung die Söldner demotivierten. So sei er schließlich ohne Rückhalt geblieben. Der Unterhalt ausreichender Söldnertruppen während eines so langen Zeitraums äußerer und innerer Auseinandersetzungen sei nicht finanzierbar gewesen. Belletristik und Essayistik William Wordsworth veröffentlichte 1820 sein 1817 verfasstes Gedicht Dion. in dem er einerseits Dions Feldzug auf der Basis von Plutarchs Schilderung verherrlichte, andererseits aber unethisches Verhalten des Politikers als Ursache seines Untergangs darstellte. Daher schließt das Gedicht mit der Bilanz, dass nur ein Vorhaben, das sowohl hinsichtlich der Ziele als auch hinsichtlich der Mittel einwandfrei sei, sich als segensreich erweise: Him alone pleasure leads, and peace attends, Him, only him, the shield of Jove defends, Whose means are fair and spotless as his ends. Ludwig Marcuse schrieb den Essay Plato and Dionysius. A Double Biography, der 1947 erschien. Darin stellt er Dion als Tyrannendiener dar „aus der Rasse jener reinen Toren, mit denen die Dionyse gerne zusammenarbeiten“. Der „edle, unliebenswürdige und beschränkte Dion“ sei seiner Beschränktheit zum Opfer gefallen. Diese bezeichnete Marcuse als „eine Unmoral, die verheerender ist als jene Bosheit, welche allein die Moralisten kennen“. Mary Renault publizierte 1966 den Roman The Mask of Apollo, in dem sie Dions Scheitern thematisierte. In diesem Werk erscheint Dion als Idealist, Philosoph und Patriot, der an den Verhältnissen scheiterte, die ihm ein konsequentes Festhalten an seinen Idealen nicht gestatteten. Literatur Helmut Berve: Dion. (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur (in Mainz). Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1956, Nr. 10). Franz Steiner, Wiesbaden 1957 Hermann Breitenbach: Platon und Dion. Skizze eines ideal-politischen Reformversuches im Altertum. Artemis, Zürich 1960 Kurt von Fritz: Platon in Sizilien und das Problem der Philosophenherrschaft. De Gruyter, Berlin 1968 Alexander Schüller: Warum musste Dion sterben? In: David Engels u. a. (Hrsg.): Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Herrschaft auf Sizilien von der Antike bis zum Spätmittelalter. Franz Steiner, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-515-09641-6, S. 63–89 Jürgen Sprute: Dions syrakusanische Politik und die politischen Ideale Platons. In: Hermes. Band 100, 1972, S. 294–313 Rezeption Lionel Jehuda Sanders: The Legend of Dion. Edgar Kent, Toronto 2008, ISBN 978-0-88866-657-4 Anmerkungen Grieche (Antike) Person (Sizilien) Herrscher (Syrakus) Tyrann (Sizilien) Platon Geboren 409 v. Chr. Gestorben 354 v. Chr. Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Alpenkr%C3%A4he
Alpenkrähe
Die Alpenkrähe (Pyrrhocorax pyrrhocorax) ist eine Vogelart aus der Familie der Rabenvögel (Corvidae). Die schwarz gefiederten Vögel mit schmalem, gebogenem rotem Schnabel waren während der letzten Kaltzeit in weiten Teilen Eurasiens beheimatet. Heute sind sie meist nur noch in den Gebirgen, Hochländern und Küstenregionen der Paläarktis und Äthiopiens anzutreffen. Insbesondere durch den Wandel der Landwirtschaft ab dem 19. Jahrhundert ging die Art in Europa noch weiter zurück. Ihr Habitat besteht aus Weideland und offenen Flächen mit niedriger, spärlicher Grasvegetation. Dabei ist die Alpenkrähe vor allem auf ein ausreichendes Angebot an Felsnischen zur Brut angewiesen. Sie ernährt sich vorwiegend von Samen und Beeren sowie von Insekten und anderen Wirbellosen. Die Art bildet monogame, lebenslange Brutpaare und baut ihr Nest für gewöhnlich auf überdachten Felsvorsprüngen, aber bisweilen auch in Gebäudenischen oder Tierbauten. Die Gelegegröße schwankt zwischen einem und sechs Eiern, meist legt das Weibchen drei bis fünf Eier. Die Erstbeschreibung der Alpenkrähe durch Carl von Linné stammt aus dem Jahr 1758. Ihre nächste Verwandte ist die Alpendohle (Pyrrhocorax graculus), mit der sie die Gattung der Bergkrähen (Pyrrhocorax) bildet. Insgesamt werden acht rezente und eine ausgestorbene Unterart unterschieden, ihre Abgrenzung ist aber oft problematisch. Zwar gilt die Alpenkrähe global als nicht bedroht, in Europa ist ihr Bestand allerdings weiterhin rückläufig. Die Art ist deshalb in mehreren Ländern Gegenstand von Schutzprogrammen. Merkmale Körperbau und Farbgebung Mit 38–41 cm Körperlänge gehört die Alpenkrähe zu den mittelgroßen Vertretern der Rabenvögel. Sie ist schlank gebaut und zeichnet sich vor allem durch ihre langen Beine und den schmalen, länglichen und gebogenen Schnabel aus. Wie für Bergkrähen typisch fehlt ihr die Täfelung der Beine, die bei anderen Rabenvögeln üblich ist. Die Nasalborsten sind äußerst kurz und bedecken nur knapp die Nasenlöcher. Weibchen sind im Mittel geringfügig kleiner als Männchen aus der gleichen Population. Am größten sind in der Regel Alpenkrähen im Himalaja, am kleinsten Vögel von den britischen Inseln. Gewicht und Größe nehmen generell mit der geographischen Breite und mit der Höhenlage zu. Weibchen erreichen je nach Region ein Gewicht von 230–390 g und eine Flügellänge von 266–323 mm. Der weibliche Schwanz misst 125–150 mm, ihr Schnabel wird (gemessen von Spitze bis Ansatz) 47–58 mm lang. Der Laufknochen weiblicher Vögel misst zwischen 48 und 56 mm. Männliche Alpenkrähen wiegen ausgewachsen zwischen 230 und 450 g und erreichen Flügellängen von 253–357 mm. Ihr Schwanz wird 120–166 mm lang. Der Schnabel adulter Männchen misst 51–70 mm, ihr Lauf hat eine Länge von 49–63 mm. In der Färbung bestehen zwischen Weibchen und Männchen keine Unterschiede. Beide Geschlechter besitzen ein tiefschwarzes, glänzendes Alterskleid, einen roten Schnabel und rote Beine. Der metallische Schimmer des eng anliegenden Gefieders ist je nach Population unterschiedlich stark ausgeprägt und kann bläulich oder grünlich sein. Mit der Zeit verlieren die Federn ihren Glanz und ihre Sättigung und bleichen ins Mattbraune aus, bevor sie bei der nächsten Mauser durch neue ersetzt werden. Schnabel und Beine sind bei ausgewachsenen Vögeln karminrot. Ihre Iris ist dunkelbraun, die Krallen schwarz. Jungtiere unterscheiden sich von Altvögeln durch ihr kürzeres und lockereres Gefieder. Ihnen fehlt der metallische Schimmer adulter Individuen und ihr Gefieder erscheint heller und schmutziger. Juvenile Alpenkrähen haben bis zum ersten Herbst einen eher orangen Schnabel, der deutlich kürzer ist als der ausgewachsener Individuen. Leichte Unterschiede zeigen sich auch bei den Krallen der Jungtiere, die eher dunkelbraun sind und eine helle Spitze aufweisen. Die rötliche Färbung von Schnabel und Beinen inspirierte verschiedene Legenden in der europäischen Folklore. So wurden die Vögel im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Großbritannien als die Wiedergänger Artus’ betrachtet, die vom Blut seiner letzten Schlacht noch immer rot gefärbt seien. Der britische Volksglaube verdächtigte sie wegen ihrer roten Schnäbel und Beine zudem als Brandstifter, was durch die Beobachtungen von brütenden Alpenkrähen bekräftigt wurde, die Zweige oder Stroh – vermeintliches Brennmaterial – in Gebäude trugen. Ihr charakteristisches Erscheinungsbild ließ die Alpenkrähe regional auch zum Wappenraben werden, etwa für Cornwall oder Thomas von Canterbury. Flugbild und Fortbewegung Alpenkrähen sind wendige und vielseitige Flieger. Von Alpendohlen unterscheiden sie sich im Flug vor allem durch die rechteckigen und tiefer gefingerten Flügel, den geraden Hinterrand des Schwanzes und den längeren Hals und Schnabel. Im Streckenflug fliegen sie zügiger als Raben und Krähen (Corvus spp.), ähneln diesen aber in ihren gleichmäßigen, kräftigen Flügelschlägen. Häufig verfällt die Alpenkrähe in akrobatische Flugmanöver. So vollführt sie beispielsweise Sturzflüge mit bis zu 100 km/h, die sie erst kurz vor dem Boden wieder abbremst. Die Tiere sind in der Lage, fast senkrecht nach oben oder gegen Wind der Stärke 9 anzufliegen. Ihre Flugmanöver vollführt die Alpenkrähe meist dicht an Felsklippen oder knapp über dem Boden, während die nahe verwandte Alpendohle dafür den offenen Luftraum bevorzugt. Auf dem Boden schreitet die Art mit gemessenem Schritt oder hüpft in großen Sprüngen. In Hast verfällt sie in den für Rabenvögel typischen Trippelschritt, wobei sie hüpft, mit beiden Beinen kurz hintereinander aufsetzt und dann wieder hüpft. Anders als viele Arten der Familie nutzt die Alpenkrähe kaum Bäume oder Büsche als Sitzwarten und verbringt den Großteil ihrer Zeit auf dem Boden. Lautäußerungen Pfeifende, zwitschernde oder quäkende Rufe prägen das Lautrepertoire der Alpenkrähe. Sie können gedehnt oder abgehackt, melodiös oder rau ausfallen, unterscheiden sich jedoch in der Regel deutlich von den krächzenden oder schäkernden Lautäußerungen anderer Rabenvögel. Viele Rufe der Art sind auch von der Alpendohle bekannt, erfüllen dort aber offenbar andere Funktionen in der Kommunikation. Das Vokabular der Alpenkrähe gilt als komplex, weil es sehr variabel ist und der gleiche Ruf je nach Kontext, Individuum oder Betonung unterschiedliche Botschaften transportieren kann. Ein häufiger Ruf ist der sogenannte Triller, der wie griää, tschiouu oder auch querschlägerartig tijaff klingen kann. Er ist hoch, gedehnt und endet meist abgehackt. In Unruhe lässt die Alpenkrähe ein kju vernehmen, das an Dohlen gemahnt. Bei Alarm oder im Streit verfällt sie in ein raues ker ker ker. Einen Balz- oder Reviergesang im eigentlichen Sinne besitzen Alpenkrähen nicht. Mitunter lassen sie aber einen leisen Subsong vernehmen, der trällernd und schwätzend Versatzstücke anderer Rufe aneinanderreiht. Verbreitung Pyrrhocorax-Fossilien finden sich bereits im späten Pliozän Europas, die Alpenkrähe lässt sich das erste Mal an der Plio-Pleistozän-Grenze (Villafranchium, etwa 2,6 mya) für das heutige Ungarn und Spanien nachweisen. Wie auch die Alpendohle war sie ein typischer Vertreter der Eiszeitfauna und bewohnte weite Teile der damals vorherrschenden Mammutsteppe von Gibraltar bis ins heutige Hessen und Tschechien. Durch das Vorrücken der Wälder im Holozän verschwand die Alpenkrähe weitgehend aus den gemäßigten Breiten. Vereinzelt wirkte die menschliche Weidewirtschaft dieser Entwicklung entgegen, indem sie offene Flächen schuf und erhielt und den Vögeln eine Nahrungsgrundlage in Form von Trockenrasen bot. Frühe naturgeschichtliche Werke deuten darauf hin, dass die Alpenkrähe im frühen 16. Jahrhundert noch ein weit größeres europäisches Areal als heute bewohnte. So wurde sie etwa von Valerius Cordus als Bewohner der Donaufelsen bei Kelheim und Passau erwähnt. Mit der Intensivierung der Landwirtschaft und dem Rückgang der Schafweidewirtschaft ab dem 19. Jahrhundert verschwand die Alpenkrähe vielerorts von ihren angestammten europäischen Brutplätzen. Die Verfolgung durch den Menschen trug zu dieser Entwicklung bei. So verschwand die Art in weiten Teilen der Alpen, der britischen Inseln und von allen Kanareninseln außer La Palma. Im Gegensatz dazu blieb die Art in Asien weitgehend unbehelligt und wird bis heute nicht verfolgt, auch die Weidewirtschaft ist dort noch weit verbreitet. Dementsprechend ist das asiatische Artareal der Alpenkrähe größer und geschlossener als das europäische. Das heutige Verbreitungsgebiet der Alpenkrähe zerfällt in drei Teile: ein großflächiges asiatisches Areal, eine Vielzahl zersplitterter und kleinräumiger Brutgebiete in Europa und Nordafrika sowie vier kleine Brutpopulationen im Äthiopischen Hochland. In Asien reicht die Verbreitung vom Gelben Meer über den Nordwesten Chinas, das südöstliche Sibirien und die Mongolei bis auf das mongolische und tibetische Plateau. Von dort aus folgt das Artareal den großen Gebirgsketten Südasiens, dem Himalaya, dem Hindukusch, dem Elburs und dem Zāgros-Gebirge westwärts bis in den Kaukasus und nach Anatolien. Die großen Trockensteppen und Wüsten werden von der Alpenkrähe gemieden. In der Türkei ist sie überwiegend entlang der südlichen Gebirgsketten anzutreffen. Westlich davon schließen sich einige kleinräumige Vorkommen in der Ägäis und auf dem Balkan an. Während die Alpenkrähe noch in weiten Teilen des Apennins und im Norden Siziliens brütet, ist sie aus den Ostalpen seit Jahrzehnten verschwunden. Nur in den Westalpen kommt sie noch vor. Entlang der europäischen Atlantikküsten in Irland, Großbritannien und Frankreich bestehen versprengte, aber weitgehend stabile Populationen. Mehr oder weniger flächendeckend kommt die Alpenkrähe nur in den Pyrenäen und auf der Iberischen Halbinsel vor. Jenseits der Straße von Gibraltar schließen sich Vorkommen im Atlas an, eine heute stark isolierte Population besteht darüber hinaus auf La Palma. Die Vorkommen im nördlichen und südlichen Hochland von Abessinien sind durch die Sahara und die arabischen Wüsten von den anderen Populationen getrennt. Alpenkrähen sind Standvögel und haben nur schwache Wanderungstendenzen. Im Winter verlassen einige Populationen die Gipfelregionen von Gebirgen und ziehen ins Tiefland und in die Täler hinab. Die Nahrungssuche veranlasst die Tiere bisweilen zu längeren Wanderungen, dabei legen sie aber selten mehr als zehn Kilometer zurück. Lebensraum Die Alpenkrähe bewohnt zwei verschiedene Habitattypen: einerseits weitläufige, offene Viehweiden mit Felsen in der näheren Umgebung und andererseits Steilklippen an den europäischen Westküsten. Als Nahrungshabitat sind Strände und magere, trockene Rasen (2–4 cm Höhe) mit hohem Insektenaufkommen wichtig. Im westlichen Teil des kontinentalen Verbreitungsgebiets sind dies seit dem Holozän vor allem Schafweiden, weiter östlich ist die Alpenkrähe auch auf Pferde- und Yakweiden zu finden. Abseits der Weidewirtschaft können Wind, Hanglage oder Sonneneinstrahlung dazu beitragen, dass geeignete Nahrungshabitate für die Art entstehen. Wichtig ist offenbar auch Trinkwasser im Lebensraum. Wo Brutmöglichkeiten in Felsen fehlen, nimmt die Alpenkrähe auch Nistplätze in Gebäuden an. Dabei kann es sich um Ruinen, moderne Betonbauten oder auch um bewohnte Häuser handeln, solange das Nest und seine nähere Umgebung ungestört bleiben. In Zentralasien sind die Vögel oft sogar in der Nähe von oder in Dörfern anzutreffen, in Westchina und der Mongolei sind sie vielerorts ganzjährige Bewohner von Städten. Dort fungieren meist innerstädtische Grasflächen als Nahrungsgründe. Die kontinentalen Lebensräume der Alpenkrähe liegen meist zwischen 2000 und 3000 m über Meereshöhe. Vereinzelt – etwa in Andalusien – nutzt die Art zwar auch tiefer gelegene Habitate, in höheren Lagen ist sie aber in aller Regel häufiger. Wo es der landschaftliche Raum zulässt, steigt sie oft noch weiter aufwärts. So ist sie im Himalaya im Sommer bis auf 6000 m anzutreffen, am Mount Everest wurden noch in 7950 m Höhe Individuen gesichtet. Lebensweise Ernährung Alpenkrähen sind wie die meisten Rabenvögel Allesfresser, ernähren sich aber vorwiegend von Insekten und anderen Wirbellosen. Der Magen der Art ist ein ausgeprägter Weichfressermagen, der auf die Verdauung weicher, flüssigkeitsreicher Nahrungsstücke ausgelegt ist. Ergänzt wird das Nahrungsspektrum vor allem durch Samen, Beeren und andere Früchte. Je nach Habitat und Jahreszeit können unterschiedliche Wirbellosen-Gruppen zur wichtigsten Nahrungsquelle werden. Häufig bilden Ameisen, Käfer oder Regenwürmer den Hauptbestandteil des Futters. Mit dem Rückgang der Insektenvorkommen im Herbst und Winter rücken zunehmend Getreidesamen und Beeren in den Vordergrund. Das Spektrum reicht dabei von Schlehen, Kreuzdorn-Beeren und Oliven über kultivierte Äpfel und Feigen bis hin zu Hafer oder Gerste. Bevorzugt wird offenbar Getreide, Früchte frisst die Alpenkrähe weniger gern als die Alpendohle. Vereinzelt fressen die Vögel auch Kleinsäuger wie Spitzmäuse, Eidechsen oder die Eier anderer Arten, dies bildet aber eher die Ausnahme. Im Gegensatz zur Alpendohle und zu den meisten anderen Arten der Familie meidet die Alpenkrähe Aas und menschliche Abfälle für gewöhnlich. Gliederfüßer und Regenwürmer erbeutet die Alpenkrähe vor allem, indem sie mit ihrem langen, dünnen Schnabel in der obersten Bodenschicht stochert. Ameisen picken die Vögel in sehr schneller Folge von der Erdoberfläche auf. Für die Nahrungssuche bevorzugt die Alpenkrähe vor allem feuchte Stellen im Rasen oder aufgewühlte und bloße Erde. Teilweise hebt sie auf der Suche nach Nahrung auch bis zu 20 cm tiefe Löcher aus. Steine und getrocknete Kotfladen wenden die Vögel, um an darunter lebende Wirbellose zu gelangen. Ihr Schnabel ermöglicht es der Alpenkrähe auch, in weichem Kot nach Insektenlarven zu stochern, ohne dabei das Gefieder zu beschmutzen. Nach Möglichkeit wird die Nahrung am Boden aufgenommen; nur wenn es die Situation erfordert, begibt sie sich auch ins Geäst von Büschen oder Bäumen. Oft versucht sie dann auch, Nahrung im Rüttelflug aufzuspüren. Dass überschüssige Nahrung versteckt wurde, konnte bisher nur bei Vögeln beobachtet werden, die in Volieren gehalten wurden. Die Alpenkrähe trinkt oft, vor allem nach Aufnahme klebriger oder zäher Nahrung. Sozial- und Territorialverhalten Alpenkrähen sind gesellige Vögel und leben die meiste Zeit des Jahres in kleinen Schwärmen. Verpaarte Individuen bleiben in der Regel in der Nähe ihres Partners und schließen sich Schwärmen gemeinsam an. Gelegentlich können Schwärme stark anwachsen und dann mehrere Hundert oder Tausend Vögel umfassen. Das kann das ganze Jahr über geschehen, in Europa aber meist im September und Oktober, wenn die ausgeflogenen Jungvögel hinzustoßen. In den Gruppen kann es zu aggressiven Auseinandersetzungen, Imponiergehabe oder akustisch einberufenen Ansammlungen kommen, gewalttätige Angriffe mit Verletzungen sind aber sehr selten. Konflikte werden meist durch Drohgesten des überlegenen Tiers (aufrechte Haltung von Oberkörper und Schnabel) beendet. Schwärme nächtigen für gewöhnlich gemeinsam und gehen auch geschlossen auf Nahrungssuche. Wo sich die Verbreitungsgebiete überlappen, sind Alpenkrähen gelegentlich mit Dohlen und Alpendohlen vergesellschaftet. Zur Konkurrenz und Auseinandersetzung kommt es dabei nicht, weil die Ernährungsweisen der Arten sehr unterschiedlich sind, auch Nistplatzkonkurrenz besteht in der Regel nicht. Seltener schließen sich Alpenkrähen mit größeren Rabenvögeln wie Aaskrähen (Corvus corone) oder Kolkraben (C. corax) zusammen. Fressfeinde werden von den Schwarmvögeln gemeinsam gehasst. Das begrenzte und oft gedrängte Nistplatzangebot veranlasst die Art gelegentlich dazu, in kleinen, lockeren Kolonien zu brüten. Die Brutpaare verteidigen dabei die unmittelbare Nestumgebung von wenigen Hundert Metern gegen Artgenossen, Nahrungsreviere werden dagegen nicht verteidigt. Fortpflanzung und Brut Brutpartner finden sich bei der Alpenkrähe in den Nichtbrüterschwärmen zusammen. Das Weibchen wird dabei vom Männchen mit einem Balztanz umworben, auf den Gefiederkraulen folgt. Anschließend bietet es dem Weibchen ein hochgewürgtes Nahrungsstück an. Auch nach der erfolgreichen Verpartnerung füttert das Männchen das Weibchen regelmäßig, wenn es von ihm dazu aufgefordert wird. Brutpaare, die das zweite Jahr überstanden haben, bleiben meist bis zum Tod eines Partners zusammen. Zur ersten Brut kommt es frühestens im Alter von zwei Jahren, erfolgreiche Brüter sind aber in aller Regel drei Jahre alt oder älter. Das Nest wird im Spätwinter von beiden Partnern gemeinsam gebaut und befindet sich, wenn möglich, abseits von den Nestern anderer Paare. Als Nistplätze werden überdachte Felsnischen und Schächte bevorzugt. Die Alpenkrähe ist aber kein Höhlenbrüter im eigentlichen Sinne, die Nestzugänge sind meist breit und offen, sodass das Nest im Flug erreicht werden kann. Neben Felsen werden lokal auch Lehmhänge, Fenstersimse, Dachstühle oder Schornsteine zur Brut verwendet. Voraussetzung ist, dass der Nistplatz ausreichend geschützt, zugänglich und ungestört ist. Das Nest besteht aus einer unförmigen Schüssel von bleistiftdicken, miteinander verwobenen Zweigen, die mittig mit Wolle, Haaren und Pflanzensamen gepolstert wird. Der Nestbau nimmt zwei bis vier Wochen in Anspruch. Die Gelege der Alpenkrähe bestehen aus einem bis sieben, meist drei bis fünf Eiern mit beiger bis hellbrauner Farbe und dunklen Sprenkeln. Das Weibchen legt sie in der Regel acht bis zehn Tage nach Abschluss des Nestbaus. In Eurasien findet das überwiegend zwischen Mitte April und Mai statt. Das Weibchen bebrütet die Eier alleine, während es vom Männchen mit Futter versorgt wird. Gelegentlich werden Artgenossen, wahrscheinlich Jungen aus Vorjahresbruten, als Bruthelfer tätig. Die Jungen schlüpfen nach 17–21 Tagen und werden nach 36–41 Tagen flügge. Nach dem Ausfliegen bleiben sie noch etwa 50 Tage im Familienverband, bevor sich die Familie einer größeren Gruppe von Artgenossen anschließt. Die Ausflugrate liegt auf den britischen Inseln (ohne Komplettverluste des Geleges) zwischen 42 und 76 %; die Totalverluste schlagen örtlich mit 32 % zu Buche. Neben Nesträubern kann auch der Befall der Gelege durch den Häherkuckuck (Clamator glanduarius) eine Ursache für das Scheitern von Bruten sein. Krankheiten und Mortalitätsursachen Zu den Fressfeinden der Alpenkrähe zählen Uhu (Bubo bubo), Wanderfalke (Falco peregrinus) oder auch Zwergadler (Hieraaetus pennatus). Örtlich wird sie vom Menschen auch immer noch als Schädling oder zu Sportzwecken abgeschossen. Im Gefieder der Art fanden sich unter anderem die Milbe Neotrombicula autumnalis sowie die Kieferläuse Bruelia biguttata, Philopterus thryptocephalus, je eine Menacanthus- und Myrsidea-Art sowie Gabucinia delibata. Bei letzterer ist umstritten, ob es sich um einen echten Parasiten oder um einen mutualistischen Symbionten handelt. Alpenkrähen mit G. delibata im Gefieder haben nach Feldstudien in der Regel eine bessere Kondition als Individuen, denen dieser Federling fehlt. Gegenüber Blutparasiten der Gattungen Plasmodium und Babesia zeigte die Art in Feldstudien eine äußerst geringe Anfälligkeit von 1 %. Vereinzelt führt jedoch der Luftröhrenwurm (Syngamus trachea) zu hohen Sterblichkeitsraten in Alpenkrähen-Populationen. Die Mortalitätsrate unter Vögeln einer schottischen Population lag in Untersuchungen im ersten Lebensjahr bei 29 %, im zweiten Lebensjahr bei 26 %. Der älteste Vogel, der in freier Wildbahn gefangen wurde, war ein 17 Jahre altes Männchen, das immer noch brütete. Ein unmarkiertes Weibchen lebte vermutlich 27 Jahre lang in Cornwall. Zoo- und Volierenvögel erreichten ein Alter von 28 und 31 Jahren, brüteten aber in den letzten Lebensjahren oft nicht mehr. Systematik und Taxonomie Die Erstbeschreibung der Alpenkrähe stammt aus der 10. Auflage der Systema Naturae von Linné aus dem Jahr 1758. Von Linné stellte sie aufgrund ihres länglichen, gebogenen Schnabels als Upopa Pyrrhocorax zu den Wiedehopfen, ordnete sie aber in der 12. Auflage der Gattung Corvus zu, die damals noch alle Rabenvögel umfasste. Marmaduke Tunstall errichtete schließlich 1771 die Gattung Pyrrhocorax für beide Bergkrähen und machte die Alpenkrähe durch Homonymie zu ihrer Typusart. Der Name Pyrrhocorax entstammt dem Altgriechischen und bedeutet mit Verweis auf die Bein- und Schnabelfarbe der Art so viel wie „feuerroter Rabe“. Mit ihrer Schwesterart, der Alpendohle (P. graculus), kann die Alpenkrähe Hybriden zeugen. Diese Vögel sind äußerlich eine Mischung aus beiden Arten und verfügen über das Vokabular von Vater und Mutter. Zu Hybridisierung kann es sowohl in Gefangenschaft als auch in freier Wildbahn kommen. Für die Alpenkrähe werden von den meisten Autoren heute eine ausgestorbene und acht lebende Unterarten anerkannt, die Unterschiede in Verhalten und Morphologie sind aber oft nur gering. DNA-gestützte phylogenetische Analysen liegen weder für Alpendohle und Alpenkrähe noch für die einzelnen Alpenkrähen-Unterarten vor. Untersuchungen, die Maße und Lautäußerungen verschiedener Populationen verglichen, fanden keine Unterschiede zwischen den europäischen Unterarten, ordneten die Vorkommen aus Tian Shan und Äthiopien aber als basal ein. Bestand und Status Auf Basis europäischer Bestandsschätzungen geht BirdLife International von 43.000–110.000 Brutpaaren in der Region aus, was in etwa 129.000–330.000 Individuen entspricht. Für China wird von 10.000–100.000 Brutpaaren ausgegangen. Auf Basis der europäischen Zahlen schätzt BirdLife den Weltbestand auf 263.000–1.320.000 Vögel, mahnt aber solidere Hochrechnungen an. In Europa waren die Bestände der Alpenkrähe zumindest bis in die 1980er Jahre rückläufig, seitdem ergeben sich keine klaren Trends. Ursache war vor allem der Verlust von geeigneten Brut- und Nahrungshabitaten. Im Gegensatz zur Alpendohle konnte sich die Alpenkrähe nicht an den Strukturwandel seit dem 19. Jahrhundert anpassen oder gar vom Gebirgstourismus profitieren. Leichte Bestandszuwächse sind auf den Britischen Inseln und der Iberischen Halbinsel zu verzeichnen. Anders als die meisten europäischen Vorkommen gelten die Populationen im Atlas, in Klein-, Zentral- und Ostasien als groß und weitgehend stabil. In ihrem asiatischen Areal gilt die Alpenkrähe als relativ, örtlich auch als sehr häufig. Die vier äthiopischen Brutvorkommen umfassen nach Hochrechnungen 1.000–1.300 Individuen und kommen entsprechenden Studien zufolge für eine Einstufung als gefährdet oder stark gefährdet in Frage. Umfangreiche Schutz- und Wiederansiedlungsprogramme wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem in Großbritannien unternommen. Dabei wurden Nisthilfen errichtet und die traditionelle Schafbeweidung gefördert, was unter Umständen mit zur Wiederansiedlung der Art im Süden Großbritanniens beitrug. Die Schweiz, die aktuell noch etwa 50 Brutpaare beherbergt, stuft die Alpenkrähe auf ihrer nationalen Roten Liste als stark gefährdet ein. Als wichtigste Faktoren für den Erhalt der europäischen Bestände gelten die Erhaltung von Trockenrasen und vergleichbaren Flächen sowie der Schutz vor touristischer Erschließung und direkter Verfolgung. Literatur Hans-Günther Bauer, Einhard Bezzel und Wolfgang Fiedler: Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas: Alles über Biologie, Gefährdung und Schutz. Band 2: Passeriformes – Sperlingsvögel. Aula-Verlag, Wiesbaden 2005. ISBN 3-89104-648-0. Guilleromo Blanco, José L. Tella: In: 54, 1997. doi:10.1006/anbe.1996.0465, S. 335–342. Guilleromo Blanco, José L. Tella, Jaime Potti: In: 28, 1997. S. 197–206. (). Guillermo Blanco, Santiago Merino, José L. Tella, Juan A. Fargallo, Alvaro Gajón: In: 33 (3), 1997. S. 642–645. Mark Cocker, Richard Mabey: Chatto & Windus, London 2005. ISBN 0-7011-6907-9. Stanley Cramp, Christopher M. 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https://de.wikipedia.org/wiki/Tom%20Pryce
Tom Pryce
Thomas „Tom“ Maldwyn „Mald“ Pryce (* 11. Juni 1949 in Ruthin, Wales; † 5. März 1977 in Midrand, Südafrika) war ein britischer Automobilrennfahrer. Er gilt als erfolgreichster Waliser im internationalen Motorsport. Pryce begann seine Karriere 1969 mit verschiedenen Veranstaltungen für Fahrzeuge der Formel Ford, an denen er bis 1970 teilnahm. Zwischen 1971 und 1973 startete er erfolgreich in einigen Nachwuchsserien in den Reglements Formel Atlantic, Formel 3 und Formel Super V. 1973 und 1974 fuhr er in der Formel-2-Europameisterschaft. 1974 debütierte er mit Token in der Formel 1 und fuhr bis 1977 insgesamt 42 Grands Prix sowie sechs weitere Rennen ohne Weltmeisterschaftsstatus, von denen er eines gewann. Im Gegensatz zu vielen seiner Fahrerkollegen beteiligte sich Pryce kaum an anderen Meisterschaften – er startete nur zweimal erfolglos bei Veranstaltungen der Sportwagen-Weltmeisterschaft auf dem Nürburgring und nahm einmalig an einer Rallye teil. Im März 1977 verunglückte Pryce beim Großen Preis von Südafrika auf dem Kyalami Grand Prix Circuit tödlich. Familie und Privatleben Herkunft und Jugend Tom Pryce wurde 1949 als Sohn des Polizeibeamten Jack Pryce und dessen Frau Gwyneth (geborene Hughes), die als Bezirkspflegekraft arbeitete, in Ruthin geboren und wuchs im Dorf Nantglyn nahe Denbigh sowie später in Towyn nahe Rhyl an der walisischen Nordostküste auf. Sein älterer Bruder David starb im Kleinkindalter, weshalb Tom Pryce als Einzelkind aufwuchs. Ursprünglich wollte er Flugzeugpilot werden, doch sah er sich selbst als „nicht intelligent genug“ für diesen Beruf und entschloss sich stattdessen zu einer Rennfahrerkarriere. Als Jugendlicher bewunderte er die Lotus-Fahrer Jim Clark und Jochen Rindt und reagierte bestürzt auf die tödlichen Unfälle seiner Idole. Pryce besuchte die Ysgol-Frongoch-Grundschule in Denbigh und anschließend eine weiterführende Schule. Er arbeitete kurzzeitig für North Wales Agricultural Engineers in St Asaph als Traktormechaniker, nachdem er auf Anraten seiner Mutter, die einen „Plan B“ im Falle eines Scheiterns als Rennfahrer wünschte, eine entsprechende Lehre am Llandrillo Technical College abgeschlossen hatte. Während er in der Sportwelt unter dem Spitznamen Tom bekannt war, riefen ihn Freunde und Familie in Wales meist Mald nach seinem Zweitnamen Maldwyn. Persönliches Tom Pryce galt zeitlebens als ruhige, heimatverbundene und trotz seiner Erfolge stets bescheiden gebliebene Persönlichkeit. Er hielt nicht viel vom „Formel-1-Zirkus“ und unterstützte stattdessen seine Mechaniker bei der Arbeit an den Fahrzeugen, was im Kontrast zum „Playboy-Image“ stand, das viele seiner Fahrerkollegen pflegten. Eine enge Freundschaft verband ihn mit seinem britischen Landsmann und Kontrahenten John Watson, der viele seiner Ansichten teilte und ihm ein „vielen seiner Mit-Fahrer weit überlegenes Talent“ bescheinigte. Als persönliches Vorbild nannte Pryce den dreifachen Weltmeister Jackie Stewart sowie 1975 seinen Fahrerkollegen Ronnie Peterson. Pryce fiel durch seine überdurchschnittliche Fahrzeugbeherrschung auf und galt zeitweise auf regennasser Strecke als einer der besten Rennfahrer der Welt. Obwohl in späteren Jahren viele seiner Fahrerkollegen aufwendigere Helmdesigns trugen, blieb Tom Pryce auch hier bescheiden und minimalistisch. Zu Beginn seiner Karriere startete er mit einem rein weißen Helm, bis er 1970 auf Bitten seines Vaters, der ihn in einer Gruppe von Fahrern nur schwer identifizieren konnte, fünf schwarze Streifen auf der Helmvorderseite hinzufügte. 1974 kam noch die Flagge von Wales auf den Helmseiten hinzu. Diese Gestaltung blieb in den folgenden Jahren praktisch unverändert, vereinzelt erschien sein Helm aber auch mit an den Hauptsponsor des Teams angelehnten rot-orange-gelben Streifen anstelle der Flagge. Pryce war seit 1975 mit Fenella „Nella“ Warwick-Smith verheiratet, die er 1973 in einer Disco kennengelernt hatte und die ihn oft an die Strecke begleitete. Das Paar blieb kinderlos. Karriere Anfänge mit Amateurrennen (bis 1970) Tom Pryce fuhr 1969 mit 20 Jahren im Mallory Park sein erstes Rennen. Sein Mentor zu dieser Zeit war Trevor Taylor, der zwischen 1961 und 1966 an insgesamt 27 Formel-1-Rennen teilgenommen hatte. Pryce startete im Frühjahr 1970 bei Rennen der Daily Express Crusader Championship, einer kostengünstigen Einsteigermeisterschaft im Formel-Rennsport für Amateurrennfahrer, die mit Lotus-51-Einheitsfahrzeugen im Reglement der Formel Ford abwechselnd auf den Rennkursen in Silverstone und Brands Hatch ausgetragen wurde. Der Titel war hart umkämpft und die Entscheidung zog sich bis zum letzten Rennen hin, das im Rahmenprogramm der BRDC International Trophy, einem jährlich ausgetragenen Formel-1-Rennen ohne Weltmeisterschaftsstatus, in Silverstone stattfand. Bei zunehmendem Regen ließ Pryce bereits früh seine Sicherheit auf nasser Strecke erkennen und gewann das Rennen und damit auch die Meisterschaft. Er erhielt den als Siegprämie ausgeschriebenen Lola T200 für die Formel Ford sowie vom Sponsor der Veranstaltung ein Jahr finanzielle Unterstützung zum Start seiner Karriere. Pryce zog daraufhin nach Dartford in die Nähe der Rennstrecke Brands Hatch, nahm dort weiter an Amateurrennen teil und besuchte die dortige Rennfahrerschule. Der Besitz eines eigenen Rennwagens erleichterte Pryce die Teilnahme an vielen lokalen Veranstaltungen dieser Rennklasse sehr. Dort konnte er Erfahrung sammeln und auf sich aufmerksam machen. Anfang 1971 erkannte der Besitzer des britischen Sportwagenherstellers Royale Racing Cars, Bob King, das Talent des Nachwuchsfahrers und vermittelte Pryce in den nächsten zwei Jahren Cockpits bei Teams in verschiedenen Rennklassen. Dadurch trug er maßgeblich zu Pryce’ steilem Aufstieg aus den britischen Juniorklassen in den internationalen Motorsport bei. Aufstieg durch die Nachwuchsformeln (1971–1974) 1971–1972: Mit Royale in die Formel 3 Pryce gewann 1971 mit einem Royale RP4 die Formel F100, eine zu Beginn der 1970er-Jahre in Großbritannien ausgetragene Juniorenmeisterschaft, deren Sportwagenrennen den Monopostos der Formel Ford gleichwertig waren und vergleichbare Leistungsmerkmale zeigten. Parallel dazu nahm er mit einem Royale RP9 an Rennen der britischen Formel Super V teil und gewann auch diese Meisterschaft. Das veranlasste Bob King, im Frühjahr 1972 mit seinem Royale-Team den Aufstieg in die Formel 2 zu planen. Manfred Schurti, der über zahlungskräftige Sponsoren aus seiner Heimat Liechtenstein verfügte und nach einem Team für die Teilnahme an der Formel-2-Europameisterschaft suchte, konnte für das Projekt als Fahrer und Hauptfinanzier gewonnen werden. King beabsichtigte, mit Schurti und Pryce als Fahrer in der zweiten Jahreshälfte 1972 in die Formel 2 einzusteigen. Pryce wurde im März 1972 auf Kings Vermittlung von D.J. Bond Racing, die Royale-Chassis einsetzten, als Stammfahrer für die britische Formel-3-Meisterschaft engagiert. Pryce gewann das Rennen, das Teil der Rahmenveranstaltung für das Race of Champions in der Formel 1 war, so überlegen, dass die Konkurrenz ihn verdächtigte, mit einem untergewichtigen Auto gestartet zu sein. Die Vorwürfe erwiesen sich aber als nichtig, da sich herausstellte, dass eine falsch kalibrierte Waage für alle Fahrzeuge ein Untergewicht ausgewiesen hatte. Beim Formel-3-Lauf auf dem Circuit de Monaco wurde Pryce in einen schweren Unfall verwickelt: Während seiner Qualifikationsrunde hatte er Schwierigkeiten mit seinem Wagen und kam kurz vor der Casino-Kurve zum Stehen. Der schnell heranfahrende Peter Lamplough sah das Fahrzeug durch die sichtbehindernde Massenet-Kurve wenige Meter davor zu spät und kollidierte mit ihm. Tom Pryce war zwischenzeitlich ausgestiegen und wurde zusammen mit seinem Royale nach hinten durch ein Schaufenster geschleudert. Er zog sich dabei einen Beinbruch zu, trug aber keine bleibenden Verletzungen davon und konnte bald darauf wieder an Rennen teilnehmen. Zwischenzeitlich waren die Formel-2-Pläne von Bob King in eine Sackgasse geraten. Nachdem im Herbst 1972 nur ein Prototyp des als Royale RP20 bezeichneten Wagens fertiggestellt werden konnte und es keine konkreten Fortschritte beim Aufbau der benötigten Team-Infrastruktur gab, zeichnete sich das Scheitern des Projektes ab. Da Schurti begann, sich nach Alternativen umzusehen und Kings finanzielle Mittel zur Neige gingen, ließ er Pryce wieder in der niedrigeren Formel Super V starten. 1973–1974: Erfolge in der Formel Atlantic und Formel-2-Fahrer für Rondel Racing, Harper und Baty In der ersten Jahreshälfte 1973 bestritt Pryce für D.J. Bond Racing Rennen in der zwischen Formel 3 und Formel 2 angesiedelten Formel Atlantic und erzielte dort gute Ergebnisse. Das erregte die Aufmerksamkeit des Geschäftsmannes und ehemaligen Rennfahrers Chris Meek, der Pryce daraufhin finanziell unterstützte und ihm mit Sponsorengeldern seines Unternehmens Titan Properties zur Mitte der Saison ein Cockpit bei Rondel Motul Racing in der Formel-2-Europameisterschaft verschaffte. An diesem Projekt wirkten unter anderem der ehemalige Brabham-Ingenieur Neil Trundle sowie der spätere McLaren-Teamchef Ron Dennis mit. Pryce erzielte mit dem als Motul M1 bezeichneten Wagen trotz dessen schwieriger Fahreigenschaften – der M1 neigte zu starkem Übersteuern und litt unter vielen kleineren mechanischen Problemen und Unsauberkeiten – einige Achtungserfolge; unter anderem führte er das Rennen auf dem Norisring lange Zeit an, bis er mit nachlassenden Bremsen zurückfiel und hinter seinem Teamkollegen Tim Schenken Zweiter wurde. Pryce belegte mit elf Punkten am Saisonende den zehnten Rang in der Fahrermeisterschaft. Zudem erhielt er im Oktober 1973 den Grovewood Award. Mit diesem seit 1963 von einer Jury von Motorsportfunktionären vergebenen Preis wurden die vielversprechendsten Nachwuchs-Rennfahrertalente Großbritanniens gekürt. Pryce bekam zusätzlich zur Ehrung ein Fördergeld von 1.000 Pfund ausbezahlt. Ende 1973 bereitete Ron Dennis ein Engagement seines Rondel-Teams mit Tim Schenken als Fahrer in der Formel-1-Saison 1974 vor. Für Tom Pryce war die Rolle des Ersatzfahrers vorgesehen. Da der Sponsor Motul das Projekt unerwartet zugunsten des bereits in der Formel 1 etablierten Rennstalls British Racing Motors verlassen hatte und sich aufgrund der Ölkrise 1973 kurz darauf auch der letzte verbliebene Sponsor Shell plc zurückzog, gab Dennis seine Pläne auf, verkaufte große Teile des Inventars und trat aus dem Team aus. Die Geschäftsleute Tony Vlassopulos und Ken Grob, schon vorher Anteilseigner, übernahmen das Team daraufhin vollständig und ließen den Formel-1-Rennwagen bis zum Frühjahr 1974 fertigstellen. Tom Pryce wurde Stammfahrer des nun als Token Racing bezeichneten Rennstalls, da Tim Schenken in der Zwischenzeit zu Trojan–Tauranac Racing gewechselt war. Pryce setzte sein Formel-2-Engagement parallel zur Formel 1 noch bis Saisonende fort und fuhr Chevron-B27-Fahrzeuge für die Teams Harper und Baty. Das beste Ergebnis hierbei war ein dritter Platz auf dem Autodromo Internazionale del Mugello. Er belegte am Saisonende mit neun Punkten den neunten Platz der Fahrerwertung. Formel 1 (ab 1974) 1974: Debüt und Trainingserfolg Pryce wurde von Token Racing für die nach dem Reglement der Formel 1 ausgetragene BRDC International Trophy gemeldet, die im April 1974 auf dem Silverstone Circuit stattfand und nicht zur Formel-1-Weltmeisterschaft zählte. Das Debüt für Team und Fahrer geriet zum Desaster: Der Token RJ02 war nicht konkurrenzfähig und Pryce, der keinerlei Erfahrung mit dem Fahrzeug hatte, fuhr in der Qualifikation 26 Sekunden langsamer als der von der Pole-Position startende James Hunt im Hesketh. Da im Gegensatz zu den gewerteten Läufen der Meisterschaft keine festgelegte Maximalrundenzeit zur Teilnahme unterschritten werden musste, konnte Pryce trotzdem starten, fiel aber bereits in der 15. Runde mit Getriebeschaden aus. Trotz dieses Misserfolges reiste er mit Token auch zum folgenden Großen Preis von Belgien an. Bei seinem ersten gewerteten Rennen behauptete sich Pryce besser und qualifizierte sich auf Startplatz 20 von 31, musste aber das Rennen vorzeitig beenden, nachdem er mit Jody Scheckters Tyrrell kollidiert war. Beim Großen Preis von Monaco verwehrten die Veranstalter dem als „zu unerfahren“ bezeichneten Pryce die Starterlaubnis. Als Reaktion darauf ließ Token-Besitzer Tony Vlassopulos ihn für sein Team Ippokampos Racing anstelle von Buzz Buzaglo im vorausgehenden Formel-3-Rennen starten. Pryce gewann mit fast 21 Sekunden Vorsprung überlegen vor Tony Brise; die Veranstalter änderten ihre Meinung aber nicht. Das Team erschien danach einige Zeit zu keinen Formel-1-Rennen mehr. Trotz des nicht erfolgreichen Engagements bei Token hatten die Leistungen von Pryce gerade in den unteren Rennklassen Eindruck hinterlassen und mehrere Formel-1-Teams unterbreiteten Vertragsangebote. Graham Hill, John Surtees und Frank Williams wurden auf Pryce aufmerksam und sahen in ihm einen möglichen Kandidaten für ein Formel-1-Cockpit bei ihren Teams. Shadow-Teamchef Alan Rees, wie Pryce Waliser, hatte den Besitzer des Rennstalls, Don Nichols, überzeugt, Pryce für das nach dem tödlichen Unfall von Peter Revson und den nur kurzweiligen Engagements von Brian Redman und Bertil Roos wieder freigewordene zweite Cockpit anzuwerben. Außerdem erhielt Pryce von Hesketh Racing die Möglichkeit, zu vereinzelten Rennen mit einem Zweitwagen neben Stammfahrer James Hunt anzutreten. Letztlich entschied sich Pryce für Shadow und wurde dort Teamkollege von Jean-Pierre Jarier. Mit dem konkurrenzfähigeren Shadow DN3 konnte Pryce zum ersten Mal um Punkte kämpfen. Er debütierte für das Team im Juni 1974 beim Großen Preis der Niederlande und qualifizierte sich auf den elften Startplatz, nur 0,4 Sekunden hinter Jarier. Pryce schied aber schon in der ersten Runde nach einer Kollision mit James Hunts Hesketh aus. In Frankreich war Pryce in der Qualifikation eine halbe Sekunde schneller als sein Teamkollege, musste das Rennen aber wieder in der ersten Runde beenden, nachdem er erneut mit Hunt kollidiert war. Beim Heimrennen in Großbritannien fuhr Pryce im Training die schnellste Rennrunde und gewann damit einen vom Veranstaltungssponsor Evening News ausgesetzten Preis von 100 Flaschen Champagner. Seinen ersten und einzigen WM-Punkt der Saison erzielte Pryce in Deutschland. So beendete er seine Debütsaison bei Punktegleichstand mit Vittorio Brambilla und Graham Hill auf dem 18. Platz in der Fahrerwertung. Gegen seinen erfahreneren Teamkollegen, der Vierzehnter wurde, konnte er sich nicht durchsetzen. 1975: Triumph im Regen Zu Beginn der Formel-1-Saison 1975 schien sich eine große Chance für Pryce zu ergeben: Colin Chapman hatte den steilen Aufstieg von Pryce in den Vorjahren aufmerksam verfolgt, bescheinigte ihm das gleiche Talent zum Spitzenfahrer wie Ronnie Peterson und sah in Pryce den idealen Fahrer, das in sportlichen wie finanziellen Schwierigkeiten befindliche Team Lotus wieder zum Erfolg zu führen. Chapman schlug Shadow um Teamchef Alan Rees einen Tausch der Fahrer vor – Pryce solle bei niedrigeren Gehaltskosten bei Lotus zum Weltmeister aufgebaut werden, während Peterson das noch junge Shadow-Team durch seine Erfahrung und Beliebtheit bei den Sponsoren bei der endgültigen Etablierung in der Formel 1 unterstützen könne. Der Tausch fand trotz guter Vorzeichen jedoch nicht statt und beide Fahrer blieben bei ihren Teams. Die ersten drei Saisonrennen bestritt Pryce noch mit dem DN3 des Vorjahres, danach stieg er auf den neuen Shadow DN5 um. Der Wagen war schnell, aber defektanfällig, was sowohl Pryce als auch Jarier, der bei den beiden Eröffnungsrennen in Argentinien und Brasilien zweimal in Führung liegend aufgeben musste, häufig gute Ergebnisse zunichtemachte. Um die Zeit bis zum Europaauftakt zu überbrücken, fand im März 1975 das Race of Champions in Brands Hatch statt, an dem ein Großteil des Fahrerfeldes teilnahm. Das Rennen zählte nicht zur Weltmeisterschaft. Bei nasskaltem Wetter fuhr Pryce überlegen auf die Pole Position und gewann das Rennen mit einer halben Minute Vorsprung vor John Watson. Er hält damit den Rekord, der erste Waliser zu sein, der bei einem Rennen mit Formel-1-Fahrzeugen siegte. Im weiteren Saisonverlauf zeigte Pryce immer wieder gute Leistungen. In Monaco qualifizierte er sich auf nasser Strecke auf den zweiten Startplatz hinter Niki Lauda, fiel aber nach einer Kollision mit Vittorio Brambilla aus. Beim Großen Preis von Großbritannien in Silverstone startete Pryce von der Pole Position und hatte sich nach einem schlechten Start zwischenzeitlich wieder auf den ersten Platz vorgearbeitet, als unerwartet einsetzender Regen den Asphalt plötzlich rutschig machte und er durch Unfall ausschied. Den Großen Preis von Deutschland auf der Nordschleife des Nürburgrings beendete Pryce auf dem vierten Platz, nachdem auf zweiter Position liegend durch einen undichten Tankverschluss Benzin ins Cockpit ausgelaufen war. Er öffnete deswegen während der Fahrt seine Gurte, um sich bei jeder Gelegenheit so weit wie möglich aus dem Cockpit zu heben. Da das Benzin bei jeder der vielen Bodenwellen der Nordschleife hochschwappte, musste Pryce sein Renntempo deutlich verringern. So blieb der dritte Rang beim Großen Preis von Österreich sein bestes Saisonergebnis. Insgesamt beendete Pryce die Weltmeisterschaft 1975 mit acht Punkten auf dem zehnten Platz der Fahrerwertung und lag damit deutlich vor seinem Teamkollegen Jarier, der nur 1,5 Punkte erzielt hatte. Im September 1975 fuhr Pryce einmalig ein Rennen in der SCCA/USAC Formula 5000 Championship, die als nordamerikanische Variante der Formel 1 galt. Er wurde von seinem Team mit einem Shadow DN6 für das Rennen auf dem Long Beach Grand Prix Circuit gemeldet und fuhr lange um den Sieg mit, bis er mit technischen Problemen an seinem Fahrzeug aus dem Rennen ausschied. Weiter nahm er im Dezember gleichen Jahres an der Tour of Epynt, einer Rallye in Wales, teil. Pryce hatte keinerlei Rallye-Erfahrung und startete mit dem späteren Formel-1-Funktionär David Richards als Beifahrer mit einem geliehenen Lancia Stratos HF. Das Duo verunfallte aber schon während der ersten Etappe, als Pryce mit dem Wagen von der Straße abkam, eine Mauer durchbrach und beinahe in einen Fluss stürzte. Richards verletzte sich dabei am Knie und musste im Krankenhaus behandelt werden. Trotzdem starteten Pryce und Richards später noch einmal zu einer Etappe und wurden dafür von den einheimischen Fans gefeiert. 1976: Mehr Punkte im schwächeren Wagen Tom Pryce begann die Formel-1-Saison 1976 mit dem Shadow DN5B. Beim Großen Preis von Brasilien holte Pryce als Dritter die zweite und letzte Podestplatzierung seiner Karriere. Beim folgenden Rennen in Südafrika verfehlte er als Siebter Punkte nur knapp, während er in Long Beach an dritter Stelle liegend wegen eines Defekts aufgeben musste. Zum Europaauftakt der Saison fielen seine Leistungen ab. Die Konkurrenz war im Gegensatz zu Shadow zu den Überseerennen auf dem amerikanischen Doppelkontinent wegen der langen Transportzeiten und der frühen Austragungstermine im Januar und Februar häufig mit Vorjahresfahrzeugen angetreten und brachte dann im Frühling zu den Rennen auf dem heimischen Kontinent verbesserte bzw. Neufahrzeuge an den Start. Für Shadow war das nicht möglich, da sich die Fertigstellung des neuen Shadow DN8 bis in den Spätsommer hinzog. Das Ausscheiden des Chefdesigners Tony Southgate sowie die Trennung vom Hauptgeldgeber UOP zum Saisonbeginn wirkten sich sehr negativ auf die weitere Fahrzeugentwicklung während der Saison aus. Pryce punktete mit dem DN5B nur noch einmal beim Großen Preis von Großbritannien. Ab dem Rennen in den Niederlanden stand für Pryce ein DN8 zur Verfügung. Der neue Wagen war aber nicht so konkurrenzfähig war wie erhofft. Beim Debüt des neuen Wagens holte Pryce als Vierter drei WM-Punkte. Weitere Erfolge gelangen ihm nicht. Der Grand Prix von Japan, das Saisonfinale 1976, war durch Starkregen, bei dem an einen regulären Rennbetrieb kaum mehr zu denken war, beeinflusst. Pryce arbeitete sich im Rennverlauf bis auf den zweiten Rang vor, verlor die sicher scheinende Podiumsplatzierung aber durch einen technischen Defekt. Trotz des im Vergleich zum Vorjahr schwächeren Fahrzeugs erzielte Pryce 1976 mit zehn Punkten zwei Zähler mehr als 1975, belegte damit aber nur den zwölften Platz der Fahrerwertung. Sein Teamkollege Jarier blieb punktelos. Shadow-Teamchef Trevor Foster äußerte, dass Colin Chapman Mitte 1976 erneut versucht habe, Pryce von einem Teamwechsel zu überzeugen. 1977: Die letzten Grands Prix Anfang des Jahres 1977 war Tom Pryce nach 1975 und 1976 zum dritten Mal der Wunschkandidat von Colin Chapman für das zweite Lotus-Cockpit – er wollte ihn nun anstelle des Schweden Gunnar Nilsson verpflichten. Der Wechsel kam aber wieder nicht zustande und scheiterte unter anderem an der Loyalität von Pryce zu Shadow. Zum Jahresende plante Chapman einen vierten Versuch, Pryce anzuwerben, da dessen Vertrag mit seinem Team nur bis zum Saisonende 1977 lief. Pryce wäre bei einem Wechsel zu Lotus in der Formel-1-Saison 1978 Teamkollege von Mario Andretti geworden und hätte mit den Lotus 78 bzw. Lotus 79 über die schnellsten Fahrzeuge im Feld verfügt, was einer realistischen Chance auf den Meistertitel gleichgekommen wäre. Für die Formel-1-Saison 1977 bekam Pryce bei Shadow mit Renzo Zorzi einen neuen Teamkollegen, nachdem Jean-Pierre Jarier das Team zum Saisonende 1976 frustriert verlassen hatte. Pryce qualifizierte sich für die Saisoneröffnung in Argentinien als Neunter, während Zorzi vom letzten Platz startete. Das Rennen auf dem Autódromo Juan y Oscar Alfredo Gálvez mussten beide Fahrer vorzeitig beenden. Beim folgenden Rennen in Brasilien zwang ein technischer Defekt den auf dem zweiten Rang liegenden Pryce zur Aufgabe. Beim dritten Saisonlauf, dem Großen Preis von Südafrika 1977, verunglückte Tom Pryce tödlich. Zuvor hatte er im Training bei nasskaltem Wetter noch die Tagesbestzeit aufgestellt. Da er bis zu diesem Zeitpunkt kein Rennen innerhalb der Wertung beendet hatte, wurde er in der Fahrer-Weltmeisterschaft nicht mehr klassifiziert. Sein Nachfolger bei Shadow wurde der Australier Alan Jones. Unfall und Tod Die vielversprechende Karriere des beliebten und als späterer Weltmeister angesehenen Tom Pryce nahm am 5. März 1977 beim Großen Preis von Südafrika auf dem Kyalami Grand Prix Circuit ein tragisches Ende. Pryce befand sich in seinem Shadow DN8 in Runde 21 auf dem 13. Platz im direkten Duell mit Hans-Joachim Stuck, als er tödlich verunglückte. Grund war das leichtsinnige Verhalten zweier Streckenposten, die die Start-Ziel-Gerade kurz hinter dem Streckenabschnitt The Kink rennend zu überqueren versuchten. Pryce’ Teamkollege Renzo Zorzi hatte seinen DN8 wegen einer Motorstörung am linken Streckenrand abstellen müssen und war dabei, sein Fahrzeug zu verlassen, als sich kleine Mengen Kraftstoff, die durch einen Defekt an der Benzinleitung ausgetreten waren, am noch heißen Motor entzündeten. Dadurch kamen immer wieder Flammen unter der Motorabdeckung hervor. Als Zorzi sie bemerkte, geriet er in Panik, da es ihm zunächst nicht gelang, den Luftschlauch von seinem Helm zu lösen, um sich vom Fahrzeug zu entfernen. Die zwei Streckenposten, darunter der 19-jährige Fredrik Jansen van Vuuren, standen auf der gegenüberliegenden Seite an der Boxenmauer und wollten eingreifen. Ohne Erlaubnis ihres Vorgesetzten betraten sie die Rennstrecke. Beide trugen jeweils einen ca. 18 kg schweren Feuerlöscher. Während sein Kollege bereits die Strecke überquert hatte, befand sich Van Vuuren etwa in der Mitte der Fahrbahn, als sich Stuck, Pryce sowie weitere Fahrer mit hoher Geschwindigkeit näherten. Da die Boxengasse und der Start-Ziel-Bereich auf einer Kuppe lagen, konnten die Fahrer während der Auffahrt die Streckenposten auf der Geraden und diese wiederum die Fahrer bis wenige Sekunden vor dem Unfall nicht sehen. Pryce befand sich direkt hinter Stuck, was seine Sicht nach vorn zusätzlich einschränkte. Als Stuck über den Kamm fuhr und die Streckenposten erblickte, zog er nach rechts und verfehlte Van Vuuren nur um Zentimeter. Pryce aber hatte keine Chance mehr auszuweichen und erfasste Van Vuuren mit etwa 280 km/h – der Streckenposten wurde durch die Luft geschleudert und war nach dem Aufprall auf dem Asphalt auf der Stelle tot. Sein Feuerlöscher traf Pryce und riss ihm den Helm vom Kopf. Pryce erlitt dadurch schwerste Kopfverletzungen und starb vermutlich Sekundenbruchteile nach dem Unfall. Sein Wagen fuhr nun steuerlos weiter die Start-Ziel-Gerade entlang, touchierte auf der rechten Seite eine Leitplanke und kollidierte schließlich in der ersten Kurve (Crowthorne) mit dem Ligier von Jacques Laffite. Die beiden Fahrzeuge kamen im angrenzenden Kiesbett zum Stehen, Laffite blieb unverletzt. Nachwirkung und Würdigung Tom Pryce gilt neben Roger Williamson und Tony Brise als Teil der „verlorenen Generation“ britischer Nachwuchs-Rennfahrer, denen großes Talent nachgesagt wurde und die noch am Anfang ihrer Karrieren stehend ihr Leben verloren. Neben dem gesamten Formel-1-Umfeld wurde Pryce’ Tod insbesondere in seiner Heimat Wales mit großer Bestürzung aufgenommen. Die Familie des ebenfalls beim Unfall umgekommenen Streckenpostens Fredrik Jansen van Vuuren zog gegen den Rennveranstalter erfolgreich vor Gericht, da Van Vuuren nicht ausreichend geschult worden sei und widersprüchliche Instruktionen erhalten habe, die zum Unglück führten. Außerdem wurden neue Sicherheitsrichtlinien verabschiedet, um zu verhindern, dass Streckenposten an nicht einsehbaren Stellen die Rennstrecke überqueren. Pryce wurde auf dem Kirchenfriedhof der St Bartholomews Church in Otford nahe Sevenoaks in der Grafschaft Kent in England bestattet. Eine lange Gerade auf der 2007 neu erbauten Motorsportrennstrecke Anglesey Circuit auf der gleichnamigen Insel im Norden von Wales wurde nach Tom Pryce benannt. Dort fand im Juli 2019 auch eine ihm gewidmete Veranstaltung mit historischen Fahrzeugen statt. Die Organisation Welsh Motoring Writers verleiht zudem jährlich die Tom Pryce Memorial Trophy an Personen oder Institutionen, die sich außerordentlich im Bereich Transport für Wales engagiert haben. Am 11. Juni 2009, an dem Pryce 60 Jahre alt geworden wäre, wurde in seiner Geburtsstadt Ruthin ihm zu Ehren unter Mitwirkung des einflussreichen Motorsportfunktionärs David Richards ein Denkmal enthüllt. An der Zeremonie nahmen unter anderem Pryce’ Mutter Gwyneth und seine Witwe Nella Pryce teil. Im Jahr 2019 fand an Pryce’ ehemaliger Grundschule eine Informationsveranstaltung statt, bei der ein ehemals von Pryce gefahrenes Formel-Ford-Fahrzeug ausgestellt wurde. Ein Team von Wissenschaftlern der University of Sheffield und University of Bristol stellte 2016 anhand mathematischer Faktoren eine Liste der fahrzeugunabhängig besten Formel-1-Fahrer aller Zeiten auf. Darin belegte Tom Pryce den 28. Platz noch vor den Weltmeistern seiner Zeit wie Niki Lauda, James Hunt und Mario Andretti. Statistik Statistik in der Automobil-Weltmeisterschaft Die folgende Statistik umfasst alle Teilnahmen des Fahrers an der Automobil-Weltmeisterschaft, die heutzutage als Formel-1-Weltmeisterschaft bezeichnet wird. Gesamtübersicht Einzelergebnisse Einzelergebnisse bei Formel-1-Rennen ohne Weltmeisterschaftsstatus Diese Statistik umfasst alle Teilnahmen des Fahrers an Formel-1-Rennen ohne Weltmeisterschaftsstatus. Einzelergebnisse in der Sportwagen-Weltmeisterschaft Siehe auch Liste tödlich verunglückter Formel-1-Fahrer Literatur Darren Banks, Kevin Guthrie: Tom Pryce: Memories of a Welsh Star by those who knew him. Performance Publishing, Grantham 2020, ISBN 978-0-9576450-7-3. David Hodges: A–Z of Grand Prix Cars. Crowood Press, Marlborough 2001, ISBN 1-86126-339-2. David Hodges: Rennwagen von A–Z nach 1945, Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-613-01477-7. Pete Lyons: Shadow: The Magnificent Machines of a Man of Mystery: Can-Am – Formula 1 – F5000. Race Point Pub, 2020, ISBN 978-1-910505-49-6. Pierre Ménard: La Grande Encyclopédie de la Formule 1. 2. Auflagel. Chronosports Editeur, St. Sulpice 2000, ISBN 2-940125-45-7. Steve Small: Grand Prix Who's Who, 3rd Edition. Travel Publishing, London 2000, ISBN 1-902007-46-8. David Tremayne: Lost Generation: The Brilliant but Tragic Lives of Rising British F1 Stars Roger Williamson, Tony Brise and Tom Pryce. Haynes Publishing, Sparkford 2006, ISBN 1-84425-839-4. Weblinks Tom Pryce bei Motorsport Magazine Bildergalerie zu Tom Pryce bei Motorsport Images Entstehungsgeschichte des Tom-Pryce-Denkmals in Ruthin Einzelnachweise Formel-1-Rennfahrer (Vereinigtes Königreich) Sportler (Wales) Sportwagen-WM-Rennfahrer Brite Geboren 1949 Gestorben 1977 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wasserb%C3%BCffel
Wasserbüffel
Der Wasserbüffel (Bubalus arnee) gehört zu den Rindern (Bovinae) und ist die am weitesten verbreitete und bekannteste Art der Asiatischen Büffel (Bubalus). Er ist vielerorts zum Haustier geworden, wilde Wasserbüffel hingegen sind heute eine Seltenheit. Für wilde Büffel wird oft die indische Bezeichnung Arni verwendet; damit werden sowohl echte Wild- als auch verwilderte Hausbüffel bezeichnet. Taxonomie Ursprünglich wurde der wilde Wasserbüffel als Bubalus arnee, der Hausbüffel aber als Bubalus bubalis geführt. Heute werden sie zu einer Art zusammengefasst, laut Entscheidung der International Commission on Zoological Nomenclature (ICZN) Opinion 2027 ist arnee der gültige Name. Umstritten ist allerdings, ob wirklich alle Wasserbüffel einer Art angehören. So sehen manche in den chinesischen Büffeln, deren wilde Vorfahren vor etwa 3500 Jahren ausstarben, eine eigene Art Bubalus mephistopheles. Als Unterart des Wasserbüffels wird gelegentlich der philippinische Tamarau geführt, der heute häufig den Rang einer eigenständigen Art erhält. Merkmale Ein Wasserbüffel bringt es auf eine Kopf-Rumpf-Länge von fast 3 Metern, eine Schulterhöhe von 180 Zentimetern und ein Gewicht von mehr als einer Tonne. Diese Maße werden fast nur von wilden Büffeln erreicht. Die domestizierten Exemplare sind für gewöhnlich sehr viel kleiner und selten schwerer als 500 Kilogramm. Die Farbe der wilden Tiere ist grau, braun oder schwarz. Bei domestizierten Büffeln gibt es auch schwarz-weiß gescheckte oder ganz weiße Tiere. Der Rumpf ist rindertypisch tonnenförmig, der etwa 60 bis 80 Zentimeter lange Schwanz hat eine Endquaste. Die weit auseinander gespreizten Hufe geben den Tieren in ihrem sumpfigen Lebensraum sicheren Halt. Der Kopf ist meist lang und nach vorne hin verhältnismäßig schmal, die Ohren sind vergleichsweise klein. Beide Geschlechter tragen Hörner, die entweder geradlinig zur Seite weisen oder sich halbkreisförmig nach innen krümmen. Sie erreichen eine Spannweite von 2 Metern, mehr als bei jedem anderen lebenden Paarhufer; die Hörner der Weibchen sind allerdings meist etwas kürzer. Daneben existieren aber auch Büffelrassen mit kleineren Hörnern. Die Lebensdauer eines wilden Wasserbüffels beträgt 25 Jahre; in der Obhut des Menschen werden Wasserbüffel noch einige Jahre älter. Wilde Wasserbüffel Lebensweise Den Lebensraum des Wasserbüffels bilden offene Feuchtgebiete, Sumpfwälder und dicht bewachsene Flusstäler. Zum Schutz vor Insekten und zur Abkühlung hält er sich oft im Wasser oder im Schlamm auf. Anschließend ist die Haut von einer dichten Schlammschicht bedeckt, die kein blutsaugendes Insekt durchdringen kann. Da es in Asien fast nur noch domestizierte Wasserbüffel gibt, hat man das Verhalten dieser Tiere vor allem bei ausgewilderten Büffeln im Norden Australiens studiert. Wie weit dies dem ursprünglichen Verhalten entspricht, ist unbekannt. Wasserbüffel leben hier in Familiengruppen von dreißig Individuen, die von einer alten Kuh angeführt werden. Die Herden bestehen aus Weibchen und ihren Jungen. Junge Weibchen bleiben für gewöhnlich bei der Herde; jüngere Männchen werden dagegen im Alter von zwei Jahren aus der Herde vertrieben. Die Bullen werden nach einer Übergangszeit in Junggesellenverbänden, die jeweils etwa zehn Individuen umfassen, zu temporären Einzelgängern, schließen sich aber alljährlich zur Paarungszeit (in Nordindien im Oktober, weiter südlich zu keiner festgelegten Jahreszeit) einer Herde an. Die dominante Kuh behält auch in dieser Zeit die Führung der Gruppe und jagt nach dem Ende der Paarungszeit die Bullen davon. Alte Bullen, die sich nicht mehr paaren können, leben bis zu ihrem Tod als dauerhafte Einzelgänger. Meistens sondern sie sich freiwillig ab, gelegentlich werden sie von einem jüngeren Bullen gewaltsam vertrieben. Eine Kuh trägt etwa alle zwei Jahre ein Junges aus. Dies wird nach einer Tragzeit von 333 Tagen geboren und wiegt zunächst etwa 40 Kilogramm. Es wird etwa ein halbes Jahr gesäugt, ehe es selbständig grasen kann. Im Alter von zwei bis drei Jahren erlangen die Tiere die Geschlechtsreife. Die Nahrung des Wasserbüffels sind in erster Linie Gräser, daneben auch fast jede Art von Ufervegetation. Neben dem Menschen sind Tiger, Warane und Krokodile die einzigen Fressfeinde des Wasserbüffels. Tiger attackieren bevorzugt Jungtiere oder Einzelgänger, da eine geschlossene Herde durch koordiniertes Vorgehen oft in der Lage ist, die Raubkatzen zu vertreiben oder in Einzelfällen durch den Einsatz der Hörner sogar zu töten. Bestände Das Verbreitungsgebiet des wilden Wasserbüffels ist seit der Eiszeit kontinuierlich geschrumpft. Noch im späten Pleistozän gab es Wasserbüffel auch in Nordafrika. Zur Zeit der frühen Hochkulturen waren sie weit verbreitet: von Mesopotamien über Indien bis nach China und Südostasien. Der wilde Wasserbüffel wird von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) in der Roten Liste gefährdeter Arten als „stark gefährdete“ Art (Endangered) geführt. Es ist heute jedoch bei den meisten Beständen schwierig zu bestimmen, welche Wasserbüffel echte Wildbüffel und welche bloß Nachkommen verwilderter Hausbüffel sind. Die Bestandsangaben schwanken deshalb zwischen 200 und 4000 Exemplaren. Indien beherbergt heute mit über 3000 Exemplaren die meisten wilden Wasserbüffel. Aber ihre Reinblütigkeit steht fast überall im Zweifel. Sie kommen nur noch in kleinen Gruppen in wenigen Reservaten vor: In Assam kommen wilde Wasserbüffel im Gebiet des Manas-Nationalparks, im Kaziranga-Nationalpark, im Laokhowa-Schutzgebiet und im Dibru-Saikhowa-Nationalpark vor. Im Manas-Gebiet bewohnen die Tiere auch angrenzende Teile Bhutans. In Arunachal Pradesh leben wilde Wasserbüffel im Namdapha-Nationalpark-Gebiet. In Chhattisgarh gibt es zwei Populationen: eine im Indravati-Nationalpark, die andere im Udanti-Reservat. Letztere könnte sich bis in angrenzende Gebiete Orissas ausdehnen. Weitere kleine Gruppen gibt es in Madhya Pradesh und Meghalaya. Die einzige Population in Nepal lebt im Kosi-Tappu-Wildreservat im Südosten des Landes und besteht aus etwa 150 Tieren. In Südostasien existieren darüber hinaus nur noch winzige, versprengte Restbestände. Die einzige Population wilder Wasserbüffel in Thailand lebt im Huai-Kha-Kaeng-Reservat und besteht aus etwa 50 Tieren, die mit Hauswasserbüffeln vermischt sein könnten. Einige Dutzend halten sich in Kambodscha im Osten der Provinz Mondulkiri. In Vietnam und Laos sind die letzten Bestände erloschen. Für Myanmar liegen keine aktuellen Schätzungen vor. Die wildlebenden Wasserbüffel Sri Lankas tragen wahrscheinlich ein hohes Maß an Hausbüffelgenen in sich, da die Bestände in der jüngeren Vergangenheit durch den Ausbruch der Rinderpest am Ende des 19. Jahrhunderts stark zusammengeschmolzen sind und sich die überlebenden Populationen vor ihrer Erholung mit Hausbüffeln gekreuzt haben dürften. Domestizierte Wasserbüffel Weltweit gibt es 150 Millionen domestizierte Wasserbüffel (Hausbüffel). Aufgrund der Umstellung auf maschinelles Pflügen ist der Einsatz und damit auch die Zahl dieser Arbeitstiere in den letzten ca. 25 Jahren drastisch zurückgegangen (besonders z. B. in Thailand). Domestikation und Verbreitung Wann der Wasserbüffel domestiziert wurde, ist umstritten, da sich die Knochen wilder und domestizierter Tiere nicht unterscheiden lassen. Eine genetische Studie aus dem Jahr 2008 deutet darauf hin, dass die erste Domestikation nicht in China stattfand. Wahrscheinlich wurden der Flussbüffel und der Sumpfbüffel – die beiden wichtigsten Typen der Wasserbüffel – unabhängig voneinander domestiziert: zuerst der Flussbüffel in Indien vor etwa 5000 Jahren, dann der Sumpfbüffel in China vor etwa 4000 Jahren. In der Indus-Kultur wurden Wasserbüffelknochen teilweise in großer Zahl gefunden (zum Beispiel an der Fundstätte Dholavira in Gujarat), man nimmt daher eine Herdenhaltung und die Nutzung für den Ackerbau an. Vom Industal aus kamen Hausbüffel nach Mesopotamien, von Indien und China gelangten sie nach Südostasien. Schon lange vor der Zeitenwende gab es in diesem gesamten Verbreitungsgebiet domestizierte Büffel. Heute ist Indien das Land mit den meisten Hausbüffeln, gefolgt von Pakistan und China. In historisch jüngerer Zeit gelangten Wasserbüffel auch in andere Regionen: In Nordafrika (vor allem Ägypten), Südamerika (vor allem Brasilien), Süd- und Mitteleuropa, Mauritius, Australien, Hawaii und Japan werden heute in unterschiedlichem Maße Wasserbüffel gehalten. In Europa werden Büffel in Italien, Rumänien und Bulgarien in größerem Stil genutzt. In Ungarn leben noch etwa 200 Büffel, ein kleiner Restbestand von ehemals 100.000 Büffeln (siehe Büffelreservat am Kis-Balaton). In Australien, wo die Büffelhaltung weitgehend aufgegeben wurde, verwilderten die Tiere und besiedelten den Norden, wo sie heute in etwa 200.000 Exemplaren vorkommen. Verwilderte Wasserbüffel gibt es in kleinerer Zahl auch in anderen Ländern (siehe unten). Domestizierte Büffel verhalten sich gegenüber Menschen friedlich und lassen sich sogar von Kindern dirigieren, während wilde Büffel in der Regel die Flucht vor dem Menschen ergreifen. Allerdings werden die einzelgängerischen alten Bullen gelegentlich sehr aggressiv und greifen dann Menschen und selbst Elefanten an. Sie sollen gelegentlich durch die Farben Gelb und Orange provoziert werden, weshalb z. B. die thailändischen Mönche mit ihrer orangen Robe oft einen größeren Bogen um sie machen. Nutzen Wasserbüffel werden zum Pflügen von Reisfeldern und als Lasttiere verwendet. Milch, Fleisch und Leder werden ebenfalls genutzt. Ein weiterer Vorteil des Wasserbüffels liegt darin, dass er von BSE nicht betroffen ist; Büffel in China erkranken gelegentlich an der Maul- und Klauenseuche. Milch Mit den heutigen Hausrindern können Wasserbüffel bei der Menge von Fleisch und Milch je Tier noch nicht mithalten. Büffelmilch hat verglichen mit Kuhmilch einen doppelt so hohen Fettgehalt (8 %) und längere Haltbarkeit. Jährlich werden in Asien 45 Millionen Tonnen Büffelmilch gewonnen. Durch gezielte Zucht immer ergiebigerer Büffelrassen konnte die Milchproduktion je Tier in den letzten Jahrzehnten beträchtlich gesteigert werden. Noch 1970 wurde ein Wert von 3000 Litern je Tier und Laktationsperiode (etwa 300 Tage) für einen Rekord gehalten; heute gibt es hochgezüchtete Büffelrassen, die 5000 Liter Milch im gleichen Zeitraum abgeben. Der Murrah gilt als die Büffelrasse, die in der Milchwirtschaft am vielversprechendsten ist; Züchter gehen davon aus, in naher Zukunft mit Wasserbüffeln ebenso viel Milch produzieren zu können wie mit Milchkühen. 2015 hatte die Büffelmilch, mit 110 Milliarden Kilo, einen Anteil von 13 % an der weltweiten Milchproduktion. Büffelmilch enthält je Gramm 0,19 mg Cholesterin (Rindermilch: 0,14 mg). Sie ist außerdem reicher an Kalzium, Eisen, Phosphor und Vitamin A. Mozzarella wurde ursprünglich aus Büffelmilch gewonnen – heute wird meistens aus Rindermilch hergestellter Mozzarella verkauft, der geschmacksärmer und von anderer Konsistenz ist. Echter Büffelmozzarella wird weiterhin aus Wasserbüffelmilch hergestellt. Fleisch Büffelfleisch ist in Europa bisher kaum bekannt, in Asien und Nordafrika dagegen jedoch traditioneller Bestandteil der Ernährung. Die globale Produktion von Büffelfleisch nahm zwischen 1970 und 2006 von 1.322.000 Tonnen auf 3.181.000 Tonnen um 140,8 % zu. Unter den führenden Ländern sind beispielsweise Indien, China, Ägypten, Nepal oder Indonesien. Büffelfleisch weist nicht nur verhältnismäßig geringe Fett- und Cholesterinwerte auf, sondern enthält auch überproportional viel Eisen und Protein. Zudem wurde in wissenschaftlichen Analysen durch das Institut für Lebensmittelhygiene Leipzig und das argentinische Institut für Lebensmitteltechnologie des nationalen Landwirtschaftstechnologieinsitutes (INTA) ein sehr gutes Verhältnis von Omega-3- zu Omega-6-Fettsäuren festgestellt. Büffelfleisch enthält durchschnittlich im Muskelfleisch auf 100 Gramm 24 % Protein, 1,5 % Fett, 35 mg Cholesterin, 2 % Eisen sowie 110 Kilokalorien. Beweidung Ein Beispiel aus dem Landkreis Mühldorf (Bayern) zeigt, wie Wasserbüffel als Habitatkonstrukteure wirken. Dort wurde eine seit 1996 mit Rindern beweidete Feuchtbrache 2011 zusätzlich mit Wasserbüffeln besetzt und die Raumnutzung sowie das Verhalten der Wasserbüffel untersucht sowie die Amphibienfauna beobachtet. Durch die Beweidung entwickelte sich die ursprünglich dichte und hohe Vegetation aus Hochstauden und Schilfröhricht zu einem Mosaik aus Weiderasen sowie höheren Gras- und Staudenbeständen. Röhricht in Gewässern wurde stark reduziert und die Besonnung der Uferzonen nahm zu. Im Gebiet hat der Bestand des Grasfroschs (Rana temporaria) seit Projektbeginn deutlich zugenommen. Auch bei der Gelbbauchunke (Bombina variegata) deutet sich ein Bestandsanstieg an. Sie laicht in den von Weidetieren offengehaltenen Uferbereichen eines Tümpels und seit 2011 in den von Wasserbüffeln neu geschaffenen Gewässern. Durch Suhlen, und indem die Büffel in nassen Bereichen der Weide Pfade bahnten, entstanden vegetationsfreie, besonnte Kleingewässer in zuvor dichter Vegetation. Es deutet sich an, dass eine Beweidung mit Wasserbüffeln eine Alternative zur maschinellen Entlandung oder Neuschaffung solcher Gewässer darstellen kann. Rassen 74 Rassen von Hausbüffeln sind bekannt. Sie werden grob in Sumpf- und Flussbüffel unterteilt: Sumpfbüffel sind vor allem Arbeitstiere, sie werden überwiegend in China und Südostasien gezüchtet. Sie helfen bei der Bewirtschaftung der Reisfelder. Erst wenn sie für die Arbeiten zu alt sind, werden sie geschlachtet und gegessen. Für die Milchproduktion spielen sie so gut wie keine Rolle. Flussbüffel werden für Milch- und Fleischproduktion gezüchtet. Das Zentrum der Flussbüffelzucht liegt in Indien, wo es die meisten Rassen und die ergiebigsten Tiere gibt. Wichtige Rassen bei den Arbeitstieren sind: Carabao (Philippinen und Guam): graues oder schwarzes Fell, halbmondförmige Hörner Malaiischer Büffel (Südostasien): graues Fell, mittellange, halbmondförmige Hörner Zu den Milchrassen gehören: Murrah (Haryana und Punjab): gilt als ergiebigste aller Milchbüffelrassen, weltweit exportiert Nili-Ravi (Punjab): schwarzes Fell mit weißer Zeichnung im Gesicht, sehr kurze Hörner Pandharpuri (Maharashtra): schwarzes Fell, erkennbar an den schwertartigen, riesigen Hörnern (jeweils bis 150 cm lang) Kundi (Sindh): schwarzes Fell, besonders schwer und massig Es gibt auch Rassen mit gemischter Nutzung, zum Beispiel Saidi in Oberägypten und Baladi in Unterägypten. Inzwischen wird die Zucht auch in Nordamerika und Europa fortgesetzt. Büffelzucht in Deutschland Es gibt einige Höfe, auf denen Wasserbüffel gezüchtet werden. Zum Beispiel eine Büffelzucht mit ca. 290 Tieren (Stand 2014) in Hohenstein-Meidelstetten auf der Schwäbischen Alb. Im Jahr 2008 lebten etwa 1800 Wasserbüffel in Deutschland. Anfang März 2010 waren es nach Angaben des Deutschen Büffelverbandes e. V. mit 2362 Büffel fast viermal so viele wie im Jahr 2000. Im September 2018 war in Bayern und Baden-Württemberg noch ein Züchter mit 20 Herdbuchkühen erfasst, in Sachsen im Februar 2020 noch ein Züchter mit zwei Bullen und 64 Kühen und in Sachsen-Anhalt gab es 2017 noch vier Haltungen mit insgesamt 34 Tieren. Büffelzucht in der Schweiz In der Schweiz wurden die ersten Wasserbüffel 1996 aus Rumänien importiert und in der Region Schangnau gehalten, u. a. in Eggiwil. Die Milch wird vorwiegend in Marbach LU zu Mozzarella verarbeitet. Ende 2021 lebten in der Schweiz über 2200 Wasserbüffel. Verwilderte Wasserbüffel Vorkommen Im Norden Australiens entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine sehr große verwilderte Population. Kleinere verwilderte Populationen existieren in Neuguinea, Tunesien und im Nordosten Argentiniens. Verwilderte Herden gibt es ferner in Kolumbien, Guyana, Suriname, Brasilien und Uruguay sowie auf den Inseln Neubritannien und Neuirland. Population in Australien Zwischen 1823 und 1840 wurden durch den Menschen 80 Wasserbüffel zur Fleischproduktion im Northern Territory in Australien eingeführt. Einzelne Tiere und Herden verwilderten und vermehrten sich unter ihren neuen Lebensbedingungen so schnell, dass nach Schätzungen der australischen Regierung zwischen 1880 und 1970 insgesamt 700.000 Tiere erlegt werden mussten. 1985 lebten mit einem Bestand von 350.000 Tieren mehr als die Hälfte der weltweit nicht als Haustiere gehaltenen Wasserbüffel in Australien. Die verwilderten Wasserbüffel stellten in den Marschregionen an Australiens Nordküste ein gravierendes ökologisches Problem dar. Sie verstärkten durch ihre Trampelpfade und ihr Suhlen die Bodenerosion, veränderten durch ihr Fressverhalten die Zusammensetzung der lokalen Flora und erleichterten durch ihr Suhlen das Eindringen von Salzwasser in Süßwasserhabitate. Sie veränderten damit ihren Lebensraum so nachhaltig, dass die Anzahl der dort lebenden Australien-Krokodile, des australischen Süßwasserfisches Barramundi und ähnlicher einheimischer Arten drastisch zurückging. Zu diesen gravierenden ökologischen Auswirkungen trug wesentlich bei, dass sich in den Trockenzeiten auf einem Quadratkilometer Marschland bis zu 35 Tiere aufhielten. Wasserbüffel sind außerdem Überträger von Rinderkrankheiten wie der Tuberkulose und der Rinderbrucellose. Besonders Letztere hat dazu beigetragen, dass der Wasserbüffelbestand sowohl von der Regierung als auch von der Mehrheit der australischen Bevölkerung als zu bekämpfende Plage angesehen wird. Von 1979 bis 1997 wurde von der australischen Regierung ein Programm zum Abschuss verwilderter Wasserbüffel durchgeführt, wobei die Tiere, die im unzugänglichen Marschland lebten, zum Teil vom Helikopter aus abgeschossen wurden. Die Anzahl der verwilderten Wasserbüffel ist seitdem deutlich zurückgegangen. In dem zum Weltnaturerbe gehörenden Kakadu-Nationalpark beispielsweise wurde die Anzahl der dort lebenden Tiere von 20.000 im Jahre 1988 auf 250 im Jahre 1996 reduziert und damit erreicht, dass die Bestände einheimischer Pflanzen wie bestimmte Eukalyptus-Arten und die Rote Wasserlilie sich wieder erholten. Symbolik Mythologie und Volksglaube Ein so eng mit dem Menschen verbundenes Tier wie der Wasserbüffel taucht naturgemäß in vielen Märchen und Sagen der mit ihm assoziierten Völker auf. In der indischen Mythologie verkörpert der Wasserbüffel unter anderem den Dämon Mahishasura, ein Mischwesen aus Büffel und Mensch, das von keinem der Götter besiegt werden konnte, bis die Kriegsgöttin Durga ihn zuletzt doch niederrang. Im Hinduismus erinnern das bengalische Durgapuja sowie das nepalesische Dashain-Fest an diesen Kampf zwischen Gut und Böse. In Nepal ist es ein staatlicher Feiertag. Zu diesem Fest wird in einer Prozession ein Büffelkopf durch die Straßen getragen, der Mahishasura symbolisieren soll. Der Büffel taucht noch in einer anderen, ebenfalls nicht sehr positiven Rolle auf: Yama, im Hinduismus der Herr der Unterwelt, wird oft auf einem Wasserbüffel reitend dargestellt. Zu bestimmten Gelegenheiten nimmt der Gott selbst die Gestalt eines Büffels an. Der chinesische Philosoph Laozi wird meistens auf einem Wasserbüffel reitend dargestellt. In der chinesischen Astrologie ist der Büffel eines der zwölf Sternzeichen. 2033 ist das nächste Jahr des Büffels. In Osttimor ist der Wasserbüffel ein Symbol von Macht. Seinen Hörnern ist die Kaibauk, eine Art Krone und Herrschaftssymbol, nachempfunden. Obwohl die Bevölkerung nahezu vollständig katholisch ist, werden nach animistischer Tradition neben Kreuzen auch Büffelhörner und -schädel auf Gräbern aufgestellt. Sonstiges In dem berühmten Dschungelbuch von Rudyard Kipling wird Mogli nach seiner Rückkehr zu den Menschen zu einem Büffelhirten. Die Büffel sind es, die letztlich den bösartigen Tiger Shere Khan zu Tode trampeln. „Büffel“ (khwaai) ist in Thailand eine der abfälligsten Bezeichnungen zur Charakterisierung eines Menschen, auch im Sinne einer Beleidigung, und in der Ausdrucksstärke vergleichbar mit „Schwein“ im Deutschen. Gemeint ist damit jemand, der stur, dumm, lernunfähig, stumpf oder unbeweglich ist. Aufgrund ihrer Wasserkühlung und einer starken Leistung von bis zu 67 PS erhielt das Motorrad Suzuki GT 750 in den 1970er-Jahren schnell im deutschsprachigen Raum den Szenenamen „Wasserbüffel“, unter dem es heute noch bekannt ist. Literatur Bernhard Grzimek: Grzimeks Tierleben. Säugetiere Band 13. dtv, München 1970. ISBN 3-423-03207-3 Ronald Nowak: Walker’s Mammals of the World. Bd. 2. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999. ISBN 0-8018-5789-9 The Water Buffalo. New Prospects for an Underutilized Animal. Books for Business. Washington 1981, 2002. ISBN 0-89499-193-0 Tim Low: Feral future. The untold story of Australia's exotic invaders. Penguin Books Australia Ltd, Ringwood 2001. ISBN 0-14-029825-8 (Dieses Buch beschreibt u. a. die ökologischen Probleme, die die Verwilderung der Wasserbüffel in Australien nach sich zog.) Dorian Fuller: An agricultural perspective on Dravidian historical linguistics, archaeological crop packages, livestock and Dravidian crop vocabulary. In: Peter Bellwood, Colin Renfrew: Examining the farming/language dispersal hypothesis. Macdonald Institute for Archaeological Research, Cambridge 2002, 191–213. ISBN 1-902937-20-1 (zur Domestikation) Weblinks Prof. Dr. Zeigert und Peter Biel: Nutzung des Wasserbüffels bei extensiver Beweidung von Feucht- und Moorstandorten, Naturweiden und Brachland, auf der Homepage seiner Büffelfarm Hatten, 2012 Wasserbüffel in der Landschaftspflege (LEL BW) Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Wasserbüffel in der Landschaftspflege, Projektbericht u. a. von Studenten der HTW Dresden, 2004 (pdf) Zuchtverband Sächsischer Rinderzuchtverband e.G.: Zuchtprogramm für die Rasse Wasserbüffel (Februar 2020, pdf) Einzelnachweise Rinder und Waldböcke
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https://de.wikipedia.org/wiki/Capsicum%20pubescens
Capsicum pubescens
Capsicum pubescens ist eine Pflanzenart der Gattung Capsicum (Paprika), die vor allem in Mittel- und Südamerika bekannt ist. Der Namensbestandteil pubescens bedeutet behaart und weist auf die behaarten Blätter dieser Art hin. Die Pflanzen, aber vor allem auch die Früchte dieser Art werden oft als Rocoto und Locoto (vor allem in Bolivien, Peru) oder Chile Manzano und Chile Peron (vor allem in Mexiko) bezeichnet. Da sie ein relativ hohes Alter erreichen und der Stamm schnell verholzt, werden sie gelegentlich als Baumchili bezeichnet. Von allen domestizierten Paprika-Arten ist diese am wenigsten verbreitet und systematisch am weitesten von allen anderen entfernt. Beschreibung Vegetative Merkmale Wie alle anderen Arten der Gattung Capsicum wachsen die Pflanzen von Capsicum pubescens als Halbstrauch, gelegentlich sind es auch kletternde Pflanzen. Die bis zu vier Meter hohen Pflanzen verholzen relativ schnell und werden bis zu 15 Jahre alt, vor allem im Alter wirken sie beinahe baumartig. Nachdem zunächst ein Trieb ausgebildet wird, verzweigt sich dieser in einer Höhe von etwa 30 cm zum ersten Mal und bildet im Laufe des Wachstums durch weitere Teilung ein buschiges Erscheinungsbild. Später treiben weitere Triebe aus den Blattachseln aus. Einige Sorten weisen violette Verfärbungen an den Verzweigungen auf, wie sie auch bei anderen Capsicum-Arten zu beobachten sind. Die Laubblätter besitzen einen 5 bis 12 mm langen Blattstiel und eine eiförmige Blattspreite, die 5 bis 12 cm lang, 2,5 bis 4 cm breit, an der Spitze spitz zulaufend und an der Basis keilförmig ist. Neben dem im Vergleich zu anderen Paprikas relativ hohen Alter unterscheidet sich Capsicum pubescens auch in vielen anderen Merkmalen sehr stark von verwandten Arten. Am auffälligsten ist die namensgebende Behaarung, die an Blättern, Stängeln und teilweise an den Kelchblättern der Blüten zu finden ist. Blüten Die Blüten erscheinen einzeln oder zu zweit (selten bis zu viert) in den Verzweigungen der Triebe und stehen an etwa 1 cm langen Blütenstielen, die sich an der Frucht auf etwa 4 bis 5 cm verlängern. Der Kelch ist mit fünf dreieckig zugespitzten Zähnen besetzt, die an der Frucht eine Länge von etwa 1 mm besitzen. Deutliches Unterscheidungsmerkmal zu anderen kultivierten Arten der Gattung Capsicum sind die blau-violett gefärbten Kronblätter, die zum Zentrum teilweise heller werden. Zwar kommen auch bei anderen Arten – beispielsweise Capsicum annuum – vereinzelt Sorten mit violetten Blüten vor, jedoch sind oft nur die Ränder der Blütenblätter gefärbt. Teilweise sind die Kronblätter haubenartig geformt, die miteinander verwachsenen Abschnitte der Kronblätter sind deutlich gefaltet. Die Staubbeutel sind violett gefärbt. Früchte und Samen Aus den Blüten entwickeln sich nach der Befruchtung in zirka 90 Tagen reife Früchte. Die Früchte sind 5 bis 8 cm breit und 7 bis 9 cm lang, die Form variiert sehr stark. So gibt es Sorten, deren Früchte dreimal so lang wie breit sind, aber auch Früchte, die 1,5-mal so breit wie lang sind, kommen vor. Vor allem die peruanischen Sorten mit länglichen Früchten weisen eine deutlich ausgeprägte Schulter auf, die in Sorten, deren Ursprung weiter nördlich liegt, nicht zu beobachten ist. Die Spitze aller Früchte ist stumpf, in den kürzeren Früchten ist sie oftmals eingedrückt. Die Farbe der reifen Früchte reicht vom kräftigen Gelb über Orange bis hin zu Dunkelrot und sogar Bräunlich. In vielen Sorten ist eine Verfärbung der Früchte zu schwarz zu beobachten, bevor sie ihre endgültige Färbung erreichen. Die Früchte haben ein sehr ausgeprägtes Aroma, welches oft als „tropisch“ beschrieben wird und sind sehr scharf. In den meist zwei bis vier Samenkammern befindet sich eine hohe Anzahl von braun-schwarzen Samen. Die Mehrzahl der Samen sind gegenüber dem Stielansatz am oberen Ende der Frucht mit der Plazenta verbunden; an den Seitenwänden sind nur wenige Samen zu finden. Die dunkle Färbung der Samen ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal zu anderen kultivierten Paprika-Arten, die ausschließlich weißliche bis hellgelbe Samen besitzen. Chromosomenzahl Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 24. Inhaltsstoffe Siehe auch: Inhaltsstoffe der Paprika Capsicum pubescens unterscheidet sich vor allem in der Zusammensetzung der Schärfe verursachenden Capsaicinoide von anderen scharfen Paprika. Während bei anderen Arten Capsaicin mit bis zu 80 % der Capsaicinoide dominiert, ist bei Capsicum pubescens eine fast ebenso hohe Konzentration an Dihydrocapsaicin festzustellen. Während in der Plazenta die Konzentration von beiden Capsaicinoiden nahezu gleich ist, ist das Verhältnis bei einer Analyse der ganzen Frucht zu Dihydrocapsaicin verschoben. Auch die Konzentration von Nordihydrocapsaicin – einem weiteren wichtigen Capsaicinoid – ist überdurchschnittlich hoch. Durch diese unterschiedliche Zusammensetzung der Capsaicinoide wird die Schärfe der Capsicum pubescens anders wahrgenommen als die Schärfe anderer scharfer Paprika. Da selbst geübte Chiliesser meist nur wenig Toleranz gegenüber Dihydrocapsaicin und Nordihydrocapsaicin ausgebildet haben, wird die Schärfe oft verhältnismäßig intensiv wahrgenommen. Jedoch kann es ebenso vorkommen, dass diese Empfindlichkeit deutlich geringer ist und die Rocoto nur als mäßig scharf empfunden wird. Je nach Quellen liegt die Schärfe zwischen 30.000 und 100.000 Scoville-Einheiten. Herkunft und Wachstumsbedingungen Allgemeines Die Art ist nur aus der Kultur bekannt. Belege domestizierter Pflanzen der Art reichen mehrere tausend Jahre zurück. Angebaut wurde sie unter anderem im Inkareich, dort war sie die häufigste Capsicum-Art. Die Verbindung zum Inka-Reich ist noch heute bewahrt: der Name Rocoto leitet sich vom Quechua ruqutu (roqoto) ab. Capsicum pubescens wird in größerem Rahmen nur in den Hochlagen Boliviens, Perus, Ecuadors, Kolumbiens, im Norden Chiles, in Mittelamerika und in den südlichen Gebirgsregionen Mexikos angebaut. In Südamerika gehört die Art neben den ebenfalls dort beheimateten Capsicum baccatum zu den wichtigsten Paprika. Anbau in Europa In Europa wird Capsicum pubescens nicht kommerziell angebaut. Grund dafür sind die längeren Reifezeit, die allgemeine Empfindlichkeit der Pflanzen und die fehlende Verwendbarkeit in der europäischen Küche. Jedoch steigt das Interesse an der Pflanze unter Hobbyzüchtern zunehmend; Samen werden privat getauscht oder sind über Spezialanbieter erhältlich. Capsicum pubescens ist besser an die relativ kühlen Nächte des mitteleuropäischen Klimas angepasst als andere Capsicum-Arten. Pflanzen sollten nicht der prallen Sonne ausgesetzt werden; ein halbschattiger Platz ist ideal. Bei regelmäßigen, aber nicht zu starken Wasser- und Düngergaben ist bereits im ersten Jahr mit einer Ernte zu rechnen. Bei zu schlechten Umweltbedingungen wirft die Pflanze Blüten und auch junge Früchte ab. Werden die Pflanzen im kühlen und hellen Innenraum überwintert und im Frühjahr zurückgeschnitten, fällt die Ernte im zweiten und in den folgenden Jahren meist umfangreicher aus. Systematik Innerhalb der Gattung Capsicum gehört die Art zu der Gruppe mit einer Chromosomenzahl von 2n=24. Untersuchungen des Karyotyps platzieren die Art nahe zu Capsicum eximium, Capsicum cardenasii und Capsicum tovarii. Diese Arten ähneln sich durch teilweise bis komplett lila-violette Blüten sowie bräunliche bis schwarze nierenförmige oder unregelmäßig geformte Samen. Mit Ausnahme der großen und farblich variablen Früchte von Capsicum pubescens besitzen alle Arten kleine, rot gefärbte, kugelförmige Früchte. Die enge Beziehung der Arten konnte auch durch erfolgreiche Kreuzung der Arten Capsicum pubescens, Capsicum eximium und Capsicum cardenasii gezeigt werden. Die so entstandenen Hybriden erzeugten jeweils fertile Nachkommen. Keine der drei Arten konnte jedoch erfolgreich mit Capsicum tovarii gekreuzt werden. Phylogenetische Untersuchungen der DNA zeigten jedoch eine enge Verwandtschaft zwischen Capsicum pubescens und Capsicum tovarii, wohingegen Capsicum eximium und Capsicum cardenasii weiter von Capsicum pubescens gestellt wurden. Bei Untersuchungen der durchschnittlichen Fruchtgröße in verschiedenen traditionellen Anbaugebieten stellte Eshbaugh fest, dass die Früchte von Pflanzen außerhalb Boliviens im Durchschnitt größer werden. Daraus schloss er, dass die bolivianischen Capsicum pubescens sowohl biologisch als auch geographisch näher an der Ur-Capsicum pubescens liegen, als anderswo domestizierte Pflanzen der Art. Die genaue Herkunft kann jedoch nicht mit Gewissheit bestimmt werden. Obwohl bisher keine Wildform gefunden werden konnte und nur kultivierte oder halbwilde Pflanzen existieren, geht man davon aus, dass Capsicum pubescens eine eigene Art bildet. Durch die lange Domestizierung und damit durch menschliche Selektion wurden die Früchte der Pflanzen mit der Zeit größer, die Wildform selbst gilt als ausgestorben. Die Art ist ein Beispiel für den sogenannten Gründereffekt: Durch die geringe geographische Verbreitung und die kaum vorhandene Überschneidung mit den Verbreitungsgebieten anderer Capsicum-Arten ist die Population auf einen unvollständig repräsentierten Genpool zurückzuführen. Aus diesem Grund blieb die Variabilität innerhalb der Art sehr gering, so dass deutlich weniger Sorten als bei anderen domestizierten Paprika entstanden. Verwendung Allgemeines Früchte der Capsicum pubescens können in der Küche wie andere Chilis eingesetzt werden. Viele Gerichte, beispielsweise Salsa, erhalten durch sie eine besonders fruchtige und exotische Note. In der süd- und mittelamerikanischen Küche wird oft eine Kombination aus Chilis der Art C. baccatum und C. pubescens benutzt, wobei erstere den Stellenwert eines Gewürzes, letztere den eines Gemüses einnehmen. Die Schärfe der „Gemüse-Chilis“ kann dabei reguliert werden, indem man die Früchte nach Entfernen von Plazenta und Samen mehrfach abwechselnd in Salz- und Zuckerwasser bis kurz vor den Siedepunkt erwärmt und anschließend das Wasser abgießt. Meist werden die Früchte frisch verkauft, jedoch findet man auch Glas- und Dosenkonserven mit Rocoto oder Chile Manzano, meistens als halbierte Früchte. In Arica, im Norden Chiles wurde eine Solartrockenanlage errichtet, in der den Früchten das Wasser mit Sonnenenergie entzogen wird, da normales Lufttrocknen durch das dicke Fruchtfleisch nicht funktioniert. Die Anlage hat eine Länge von 18 Metern, von denen 10 Meter als Trockenfläche genutzt werden, und kann während eines Trockenzyklus von drei Tagen 60 kg frischer Früchte verarbeiten. Nach dem Trocknen haben diese Früchte ein Gesamtgewicht von nur noch 6,4 kg. Die getrockneten Früchte werden pur oder in Öl eingelegt verkauft. Seit Mai 2003 besteht ein Einfuhrverbot von in Mexiko angebauten Capsicum pubesencs in die USA, weil in importierten Früchten Fliegenlarven der Familie Tephritidae – einem Schädling, der vor allem Zitrusfrüchte bedroht – entdeckt worden waren. Eine Einfuhrbeschränkung besteht aus dem gleichen Grunde für alle anderen Arten der Gattung Capsicum. Zur Kontrolle werden 4 % aller in die Zitrusfrüchte-anbauenden Bundesstaaten Arizona, Kalifornien, Florida, Louisiana und Texas und 2 % aller in die übrigen US-Bundesstaaten importierten Paprika-Früchte auf Larvenbefall untersucht. Rocoto relleno Das bekannteste Rezept für Rocotos stammt aus Arequipa, dem Süden Perus. Der Name Rocoto relleno bedeutet „gefüllter Rocoto“. Es ähnelt den aus Ungarn bekannten gefüllten Paprika oder den in Mexiko zu findenden Chiles rellenos. Neben der Schärfe ist auch die Füllung der Früchte in den jeweiligen Gerichten sehr unterschiedlich. Für Rocoto relleno werden über Nacht in Milch eingelegte Rocoto-Hälften mit einer Masse aus Hackfleisch, hartgekochten und gewürfelten Eiern gefüllt und mit Käse überbacken. Hot Sauce Eine Besonderheit unter den Chilisaucen ist die 2Hot Rocoto Sauce einer Firma aus Miami, Florida nicht nur durch den Einsatz der Rocotofrüchte. Die Firma wirbt damit, dass ihre Sauce ohne Essig als Konservierungsmittel auskommt und zu 99 % aus Fruchtfleisch besteht. Die einzigen Zusätze sind Salz, Vitamin C und Xanthan. Durch den hohen Gehalt an Fruchtfleisch wird eine relativ hohe Schärfe ohne den Einsatz von Chilikonzentrat erreicht. Offiziell wird die Sauce nur in den USA verkauft, gelegentlich ist sie auch in deutschsprachigen Internetshops zu finden. Wichtige Sorten Siehe auch Liste der Paprika- und Chilisorten Wie bei vielen Chili- und Paprikasorten ist eine eindeutige Zuordnung durch Hybridisierung, Neuzüchtungen und Phantasienamensgebungen durch Samenanbieter und Hobbygärtner nicht möglich. So wird zum Beispiel die Bezeichnung Rocoto Manzano meist für Pflanzen mit roten, runden Früchten benutzt, man findet aber auch gelbe, runde Früchte unter diesem Namen. Zudem ist diese unter Hobbygärtnern recht verbreitete Bezeichnung eine Mischung aus der bolivianischen Bezeichnung Rocoto und der mexikanischen Bezeichnung Chile Manzano (Apfelchili). Letztere sind jedoch zumeist gelb, meistens rund, aber gelegentlich auch länglich. Der folgende Sortenüberblick führt die meist häufigsten Benennungen auf: Chile de Seda: gelbe, längliche Früchte Rocoto Canario (Kanarienfarbiger Rocoto): gelbe, runde Früchte Rocoto Manzano (Apfelrocoto): rote oder orange, runde Früchte Rocoto Peron (Birnenrocoto): rote, längliche Früchte Rocoto Rojo (roter Rocoto): rote, runde Früchte Andere Sortenbezeichnungen, die meist einer der oben genannten Gruppen zugeordnet werden können, sind unter anderem: Rocoto Aji, Rocoto Amarillo, Rocoto Caballo (Pferdechili). Gerade in Hobbygärtnerkreisen ist es üblich, eigene Namen zu vergeben, die auf den Ursprung (das Land oder teilweise auch die Stadt) der Samen hindeuten, zum Beispiel Rocoto Peru, Rocoto Bolivia, Rocoto Mexico oder Alberto's Locoto, nach dem Spender. Botanische Geschichte Die Art Capsicum pubescens wurde 1794 von Hipólito Ruiz Lopez und José Antonio Pavón erstmals beschrieben, aber lange Zeit kaum beachtet. Im „Missouri Botanical Garden Bulletin“ aus dem Jahr 1950 schätzte Charles M. Rick die Art als von „zweifelhaften Wert für die Vereinigten Staaten, weder für die Kultivierung [...] noch für züchterische Zwecke“ ein. Erst seit W. Hardy Eshbaugh die Art 1979 genauer untersuchte, steigerte sich das Interesse der Wissenschaft. Unter anderem durch seine Arbeiten konnten Beziehungen zu mehreren andinen Wildarten festgestellt werden. Erwähnung in Erzählungen Die Chavin waren ein südamerikanisches Volk, das schon vor Ankunft der Spanier in Amerika durch die Inkas erobert und vernichtet wurde. Die zehn „Legenden von Ancash“ der Chavin wurden 1961 nach langjähriger Recherche durch Marcos Yauri Monteros veröffentlicht. Die Sage „Rocoto de Peron“ erzählt von einem Hirten, der nach dem Verzehr einer Rocoto in tiefen Schlaf fällt und in einer unterirdischen Welt erwacht, deren Einwohner unsterblich sind, da sie kein Salz essen. Der Hirte lebt eine Zeitlang in der Unterwelt, schläft aber schließlich wieder ein und erwacht dort, wo er einst eingeschlafen war. Nachdem er zu seinem Dorf, wo man ihn bereits für tot gehalten hatte, zurückgekehrt war, erschien ihm im Traum ein Bewohner der unterirdischen Welt und verkündet ihm, dass er unsterblich bleibe, solange er kein Salz esse. Der Hirte ignorierte die Warnung und starb kurze Zeit darauf. Quellen und Belege Literatur Charles M. Rick: Capsicum pubescens, a little-known pungent pepper from Latin America. In: Missouri Botanical Garden Bulletin, Band 36, 1950. S. 36–42. Michael Nee: Capsicum pubescens. In: Flora de Veracruz, Fasciculo 49, 1986, ISBN 84-89600-04-X, S. 28–30. W. H. Eshbaugh: Biosystematic and evolutionary study of the Capsicum pubescens complex. In: Research reports. 1970 Projects. National Geographic Society, Washington DC 1979, , S. 143–162. Hugh Popenoe u. a.: Lost Crops of the Incas, Little-Known Plants of the Andes with Promise for Worldwide Cultivation. National Academy Press, Washington DC 1989, ISBN 0-309-04264-X (Online). Einzelnachweise Weblinks Thomas Meyer: Chili Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben) Beschreibung der Capsicum pubescens Der Rocoto-Bericht Pflanzenbeschreibung aus „Sicht der Pflanze“ Englischsprachige Seite über Rocotos, unter anderem mit Beschreibung der erfolgreichen Kreuzung mit C. cardenasii Paprika Pubescens Paprika (Lebensmittel)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Scherenschleifer
Scherenschleifer
Scherenschleifer, teils auch Scheren- und Messerschleifer oder Messer- und Scherenschleifer, kurz auch Messerschleifer, sind Handwerker, die stumpfe Messer, Scheren und anderes Schneidwerkzeug schärfen und instand setzen. Es handelt sich um einen Anlernberuf, der gleichwohl viel Erfahrung erfordert. Fahrende Messer- und Scherenschleifer, auch Wanderschleifer sowie veraltet Karrenschleifer genannt, gibt es in Europa bereits seit dem Mittelalter. Traditionell stammten sie aus einigen wenigen Herkunftsregionen im Norden Italiens und Nordwesten Spaniens. Zudem wurde das Wanderhandwerk vom sogenannten fahrenden Volk, darunter auch Sinti und Roma, ausgeübt und gehört insbesondere in Mittel- und Westeuropa zu den traditionellen Berufen der Jenischen. Sie zogen durch die Orte und boten das Schleifen und Schärfen von Messern und Scheren an. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging die Nachfrage stark zurück und kam nahezu zum Erliegen. So verringerte sich der Bedarf zunehmend, weil Schneidwaren im häuslichen Bereich infolge des Rückgangs der allgemeinen agrarwirtschaftlichen Tätigkeit und des sich ändernden Angebots und Kaufverhaltens bei Lebensmitteln und Textilien insgesamt weniger eingesetzt wurden. Der Hauptgrund für die mangelnde Nachfrage liegt jedoch im Preisverfall von Neuware durch die aufgekommene Massenproduktion bei Schneidwaren. Inzwischen wird der Beruf des Messer- und Scherenschleifers nur noch selten ausgeübt und zählt damit zu den vom Aussterben bedrohten Handwerken. Außerdem sind für Haushalt und Gewerbe vermehrt professionelle Schärfungswerkzeuge im Handel erhältlich. Der verringerte allgemeine Bedarf am Nachschärfen von stumpf gewordenen Messern und Scheren wird seit Ende des 20. Jahrhunderts meist von einer kleiner werdenden Zahl von mobilen, teils überregional umherziehenden Kleinunternehmern als Reisegewerbe und von verschiedenen stationären Fachbetrieben, teils mit Postversand, bedient. Indes besteht nach wie vor kontinuierliche Nachfrage seitens einiger Branchen und Berufsgruppen, wie zum Beispiel in der Gastronomie, bei Schlachtbetrieben und Friseursalons sowie anspruchsvolleren Hobbyköchen, die oft hochwertige und meist sehr kostspielige Schneidwerkzeuge einsetzen. Neben dem Fachhandel hat sich so seit Ende des 20. Jahrhunderts eine Reihe von stationären und mobilen Schärf- und Schleifdiensten entwickelt, die meist spezialisierte Dienstleistungen anbieten. Geschichte Entstehung des Wandergewerbes und der Schleiftechnik Mit der steigenden Nachfrage nach Hieb- und Stichwaffen ging um 1500 der Scheren- und Messerschleifer aus dem Handwerk des Waffenschmieds hervor. Der Name rührt von seiner Aufgabe her, ein Paar Scherenblätter passend zu schleifen. Während der Herstellung von Schwertern und Dolchen etc. mussten diese mehrmals geschliffen werden, was oft darauf spezialisierte Gehilfen des Waffenschmieds übernahmen. Als neben Waffen zunehmend „gute Scheren und Messer“ von verschiedenen Handwerken benötigt wurden und zudem in Privathaushalten gefragt waren, entwickelte sich im 16. Jahrhundert das Handwerk des Messerschmieds. In der Folge führten die steigenden qualitativen und quantitativen Anforderungen an die Produkte zu einer weitergehenden Arbeitsteilung in Form einer Aufspaltung des Herstellungsprozesses und es entstanden neue Berufsgruppen wie die Schmiede, Härter, Schleifer, Schwertfeger und später die Reider. Insbesondere das „Besteckmesser“ wurde vom speziellen Gebrauchsgegenstand des Adels zum wichtigen Alltagsgegenstand einer breiten Bevölkerungsschicht. Hinzu kam der allgemein steigende Bedarf an Essbestecken und Scheren sowie an Schlagmessern, Hippen und sonstigen Schneidwerkzeugen. Wie bei den Waffenschmieden setzte sich auch bei den Messermachern eine dezentrale Produktionsweise durch, die von „meistens selbstständigen Kleinmeistern mit eigener Werkstatt“ erbracht wurde. Als Folge der größeren Verbreitung und Nutzung von Messern und Scheren entstand der Bedarf, die durch Gebrauch stumpf gewordenen Schneidwerkzeuge wieder zu schärfen. Sowohl bei Messern als auch bei Scheren nutzen sich die Klingen je nach Art und Dauer des Gebrauchs ab, indem die scharfen Schneiden bei der Benutzung zunächst im Minimalbereich zur Seite weggebogen sowie nachfolgend ausgerissen und schartig werden, was ein wiederkehrendes Schleifen beziehungsweise Nachschärfen erforderlich macht. So kam es zum Wandergewerbe des Messer- und Scherenschleifers, der mit seinem Standardgerät, meist einem Schleifrad, über Land und durch die Städte zog und das Nachschärfen anbot und erbrachte. Als Schutzpatronin der Scherenschleifer gilt – wie unter anderem bei den Waffenschmieden – die Heilige Katharina von Alexandrien. Das Prinzip des Schleifens beziehungsweise (Nach-)Schärfens ist immer gleich: Die Schneide, wie zum Beispiel einer Schere, wird über eine noch härtere Fläche – einen Schleifstein beziehungsweise eine Schleifscheibe (Schleifrad) – der Länge nach bewegt. Die dabei entstehende Wärme muss gegebenenfalls abgeführt werden, damit der Stahl des Schärfguts nicht seine Härte verliert, was bereits bei Temperaturen über 170 °C der Fall ist. Die dünnen Schneiden von Messerklingen sind besonders anfällig. Die einfachste Vorrichtung, in volkskundlichen Museen noch zu besichtigen, ist ein fahrbarer, länglicher und offener Wasserkasten, in den der runde Schleifstein von oben halb hineinragt. Dieser wird mit dem Fuß oder der linken Hand umgekurbelt, während die rechte Hand das Schärfgut führt. Das Wasser dient zur Kühlung des Schleifrades und damit auch des Schärfguts. Eher selten wurde die Handkurbel oder der (Fuß-)Pedalantrieb von einer zweiten Person bedient. Bald erfolgte die Kühlung der Schleifscheibe hauptsächlich mittels eines oberhalb der Scheibe angebrachten Vorrats- und Tropfbehälters mit regulierbarem Auslaufhahn, aus dem das Schleifrad mit Wasser (oder teils auch mit Schleiföl) benetzt wurde. Neben der besseren Regulierbarkeit brachte dies den Vorteil der Gewichtsreduzierung für transportable Schleifgestelle beziehungsweise für die späteren Schleiferkarren. → Siehe zum Beispiel die entsprechende Vorrichtung im abgebildeten Holzschnitt „Der Schleyffer“ von Jost Amman aus dessen „Ständebuch“, um 1568. Karrenschleifer, Moleti, Arrotini, Afiladores Infolge des aufkommenden Bedarfs begannen Scherenschleifer im 17. Jahrhundert damit, als wandernde Handwerker ihre Dienste anzubieten. Dabei nutzten sie anfangs in der Regel ein transportables Schleifgestell mit dem Schleifrad, das sie auf dem Rücken mit sich trugen. Teils benutzten sie aber auch die in Ansiedlungen und abgelegenen Höfen etc. meist vorhandenen, größeren Schleifräder und boten so nur ihre Kunstfertigkeit als Messer- und Scherenschleifer an. Ab Ende des 17. Jahrhunderts wurde das transportable Schleifgestell überwiegend durch den robusteren Schleifkarren abgelöst und es zogen sogenannte Karrenschleifer von Ort zu Ort. Im Zuge technischer Weiterentwicklungen entstanden in Europa und im Vorderen Orient verschieden konstruierte Schleifkarren beziehungsweise Schleiferkarren, wie zum Beispiel der in Mitteleuropa weit verbreitete „Österreichische Schleifer“. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und „mit der industriellen Herstellung von Schneidwaren starb das Gewerbe des Karrenschleifers aus“. Die wandernden Handwerker stammten vielfach aus dem damaligen Welschtirol (später: Trentino) und gehörten vor allem einigen wenigen Familien aus dem Hochtal Val Rendena – auch (deutsch ‚Tal der Messerschleifer‘) genannt – nördlich von Riva del Garda an. Als sogenannte „“ verbreiteten sie das Scherenschleifer-Handwerk nicht nur in ganz Europa, sondern auch in den USA und vielen anderen Ländern der Welt. Neben der saisonalen oder jahrelangen Migration der Männer aus dem Welschtiroler Tal emigrierten viele von ihnen dauerhaft und wurden im Ausland ansässig. Eine weitere Herkunftsregion war das Résiatal im italienischen Friaul, wo es (ebenfalls) zu wenig Arbeit gab und die Männer als Scherenschleifer, sogenannte „“ durch ganz Europa und vor allem durch die früheren Länder Österreich-Ungarns zogen, um ihren Familien das Überleben zu sichern. Die typischen Schleifkarren der Arrotini wurden in den 1960er Jahren durch umgebaute Fahrräder abgelöst, bei denen das Schleifrad zwischen Lenker und Sattel fest montiert ist. Nach dem Aufbocken des Hinterrads mit einem abklappbaren oder separaten Ständer, der zudem das aufgebockte Rad standsicher macht, kann das Schleifrad über einen Riemen oder eine separate Kette durch die normalen Pedale angetrieben werden. In neuerer Zeit erfolgte eine Motorisierung durch Einsatz von motorgetriebenen Arbeitsgeräten und entsprechend umgebauten Kraftfahrzeugen. Inzwischen hat dieses Wanderhandwerk keine Bedeutung mehr. In der ländlichen spanischen Region Galicien lässt sich die Tradition der Scherenschleifer bis ins späte 17. Jahrhundert nachweisen. Die sogenannten „Afiladores“ stammten vor allem aus verschiedenen Orten im Norden der dortigen Provinz Ourense und haben dort ihre kulturelle Prägung hinterlassen. So entwickelte sich eine eigene Zunftsprache, die Barallete, die auf der galicischen Sprache basiert und diese mit einer Mischung aus technischem Wissen und dem Wanderhandwerk der galicischen Scherenschleifer anreicherte. Das ursprüngliche Arbeitsgerät der Afiladores war ein Gestell mit dem Schleifrad, das sie auf dem Rücken getragen transportierten. Später wurde daraus ein Schleifkarren, der geschoben wurde, sodann ein adaptiertes „Scherenschleifer-Fahrrad“ wie bei den italienischen Arrotini und letztlich erfolgte teils auch eine Motorisierung. Inzwischen verlor das Gewerbe der Afiladores ebenfalls seine Bedeutung. Wanderhandwerker, Scherenschleifer aus dem fahrenden Volk Fahrende Händler und Handwerker sind in Europa bereits seit dem Mittelalter anzutreffen, wobei es sich vor allem um Juden sowie um Sinti und Roma handelt. Die Ursache lag in deren gesellschaftlicher Ausgrenzung: Sie durften sich nicht als Handwerker in den Städten niederlassen und wurden nicht in die Zünfte aufgenommen. So verdienten sie ihren Lebensunterhalt als fahrende Händler, Hausierer, Kesselflicker, Scherenschleifer oder Schauspieler und Artisten. In den städtischen Gesellschaften verkauften sie Waren, die von den städtischen Händlern häufig nicht angeboten wurden. Als Handwerker deckten sie mit ihren Berufen – wie dem des Scherenschleifers – eine Nische im städtischen Handwerk ab, die einerseits eine gewisse Kunstfertigkeit erforderte, andererseits aber in der Stadt auch nicht für den Lebensunterhalt ausreichte. In der ländlichen Gesellschaft waren die Wanderhandwerker und Hausierer bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wichtig für deren Versorgung und Bedarfsdeckung. Neben den wandernden Handwerksgesellen und den saisonalen Wanderarbeitern, wie zum Beispiel den sogenannten Hollandgängern, zählte die permanente Wanderung gesellschaftlicher Randgruppen, die als Vaganten und Bettler durch die ländlichen Gebiete zogen oder vom Handel beziehungsweise Kleinhandwerk als Hausierer, Scherenschleifer und Kesselflicker lebten, zu einem der Phänomene des 18. und 19. Jahrhunderts. Laut dem LWL-Museumsleiter Willi Kulke war dabei die Anzahl der Wanderhandwerker weit größer, als die historische Darstellung es Anfang des 21. Jahrhunderts hergibt, weil gerade in diesen Erwerbszweigen die schriftliche Überlieferung mehr als mangelhaft ist. Wegen der geringen Verdienstmöglichkeiten und der Konkurrenz durch andere Händler und Handwerker waren sie oft gezwungen, ihren Wanderradius stetig zu erweitern. Folglich mussten sie längere Zeit auf der Straße leben und bei schlechten Erlösen auch um Almosen bitten. Der Übergang zur vagabundierenden Lebensweise war fließend. Das dauerhafte Leben der Wanderhandwerker auf der Straße führte zu vielen Vorurteilen und Gerüchten, wobei sie unter ihren Zeitgenossen häufig als „sittlich verdorben und des Diebstahls verdächtig“ galten. Der Alltag der fahrenden Händler und Handwerker war geprägt von ihrer schwierigen Lebensweise. Zudem waren sie ständigen Reglementierungen und rechtlichen Restriktionen unterworfen, „die dazu dienen sollten, ihnen das Leben möglichst schwer zu machen und sie idealerweise außer Landes zu treiben“. Anfangs wurden von den Behörden insbesondere für Hausierer sogenannte Handlungspatente – teils auch als Passierscheine oder Freibriefe bezeichnet – ausgestellt, die als Vorläufer des späteren Wandergewerbescheines angesehen werden können. Solche obrigkeitlichen Reglementierungen gab es nicht nur in allen deutschen Landesteilen, sondern auch in vielen Ländern Mittel- und Westeuropas. Die fahrenden Händler und Handwerker transportierten ihre Waren oder Arbeitsgeräte und Werkzeuge aus eigener Kraft, mit dem Schubkarren oder Handwagen, mit dem Rückentragekorb oder einem Bauchladen. Der Besitz eines Hundegespanns oder eines Pferdefuhrwerks galt als sozialer Aufstieg. Die typischen Schleifkarren der wandernden Scherenschleifer besaßen meist nur ein Rad, das sowohl als Antriebsrad (Schwungrad) für die Schleifscheibe als auch zum Transport des Schleifkarrens diente. Für seine Schärf- und Schleifarbeit trat der Scherenschleifer hinter das Gerät, legte den Antriebsriemen aus Leder über das Schwungrad und trieb die Schleifscheibe an. Dabei waren die meisten Schleifkarren lediglich mit einer Schleifscheibe ausgestattet – nur besser ausgerüstete Scherenschleifer konnten von einer oder teils auch mehreren Schleifscheiben zudem auf eine Polierscheibe wechseln. Im 17. und 18. Jahrhundert begannen die aus der ländlichen Armutsschicht in Tirol, der Schweiz und Süddeutschland stammenden Jenischen zu wandern und übten dabei als traditionelle Randgruppe der Gesellschaft ähnliche Berufe aus wie die ethnischen Minderheiten der Roma und Sinti: „Korbflechter, Lumpensammler und [insbesondere auch] Scherenschleifer“. Letztere Berufsgruppe wurde durch das mitgeführte Schleifwerkzeug, den Schleifkarren, zum typischen Erscheinungsbild der vorrangig vom Frühling bis zum Herbst umherziehenden Angehörigen des fahrenden Volkes. Verallgemeinernd bezeichnete die sesshafte Bevölkerung im deutschen Sprachraum diese „Fahrenden“ wie auch die Gesamtheit der Roma, Sinti und Jenischen bis in die Neuzeit als „Zigeuner“. Zwischen zunehmender Ausgrenzung und Bedarfsdeckung Gegen Ende des 19. Jahrhunderts griff im Deutschen Reich der Verein für Socialpolitik die beginnende gesellschaftliche Diskussion über das expandierende Gewerbe der Wanderhändler und Wanderhandwerker auf und erstellte eine umfangreiche Studie. Dabei standen jedoch die wirtschaftlichen Aspekte im Mittelpunkt, wie etwa die Klagen von Händlern und Handwerkern beziehungsweise ihrer Verbände über „die angeblich geschäftsschädigende Konkurrenz der Hausierer“, während die sozialen Fragen ihrer Tätigkeit vernachlässigt wurden. 1898/99 veröffentlichte der Verein für Socialpolitik seine Befunde unter dem Titel Untersuchungen über die Lage des Hausiergewerbes in Deutschland in fünf Bänden, wobei der Verein unter anderem sowohl die negative zeitgenössische Meinung über das Leben der fahrenden Händler und Handwerker als auch die zunehmenden staatlichen Sanktionen und Reglementierungen wie die restriktive Ausgabe von Wandergewerbescheinen ausführlich mitbeschrieb. Indes befand der Verein für Socialpolitik in seinem Bericht jedoch auch: „Die Pfannenflicker, Korbmacher, Scherenschleifer […] gehören teilweise zu den Zigeunern, aber sie sind im ganzen doch schon anderer Art und bilden bereits eine solidere Gruppe des wandernden Volkes, da sie wenigstens nützliche Gewerbe betreiben und in ihren Fahrten mehr auf bestimmte Gebiete beschränkt waren.“ In den 1920er Jahren bis in die 1930er Jahre kam es noch einmal zu einem vermehrten Auftreten von Scherenschleifern und Hausierern: Die Weltwirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit zwangen die Menschen, sich mit Kleinhandel oder handwerklichen Hilfstätigkeiten „auf den Straßen“ ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Während Hausierer wieder zahlreicher im ländlichen Raum unterwegs waren, boten im städtischen Raum vor allem Wanderarbeiter wie insbesondere Scherenschleifer ihre Dienste an. In Deutschland gab es von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Porajmos in der Zeit des Nationalsozialismus in Regionen mit entsprechendem Bedarf an wiederkehrenden Handwerks- und Wartungsarbeiten wie Nachschärfen von Schneidwerkzeugen oft Lagerplätze des fahrenden Volkes. Die Lohnwerk verrichtenden Handwerker hatten keine Werkstatt, sondern die Arbeiten wurden bei den Kunden ausgeführt. Hierzu zählten insbesondere auch Scherenschleifer, die beispielsweise auf der Schwäbischen Alb mit ihren einst traditionell vielen Textilbetrieben regelmäßig Arbeit fanden. Die Scheren wurden vor Ort nachgeschliffen und getestet. Ein solcher Lagerplatz für Sinti- und Roma-Wohnwagen bestand zum Beispiel im Zollernalbkreis im damaligen Dorf Steinhofen, wobei ein Gasthof im benachbarten Bisingen als Meldeort für die erforderlichen Gewerbescheine diente. Zwar endete mit dem Zweiten Weltkrieg die rassistisch motivierte Verfolgung des fahrenden Volks durch den NS-Staat, jedoch setzten sich Ausgrenzung und fehlende gesellschaftliche Partizipation auch in den deutschen Nachfolgestaaten fort. Insofern wurden den in der Nachkriegszeit und mit dem beginnenden Wirtschaftswunder wieder auftretenden umherziehenden Scherenschleifern und anderen Wanderhandwerkern weiterhin Vorurteile entgegengebracht und diese als „Zigeuner“ diskriminiert. Reiserouten und Reviere In der Regel gab es keine Absprachen über Reiserouten und „Reviere“ der umherziehenden Scherenschleifer untereinander, zumal keine Zusammenschlüsse wie Zünfte oder Verbände existierten. Lediglich innerhalb der Wanderhandwerker aus gleicher Herkunftsregion in Welschtirol, Italien und Spanien oder aus gleicher ethnischer Gruppenzugehörigkeit und „Heimatregion“ des fahrenden Volks fanden teils informelle Absprachen statt beziehungsweise gab es teils traditionelle Revieransprüche. So zogen die „Afiladores“ aus Galicien vor allem durch ganz Spanien und das benachbarte Portugal, während die „Moleta“ aus Welschtirol und die „Arrotini“ aus dem italienischen Friaul sowohl bestimmte europäische Länder als auch viele andere Länder in der ganzen Welt bereisten. Sie legten dabei oft enorme Reiserouten zurück und waren teils jahrelang unterwegs. In den von ihnen frequentierten ländlichen Gebieten trafen sie häufig auf Konkurrenz von ortsansässigen Kleinhandwerkern, die selbst als Wanderhandwerker ihr Auskommen suchten und in deren lokalem oder regionalem Umfeld ihre Dienste anboten. Für die überregional umherziehenden Scherenschleifer aus den besonderen Herkunftsregionen oder aus dem fahrenden Volk hatte dies zur Folge, dass der zu erwartende Bedarf und Verdienst aufgrund der lokalen und regionalen Konkurrenz oft nicht einschätzbar waren – und letztlich stets Änderungen der eigentlich geplanten Reiseroute vorgenommen sowie längere Zwischenstrecken ohne Verdienstmöglichkeit bewältigt werden mussten. Rückgang des Wandergewerbes in der Neuzeit In vielen Ländern West- und Mitteleuropas, so auch in Deutschland, kamen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts reisende Scherenschleifer noch „in regelmäßigen Abständen in die Wohnstraßen, um in den Haushalten ihre Dienste anzubieten und bei Bedarf Scheren und Messer zu schleifen“. In den 1950er bis 1970er Jahren wurde jedoch durch moderne Massenproduktion und eine breitere Versorgung mit Konsumware die Anschaffung von Scheren und Messern derart günstig, dass es oft kostensparender war, die altgewordenen Schneidwerkzeuge durch Billigprodukte zu ersetzen. Zudem führte die Veränderung der Arbeitswelt infolge des Nachkriegsbooms („Wirtschaftswunder“) zu einem starken Rückgang der allgemeinen agrarwirtschaftlichen Tätigkeit, sodass das Erhalten von Schärfe der in diesem Bereich eingesetzten Schneidwerkzeuge zunehmend in den Hintergrund trat. Gleichzeitig versorgten sich durchschnittliche Privathaushalte in steigendem Maße sowohl mit teil- und fertig zubereiteten Lebensmitteln als auch mit fertig konfektionierten Textilien, sodass der private Gebrauch von Schneidwerkzeugen allgemein zurückging und einen verringerten Bedarf am Nachschärfen durch Scherenschleifer zur Folge hatte. Darüber hinaus wurde diese Entwicklung durch das Aufkommen von Baumärkten und das Angebot bezahlbarer Schärfungswerkzeuge und Schleifmaschinen beschleunigt. Mittlerweile sind für Haushalt und Gewerbe vermehrt professionelle Schärfungswerkzeuge wie zum Beispiel manuelle oder elektrisch angetriebene Messerschärfer im Handel erhältlich. Indes wird von Baumarktgeräten mit „Scherenprogramm“ ohne Zerlegung von Scheren nur deren Oberseite nachgezogen, während hingegen professionelle Scherenschleifer in der Regel Scheren zerlegen und beide Schneidflächen nachschleifen. Infolge der mangelnden Nachfrage gingen die regelmäßigen Besuche von Scherenschleifern zunächst zurück und endeten schließlich nahezu gänzlich. Zudem ist die Branche durch vielerorts von Haus zu Haus gehende betrügerische „Scherenschleifer“, die gezielt durch minderwertige und überteuerte Leistungen ihre Kunden zu übervorteilen suchen oder gar auf Trickdiebstahl aus sind, in Verruf geraten. Durch die von solchen „Hausierern“ oft praktizierte falsche Schleiftechnik und/oder unzureichende Kühlung kann die Klinge „ausglühen“, wodurch „das geschliffene Objekt quasi nutzlos wird“. Gegenwart Entwicklung seit Ende des 20. Jahrhunderts Seit Ende des 20. Jahrhunderts sind Scherenschleifer immer seltener anzutreffen, da nur noch wenige Menschen ihre Dienste benötigen. Ausnahmen bilden hierbei professionelle Anwender wie beispielsweise Friseure, Köche, Schlachter oder Schneider, welche nach wie vor auf hochwertige – und oft sehr kostspielige – Schneidwerkzeuge zählen. Diese müssen in regelmäßigen Abständen fachkundig geschärft werden, um akkurates und ermüdungsfreies Arbeiten zu gewährleisten. Zudem sind mittlerweile auch „anspruchsvollere Hobbyköche […] bereit, sich scharfe Messer etwas kosten zu lassen“. Scherenschleifer gehören in Deutschland zur Berufsgruppe der Schleifer, sind jedoch im Unterschied zum Werkzeugschleifer, der seit Ende der 1980er Jahre als Schneidwerkzeugmechaniker, Fachrichtung Schneidemaschinen- und Messerschmiedetechnik bezeichnet wurde, oder zum Scheren- und Besteckschleifer kein Ausbildungsberuf, sondern nur ein Anlernberuf. Der artverwandte handwerkliche Ausbildungsberuf heißt seit August 2018 Präzisionswerkzeugmechaniker. Der Chirurgiemechaniker stellt Scheren für medizinische Zwecke her und schärft diese auch. Zudem gehören mittlerweile „Schleif- und Reparaturaufträge […] zu den häufigsten Arbeiten der Messerschmiede“, die ebenfalls zu den gefährdeten Handwerken zählen. Ähnlich wie bei den in der Produktion von Schneidwaren tätigen Scheren- und Besteckschleifern – die in Deutschland insbesondere im Bergischen Land anzutreffen sind – ist der Beruf durch „besondere Anforderungen“ gekennzeichnet und setzt viel Geschick und Erfahrung voraus. Das Schärfen von Scheren und Schneidwerkzeugen vielfältiger Art „an der Schleifmaschine erfordert ein besonders gutes Auge, exzellente Materialkenntnis und eine ausgesprochen ruhige Hand“. Dies gilt besonders für das Nachschärfen von Scheren, insbesondere von deren Innenseiten (hohle Seiten) sowie von Scheren mit gebogenen Scherenhebeln wie zum Beispiel chirurgische Scheren oder Nagelscheren, wobei sowohl viel Erfahrung und Fachkenntnisse als auch spezielle Schärfungswerkzeuge wie beispielsweise Pließtscheiben erforderlich sind. Wie in Deutschland, gibt es in Österreich, der Schweiz und Italien (Südtirol) ebenfalls keine Berufsausbildung für Messer- und Scherenschleifer, sodass die erforderlichen Fachkenntnisse und Fertigkeiten nur durch „Anlernen“ erworben werden können. Zudem gehört in Österreich, wie in anderen Ländern, das Nachschärfen von Schneidwerkzeugen mit zum Tätigkeitsbereich des artverwandten, handwerklichen Lehrberuf des Messerschmieds; indes findet seit Ende des 20. Jahrhunderts in Österreich keine Lehre (Ausbildung) zum Messerschmied mehr statt. In der Schweiz besteht zwar noch eine berufliche Grundbildung zum Messerschmied, der Handwerksberuf ist jedoch vom Aussterben bedroht. In Südtirol gibt es keine formalisierte Ausbildung zum Messerschmied. Für den artverwandten deutschen Ausbildungsberuf des Präzisionswerkzeugmechanikers existiert in Österreich, der Schweiz und Südtirol kein vergleichbares Ausbildungsangebot. Reisegewerbe, ortsfeste und mobile Schleifbetriebe In Deutschland gibt es seit Ende des 20. Jahrhunderts – neben verschiedenen stationären Schleifbetrieben mit Ladengeschäft, die teils zusätzlich auch mobil unterwegs sind – eine zurückgehende Zahl von mobilen Scheren- und Messerschleifereien, die meist auf Wochen- und Jahrmärkten oder auf Supermarkt-Parkplätzen etc. Station machen. Sie werden meistens als Reisegewerbe von Kleinunternehmern betrieben, wobei einige von ihnen zudem als ambulante Händler auftreten und nebenher Messer und Scheren verkaufen. Zur üblichen Ausstattung der mobilen Schleifwerkstätten, die in der Regel in kleinen Werkstattanhängern oder Lkws untergebracht sind, gehören vor allem elektrische Schleifmaschinen mit „Schleifsteine[n] mit grober und feiner Struktur“ sowie speziellen „Wellenschliff-Steine[n]“, die unter anderem „häufig genutzten Friseurscherenklingen zu ursprünglicher Schärfe verhelfen“. Neben der herkömmlichen Kühlung mit Wasser oder Schleiföl erfolgt das Schleifen inzwischen teils „auf Ölbasis“, indem ölgetränkte Diamant-Schleifsteine eingesetzt werden. Das beim Schleifen verdampfende Wasser oder Öl sorgt für die Kühlung der Schleifscheibe und des Schärfguts. Poliert wird das Schärfgut nach dem Schleifen meistens mittels einer elektrischen Poliermaschine mit speziellen Polierscheiben, wie zum Beispiel aus Hirschhorn oder Segeltuch-Lamellen. Insbesondere in der „Klingenstadt“ Solingen, dem Zentrum der deutschen Schneidwarenindustrie im Bergischen Land, sowie im baden-württembergischen Tuttlingen mit seiner Vielzahl von Medizintechnikunternehmen gibt es eine Reihe von ortsfesten Schleifbetrieben, die nachgeschliffene Messer und Scheren (Solingen) beziehungsweise nachgeschliffene chirurgische Scheren etc. (Tuttlingen) auf dem Postweg versenden. Hingegen werden viele der in Deutschland noch bestehenden, meist mittelständisch geführten Betriebe der Bekleidungs- und Textilindustrie wie zum Beispiel auf der Schwäbischen Alb bis in die Gegenwart (2020) regelmäßig von Scherenschleifern besucht, die ihre Arbeit vor Ort erledigen. Zudem gibt es einige „Reiseschleifer“, die ihre Dienste landesweit zu festen Terminen in Einzelhandelsgeschäften wie Haushalts- und Metallwarengeschäften sowie auf Verbrauchermessen anbieten. In der österreichisch-italienischen Region Tirol zirkulierten um 2015 noch mehrere Scherenschleifer per Klein-Lkw. In Süd- und Südosteuropa kamen gegen Ende des 20. Jahrhunderts anstelle der „Scherenschleifer-Fahrräder“ der Arrotini teils umgebaute Motorroller oder Kleinkrafträder zum Einsatz und letztlich auch Dreirad-Kastenwagen bis hin zu Kleintransportern und kleinen Lkws, bei denen ein oder mehrere – am Kraftrad beziehungsweise im Aufbau des Nutzfahrzeugs montierte – Schleifräder mit der Getriebewelle des Motors verbunden sind oder teils auch elektrisch betrieben werden. Ähnliche Entwicklungen der Branche fanden und finden in vielen Ländern der Welt statt. Während in unterentwickelten Ländern und Regionen bis in die Gegenwart (2020) teils noch einige Wanderhandwerker mit oft einfachster Schleif-Ausstattung umherziehen, sind mobile Scheren- und Messerschleifer gegenwärtig meist mit umgebauten Fahrrädern oder Krafträdern beziehungsweise entsprechend ausgestatteten Kleintransportern oder Klein-Lkws unterwegs. Insgesamt ist ihre Zahl jedoch in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen, vor allem in den Industrienationen und Schwellenländern. In den Ländern der Anglosphäre wie Britische Inseln (Vereinigtes Königreich und Irland), Vereinigte Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland gehört ein Schärfservice-Stand oft zum festen Angebot der traditionellen „Farmers’ markets“ (Bauernmärkte), die dort regelmäßig und vor allem im ländlichen Raum stattfinden. Meist handelt es sich dabei um einen in der jeweiligen Region beheimateten Schärf- und Schleifdienst, der sich so eine Stammkundschaft aufbauen kann. In diesen Ländern werden von den Schärf- und Schleifdiensten oft sogenannte Nassschleifmaschinen mit Elektroantrieb eingesetzt, bei denen eine langsam drehende Schleifscheibe einseitig durch ein Wasserbad läuft und so gekühlt wird. Zusätzlich kommen oft spezielle, ebenfalls elektrisch betriebene Bandschleifmaschinen zum Einsatz. Solche Nass- und Bandschleifmaschinen sind teilweise auch bei Schärf- und Schleifdiensten in Skandinavien, Deutschland, Österreich, der Schweiz und einigen anderen europäischen Ländern anzutreffen; zudem werden sie vielfach von anderen handwerklichen Anwendern verwendet. Daneben gibt es inzwischen in Deutschland und vielen anderen Ländern eine Reihe von mobilen Schärf- und Schleifdiensten, die ihre mobile Schleifgeräte-Ausstattung in Kleintransportern mit sich führen und – „wie einst ihre regional für Textilbetriebe tätigen Vorgänger aus dem fahrenden Volk“ – auf Bestellung zu ihren Kunden kommen, wo sie ihre Arbeiten direkt vor Ort erledigen. Oft haben sie sich auf bestimmte Branchen spezialisiert und sind zudem in einem regional begrenzten Gebiet tätig. Die jeweilige Spezialisierung ist beispielsweise ausgerichtet auf Großküchen, Hotels, Gastronomie und Schlachtbetriebe (Schärfen von Schneidwerkzeugen wie Kochwerkzeuge, Besteckmesser, Aufschnittmaschinenmesser, Kuttermesser, Fleischwolfmesser und Fleischwolfscheiben), Friseursalons (Schärfen von Friseurscheren) oder kommunale Grünflächenämter, Garten- und Landschaftsbaubetriebe und Forstbetriebe (Schärfen von Rasenmähermessern wie Spindel-, Unter- und Sichelmesser, Sägeketten von Kettensägen sowie von sonstigen Gartengeräten). Der Vorteil für die Kunden besteht vor allem darin, dass die Schneidwerkzeuge sofort wieder zur Verfügung stehen und etwaige Ersatzausstattungen bei Weggabe außer Haus nicht erforderlich sind. Zudem erfolgt bei unzureichender Schnittleistung in der Regel eine sofortige (kostenlose) Nacharbeit. Teils bieten diese mobilen Schleifdienste auch spezielle Reparaturarbeiten an oder übernehmen verwandte Zusatzleistungen wie beispielsweise das in der Gastronomie und Schlachtbetrieben regelmäßig erforderliche Abrichten oder Abschleifen von Schneidebrettern und Hackklötzen aus Kunststoff oder Holz gemäß der HACCP EG-Hygienenorm. Marktsituation gegen Anfang des 21. Jahrhunderts Das Gewerbe der „umherziehenden“ Messer- und Scherenschleifer steht insgesamt unter zunehmendem Marktdruck infolge der Globalisierung. Die erfolgte Verlagerung der Massenproduktion von Schneidwaren in Niedriglohnländer sowie die Vermarktung im globalen Onlinehandel oder als Aktionsware durch Discounter, Kaufhäuser und Möbelhausketten sorgen für anhaltenden und weiteren Preisverfall der Neuware, zumal der Einsatz von neueren Technologien bei der Fertigung und werksseitigen Schärfung wie Stahlwerkstoffauswahl und -vergütung, Laserschneid- und -schärftechnik sowie Keramikbeschichtung von Schneidflächen zu brauchbaren Ergebnissen und längerer Schnitthaltigkeit führen. So wird für den normalen Verbraucher mit geringeren Ansprüchen der Austausch von stumpf gewordenen Schneidwerkzeugen durch Neuanschaffung inzwischen meist billiger und verursacht zudem weniger Aufwand als ein regelmäßiges professionelles Nachschärfen. Dem gegenüber haben sich wenige große und viele alteingesessene Nischenhersteller für den professionellen Bedarf an Messern und anderen Schneidwaren, die zum Beispiel in Deutschland vor allem in Solingen angesiedelt sind, im Markt behaupten können und konnten seit Ende der 2000er Jahre sogar Umsatzzuwächse verzeichnen. In der Folge wird der Bedarf am Nachschärfen und regelmäßigem Grundschliff der Schneidwerkzeuge seitens der professionellen Anwender und anspruchsvolleren Hobbyköche die Ende des 20. Jahrhunderts teils eingetretene Entwicklung des Messer- und Scherenschleifergewerbes hin zu spezialisierten Dienstleistungsanbietern weiter begünstigen. Rezeption Allgemeines Die Figur des Scherenschleifers, des „Fremde[n] in der Stadt“ beziehungsweise im Ort, inspirierte nicht nur den Volksmund, sondern auch viele Kunst- und Kulturschaffende, wie Maler, Bildhauer, Autoren, Fotografen, Filmschaffende, Komponisten und Musiker. In der Alltagskultur findet sich zudem das Motiv des traditionellen Scherenschleifers mit seinem typischen Schleifrad unter anderem bei Dekorationsobjekten, Zierfiguren oder Spielzeugartikeln, wie zum Beispiel als: dekorative Porzellanskulptur (wie von der Manufaktur Meißner Porzellan) eher seltene, dekorative Bronzefigur (wie als Bronzefigur „Scherenschleifer-Feuerzeug“ aus Wien um 1900, das einen Scherenschleifer mit Schleifkarren bei der Arbeit zeigt, bei dem das Schleifrad als Zündfläche für Streichhölzer dient) oder sehr selten als Elfenbeinfigur dekorative geschnitzte Holzfigur, teils als Weihnachtskrippenfigur historisches Blechspielzeug (wie vom ehemaligen Spielwarenhersteller Arnold aus Nürnberg) Zinnfigur oder als Teil von Zinnfigurengruppen Gegenwärtig (2020) befassen sich verschiedene Museen und Ausstellungen mit der historischen Lebens- und Arbeitswelt von fahrenden Messer- und Scherenschleifern, wobei unter anderem typische Arbeitsgeräte, Dokumente und Fotografien gezeigt werden. Zudem wurden in neuerer Zeit in den früheren Herkunftsregionen der „Moleta“ und „Arrotini“ in Italien sowie der „Afiladores“ in Spanien einige Erinnerungsorte geschaffen, die sich der Historie der Scherenschleifer mit speziellen Museen, Ausstellungen, Veranstaltungen und in Form von Denkmälern widmen. → Siehe auch nachfolgenden Unterabschnitt Museen, Ausstellungen, Erinnerungsorte und Denkmäler Nach dem Gewerbe der Scherenschleifer ist die Scherenschleiferstraße in der Lüneburger Altstadt benannt. Redensarten, Märchen, Volkslieder Das Gewerbe des Scherenschleifers wurde früher oft in abwertender Weise betrachtet. So existiert bis in die Gegenwart (2020) im Schwäbischen das Schimpfwort „Scheraschleifer“, was einen Taugenichts beschreibt, der unzuverlässig ist und dem man nicht trauen kann. Manche der umherziehenden Scherenschleifer erbrachten – unter anderem auch auf der Schwäbischen Alb mit ihren einstmals vielen Textilbetrieben – mit schlechtem Werkzeug und teils Unvermögen (zu hohe Temperatur des Schleifguts, unverhältnismäßig viel Materialabtrag) keine nachhaltige Schärfleistung, sodass die Messer und Scheren schnell wieder stumpf wurden. Gelegentlich hatten Scherenschleifer früher ein dressiertes Äffchen dabei, um Publikum anzuziehen. Daher rührt die Radfahrer-Redensart: Er sitzt da wie’n Affe auf’m Schleifstein – das Tier „saß“ auf dem drehenden Stein natürlich nie, sondern hüpfte dauernd mit dem Hinterteil auf und ab. Im Märchen Hans im Glück der Gebrüder Grimm ist der Scherenschleifer der allerletzte und -ärmste Tauschpartner des Hans, und auch er übervorteilt ihn noch. Die Figur des Scherenschleifers wird in verschiedenen, meist volkstümlichen Liedern behandelt. Ein (schlüpfriges) Volkslied, das die Thematik der umherziehenden Männer aufgreift und noch in der Gegenwart (2020) im süddeutschen Raum bei Feierlichkeiten oder zu manch späteren Stunde im Wirtshaus von sich gegeben wird, heißt Wir sind die Schleifer. Otto Hausmanns volkstümliches Gedicht Der Scherenschleifer wurde 1890 von Robert Kratz (1852–1897) als „Lied im Volkston für Männerchor“ vertont. In Flandern veröffentlichte Jan Bois in seiner 1897 erschienenen Sammlung von Hundert alten flämischen Liedern unter anderem ein bekanntes Scherenschleifer-Lied aus der Region Leuven mit dem Titel . Es folgte später eine deutsche Übertragung (Kommt Freunde in die Runde). Kunst In der bildenden Kunst, vor allem in der Malerei, waren Darstellungen von Scherenschleifern ein beliebtes Sujet. Zu den bekanntesten Werken gehören unter anderem: Scherenschleifer, um 1568, Holzschnitt von Jost Amman aus dem Ständebuch Der Scherenschleifer, um 1650, Radierung von Adriaen van Ostade Der Scherenschleifer, 1808–1812, Gemälde von Francisco de Goya Scherenschleifer, um 1840, Gemälde von Alexandre-Gabriel Decamps Der Scherenschleifer, 1891, Gemälde von Giovanni Giacometti Der Messerschleifer, 1907, Gemälde von Jean-François Raffaëlli Der Messerschleifer, vor 1913, Gemälde von Carl Maria Seyppel Der Scherenschleifer, 1913, Gemälde von Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch Der Messerschleifer, 1926, Holzschnitt von Todros Geller Scherenschleifer, 1936, Gemälde von Felix Nussbaum Der englische Bildhauer Newbury Abbot Trent schuf für das 1957 erbaute Buchanan House in London, ein Hochhaus im St.-James’s-Bezirk im Stadtteil Westminster, mehrere Natursteinreliefs, die historische Londoner Straßenszenen zeigen. Darunter befindet sich auch eine Reliefdarstellung eines Scherenschleifers mit seinem Schleifkarren bei der Arbeit, der dabei von einem Kind beobachtet wird. Belletristik Johannes Vilhelm Jensen: Hverrestens-Ajes – Anders med slibestenen. In: Ders.: Himmerlandshistorier, tredie Samling. Gyldendal, Kopenhagen 1910 (dänisch; als deutsche Übersetzung unter dem Titel Himmerlandsgeschichten in verschiedenen, teils eingeschränkten Ausgaben bei mehreren Verlagen erschienen. Der Literaturnobelpreisträger Jensen behandelt in der Erzählung das Schicksal eines armen Mannes aus dem Himmerland, der als Scherenschleifer umherzieht, damit seine Familie überlebt.). Fotografien Von dem österreichischen Fotografen Emil Mayer, der vor allem Wiener Straßenszenen und „Typen“ fotografisch dokumentierte, sind Aufnahmen von Scherenschleifern im Wiener Straßenbild aus der Zeit zwischen 1905 und 1914 bekannt. Der deutsche Fotojournalist Richard Peter porträtierte 1939 im Rahmen seiner Arbeiterfotografien einen Scherenschleifer mit seinem Schleifkarren, den er als selbstbewussten und weitgereisten Handwerker inszenierte. Die in der Tschechoslowakischen Republik (ČSR) aufgenommene Serie von fünf Fotografien befindet sich inzwischen im Besitz der Deutschen Fotothek in Dresden. Zum Bestand der Deutschen Fotothek gehört zudem eine dokumentarische Fotografie eines Scherenschleifers in einem Berliner Hinterhof von 1967, die von dem deutschen Fotografen (und späteren RAF-Anwalt) Klaus Eschen stammt. Film L’Arrotino (2001; dt. „Der Scherenschleifer“), 35-mm-Kurzfilm von Straub-Huillet. Unter dem Himmel von Paris (1951; Originaltitel: Sous le ciel de Paris), französischer Spielfilm von Julien Duvivier mit Albert Malbert in der Rolle des Scherenschleifers. Adieu Léonard (1943), französischer Spielfilm von Pierre Prévert. Die Rolle des Scherenschleifers wird von Guy Decomble vertreten. Regain (1937), französischer Spielfilm von Marcel Pagnol nach einem Roman von Jean Giono. Eine der Hauptfiguren des Films ist der Scherenschleifer Gédémus, der von Fernandel gespielt wird. Angèle (1934), französischer Spielfilm von Marcel Pagnol nach einem Roman von Jean Giono. Die Rolle des Scherenschleifers Tonin übernahm Charles Blavette. Liliom (1934), französischer Spielfilm von Fritz Lang. Der Autor, Dichter und Schauspieler Antonin Artaud spielt die Rolle des Scherenschleifers und Schutzengels. Musik In der klassischen Musik befassten sich mehrere Komponisten mit der Figur des Scherenschleifers, wie zum Beispiel Michel Pignolet de Montéclair (1667–1737) in seinem barocken Musikstück Le rémouleur. Museen, Ausstellungen, Erinnerungsorte und Denkmäler Über den historischen Wanderberuf des Messer- und Scherenschleifers informieren verschiedene Museen und Ausstellungen, wie insbesondere einige Volkskunde- und Heimatkundemuseen, Freilichtmuseen, sowie Arbeitswelt-, Handwerks- und Industriemuseen. Dabei gehören zu den üblichen Exponaten typische Arbeitsgeräte, wie zum Beispiel tragbare Schleifgestelle, Schleifkarren und die adaptierten „Scherenschleifer-Fahrräder“ der Moleta, Arrotini und Afiladores, sowie Dokumente und Fotografien. Solche Bestände finden sich zum Beispiel in folgenden Ländern und Museen (Auswahl): Deutschland: im Deutschen Landwirtschaftsmuseum Schloss Blankenhain in Blankenhain in Sachsen; im Deutschen Museum in München; in der Historischen Messerschmiede in Mössingen in Baden-Württemberg; im Hohenloher Freilandmuseum in Schwäbisch Hall-Wackershofen in Baden-Württemberg; im Industriemuseum Elmshorn in Elmshorn in Schleswig-Holstein; im dezentralen LWL-Industriemuseum in Westfalen-Lippe; im Niederrheinischen Freilichtmuseum in Grefrath in Nordrhein-Westfalen Niederlande: im Freilichtmuseum Ootmarsum in Ootmarsum in der Provinz Overijssel; im Zuiderzeemuseum in Enkhuizen in der Provinz Nordholland Österreich: im Bezirksmuseum Landstraße in Wien; im privaten „Historischen Museum rund um Schneidwaren mit Erlebnis-Schleiferei“ (das in den 2010er Jahren von der in Hattingerberg in Tirol ansässigen Schleiferei von Helmut und Waltraud Rief eingerichtet wurde) Italien: im Museo etnografico del Friuli in Udine im Friaul; siehe zudem nachfolgend zu den Erinnerungsorten, Museen und Denkmälern in der Provinz Trentino sowie im Résiatal im Friaul Spanien: im Museo das Mariñas in Betanzos in der Provinz A Coruña im Nordwesten von Galicien; siehe zudem nachfolgend zu den Erinnerungsorten und Denkmälern in der galicischen Provinz Ourense Australien: im National Museum of Australia in der Hauptstadt Canberra (gezeigt wird der , deutsch ‚Sägendoktor-Wagen‘ – Mobilheim und mobile Schleifwerkstatt von Harold Wright, mit dem er von 1935 bis 1969 zusammen mit seiner Frau und Tochter durch den Nordwesten von Victoria und New South Wales in Australien reiste. Der einzigartige Lkw-Anhänger befindet sich seit 2002 im Besitz des National Museum of Australia und gehört nach erfolgter Restaurierung zu den „Highlights“ der Dauerausstellung.) Das LWL-Industriemuseum – Westfälisches Landesmuseum für Industriekultur setzte sich in seiner 2013 erstellten Ausstellung „Wanderarbeit. Mensch – Mobilität – Migration. Historische und moderne Arbeitswelten“ mit dem Phänomen der Arbeitsmigration auseinander. Einer der insgesamt 15 Ausstellungsbereiche befasste sich unter dem Titel „Scherenschleifer – Fremde in der Stadt“ mit dem historischen Wanderberuf der Messer- und Scherenschleifer. Zu den Ausstellungsexponaten gehörte unter anderem ein adaptiertes „Scherenschleifer-Fahrrad“. Die Sonderausstellung wurde von 2013 bis 2015 an vier verschiedenen Standorten des dezentralen Industriemuseums in Westfalen und Lippe gezeigt. Als Begleitmaterial erschien 2013 ein Ausstellungskatalog. In der norditalienischen Provinz Trentino, dem ehemaligen Welschtirol, erinnert seit 1969 ein Denkmal im Hochtal Val Rendena an das historische Wandergewerbe und die Arbeitsmigration der Männer aus dem Tal, die früher als „“ arbeitssuchend durch ganz Europa wanderten und teils in die USA und viele andere Länder der Welt emigrierten. Das monumentale Denkmal befindet sich in der Trentiner Ortschaft Pinzolo und besteht aus einer überlebensgroßen Bronzeplastik auf einem massiven Natursteinblock. Die Plastik wurde von dem italienischen Bildhauer und Franziskaner Silvio Bottes geschaffen und stellt einen Scherenschleifer realistisch beim Schleifen von Messern an dem typischen pedalbetriebenen Schleifgerät dar. Das Denkmal wurde finanziert durch Spenden von vielen, aus dem Val Rendena ausgewanderten Scherenschleifern aus der ganzen Welt. 2018 fand in dem Ort ein internationales Treffen von Messer- und Scherenschleifern statt. In der Trentiner Gemeinde Cinte Tesino widmet sich ein kleines Schleifer-Museum den ehemaligen Wandermesserschleifern aus dem Ort und deren Arbeits- und Lebensbedingungen. Eine weitere Erinnerungsstätte befindet sich im Résiatal im italienischen Friaul, und zwar in der Gemeinde Resia im Ortsteil Stolvizza, dem „Dorf der Arrotini“, der Scherenschleifer. Das dort 1999 eröffnete Scherenschleifer-Museum informiert über die ehemaligen Wanderhandwerker aus dem Dorf und dem Val Resia, die früher durch ganz Europa und vor allem durch die Länder Österreich-Ungarns zogen. Ein zuvor im Jahr 1998 eingeweihtes Denkmal, bestehend aus einem großen, in einen Felsbrocken eingearbeiteten Flachrelief aus Bronze, zeigt einen Arrotini mit seinem typischen umgebauten „Scherenschleifer-Fahrrad“ aus den 1960er Jahren. Jährlich wird in dem Ort eine , ein „Fest der Scherenschleifer“, gefeiert. Im spanischen Galicien wird in der Provinz Ourense das Wandergewerbe der ehemals aus dieser Region stammenden Scherenschleifer, der Afiladores, unter anderem mit einem Denkmal in der Gemeinde Nogueira de Ramuín gewürdigt. Eine lebensgroße Bronzeplastik, geschaffen von dem spanischen Bildhauer Manuel García de Buciños, zeigt einen Afilador mit seinem Schleifkarren beim Schärfen eines Messers. Die Plastik steht auf einem hohen Steinsockel mit Wasserspeiern, inmitten der Wasserfläche einer Brunnenanlage. Ein weiteres Scherenschleifer-Denkmal, ebenfalls eine Bronzeplastik, steht in der Gemeinde Esgos, die in der Nähe von Ourense gelegen ist. Medien Literatur Fernsehen Einer der letzten seiner Art: Der mobile Messer- und Scherenschleifer Marco Sala. In: Franken Fernsehen, Sendung vom 18. April 2018 (2:51 Minuten) Angelo Schmid – Mobiler Messerschleifer. In: ORF 2, Sendereihe heute konkret, Sendung vom 25. Mai 2015 (3:28 Minuten) Der Scherenschleifer – Überleben auf Messers Schneide. In: SWR Fernsehen BW, Sendereihe Mensch Leute, Sendung vom 9. März 2015 (30:00 Minuten) Lokalzeit Südwestfalen: Der mobile Scherenschleifer. In: WDR Fernsehen, Sendereihe Lokalzeit, Sendung vom 16. Dezember 2014 (3:40 Minuten) Wanderschleifer – Messerschleifer „Rief“. In: Tirol TV, Sendereihe Allerhand aus’m Tyrolerland, Sendung vom 28. Februar 2014 (3:11 Minuten) Hörfunk  – Hörfunksendung des SDR vom 29. November 1994 (5:35 Minuten; Permalink zur Archivalieneinheit R 1/005 D941071/108 im Findbuch des Landesarchivs Baden-Württemberg) Weblinks Der Beruf des „Messerschleifers“ auf rief-dieschleiferei.at (Kurzinformationen, Filme und Info-Flyer als Downloads, Linkliste) Einzelnachweise Hinweis: Am Ende von Absätzen gegebene Einzelnachweise beziehen sich jeweils auf den gesamten Absatz davor. Handwerksberuf Historischer Beruf cs:Brus en:Grindstone (tool) he:מלאכת טוחן ta:சாணைக்கல் tr:Zımpara taşı
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wespenbussard
Wespenbussard
Der Wespenbussard (Pernis apivorus) ist eine Vogelart aus der Familie der Habichtartigen (Accipitridae). Er ist etwa so groß wie ein Mäusebussard. Die Art besiedelt den größten Teil Europas und das westliche Asien. Der deutsche Name bezieht sich auf die besondere Nahrung, die vor allem aus der Brut sozialer Faltenwespen der Gattung Vespula besteht. Der Wespenbussard zeigt in Anpassung an diese spezielle Nahrung zahlreiche morphologische und phänologische Besonderheiten, so sind die Nasenlöcher schlitzförmig, insbesondere das Kopfgefieder ist sehr steif und die Füße sind für eine grabende Tätigkeit optimiert. Die Art kommt erst sehr spät aus den afrikanischen Winterquartieren zurück, so dass die Jungenaufzucht in die Zeit der größten Häufigkeit von Wespen, den Hochsommer, fällt. Beschreibung Wespenbussarde sind etwas größer als Mäusebussarde, sie sind auch langflügeliger und langschwänziger als diese Art, aber im Mittel etwas leichter. Die Körperlänge beträgt 50–60 cm, wovon 21–27 cm auf den Schwanz entfallen. Die Flügelspannweite beträgt 118–144 cm. Der Geschlechtsdimorphismus bezüglich der Größe ist sehr gering; Männchen erreichen 94 % der Größe der Weibchen. Männchen aus Mitteleuropa haben Flügellängen zwischen 383 und 441 mm, im Mittel 409 mm, Weibchen aus diesem Gebiet messen 397–430 mm, im Mittel 415 mm. Repräsentative Daten zum Gewicht liegen bisher offenbar kaum vor, im August wogen Männchen aus Europa 790–943 g, im Mittel 836 g; Weibchen 790–1050 g, im Mittel 963 g. Der Kopf wirkt etwas taubenähnlich, da der über dem Auge liegende Supraorbitalschild wenig ausgebildet ist. Adulte männliche Vögel haben in der Regel einen blaugrau gefärbten Kopf, bei Weibchen ist diese Färbung reduziert oder fehlt, sodass der Kopf wie die übrige Oberseite überwiegend braun ist. Der relativ kleine und schlanke Schnabel ist schwarzgrau. Bei Altvögeln ist die Wachshaut dunkelgrau und die Iris gelb. Die Beine sind ebenfalls gelb, die Krallen sind schwarz. Bei adulten Vögeln ist die gesamte Oberseite fast einfarbig braun. Hand- und Armschwingen sowie der Stoß zeigen eine breite, dunkle Endbinde und außerdem zwei weitere, schmalere, dunkle Binden; die eine nahe der Basis und die zweite etwa auf Höhe des ersten Drittels der Federn. Im Gegensatz dazu weist der Stoß des Mäusebussards meistens 8–12 Querstreifen auf. Die Unterseite ist erheblich variabler. Bei den meisten Vögeln sind Körper und alle Unterflügeldecken auf weißlichem Grund grob mittelbraun bis beigebraun quergebändert. Davon deutlich abgesetzt sind die weißlich grauen Schwingen und die ebenso gefärbte Schwanzunterseite. Die dunklen Binden der Schwingen und des Schwanzes sind wesentlich auffälliger als auf der Oberseite. Seltener sind Vögel mit sehr dunkler, dunkelbrauner Unterseite oder solche, die unterseits cremefarben bis fast weiß sind. In allen Färbungsvarianten zeigt die Art jedoch die dunklen Binden auf Schwanz und Schwingen sowie einen großen dunklen Bugfleck an der Vorderkante des Unterflügels, letzterer ist bei hellen Vögeln sehr auffällig. Im Flug sind die Flügelenden deutlich gerundet, der Flügelhinterrand ist leicht s-förmig geschwungen. Die Schwanzlänge entspricht etwa der Flügelbreite, die Schwanzecken sind gerundet. Beim Kreisen werden die Flügel waagerecht gehalten, im Gleitflug meist leicht nach unten gebogen. Jungvögel unterscheiden sich bis zur ersten Mauser deutlich von den adulten Tieren. Der Rumpf ist bei dunklen Vögeln einfarbig, bei hellen Vögeln vor allem auf Hals und Brust kräftig gefleckt oder gestrichelt. Flügel und Schwanz zeigen wie bei adulten Vögeln drei Binden, die Endbinde ist jedoch deutlich schmaler. Sowohl Schwanz als auch Schwingen sind zusätzlich mehr oder weniger regelmäßig dicht dunkel quergebändert, so dass die drei Binden insgesamt viel weniger auffallen. Die Wachshaut ist gelb, die Iris dunkelbraun. Der Wespenbussard zeigt in Anpassung an seine hochspezialisierte Ernährung einige besondere Merkmale, die ihn von allen anderen europäischen Greifvögeln unterscheiden. Der Schnabel ist für das Herausziehen von Wespenlarven aus Waben optimiert. Er ist relativ lang und schmal, der Oberschnabel ist nur schwach gekrümmt. Zum Schutz vor Stichen sind die Nasenlöcher schmal und schlitzförmig, das Gefieder am Kopf ist schuppenartig und vor allem in der Augenumgebung sehr dicht und steif. Die Beine sind vor allem an das Graben im Boden angepasst. Der Tarsometatarsus ist kurz und sehr kräftig, wobei der unbefiederte Teil sehr dick beschuppt ist. Die Krallen sind kaum gebogen. Lautäußerungen Insgesamt sind Wespenbussarde im Vergleich zu anderen mitteleuropäischen Greifvogelarten auffallend still. Der noch am häufigsten zu hörende Balzruf ist ein mehrsilbiges, flötendes Wimmern oder Pfeifen, das etwa mit „bliüi-joid-joid“, „gliüü-hü-hü-hü-hü-ü“ oder „flieuw“ wiedergegeben werden kann. Dieser Ruf wird bei Balzflügen geäußert, aber auch bei Erregung oder Bedrohung. Noch seltener wahrgenommen wird ein vergleichsweise leiser, klappernder und in der Tonhöhe variierender „Rasselruf“, der vor allem bei der Ablösung des Partners am Nest eingesetzt wird. Ebenfalls im Gegensatz zu den meisten anderen mitteleuropäischen Greifvogelarten sind auch junge Wespenbussarde nach dem Ausfliegen fast stumm. Nur wenn ein Altvogel mit Futter zum Horst kommt, rufen die Jungvögel gelegentlich und auch dann nur maximal etwa eine Minute lang. Diese Bettelrufe ähneln den Balzrufen der Altvögel. Verbreitung Die Art bewohnt ein relativ kleines Areal in der westlichen Paläarktis. Das Verbreitungsgebiet umfasst den größten Teil Europas sowie das südwestliche Sibirien. Die östliche Arealgrenze ist bisher nicht genau bekannt, sie wird im Gebiet Tomsk – Nowosibirsk – Barnaul vermutet. Der Wespenbussard fehlt im atlantisch geprägten äußersten Westen und im Norden Europas. In Großbritannien kommt die Art nur im Süden und Osten sowie lokal im Osten Schottlands vor; die weitere nordwestliche beziehungsweise nördliche Verbreitungsgrenze verläuft durch das südöstliche Norwegen, Mittelschweden und Mittelfinnland und dann in Russland etwa zwischen 61° und 63° Nord. Die südliche Verbreitungsgrenze verläuft durch Zentralspanien, Süditalien und durch den Süden Griechenlands. Weiter östlich teilt sich das Verbreitungsgebiet unter Umgehung der zentralasiatischen Steppenregion in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Die südliche Grenze des großflächigen nördlichen Teilareals folgt nach Norden der Westküste des Schwarzen Meeres. Der weitere Verlauf der Südgrenze ist dort ebenfalls nicht genau geklärt, sie verläuft vermutlich entlang einer Linie Wolgograd – Uralsk – Omsk bis in das nördliche Vorland des Altai. Das relativ schmale südliche Teilareal erstreckt sich am Nordrand der Türkei entlang und vom Ostufer des Schwarzen Meeres bis zum Kaukasus und bis in den Norden des Iran. Das Verbreitungsgebiet des Wespenbussards umfasst damit im Wesentlichen die gemäßigte Zone des subkontinentalen bis kontinental geprägten Europas und des westlichsten Asien. Systematik Für die Art werden keine Unterarten unterschieden. Einige Autoren betrachteten den sehr ähnlichen Schopfwespenbussard (Pernis ptilorhynchus) als Unterart des Wespenbussards, diese Zuordnung akzeptierten aufgrund morphologischer Unterschiede jedoch weder Glutz von Blotzheim et al. noch Ferguson-Lees & Christie. Eine molekulargenetische Untersuchung der Gattung Pernis bestätigte diese Auffassung, die beiden Arten stellen demnach auch keine Schwestertaxa dar. Lebensraum Der Wespenbussard bewohnt zumindest teilweise bewaldete Landschaften aller Art; bevorzugt werden Waldbereiche, die durch Lichtungen oder abwechslungsreiche Ränder strukturiert sind oder die in der Nähe zu abwechslungsreichen Feuchtgebieten liegen. Das regelmäßige Vorkommen reicht vom Flachland bis in die montane Stufe, höchste Brutnachweise erfolgten in den Alpen auf etwa 1500 m. Ernährung Der Wespenbussard ist hinsichtlich seiner Ernährung hochspezialisiert und nimmt in dieser Hinsicht eine Sonderstellung unter den europäischen Greifvögeln ein. Er ernährt sich zumindest im Brutgebiet ganz überwiegend von der Brut sozialer Faltenwespen der Gattung Vespula, in Mitteleuropa vor allem von der Brut der Deutschen Wespe und der Gemeinen Wespe. Die wesentliche Suchstrategie ist das ausdauernde Sitzen in Bäumen unterhalb der Baumkrone in aufgelockerten Wäldern, an Waldrändern und an ähnlichen, offenen Strukturen. Dabei suchen Wespenbussarde vermutlich nach fliegenden Wespen, die in Bodennähe verschwinden. Die gefundenen Nester werden ausgegraben und die Teile mit Larven und Puppen stückweise zum eigenen Nest transportiert, bis alle Waben ausgebeutet sind. Während des Grabens schließt der Wespenbussard seine Augen; die vor allem am Kopf sehr dichten Federn schützen den Vogel vor Stichen. Neben Wespennestern werden auch die Nester von Hummeln ausgegraben. Kleine Wirbeltiere spielen vor allem in nassen und kühlen und damit wespenarmen Sommern eine wichtige Rolle, am häufigsten erbeutet die Art Frösche der Gattung Rana – sowohl „Grünfrösche“ (Teich-, See- und Kleiner Wasserfrosch) als auch Gras- und Moorfrösche. Auch nestjunge Vögel gehören regelmäßig zur Beute. Nach Magenuntersuchungen umfasst das Nahrungsspektrum neben diesen Hauptbeutetieren aber auch Reptilien sowie ein breites Spektrum von vor allem bodenbewohnenden Wirbellosen; viele dieser Arten fangen Wespenbussarde offenbar bei ausgedehnten Jagden zu Fuß. Kleine Säugetiere wie Mäuse sind hingegen seltene Ausnahmebeute. Aas nehmen Wespenbussarde nur selten zu sich; bisweilen an toten Tieren beobachtete Exemplare haben es in der Mehrzahl der Fälle auf die darin enthaltenen Fliegenmaden abgesehen. Im Spätsommer werden auch Früchte verzehrt, vor allem Pflaumen, Kirschen und Beeren. Raumnutzung und Siedlungsdichte Bisher liegt nur eine Untersuchung zur Größe des Aktionsraumes in der Brutzeit mit Hilfe von Telemetriesendern vor. In den Jahren 1993–1995 wurden in Schleswig-Holstein zwei Männchen und zwei Weibchen besendert. Die beiden Männchen beflogen eine Fläche von 17,0 km² und 22,0 km². Sie zeigten deutliches Territorialverhalten, die durch Revierflüge markierte Fläche war jedoch deutlich kleiner und umfasste nur etwa 6,4 km² bzw. 3,8 km². Die beiden Weibchen nutzten etwa doppelt so große Flächen wie die Männchen, die beflogenen Areale waren 43,5 km² bzw. 45,0 km² groß. Die Weibchen zeigten kaum Territorialverhalten, und ihre Aktionsräume überschnitten sich großräumig mit denen von Artgenossen. Zur Siedlungsdichte liegen nur wenige Angaben vor. Auf einer 640 km² großen Fläche in Nordrhein-Westfalen wurden zwischen 1976 und 1998 13 bis 46 Paare gefunden, was 2,0 bis 7,2 Paaren/100 km² entspricht, wobei die Siedlungsdichte eine stark abnehmende Tendenz aufwies. Für die niederländische Provinz Drenthe wurden zwischen 1980 und 1991 etwa 80 Paare ermittelt, entsprechend 2,0 Paaren/100 km². Fortpflanzung Balz und Nestbau Nach der Ankunft im Brutrevier balzt das Männchen insbesondere im Mai und dann wieder ab Mitte Juli und im August. Der spektakuläre Balzflug besteht aus langen Flügen in eine Richtung, die plötzlich in einen flachen Wellenflug übergehen. Jeweils am höchsten Punkt einer „Welle“ streckt das Männchen die Flügel nach oben und schlägt sie 4 bis 10 Mal über dem Rücken fast zusammen, dies wird oft als „Schmetterlingsflug“ bezeichnet. Dabei wird häufig gerufen. Dieser Balzflug findet sowohl über dem Horstbereich statt als auch bis zu mehreren Kilometern von diesem entfernt und dient vermutlich sowohl der Paarbindung als auch der Abgrenzung von Nahrungsterritorien gegen Artgenossen. Das Nest wird fast immer im größten jeweils verfügbaren Wald und möglichst weit von dessen Rändern entfernt errichtet. Zur Nestanlage werden Bäume aller Art genutzt. Die genutzten Bäume sind häufig eher schwächere Individuen des Bestandes. Das Nest wird in der Baumkrone häufig so angelegt, dass es sowohl von oben als auch von unten gut gegen Sicht geschützt ist, bei schwächeren Bäumen nah am Stamm, bei dickstämmigen Bäumen häufig auf einem schwächeren Seitenast. Beide Geschlechter bauen. Vor allem neugebaute Nester sind für einen Vogel dieser Größe auffallend klein, ihr Durchmesser beträgt 65–90 cm und die Höhe 25–40 cm. Spätestens mit Beginn der Brutzeit und dann bis zum Ausfliegen der Jungvögel werden die meisten Nester ständig mit belaubten Zweigen belegt; durch die über den Rand hängenden Zweige ist das Nest oft leicht schirmförmig. Gelege und Aufzucht der Jungvögel Der Wespenbussard zählt in Europa zu den ausgesprochen spät brütenden Greifvogelarten. Die Eiablage erfolgt in Mitteleuropa frühestens Mitte, meist jedoch erst ab Ende Mai bis Mitte Juni. Bei einer Untersuchung in den Niederlanden wurde als frühester Legebeginn der 19. Mai und als spätester Legebeginn der 14. Juni festgestellt, im Mittel fiel der Legebeginn auf den 1. Juni. Die Gelege bestehen ganz überwiegend aus zwei Eiern, selten aus nur einem und sehr selten aus drei Eiern. In den Niederlanden bestanden von insgesamt 42 Gelegen 39 aus zwei Eiern; zweimal wurden ein Ei und einmal drei Eier gefunden. Die recht rundlichen Eier messen in Mitteleuropa im Mittel 49,8 × 40,8 mm und wiegen im Mittel etwa 45 g. Die Eier sind auf weißlichem bis hellbräunlichem Grund sehr intensiv variabel rotbraun bis schwarzbraun verwaschen gefleckt. Häufig ist die Fleckung so ausgedehnt, dass die Grundfarbe kaum noch erkennbar ist. Die Brutzeit beträgt etwa 34 Tage. Beide Partner brüten, lösen sich ab und gehen unabhängig voneinander auf Nahrungssuche. Etwa in den ersten drei Wochen nach dem Schlupf der Jungen beschafft das Männchen den überwiegenden Teil der Nahrung, danach beteiligt sich auch das Weibchen immer stärker an der Nahrungssuche, wobei im Normalfall immer ein Partner am Nest bleibt. Die angebrachten Waben werden vom Altvogel Zelle für Zelle mit dem Schnabel geleert und die Larven und Puppen einzeln an die Jungvögel verfüttert. Die Jungvögel können mit 16–20 Tagen stehen, im Alter von etwa vier Wochen erwacht bei ihnen der Scharrtrieb; sie graben dann das Nestmaterial um. In auffallendem Gegensatz zu allen anderen europäischen Greifvogelarten koten die Jungvögel nicht so früh wie möglich über den Nestrand, so dass auf dem Boden unter dem Nest auch bei älteren Jungvögeln nur wenige Kotspritzer zu finden sind. Der Kot wird stattdessen in bestimmten Bereichen auf dem Nestrand abgelegt und bildet dort kleine Häufchen. Nach etwa 44 Tagen werden die Jungvögel flügge, sie werden bis zum Abzug der Altvögel auf dem Nest mit Futter versorgt. Geschlechtsreife und Lebensalter Wespenbussarde sind im zweiten Lebensjahr ausgefärbt und dann vermutlich auch geschlechtsreif. Über das Durchschnittsalter freilebender Wespenbussarde ist nichts bekannt, das durch Beringung nachgewiesene Höchstalter betrug 29 Jahre bzw. 27 Jahre und 11 Monate. Wanderungen Der Wespenbussard ist Langstreckenzieher, die gesamte Population überwintert in Afrika südlich der Sahara. Wespenbussarde halten sich in Europa etwa von Anfang Mai bis Ende August auf, also nur etwa vier Monate. Sie sind als Thermikzieher ausgesprochene Schmalfrontzieher, größere Meere werden an den schmalsten Stellen überflogen. Der Zug konzentriert sich daher auf die bekannten Schwerpunkte des Vogelzuges in Europa und im Nahen Osten. Herbstzug Die skandinavische Population zieht im Herbst über Falsterbo, dort zogen im Herbst von 1973 bis 1990 im Mittel jährlich 4704 Wespenbussarde nach Süden. Der Wegzug beginnt dort in der zweiten Augustdekade. Der Hauptdurchzug findet in der letzten August- und der ersten Septemberdekade statt und läuft dann schnell aus. Maximal wurden in Falsterbo an einem Tag 2240 Wegzügler beobachtet. Letzte Durchzügler werden dort Ende September oder Anfang Oktober beobachtet. Nach Alter differenzierte Beobachtungen in den Jahren 1986–1990 ergaben dort ein etwas anderes Bild. Der Wegzug der Altvögel war schon in der ersten Augustdekade im Gange und beginnt wohl schon Ende Juli. Der Median des Wegzuges der Altvögel fiel auf den 27. August, letzte adulte Durchzügler wurden Mitte September beobachtet. Der Wegzug der Jungvögel begann erst Ende August, der Wegzugmedian fiel auf den 11. September, war also 15 Tage später als jener der Altvögel. Die letzten Jungvögel ziehen in der ersten Oktoberdekade. Ebenso wie die skandinavischen Vögel zieht auch der größte Teil der west- und mitteleuropäischen Population nach Südwesten und verlässt Europa über Gibraltar, maximal wurden hier im Herbst 1972 117.000 Durchzügler gezählt. Der Hauptdurchzug findet dort in den ersten beiden Septemberdekaden statt, Mediandatum des Wegzuges war hier in den Jahren 1967–1970 der 5. September. Nur ein kleiner Teil überquert das Mittelmeer auf der Route Sizilien – Cap Bon. Ein Teil der osteuropäischen Population zieht nach Südosten über den Bosporus; zwischen 1966 und 1972 wurden dort maximal 25.000 Durchzügler pro Herbst gezählt. Der weitere Zug verläuft dann entlang der östlichen Mittelmeerküste über die östliche Türkei, Syrien, den Libanon und Israel nach Afrika. Der überwiegende Teil der osteuropäischen und westasiatischen Wespenbussarde zieht jedoch an der Ostküste des Schwarzen Meeres entlang nach Süden, dann durch den Osten der Türkei und ebenfalls über Syrien, den Libanon und Israel nach Afrika. Die weltweit größte Konzentration ziehender Wespenbussarde wird daher über Israel beobachtet. In Kefar Kassem nördlich von Tel Aviv wurden von 1982 bis 1987 im Herbst im Mittel 337.000 Durchzügler erfasst, in den weiter nördlich gelegenen „Northern Valleys“ wurden von 1988 bis 1990 im Mittel 370.000 Durchzügler pro Herbst mit Tagessummen von bis zu 84.000 Individuen gezählt. Um individuelle Zugwege verfolgen zu können, wurden in Schweden in den Jahren 1997–2000 Wespenbussarde mit Satellitentelemetriesendern versehen. Dabei konnten deutlich unterschiedliche Zugstrategien von adulten und juvenilen Vögeln festgestellt werden. Fünf adulte Vögel zogen zwischen dem 16. August und dem 7. September, im Mittel am 23. August, aus dem Brutgebiet ab, ein weiterer, verletzt gefundener Vogel 11 Tage nach seiner Freilassung am 15. September. Fünf Vögel verließen Schweden über Falsterbo, der sechste Vogel überquerte die Ostsee weiter östlich. Alle sechs Vögel zogen dann in einem relativ schmalen Korridor nach SW durch Deutschland, Frankreich und Spanien, überquerten das Mittelmeer bei Gibraltar und zogen dann über die westliche Sahara weiter nach Süden. Die fünf vor dem Abzug gesunden Vögel trafen zwischen 21. September und 21. Oktober, im Mittel am 5. Oktober, in ihren westafrikanischen Winterquartieren zwischen Sierra Leone und Kamerun ein. Drei Jungvögel zogen erst zwischen dem 5. und 15. September ab, im Mittel am 12. September, und flogen mehr oder weniger direkt nach Süden. Ein Vogel überquerte das Mittelmeer weit östlich von Gibraltar etwa auf Höhe der Balearen und erreichte Afrika in Algerien, zwei weitere Vögel zogen über das zentrale Mittelmeer oder über Italien und erreichten Afrika bei Cap Bon in Tunesien. Von ihrem Ankunftsort in Afrika zogen die Jungvögel dann über die Zentralsahara weiter nach Süden. Auf ihrem Zug legten die Jungvögel bis zu 16 Tage lange Pausen ein und erreichten dieselben Winterquartiere wie die adulten Vögel daher erst zwischen dem 11. und 13. November, also im Mittel 37 Tage nach den Altvögeln. Winterquartier Bis einschließlich 1996 lagen von in West- und Mitteleuropa sowie in Skandinavien und Finnland nestjung beringten Wespenbussarden 54 Funde aus den Winterquartieren vor. Diese Wiederfunde erfolgten alle in der Zone des tropischen Regenwaldes südlich der Sahara von Sierra Leone im Westen bis in die Demokratische Republik Kongo in Zentralafrika. Nach Sichtbeobachtungen überwintert die Art jedoch auch im gesamten übrigen Afrika südlich der Sahara, möglicherweise überwintern hier vor allem Vögel aus den östlichen Teilen des Verbreitungsgebietes, die Afrika überwiegend von Nordosten erreichen. Frühjahrszug Vorjährige Vögel werden in Europa nur sehr selten beobachtet, diese Vögel übersommern in ihrem ersten Lebensjahr also wohl überwiegend in den Winterquartieren. Wann die adulten Wespenbussarde aus ihren afrikanischen Winterquartieren abziehen, ist bisher nicht bekannt. Über Gibraltar beginnt der Heimzug zögerlich um den 20. April, erreicht Anfang Mai den Höhepunkt und läuft dann sehr schnell aus, mit letzten Heimzüglern Anfang Juni. Median des Heimzuges ist dort der 11. Mai. Der größte Teil der Ostzieher verlässt Afrika an dessen Nordostspitze, umfliegt das Rote Meer am Nordende bei Eilat und zieht dann weiter nach Norden und Nordosten. Der zeitliche Verlauf des Zuges über Eilat ähnelt mit ersten Durchzüglern im April dem über Gibraltar, der Zug kulminiert dort ebenfalls Anfang Mai und läuft dann Ende Mai bereits aus. Ähnlich wie auf dem Herbstzug über Kefar Kassem zogen hier im Mittel der Jahre 1977–1988 rund 363.000 Individuen pro Frühjahr durch, maximal wurden im Frühjahr 1985 852.000 Heimzügler beobachtet. In Mitteleuropa trifft die Art frühestens Ende April in den Brutgebieten ein, meist jedoch erst Anfang bis Mitte Mai. Bestandsentwicklung und Gefährdung Großräumige Bestandserfassungen sind bei dieser Art aufgrund der späten Ankunft in den Brutgebieten und der sehr heimlichen Lebensweise sehr schwierig und liegen daher kaum vor; die folgenden Bestandsangaben stellen daher nur grobe Schätzungen dar. Für Deutschland wurden um das Jahr 2002 4000–4900 Paare angegeben, für Österreich etwa 1500 und für die Schweiz Mitte der 1990er Jahre 400–600 Paare. Der Gesamtbestand in Europa und Vorderasien wurde um 2000 auf etwa 130.000 Paare geschätzt. Da maximal jedoch allein in Eilat 852.000 Heimzügler erfasst wurden (s. o.), was etwa 425.000 Paaren entsprechen würde, ist selbst bei Berücksichtigung der in der obigen Gesamtzahl nicht enthaltenen sibirischen Population von einer erheblichen Unterschätzung des Bestandes auszugehen. Seit 1979 fällt die Art unter das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (engl. CITES). Sie ist in Anhang A der Verordnung (EG) Nr. 338/97 (EU-ArtenschutzVO) gelistet und genießt somit in der Europäischen Union den höchsten Schutzstatus. Hier ist daher ohne formelle Genehmigung der zuständigen Behörde jede Einfuhr oder Vermarktung, also auch der Kauf oder das Zurschaustellen zu kommerziellen Zwecken verboten; in Deutschland ist das wie das Bejagen, eine Entnahme aus der Natur oder erhebliches Stören eine Straftat; das gilt für lebende Exemplare ebenso wie für Teile aus Tieren dieser Art (Präparate) oder für Eier. Wie die meisten europäischen Greifvogelarten ist der Wespenbussard in Anhang I der Vogelschutzrichtlinie der EU aufgenommen mit der Folge, dass die Mitgliedstaaten zu besonderen Schutzmaßnahmen verpflichtet sind. In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2020 wird die Art in der Kategorie V (Vorwarnliste) geführt. Weltweit gilt der Wespenbussard laut IUCN als ungefährdet („Least Concern“). Sonstiges Im Englischen wird der Wespenbussard irrtümlich auch Honey Buzzard genannt, obwohl Bienen und ihr Honig in der Ernährung des Wespenbussards praktisch keine Rolle spielen, da sie ihre Waben an für den Vogel meist unzugänglichen Stellen bauen. Der Name Läuferfalke hingegen rührt daher, dass Wespenbussarde auf Nahrungssuche auch längere Strecken zu Fuß zurücklegen können. Quellen Literatur Rob G. Bijlsma: Ecologische Atlas van de Nederlandse Roofvogels. Schuyt & Co, Haarlem, 1993, ISBN 90-6097-348-8. Dick Forsman: The Raptors of Europe and the Middle East. A Handbook of Field Identification. T & A D Poyser, London 1999, ISBN 0-85661-098-4 Urs N. Glutz von Blotzheim, Kurt M. Bauer, Einhard Bezzel: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 4: Falconiformes. 2., durchgesehene Auflage. AULA-Verlag, Wiesbaden 1989, ISBN 3-89104-460-7. Ornithologische Arbeitsgemeinschaft für Schleswig-Holstein und Hamburg e.V. (Hrsg.): Vogelwelt Schleswig-Holsteins. Band 2: Volkher Looft, Günther Busche: Greifvögel. Karl Wachholtz, Neumünster 1981, ISBN 3-529-07302-4. Einzelnachweise Weblinks Javier Blasco-Zumeta, Gerd-Michael Heinze: Geschlechts- und Altersbestimmung (PDF-Datei, englisch) Federn des Wespenbussards Habichtartige Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig%20K%C3%BCbler
Ludwig Kübler
Ludwig Kübler (* 2. September 1889 in Unterdill, München; † 18. August 1947 in Ljubljana) war ein deutscher General der Gebirgstruppe im Zweiten Weltkrieg. Er gilt als Organisator der Gebirgstruppe und durchlief während der ersten Phase des Krieges eine überdurchschnittliche Laufbahn, bevor er Anfang 1942 bei Hitler in Ungnade fiel, weil er die in ihn gesetzten Erwartungen als Armeeführer nicht erfüllte. In der zweiten Hälfte des Krieges befehligte er Verbände in der Partisanenbekämpfung. Im Mai 1945 geriet er in jugoslawische Kriegsgefangenschaft und wurde schließlich wegen seiner drakonischen Maßnahmen während des Ostfeldzuges und seiner auf dem Balkan begangenen Kriegsverbrechen zum Tode durch den Strang verurteilt und hingerichtet. Eine 1995 verfasste Studie des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes bescheinigte Kübler eine „äußerst positive Einstellung zum Nationalsozialismus“ sowie „überzogene Härte und Brutalität“, was die Umbenennung einer nach ihm benannten Kaserne zur Folge hatte. Person und Persönlichkeit Über Küblers Privatleben ist nur wenig bekannt. Mit seiner Ehefrau Johanna hatte er zwei Töchter (Elisabeth und Marianne) und lebte mit seiner Familie in München. Ein enges Verhältnis schien ihn nur mit seinem Burschen Hans Dauerer zu verbinden, der ihn von 1939 bis 1945 auch im Privatleben begleitete. Kübler galt als eine „schwierige Persönlichkeit“. Einerseits beschäftigte er sich ausführlich mit Geschichte, war ein guter Cellist und beeindruckte seine Mitmenschen durch körperliche Kraft und Fitness. Andererseits reagierte er empfindlich auf Kritik und duldete keinen Widerspruch von Untergebenen. Dabei zeigte er sich eigensinnig, dogmatisch und hatte „heftige Umgangsformen“. Wegen einer Verwundung im Ersten Weltkrieg war sein Gesicht durch große Narben entstellt. Eine kurze Charakterisierung von Ludwig Kübler hinterließ auch dessen langjähriger Bekannter Wolfgang Bernklau. Dieser beschrieb ihn als „hagere Gestalt, mittlere Größe (175 cm)“, seine Sprache sei „bestimmt, schneidend, apodiktisch, unmelodisch“ gewesen. Kübler sei voll berufsbedingter Klischees und Vorurteile gewesen und habe scharfe Selbstkritik geübt. Er sei außerdem „verschlossen, nachtragend und nicht gesellig“ gewesen. Alles in allem ein distanzierter und autoritärer Offizier. „Spürbare menschliche Wärme, nachsichtiges, verzeihendes Vergessen waren ihm fremd. Als Vorgesetzter und auch als Gerichtsherr mit gnadenentscheidender Zuständigkeit zog er unnachsichtige Strenge vor.“ Deshalb sei er von seinen Untergebenen eher gefürchtet worden. Er war wenig auf ein kameradschaftliches Verhältnis bedacht und zog sich aus Gesprächen zurück, die nicht von Militär oder Krieg handelten. Kübler war in seinen frühen Lebensjahren wohl eher dem konservativ-nationalen Lager zuzuordnen, bis er ab 1933 in näheren Kontakt zur SA und NSDAP kam. Ab diesem Zeitpunkt begann er sich zunehmend mit Hitler und dessen Bewegung zu identifizieren und zählte schon bald zu den Nationalsozialisten im Offizierskorps der Wehrmacht. So unterschrieb er seine Befehle während des ganzen Krieges mit „Heil Hitler“ oder „Heil dem Führer“, dem Angriffsbefehl seiner Division gegen Frankreich 1940 gab er den Decknamen „Der Führer“. Dies alles zu einer Zeit, in der die Masse der Offiziere ihre Grußformeln noch auf das militärisch Normale beschränkten. In seinem Feldlager befanden sich zudem stets die Fahne der Bewegung und ein Bild des „Führers“. Auch traf er Maßnahmen, um die Gebirgstruppe im nationalsozialistischen Sinn zu indoktrinieren. Diese positive Einstellung gegenüber dem Nationalsozialismus bewahrte Kübler auch in der Kriegsgefangenschaft. So berichtete Generalmajor Gerhard Henke später über ein Treffen zwischen Wehrmachtgeneralen und Vertretern der Antifa in der jugoslawischen Gefangenschaft, bei dem Generalleutnant Wolfgang Hauser feststellte, dass „der Nationalsozialismus für unser Vaterland und Volk ein großes Unglück gewesen sei“. Kübler verließ daraufhin demonstrativ die Besprechung. Biografie Jugend und frühe Laufbahn Ludwig Kübler wurde 1889 in Unterdill bei München als Sohn des Arztes Wilhelm Kübler und dessen Ehefrau Rosa, geb. Braun geboren. Er hatte sechs Brüder und zwei Schwestern. Im Jahre 1895 wurde Kübler in die Volksschule von Forstenried eingeschult, die er nach drei Jahren verließ, um in München seinen Abschluss zu machen. Von 1895 bis 1902 besuchte Kübler das Progymnasium des Klosters Schäftlarn und anschließend das Rosenheimer Gymnasium und das humanistische Münchener Ludwigsgymnasium. Seinen Abschluss machte er 1908 in allen Fächern mit der Note 1. Obwohl ihm nach seinem Schulabschluss der Eintritt in das renommierte Maximilianeum offenstand, entschied sich Kübler für eine Karriere im Militär und trat am 20. Juli 1908 als Fahnenjunker in das 15. Infanterie-Regiment ein. Nach seiner Beförderung zum Fähnrich besuchte er vom 1. Oktober 1909 bis zum 14. Oktober 1910 die Kriegsschule in München und schloss sie als Fünftbester von 166 Teilnehmern seines Jahrgangs ab. Mit Wirkung zum 23. Oktober 1910 erhielt er das Patent zum Leutnant. In den folgenden Jahren nahm Kübler an verschiedenen Lehrgängen mit Schwerpunkt im Maschinengewehr-Einsatz teil und wurde von seinem Vorgesetzten Oberst Ludwig Tutschek zur Organisation der Mobilmachungspläne seines Regiments herangezogen. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges wurde das 15. Infanterie-Regiment „König Friedrich August von Sachsen“ an die Westfront verlegt, wo es im August und September 1914 an den Kämpfen in Lothringen und um Saint-Quentin beteiligt war. Kübler, zu diesem Zeitpunkt Zugführer in der Maschinengewehr-Kompanie, erlitt am 24. September eine schwere Verletzung durch Granatsplitter, welche eine auffällige große Narbe in seinem Gesicht hinterließ. Obwohl die Verletzung noch nicht ganz ausgeheilt war, kehrte er bereits am 13. Januar 1915 zu seinem Regiment zurück, das zu dieser Zeit an der Somme kämpfte. In diesen ersten Monaten an der Front erwarb Kübler das Eiserne Kreuz II. und I. Klasse (16. September bzw. 17. November 1914). Ab dem 21. September 1915 diente er als Adjutant seines Regimentes und blieb es den größten Teil des Krieges über. Das Regiment wurde 1916 unter anderem in der Schlacht um Verdun sowie in der Schlacht an der Somme eingesetzt. Da Kübler inzwischen hauptsächlich mit Stabsarbeit beschäftigt war, erhielt er im Oktober 1917 im Stab der 2. Infanterie-Division eine improvisierte Generalstabsausbildung unter Kriegsbedingungen. Danach führte er vom 25. Januar bis zum 31. März 1918 die Maschinengewehr-Kompanie seines Stammregimentes. Anschließend übernahm Kübler bis zum 11. April die Maschinengewehr-Scharfschützenabteilung 2. Nach einer kurzzeitigen Versetzung zum II. Bataillon des 12. bayerischen Infanterieregiments wurde ihm am 26. Juni 1918 erneut die Führung der Maschinengewehr-Kompanie im 15. Infanterie-Regiment übertragen. Schon im Juli stieg er zum stellvertretenden Kommandeur des II. Bataillons auf. Die 1914 erlittene Wunde brach jedoch erneut auf, so dass sich Kübler wieder ins Lazarett begeben musste. Er beendete den Krieg als stellvertretender Kommandeur des II. Bataillons im Rang eines Hauptmanns und wurde sowohl mit dem Bayerischen Militärverdienstorden IV. Klasse mit Schwertern und Krone als auch mit dem Ritterkreuz II. Klasse des Sächsischen Albrechts-Ordens mit Schwertern ausgezeichnet. Während des Krieges waren drei seiner Brüder gefallen. Karriere in Reichswehr und Wehrmacht Beförderungen 16. Oktober 1908 Fahnenjunker 20. Februar 1909 Fähnrich 23. Oktober 1910 Leutnant 9. Juli 1915 Oberleutnant 18. August 1918 Hauptmann 1. August 1928 Major 1. April 1932 Oberstleutnant 1. Juli 1934 Oberst 1. Januar 1938 Generalmajor 1. Dezember 1939 Generalleutnant 1. August 1940 General der Infanterie 24. November 1941 General der Gebirgstruppen(lediglich Umbenennung des vorherigen Dienstgrads) Zum Zeitpunkt des Waffenstillstandes von Compiègne (11. November 1918) lag Kübler im Reservelazarett in Erlangen. Nach seiner Entlassung übernahm er am 16. Februar 1919 die Heimatschutz-Kompanie des 15. bayerischen Infanterie-Regimentes. Mit dieser beteiligte er sich neben dem Freikorps Epp und anderen Truppen an der blutigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik. Dabei nahm er an den Kämpfen in Augsburg vom 20. bis 23. April und der Besetzung des Allgäus teil. In einer Beurteilung seines Vorgesetzten wurde Kübler im August 1919 erstmals als „kaltblütig und unerschrocken“ charakterisiert. Nach weiteren kurzfristigen Verwendungen als Adjutant und Ordonnanzoffizier verschiedener Einheiten (Infanterie-Führer 21 und 22) erhielt Kübler am 15. Oktober 1919 eine Planstelle als Chef der 10. (Gebirgsjäger-)Kompanie des III. (Gebirgsjäger-)Bataillons im Reichswehr-Schützen-Regiment 42 in Kempten (Allgäu). Da seine Vorgesetzten sich für seinen Verbleib in den Streitkräften einsetzten, wurde er auch bei deren Verkleinerung in die neue Reichswehr übernommen. Während der Zeit als Kompaniechef erhielt er den Spitznamen „Latschen-Nurmi“. Dies war eine Anspielung auf den finnischen Langstreckenläufer Paavo Nurmi (1897–1973) und sollte verdeutlichen, dass Kübler selbst bei Übungen im Gelände stets ausdauernd zu marschieren pflegte. Zum 1. Oktober 1921 wurde Kübler versetzt und tat nunmehr Dienst in verschiedenen höheren Generalstäben. Zunächst wurde er vier Jahre lang im Truppenamt des Reichswehrministeriums verwendet. Daran schloss sich am 1. Oktober 1925 die Versetzung zum Stab des Gruppenkommandos 1 in Berlin an, bevor er am 1. Oktober 1927 zum Stab der 1. Division in Ostpreußen versetzt wurde, wo er als Lehrer für die Generalstabsausbildung fungierte. Erst am 1. Juni 1931 übernahm Kübler erneut das Kommando über ein Bataillon des 19. (Bayerisches) Infanterie-Regiments in München. Doch diese Tätigkeit endete bereits im September des folgenden Jahres. Danach trat er eine Stelle als Chef des Generalstabs des Generalkommandos VII in München an. Ab Oktober 1933 fungierte er zudem als Chef des Stabes der 7. (Bayerische) Division und erreichte bald den Rang eines Obersten. Während der Tätigkeit im Stab des Generalkommandos pflegte Kübler engen Kontakt zur NSDAP, der SA und SS, was mit der neuen Rekrutierungspolitik der Reichswehr nach dem Antritt des nationalsozialistischen Reichswehrministers Werner von Blomberg (1878–1946) zusammenhing. Dieser betrieb die Gleichschaltung der deutschen Streitkräfte im Sinne des Nationalsozialismus und verfügte, dass bevorzugt Angehörige dieser Organisationen eingestellt werden sollten. Offiziell sollte die Reichswehr von deren vormilitärischer Ausbildung profitieren. Mit der planmäßigen Vergrößerung der Wehrmacht auf 36 Divisionen wurde auch die Aufstellung neuer Gebirgsformationen beschlossen. Als Kadereinheit wurde am 1. Juni 1935 in München eine Gebirgsbrigade aufgestellt und Ludwig Kübler mit deren Kommando betraut. Kübler beteiligte sich somit maßgeblich an der Organisation dieses Großverbands. Er überwachte sowohl den Ausbau von deren Liegenschaften als auch die Ausbildung und Ausrüstung der angehörigen Soldaten. Schon hier zeigte sich seine rücksichtslose Einstellung gegenüber den eigenen Soldaten. So erklärte er nach einem Manöver gegenüber einem Zugführer, der seine Stellung geräumt hatte: „Es gibt mehrere Möglichkeiten der Abwehr. Wenn aber Verteidigung befohlen ist, so kämpft jeder Soldat in seiner Stellung, bis der Feind erledigt oder bis er selbst entweder erschossen, erstochen oder erschlagen ist.“ Da man sich an italienischen und schweizerischen Formationen orientierte, wurde Kübler im Herbst 1935 zu den Manövern der schweizerischen Streitkräfte kommandiert. Der Verband wuchs bis zum Oktober 1937 auf drei volle Gebirgsjäger-Regimenter (Nr. 98, 99 und 100) und ein Gebirgs-Artillerie-Regiment 79 an. An der Spitze der Gebirgsbrigade beteiligte sich Kübler, seit Beginn des Jahres Generalmajor, ab 12. März 1938 am „Anschluss“ Österreichs. Bereits am 23. März begann nach der unblutigen Besetzung die Rückverlegung der Gebirgsbrigade nach Deutschland, welche danach am 1. April 1938 offiziell in 1. Gebirgs-Division umbenannt wurde. Noch im selben Jahr wurde Küblers Division zur Vorbereitung des „Fall Grün“, dem Angriff auf die Tschechoslowakei, während der Sudetenkrise erneut mobilgemacht und noch im September in Grenznähe verlegt. Vom 1. bis zum 12. Oktober 1938 besetzte die 1. Gebirgs-Division gemäß dem Münchener Abkommen einen Teil des Sudetengebietes und kehrte später in ihre Garnisonen zurück. Divisionskommandeur 1939–1940 Am 25. August 1939 erreichte die 1. Gebirgs-Division der Befehl zur Mobilmachung. Sie verließ ihre Garnisonen zwei Tage später und wurde per Bahntransport in den Osten der Slowakei verlegt, um von dort aus am Überfall auf Polen teilzunehmen. Die Division Küblers überschritt erst am 7. September 1939 die slowakisch-polnische Grenze mit dem Befehl, in Richtung Lemberg vorzustoßen und den polnischen Truppen somit den Rückzug nach Südosten zu versperren. Der Vormarsch erfolgte unter ständigen Gefechten, während Kübler von seinen Soldaten verlangte, in „einem rücksichtslosen Vorwärtsdrang“ den Kontakt zum ausweichenden Gegner nicht abreißen zu lassen. Er befahl, „dort wo der Feind den Versuch macht, sich zu stellen, unter Ausnutzung des Motors seine Reihen ohne Rücksicht auf die Vorgänge links und rechts geradeaus kühn durchzubrechen, wo er sich hartnäckig wehrt, mit wohlgezielten Schüssen der weit vorne eingeteilten mot. Art. zu zermürben und im Angriff der Jäger zu zerschlagen“. Nach dem Überschreiten des San befahl Kübler am 10. September die Bildung einer motorisierten Voraustruppe, welche die polnischen Verbände zu durchstoßen und nach Lemberg vorzudringen hatte, was später als „Sturmfahrt nach Lemberg“ bekannt wurde. Am späten Nachmittag des folgenden Tages erreichte die Voraustruppe ihr Ziel. Sie konnte die Stadt zwar nicht einnehmen, erstürmte aber die Höhen westlich und nördlich davon, bevor sie vom Rest der Division abgeschnitten wurde. In den folgenden Tagen wurden alle Teile der Division, besonders aber die Vorausabteilung unter dem Kommando des Obersten und späteren Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner (1892–1973), von mehr als drei polnischen Divisionen angegriffen, welche versuchten, nach Südosten durchzubrechen. Trotz enormer Anstrengungen und außerordentlich hoher Verluste wurde Lemberg nicht eingenommen. Am 20. September flauten die Kämpfe ab, nachdem sowjetische Panzer vor der Stadt erschienen waren. Gemäß einem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes wurde Lemberg der Roten Armee überlassen, und die Gebirgsjäger zogen sich wieder hinter den San zurück. In den knapp zwei Wochen andauernden Kämpfen hatte die ursprünglich 17.000 Mann starke 1. Gebirgsjäger-Division unter Küblers Kommando 1402 Mann verloren. Davon waren 42 Offiziere, 69 Unteroffiziere und 313 Mannschaften gefallen. Damit entfielen knapp 5,5 % der gefallenen Offiziere beim Überfall auf Polen auf Küblers Division, welche vorläufig nicht mehr frontverwendungsfähig war. In den Reihen der Bataillons- und Regimentskommandeure regte sich Kritik wegen der hohen Verluste, für welche nach Oberst Schörner hauptsächlich Küblers „rücksichtslose Vorwärtstaktik“ verantwortlich war. Auch spätere Autoren kamen zu dem Schluss, dass dieses brutale und rücksichtslose Vorgehen mit erheblichen Risiken verbunden war und angesichts eines stärkeren, weniger angeschlagenen und resignierten Kontrahenten oder mit etwas weniger Glück zur Vernichtung der Division hätte führen können. In jener Zeit wurde in der Truppe für Kübler der Name „Bluthund von Lemberg“ geprägt und die „Sturmfahrt auf Lemberg“ erhielt den Beinamen „Langemark der Gebirgsjäger“. Küblers störrisches Beharren auf seiner einmal getroffenen Entscheidung, Lemberg um jeden Preis einnehmen zu wollen, wurde vielfach kritisiert. Das sinnlose Anrennen gegen die befestigte Stadt eines längst besiegten Landes wurde als militärisch wenig sinnvoll erachtet. Dessen ungeachtet und der schweren eigenen Verluste zum Trotz zeichnete Hitler Ludwig Kübler am 27. Oktober 1939 mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes aus, kurz darauf erfolgte seine Beförderung zum Generalleutnant. Ab dem 10. Mai 1940 nahmen Kübler und die 1. Gebirgs-Division am Westfeldzug teil. Sie marschierten über Südbelgien und die Maas bis zum Oise-Kanal. Diesen überwand die Division am 5. Juni und drang mehr als 200 Kilometer vor. Auch hier zeigte Kübler Härte gegenüber seinen eigenen Soldaten. So wurde zum Beispiel ein Oberschütze namens Bachl schon wegen geringfügiger Vergehen zum Tode verurteilt und exekutiert, nachdem Kübler jedes Gnadengesuch abgelehnt hatte. Auch als der Regimentskommandeur des Gebirgsjägerregiments 99 meldete, dass bei einem Vorstoß über den Oise-Aisne-Kanal ein Halten des Brückenkopfes nicht möglich sei, befahl Kübler trotzdem den rücksichtslosen Angriff. Gleiches ereignete sich wenige Tage später an der Aisne im Bereich des Gebirgsjägerregiments 100, wo der Regimentskommandeur die Erschöpfung der Soldaten gegen einen Angriff angeführt hatte. Nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich am 22. Juni 1940 wurde die Division schließlich in den Raum Arras–Calais–Dünkirchen verlegt, wo sie im Rahmen der 16. Armee für das „Unternehmen Seelöwe“, der geplanten Invasion der Britischen Inseln, vorgesehen war. Kübler wurde in dieser Zeit zum General der Infanterie befördert. Dies war der höchste Rang, den er je erreichen sollte – später wurde dieser lediglich in General der Gebirgstruppe umbenannt. Nachdem die Invasion abgesagt worden war, gab Kübler am 25. Oktober 1940 das Kommando über die 1. Gebirgs-Division an Generalmajor Hubert Lanz (1896–1982) ab und übernahm das XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps als Kommandierender General. Korpskommandeur 1940–1941 In seiner neuen Funktion wurde Kübler vom Oberkommando der Wehrmacht eine besondere Rolle zugedacht: Er sollte an maßgeblicher Stelle das „Unternehmen Felix“ leiten. Das Unternehmen sah die Eroberung der britischen Festung Gibraltar vor. Zusammen mit Wolfram von Richthofen (1895–1945) arbeitete er die entsprechenden Pläne aus und hielt bis zum 7. Dezember 1940 mehrere Vorträge vor den höchsten Befehlshabern der Wehrmacht und vor Hitler persönlich. Die Operationspläne wurden von diesem gebilligt und Küblers Stab mit der Leitung beauftragt. Doch das Unternehmen, das am 10. Januar 1941 beginnen sollte, wurde im Dezember 1940 kurzfristig abgesagt. Die folgenden Monate verbrachte Kübler wie auch der Stab des XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps in Frankreich, wo es sich für das Unternehmen „Attila“ (Besetzung von Rest-Frankreich) bereithielt, bei dem das Korps Grenoble besetzen sollte. Die Planungsarbeiten wurden im März 1941 eingestellt, als das Korps an der südöstlichen Grenze des Deutschen Reiches bereitgestellt wurde, um am Krieg gegen Jugoslawien teilzunehmen. In der Nacht vom 8. auf den 9. April 1941 überschritt das Korps die Drau und stieß auf Bihać vor. Es kam nur zu wenigen Kämpfen, die nur 15 Mann Verluste, davon 6 Gefallene, forderten. Danach wurden das Korps und sein Befehlshaber in Kärnten einquartiert. Dort traf am 27. April 1941 Hitler ein. Er speiste mit Kübler und den Stabsoffizieren und äußerte der Gebirgstruppe gegenüber große Anerkennung. Nach einer kurzen Auffrischung am Wörthersee wurde der Verband in die Slowakei verlegt, wo er dem Stab der 17. Armee unterstellt wurde. In der Zeit vom 6. Mai bis zum 16. Juni 1941 bereitete Kübler intensiv den bevorstehenden Angriff gegen die Sowjetunion vor, wobei er selbst Geländeerkundungen vornahm. Danach erfolgte der Aufmarsch des Korps an der sowjetisch-deutschen Grenze. Als am 22. Juni 1941 der Krieg gegen die Sowjetunion begann, stand Küblers XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps (1. Gebirgs-Division, 68. Infanterie-Division, 257. Infanterie-Division und später 4. Gebirgs-Division) im Verband der Heeresgruppe Süd. Nach den Grenzkämpfen war es Küblers Korps, welches Lemberg am 30. Juni erneut einnahm. Dort hatte der NKWD tausende politischer Gefangener ermordet, woraufhin es in der ukrainischen Stadt in den folgenden Tagen zu einem Pogrom gegen die lokale jüdische Bevölkerung kam (vergleiche Hubert Lanz). Diese Ereignisse fanden in Küblers Verantwortungsbereich statt, ohne dass dieser gegen die Ausschreitungen vorging. In den nächsten Wochen durchbrach das Korps die Stalin-Linie und eroberte Winnyzja. Danach spielte Küblers Verband eine entscheidende Rolle in der Kesselschlacht bei Uman im Juli/August 1941. Kübler bemerkte später im Kreis von Angehörigen seines Stabes: „Diese Schlacht war die Krönung meines militärischen Lebens. Etwas größeres kann nicht mehr nachkommen.“ Danach marschierte das Korps durch die Nogaische Steppe und in das Donez-Becken, wo es am 21. Oktober 1941 Stalino eroberte. Im November/Dezember wurde es jedoch von den sowjetischen Truppen am Mius in die Verteidigung gezwungen. Während des Vormarschs fiel Kübler immer wieder durch drakonische Maßnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung auf. So erließ er schon am 29. Juni 1941 einen in dieser Hinsicht bezeichnenden Befehl: „Die Meldung, daß Zivilisten in immer größerem Umfange auf den Schlachtfeldern plündern, häufen sich. Der Kommandierende General gibt daher, um dem zu begegnen, Befehl, daß alle erwachsenen zivilen Plünderer auf dem Schlachtfeld zu erschießen sind.“ Mit ebenfalls größter Härte reagierte Kübler auch im Raum Lemberg. Dort befahl der Stadtkommandant Oberst Karl Wintergerst in Küblers Auftrag: Nicht in allen Fällen wollten Küblers Vorgesetzte dieses Verhalten mittragen. Nach der Schlacht von Uman kam es zu einem Überfall sowjetischer Soldaten auf einen deutschen Krankentransport, wobei 19 Verwundete vorsätzlich getötet wurden. In Reaktion darauf schlug Kübler dem Befehlshaber der 17. Armee, General der Infanterie Carl-Heinrich von Stülpnagel (1886–1944), vor, alle gefangenen sowjetischen kommandierenden Generäle, Divisionskommandeure und Stabsoffiziere zu exekutieren. Einige Tage später schlug er vor, zukünftig sämtliche gefangenen sowjetische Generale zu erschießen, die er für den Widerstand der sowjetischen Soldaten verantwortlich machte, und diese Maßnahme über Flugblätter beim Gegner zu verkünden. Stülpnagel lehnte diese Ansinnen jedoch mit der Begründung ab, dass, wenn derartige Vergeltungsmaßnahmen bekannt würden, dies der „russischen Gräuelpropaganda gegenüber den eigenen Soldaten den Beweis für die Richtigkeit sowjetrussischer Behauptungen“ liefere, dass in Gefangenschaft geratene Soldaten von den Deutschen erschossen würden. Lediglich Reinhold Klebe, ein ehemaliger Angehöriger des Stabes Küblers, versuchte später die oft angesprochene Brutalität und Härte des Generals zu relativieren. In der Vereinszeitschrift eines Traditionsverbandes, des „Kameradenkreises der Gebirgstruppe“, wies er darauf hin, dass Küblers Befehle nie einen Zusatz im Stil von „ohne Rücksicht auf Verluste“ oder „koste es was es wolle“ trugen. Außerdem habe Kübler beim Erhalt der Verlustliste nach der Schlacht von Uman Tränen in den Augen gehabt. Allerdings ist der Bericht Klebes allgemein recht positiv gehalten und kommt unter anderem zu der Feststellung, Kübler sei kein „Gefolgsmann Hitlers“ gewesen. Darin ist auch zu lesen, dass Kübler schon 1939 in Polen einen Offizier vor das Kriegsgericht stellen ließ, weil dieser nicht eingegriffen hatte, als SS-Einheiten Juden in eine Synagoge gesperrt und diese dann in Brand gesteckt hatten. Auch den Kommissarbefehl habe Kübler nicht an seine Divisionen weitergeben lassen. In der übrigen zur Verfügung stehenden Literatur findet sich für diese Aussagen jedoch keine Bestätigung. Armeebefehlshaber 1941–1942 Durch die Erfolge seines Korps erregte Kübler erneut die Aufmerksamkeit des Führerhauptquartiers, allerdings nicht ganz ohne eigenes Zutun. Er verfasste einen Bericht über die Kämpfe bei Uman, in dem er seine eigene Rolle besonders hervorhob („Gefechtsbericht des XXXXIX. (geb.) A.K. über die Verfolgungskämpfe aus dem Raum Winnica bis zur Einkreisung des Feindes im Raum Podwyssokoje“). Diesen Bericht schickte er direkt an das Führerhauptquartier und andere höhere Dienststellen, allerdings ohne das Armeeoberkommando der 17. Armee (AOK 17), dem sein Korps unterstand, davon zu unterrichten. Dieses erfuhr erst im Dezember 1941 durch Zufall von der Existenz des Berichtes und stellte im Nachhinein erhebliche Abweichungen von den Kriegstagebüchern der Armee und anderer beteiligter Verbände fest. Im Rahmen des Angriffs auf Moskau war es inzwischen zu einer ernsten Krise im Bereich der Heeresgruppe Mitte gekommen, nachdem die Rote Armee ab dem 5. Dezember 1941 zur allgemeinen Gegenoffensive angetreten war. Hitler reagierte mit einer Reihe von personellen Maßnahmen, wie der Entlassung einiger hoher Frontkommandeure. So löste er am 19. Dezember 1941 auch Generalfeldmarschall Fedor von Bock (1880–1945) als Befehlshaber der Heeresgruppe Mitte ab und ersetzte ihn durch Generalfeldmarschall Günther von Kluge (1882–1944), der bisher die 4. Armee befehligt hatte. Als Nachfolger für die vakante Dienststelle als Befehlshaber der 4. Armee war eigentlich der Befehlshaber der Panzergruppe 3, General Georg-Hans Reinhardt (1887–1963), vorgesehen, doch konnte dieser aufgrund widriger Wetterbedingungen nicht ins Operationsgebiet der Armee gelangen. Daraufhin ernannte Hitler überraschend Kübler zum neuen Befehlshaber der 4. Armee. Das Kommando über das XXXXIX. Gebirgs-Armeekorps wurde General Rudolf Konrad (1891–1964) übergeben. Aufgrund seiner bisherigen Laufbahn und seiner Unnachgiebigkeit gegenüber den eigenen Soldaten erschien Kübler in Hitlers Augen als besonders geeignet, den Befehl zum unbedingten Halten der Frontlinie umzusetzen. Außerdem hatten sowohl der Befehlshaber der 17. Armee, General der Infanterie Stülpnagel, als auch der Befehlshaber der 1. Panzerarmee Generaloberst von Kleist (1881–1954) Kübler die Fähigkeit zum Führen von Armeen bescheinigt. Nur General der Infanterie Erich von Manstein (1887–1973) hatte sich bereits im Oktober skeptisch geäußert. Kübler selbst sah sich außerstande, diesen Posten zufriedenstellend auszufüllen. Kübler, der es gewohnt war, schnelle Erfolge zu erringen, indem er den Gegner vor sich her trieb, sah sich nun einer gänzlich anderen militärischen Situation gegenüber. Im Winter 1941/42 war es nicht mehr die Wehrmacht, welche die Aktionen bestimmte und agierte, sie reagierte nur noch auf den Gegner, was einen völlig anderen Führungsstil erfordert hätte. Nachdem Kübler erst in der Nacht vom 26. zum 27. Dezember im Hauptquartier der Armee eingetroffen war, meldete er bereits am 8. Januar 1942, dass nur eine „großräumige Rückverlegung“ die 4. Armee vor einer Einkesselung bewahren könne. Am 13. Januar schrieb er erneut: „Ich muß meine Person völlig in die Waagschale werfen, es bleibt nichts anderes als Räumung.“ Auch für seine Umgebung war Küblers Unvermögen sichtbar. Generaloberst Franz Halder (1884–1972) notierte in sein Tagebuch: „Er fühlt sich der Aufgabe nicht gewachsen.“ Frustriert schickte Kübler auch pessimistische Briefe an seine Frau in München, welche daraus im Generalkommando der Stadt kein Geheimnis machte. Dort fasste General von Waldenfels diese Äußerungen als eine dienstliche Angelegenheit auf und meldete sie weiter, sodass schon bald auch Hitler davon Kenntnis erhielt. Daraufhin befahl Hitler Kübler zu einem Vortrag ins Führerhauptquartier. Diese Unterredung am 20. Januar endete damit, dass Kübler „bis zur Wiederherstellung seiner Gesundheit“ das Kommando an General der Infanterie Gotthard Heinrici (1886–1971) abgeben sollte. Bereits am folgenden Tag wurde der General von seinem Kommando entbunden und in die „Führerreserve“ versetzt. Generalfeldmarschall von Kluge hielt Kübler für überfordert mit der Führung einer Armee und notierte am 29. Januar 1942: Ohne Dienststelle und Wiederverwendung Wie es sein Biograph Roland Kaltenegger formulierte, gehörte Kübler nunmehr zu „jener abgehalfterten Generalsgarde, die bereits auf dem Abstellgleis standen“. Nach seiner Enthebung zog sich Kübler zu seiner Familie nach München zurück, wo er eine Dienstwohnung in der Winzererstraße 54 besaß. Der General war verbittert und verließ die Wohnung nur selten. Ab 1943 schrieb er jedoch immer wieder Briefe an das Heerespersonalamt, in denen er um ein neues Kommando ersuchte. Erst nach anderthalb Jahren wurde dem Ersuchen stattgegeben. Hitler wollte den General nicht mehr mit dem Kommando über eine Armee betrauen, doch am 22. Juli 1943 stimmte er der Ernennung Küblers zum „Kommandierenden General der Sicherungstruppen und Befehlshaber im Heeresgebiet Mitte“ zu. Dort lag seine Aufgabe vor allem in der Bekämpfung von Partisanen. Nach Ansicht seines Biographen Roland Kaltenegger war Kübler entschlossen, die Schmach von Moskau vergessen zu machen und nunmehr jeden Befehl auch mit größter Härte durchzusetzen. Im August kam für Kübler die Gelegenheit zur Rehabilitierung, als es den von ihm kommandierten 286., 203. und 221. Sicherungs-Division gelang, in mehreren Unternehmen den sowjetischen Partisanenverband „Polk Grischin“ aufzureiben. Auch hier zeichnete er sich erneut durch Härte und drakonische Maßnahmen aus. Befehlshaber im „Adriatischen Küstenland“ Am 10. Oktober 1943 wurde Kübler zum Befehlshaber der neu gebildeten „Operationszone Adriatisches Küstenland“ ernannt, welche dem Kommando der Heeresgruppe B (später Stab des „Oberbefehlshabers Südwest“) unterstand. Die Operationszone war nach dem Kriegsaustritt Italiens eingerichtet worden und umfasste die Provinzen Udine, Gorizia, Trieste, Pula, Rijeka sowie die Gebiete Jugoslawiens Ljubljana, Susak und Bakar. Der General führte das Kommando über alle Wehrmachttruppen in diesem Raum. Seine Kompetenzen waren denen eines Wehrkreisbefehlshabers vergleichbar. Weil seinen Verbänden in der Partisanenbekämpfung jedoch die entscheidende Rolle zukam, ging sein Einfluss bald darüber hinaus. Die Verwaltung der Operationszone in allen zivilen Angelegenheiten oblag dem Chef der Zivilverwaltung Friedrich Rainer mit dem Titel als „Oberster Kommissar“. Auch der Höhere SS- und Polizeiführer in Triest Odilo Globocnik (1904–1945) beanspruchte Kompetenzen für sich. Die vorrangige Aufgabe Küblers lag neben dem Küstenschutz in der Bekämpfung von italienischen, kroatischen und slowenischen Partisanen. Bereits in einem Befehl des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vom 25. September 1943 war die „schonungslose“ Bekämpfung der starken Partisanengruppen im „Adriatischen Küstenland“ als vorrangige Aufgabe festgehalten worden. Die Kämpfe erwiesen sich jedoch bald als ineffektiv und sehr verlustreich. Ein deutscher Dienstbericht bemerkte dazu: „Die Säuberung des Landes durch die Wehrmacht ist nur teilweise und unvollkommen gelungen, vor allen Dingen deshalb, weil nach der Freikämmung der Räume die erforderlichen Polizeikräfte fehlten, um das Land fest in die Hand zu nehmen […] Zahlreiche Einzelunternehmungen der Wehrmacht und der Polizei haben immer nur vorübergehend örtliche Besserungen der Lage erreichen können.“ Zwischen dem 1. Januar und dem 15. Februar 1944 ereigneten sich im „Adriatischen Küstenland“ 181 Überfälle auf die Wehrmacht, bei denen 503 Soldaten (darunter drei Kommandeure) getötet wurden. Vor diesem Hintergrund gab Kübler am 24. Februar 1944 einen Korpsbefehl aus, in dem er die nun geltenden Richtlinien für die „Bandenbekämpfung“ erläuterte. Da gerade dieser Befehl später zur Verurteilung Küblers als Kriegsverbrecher führte, ist er hier auszugsweise wiedergegeben. Korpsbefehl Nr. 9 vom 24. Februar 1944 II. Das ist ein Großkampf auf Befehl der Feindmächte. […] IV. Da gibt es nur Eines: Terror gegen Terror, Auge um Auge, Zahn um Zahn! […] V/6) Im Kampf ist alles richtig und notwendig, was zum Erfolg führt. Ich werde jede Maßnahme decken, die diesem Grundsatz entspricht. V/7) […] Gefangene Banditen sind zu erhängen oder zu erschießen. Wer die Banditen durch Gewährung von Unterschlupf oder Verpflegung, durch Verheimlichung ihres Aufenthaltes oder sonst durch irgendwelche Maßnahmen freiwillig unterstützt, ist todeswürdig und zu erledigen. […] V/10) Kollektivmaßnahmen gegen Dörfer usw. dürfen nur im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit Kampfhandlungen und nur von Offizieren vom Hauptmann aufwärts verhängt werden. Sie sind am Platz, wenn die Einwohnerschaft in ihrer Masse die Banden freiwillig unterstützt hat. Die Kampfanweisung für die Bandenbekämpfung im Osten gilt in ihren Grundsätzen auch für die Operationszone des Armeekorps. […] Dass im Kampf bisweilen auch Unschuldige mit Gut und Blut unter die Räder kommen, ist bedauerlich, aber nicht zu ändern. Sie mögen sich bei den Banden bedanken. Nicht wir haben den Bandenkrieg eröffnet. […] Mehr hier aufzuführen, was vorgeschrieben, erlaubt oder verboten ist, erübrigt sich. Im dritten Jahr des Bandenkrieges weiß ohnehin jeder Führer, was sich gebührt. […] Handelt danach! gez. Kübler General der Gebirgstruppen Dieser Befehl ist bis zu den Kompanien zu verteilen. Seine Grundsätze sind allen Offizieren, Uffz. und Mannsch. immer wieder einzuhämmern. Der Hinweis auf die „Kampfanweisung für Bandenbekämpfung im Osten“ (RHD 6/69/1) vom November 1942, die nicht nur für das „Adriatische Küstenland“ galten, hatte weitreichende Konsequenzen. In ihr hieß es, dass bei der Bekämpfung von Partisanen Rücksichten „unverantwortlich“ seien, dass schon „die Härte der Maßnahmen und die Furcht vor den zu erwartenden Strafen“ die Bevölkerung von einer Unterstützung des Widerstandes abhalten sollten, sowie dass gegen Dörfer, die Partisanen unterstützt hatten, Kollektivstrafen anzuwenden seien, die bis zur „Vernichtung des gesamten Dorfes“ gehen konnten. Selbst die einschränkende Formulierung Küblers, die Anweisung gelte nur in „ihren Grundsätzen“ war nach dessen eigener Aussage ein Zugeständnis an einen Einspruch des Obersten Kommissars Rainer. Insgesamt stellte der Korpsbefehl für die Befehlsempfänger eine Blankovollmacht dar, die geeignet war, ihre Hemmungen abzubauen und ihnen Rückendeckung zu versichern. Kübler lehnte sich dabei offensichtlich an einen Führerbefehl vom 16. Dezember 1942 an, in dem es bereits geheißen hatte: „Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkungen auch gegen Frauen und Kinder, jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt. Rücksichten, gleich welcher Art, sind ein Verbrechen gegen das deutsche Volk […] Kein in der Bandenbekämpfung eingesetzter Deutscher darf wegen seines Verhaltens im Kampf gegen die Banden und ihre Mitläufer disziplinarisch oder kriegsgerichtlich zur Rechenschaft gezogen werden.“ Im gesamten ehemals italienischen Machtbereich im besetzten Jugoslawien gingen die deutschen Besatzungstruppen mit großer Härte gegen Widerstandsbewegungen vor. Mittel waren standrechtliche Erschießungen, Zerstörungen von Häusern und ganzen Ortschaften, die der Unterstützung von Partisanen verdächtigt wurden, Geiselnahmen und Erschießung von Geiseln sowie die Exekution von „Sühneopfern“ für getötete deutsche Soldaten. Kübler tat sich dabei dermaßen hervor, dass er schon bald von seinen eigenen Truppen als „Adriaschreck“ bezeichnet wurde. Tatsächlich intervenierte der „Oberste Kommissar“ Rainer auch gegen die angedrohten Formen der Kollektivstrafen, da er befürchtete, diese Maßnahmen würden den Partisanen Zulauf und den Deutschen einen beträchtlichen Prestigeverlust verschaffen. Kübler musste den Korpsbefehl am 14. März 1944 dahingehend ändern, dass Kollektivmaßnahmen nur noch mit seiner Zustimmung durchgeführt werden dürften. Weiterhin versprach er Rainer, dass er zuvor auch dessen Zustimmung einholen würde. Aber auch darüber hinaus gerieten Kübler und Rainer immer wieder aneinander. Am 19. Mai 1944 erließ der „Oberste Kommissar“ eine Amnestie für Partisanen, die sich den deutschen Truppen ergaben. Zuvor hatte man solche Überläufer regelmäßig hingerichtet, was dazu führte, dass Partisanen nicht mehr überliefen, sondern bis zum Ende kämpften. Kübler war verärgert, weil diese Maßnahme nicht mit ihm abgesprochen worden war. Sie nahm deutschen Truppenführern die Möglichkeit, in besonderen Situationen selbst Partisanen mit einem Amnestieversprechen zur Aufgabe zu bewegen. Durch die Einflussnahme Küblers und seines Stabes wurden die Bestimmungen der Amnestie derart geändert, dass sie nicht mehr auf deutsche Fahnenflüchtige oder auf diejenigen anwendbar war, die deutsche Soldaten getötet hatten. Letztere sollten von ordentlichen Gerichten wegen Mordes verurteilt werden. Allein bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen (ZStLJV) sind fünfzig Fälle nationalsozialistischer Gewaltaktionen in der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ aktenkundig, für die Kübler die truppendienstliche Verantwortung trägt. Diese führten jedoch nicht zu Gerichtsverfahren, weil Kübler als Hauptverantwortlicher schon 1947 hingerichtet wurde. Gefangennahme und Hinrichtung Am 28. September 1944 wurde der Stab Küblers aus „politischen Gründen“ in Generalkommando LXXXXVII. Armeekorps umbenannt, aus dem Befehlsbereich Südwest ausgegliedert und dem Befehlsbereich Südost unterstellt. Ab dem Februar 1945 kam es zu heftigen Rückzugskämpfen zwischen Wehrmacht und Partisanenverbänden. Kübler erhielt vom Oberbefehlshaber Südost Generaloberst Alexander Löhr (1885–1947) den Befehl, die Hafenstadt Rijeka möglichst lange zu verteidigen. Obwohl die Stellung im Norden und Süden von gegnerischen Truppen umgangen wurde und die Unterführer auf die Möglichkeit der Einkesselung hinwiesen, beharrte Kübler auf seinem Auftrag. Erst am 1. Mai 1945 befahl Kübler den Durchbruch nach Norden, um die Reichsgrenze zu erreichen – zu spät, wie sich herausstellte. Küblers Korps wurde im Raum Triest von der jugoslawischen Volksbefreiungsarmee eingeschlossen. Kübler selbst soll nach Aussage des Regimentskommandeurs Carl Schulze während der folgenden aussichtslosen Kämpfe einen Nervenzusammenbruch erlitten haben. Bereits am 5. Mai war die Erlaubnis des Oberbefehlshabers Südost eingegangen, Kapitulationsverhandlungen aufzunehmen. Diese begannen am 6. Mai. Am selben Tag wurde Kübler verwundet und General Hans von Hößlin übernahm an seiner Stelle das Kommando. Hößlin kapitulierte am 7. Mai 1945 unter der Bedingung, dass die deutschen Soldaten bis Ende 1945 in die Heimat entlassen würden. Küblers Verwundung resultierte aus gegnerischem Granatbeschuss, der seine rechte Gesichtshälfte aufriss. In der Folge gab er seinen Burschen als Assistenzarzt aus, um der Verfolgung durch die Partisanen zu entgehen. Allerdings wurden beide durch einen Slowenen verraten und nach Rijeka verbracht. Dort lag der General mehrere Tage in einem Lazarett. Am 12. Mai, kurz nach der bedingungslosen Kapitulation, erklärte die jugoslawische Seite denjenigen Passus der Kapitulationsvereinbarung für nichtig, der die Entlassung der deutschen Truppenteile vorsah, und schickte die deutschen Kriegsgefangenen in „Sühnemärschen“ in Kriegsgefangenenlager. Auch Kübler nahm an diesen Fußmärschen teil, bis er im Juli 1945 im Donau-Generalslager in Belgrad eintraf. Dort verbrachte er die nächsten zwei Jahre unter schwerer Bewachung. Zwischen dem 10. und dem 19. Juli 1947 fand vor der Militärstrafkammer in Ljubljana der Prozess gegen 14 Offiziere statt, unter denen neben Gauleiter Friedrich Rainer, SS-Sturmbannführer Josef Vogt und Generalleutnant Hans von Hößlin auch Kübler war. Dabei wurde er selbst durch seine ehemaligen Unterführer und Stabsoffiziere belastet. Am 17. Juli wurde er wegen „strafbarer Handlungen gegen Volk und Staat“ zum Tode durch den Strang verurteilt. Nach Ablehnung seines Gnadengesuches wurde er schließlich am 18. August 1947 in Ljubljana hingerichtet, genau wie wenige Monate zuvor sein Bruder, Generalleutnant Josef Kübler (1896–1947). Kontroverse in der Bundesrepublik In Deutschland erhielt Küblers Familie keine Nachrichten über das Schicksal des Generals, sodass dessen Frau Johanna noch 1948 versuchte, Fürsprecher für ihren Mann zu finden. Allerdings fand sich kaum jemand, der diese Aufgabe übernehmen wollte. In den ersten Jahren der Bundeswehr überließ es das Bundesministerium für Verteidigung den Truppenteilen, über die Benennung ihrer Liegenschaften selbst zu entscheiden. Aufgrund von deren Initiativen wurde eine Reihe von Kasernen nach ehemaligen hitlertreuen Wehrmachtsoffizieren benannt. „Die Tatsache, dass unter diesen Offizieren Antisemiten, bekennende Nationalsozialisten der ersten Stunde und Kriegsverbrecher waren, war den verantwortlichen Truppenkommandeuren entweder nicht hinreichend bekannt oder hatte, was eher zu vermuten ist, für sie kein großes Gewicht.“ So wurde 1964 auch die „Pionier-Kaserne“ (ehemalige „Ludendorff-Kaserne“) in Mittenwald in „General-Kübler-Kaserne“ umbenannt. Verantwortlich dafür war General Gartmayr als Kommandeur der 1. Gebirgsdivision der Bundeswehr. Dieser hatte von Oktober 1939 bis Mai 1940 Küblers Stab angehört und beantragte diese Benennung beim Bundesministerium für Verteidigung. Als Organisator der deutschen Gebirgstruppe im Zweiten Weltkrieg wurde (und wird) Kübler in den Traditionsverbänden gewürdigt. In Landser-Romanen des ehemaligen Gebirgsjägers Alex Buchner wird der General bis heute glorifiziert. Zum dreißigjährigen Jubiläum der 1. Gebirgsdivision der Bundeswehr am 17. Februar 1986 ließ Franz Josef Strauß verlauten: „Für die Deutsche Gebirgstruppe war General Ludwig Kübler als Mensch und als Soldat ein Vorbild. Ihm hat die Truppe bis auf den heutigen Tag viel zu verdanken.“ Im Februar 1988 forderte die katholische Friedensbewegung Pax Christi die Umbenennung der „Generaloberst-Dietl-Kaserne“ in Füssen (heutige Allgäu-Kaserne) und der „General-Kübler-Kaserne“. Das Bundesverteidigungsministerium (Führungsstab der Streitkräfte) weigerte sich jedoch, entsprechende Beschlüsse des Petitionsausschusses umzusetzen. Das wurde unter anderem damit begründet, dass die betroffene Bevölkerung und die Soldaten eine Beibehaltung der Namen befürworteten. Erschwert wurde die frühe Debatte dadurch, dass es keinerlei kritische Publikationen zur Person Küblers gab und die jugoslawischen Akten zu seinem Strafprozess unzugänglich waren. An letzterem Punkt hat sich bis 2008 nichts geändert. 1993 und 1994 erschienen zwei Bücher des Publizisten und Journalisten Roland Kaltenegger, in welchen dieser die Person Küblers erstmals außerhalb der Traditionsverbände der Gebirgsjäger einem größeren Publikum bekannt machte und auf dessen drakonische Maßnahmen hinwies. Im Jahre 1995 erschien ein Buch des Gründers und Sprechers der „Initiative gegen falsche Glorie“ Jakob Knab, in dem er sich auf die Bücher Kalteneggers bezog und das Problem anprangerte: „Eine wahrhaft skandalöse Verknüpfung des Kriegsverbrechers Kübler mit der Vorbereitung auf weltweite Kampfeinsätze.“ Im Sommer 1995 brachte der SPD-Abgeordnete Hans Büttner einen formellen Antrag in den Bundestag ein, in dem er im Namen von 85 Abgeordneten eine Umbenennung der fraglichen Kasernen forderte. Auch die FDP-Fraktion schloss sich dem Antrag an und Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) geriet, vor allem angesichts des zu erwartenden Bundeswehreinsatzes in Jugoslawien (siehe Auslandseinsätze der Bundeswehr), zunehmend unter Druck. Der stark emotionale Streit war auch davon beeinflusst, dass bislang keine Biografie über Kübler existierte und somit nur mangelnde Informationen über ihn vorlagen. Um Abhilfe zu schaffen, gab Rühe beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr eine Studie in Auftrag. In der Schlussbetrachtung resümiert der Autor der Studie: Sein Vorschlag, im Anschluss an die Kesselschlacht bei Uman 1941, als Vergeltung für die Tötung 19 deutscher Soldaten sämtliche gefangenen sowjetischen kommandierenden Generäle, Divisionskommandeure und Stabsoffiziere zu erschießen, wurde darin als unmissverständliche Aufforderung zu einem Kriegsverbrechen gewertet, die eindeutig gegen die Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung verstieß, ebenso wie sein Korpsbefehl Nr. 9 vom 24. Februar 1944. Nachdem dieses wenig schmeichelhafte Gutachten vorlag, verfügte der Verteidigungsminister am 9. November 1995 die Umbenennung der „General-Kübler-Kaserne“ in „Karwendel-Kaserne“. Dies geschah gegen den erbitterten Widerstand des so genannten Kameradenkreises der Gebirgstruppe, der eigens eine Unterschriftenaktion gegen die Umbenennung organisierte, an der sich Tausende seiner Mitglieder und Unterstützer beteiligten. Drei Jahre später, 1998, erschien die erste und (neben der Studie des MGFA) bislang einzige Biografie Ludwig Küblers, wiederum aus der Feder Roland Kalteneggers. Diese erreichte jedoch keine wissenschaftliche Höhe, sodass die Feststellung aus der Studie des MGFA, dass eine kritische Biografie noch ausstehe, weiterhin erhalten bleibt. Literatur Dermot Bradley (Hrsg.): Die Generale des Heeres 1921–1945. Bd. 7, Biblio Verlag, Bissendorf 2004, ISBN 3-7648-2902-8, S. 267–269. Erich Hesse: Der sowjetrussische Partisanenkrieg 1941 bis 1944 im Spiegel deutscher Kampfanweisungen und Befehle. Verlag Musterschmidt, Göttingen 1969 (= Studien und Dokumente zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Bd. 9). Roland Kaltenegger: Operationszone „Adriatisches Küstenland“ – Der Kampf um Triest, Istrien und Fiume 1944/45. Verlag Stocker, Graz/Stuttgart 1993, ISBN 3-7020-0665-6. Roland Kaltenegger: Schörner – Feldmarschall der letzten Stunde. Herbig Verlag, München/Berlin 1994, ISBN 3-7766-1856-6. Roland Kaltenegger: Ludwig Kübler – General der Gebirgstruppe, Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1998. ISBN 3-613-01867-5. Reinhold Klebe: General Ludwig Kübler. In: Die Gebirgstruppe. Mitteilungsblatt des Kameradenkreis der Gebirgstruppe. 1985, Heft 2, S. 8–12. Jakob Knab: Falsche Glorie – Das Traditionsverständnis der Bundeswehr. Verlag Links, Berlin 1995, ISBN 3-86153-089-9. Hermann Frank Meyer: Blutiges Edelweiß – Die 1. Gebirgs-Division im Zweiten Weltkrieg. Verlag Ch. Links, Berlin 2008, ISBN 978-3-86153-447-1. Klaus Reinhardt: Die Wende vor Moskau – Das Scheitern der Strategie Hitlers im Winter 1941/42. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1972 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte. Bd. 13). Klaus Schönherr: Wissenschaftliche Studie – General der Gebirgstruppe Ludwig Kübler. Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 1995 (unveröffentlicht). Gerhard Schreiber: Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg in Italien. In: Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. R. Oldenbourg Verlag, München 1995, ISBN 3-486-56063-8, S. 251–268 (= Beiträge zur Militärgeschichte. Bd. 50). Christian Streit: Keine Kameraden – Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. 2. Auflage. Dietz-Verlag, Bonn 1991, ISBN 3-8012-5016-4. Karl Stuhlpfarrer: Die Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland“ 1943–1945. Verlag Hollinek, Wien 1969. Hans Umbreit: Die deutsche Herrschaft in den besetzten Gebieten 1942–1945. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 5/2, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, ISBN 3-421-06499-7, S. 3–254. Ralph Giordano: Die Traditionslüge. Vom Kriegerkult in der Bundeswehr. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2000, ISBN 3-462-02921-5. Weblinks Bo Adam: Was haben die Leut’ bloß gegen den Kübler? In: Berliner Zeitung vom 26. Oktober 1995 Einzelnachweise Hauptmann (Bayern) Oberst (Reichswehr) Kommandeur einer Gebirgs-Division (Heer der Wehrmacht) General der Gebirgstruppe Kommandierender General des LXXXXII. Armeekorps (Heer der Wehrmacht) Kommandierender General des XXXXIX. Gebirgsarmeekorps (Heer der Wehrmacht) Oberbefehlshaber einer Armee (Heer der Wehrmacht) Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich) Person im Zweiten Weltkrieg (Deutsches Reich) Person (deutsche Besetzung Jugoslawiens 1941–1945) Person (deutsche Besetzung Italiens 1943–1945) Person (Partisanenkrieg im Zweiten Weltkrieg) Hingerichtete Person (NS-Kriegsverbrechen) Hingerichtete Person (Jugoslawien) Träger des Bayerischen Militärverdienstordens (IV. Klasse) Träger des Albrechts-Ordens (Ritter 2. Klasse) Träger des Ritterkreuzes des Eisernen Kreuzes Person (München) Deutscher Geboren 1889 Gestorben 1947 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Werkzeuggebrauch%20bei%20Tieren
Werkzeuggebrauch bei Tieren
Als Werkzeuggebrauch bei Tieren gilt nach einer Definition von Jane Goodall die Anwendung von nicht zum Körper gehörenden Objekten, mit deren Hilfe die Funktionen des eigenen Körpers erweitert werden, um auf diese Weise ein unmittelbares Ziel zu erreichen. Eine weitere Definition beschreibt den Werkzeuggebrauch bei Tieren als die Handhabung eines unbelebten Objektes, mit dessen Hilfe die Position oder Form eines weiteren Objektes verändert wird. Beispielsweise gilt bei Vögeln das Zerhacken eines Schneckenhauses mit dem Schnabel – der Teil ihres Körpers ist – oder das Errichten eines Nests durch das Heranschaffen von Zweigen und Gräsern diesen Definitionen zufolge nicht als Gebrauch eines Werkzeugs. Historisches Dem Gebrauch von Werkzeugen im Tierreich wurde erst mit dem Aufschwung der Tierpsychologie und der aus ihr hervorgegangenen Ethologie wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Bahnbrechend waren die Studien von Wolfgang Köhler an Schimpansen in seiner kleinen Forschungsstation auf Teneriffa. Vor diesen 1917 und erneut 1921 publizierten Studien, die rasch andere Forscher zu ähnlichen Tests anregten, hatte der Werkzeuggebrauch, von anekdotenhaften Einzelfallschilderungen abgesehen, als das alleinige Vorrecht der Menschen gegolten. Die Gattung Homo wurde sogar zeitweise vor allem durch den Nachweis von Werkzeuggebrauch gegen zeitlich frühere Gattungen der Hominini abgegrenzt. Forscher auf dem Gebiet der Primatenarchäologie analysieren seit wenigen Jahren fächerübergreifend (u. a. durch Ausgrabungen) die Geschichte des Herstellens von Werkzeugen als Ausdruck der frühesten belegbaren, materiellen Kultur bei Primaten. Primaten Dass Menschenaffen Werkzeuge benutzen können, ist seit langem bekannt. Bereits 1778 hatte der niederländische Naturforscher Arnout Vosmaer aus eigener Anschauung über einen der ersten lebend in Europa eingetroffenen Orang-Utans berichtet, dieser habe 1776 in der Menagerie von Wilhelm V. versucht, mit einem kleinen Stück Holz ein Schloss zu öffnen. Bei einer anderen Gelegenheit habe er versucht, mit einem aus einem Brett herausgezogenen Nagel die Befestigung der Kette wegzuhebeln, mit der er in seinem Käfig angebunden war. Erst seit wenigen Jahren wird jedoch genauer erforscht, wie häufig, in welchen Zusammenhängen und auf welche Weise Menschenaffen ihre Werkzeuge bearbeiten und nutzen. In freier Wildbahn wurden bislang Schimpansen (Pan troglodytes) und Orang-Utans beim Werkzeuggebrauch beobachtet, nicht aber Bonobos (Pan paniscus). Tatsächlich spielen schon frei lebende, junge Schimpansen häufiger mit potentiell als Werkzeug geeigneten Objekten als junge Bonobos; allerdings war der männliche Bonobo Kanzi in der Lage, nach Unterweisung durch seine Pfleger Steinwerkzeuge herzustellen und ein Feuer zu entzünden, und auch andere in Tierhaltungen befindliche Bonobos wurden beim Benutzen von Werkzeugen beobachtet. Ob es neben dem fotografisch belegten Gebrauch einer „Gehhilfe“ (siehe Abbildung weiter unten) durch einen weiblichen Gorilla auch andere Formen des Werkzeuggebrauchs bei Gorillas gibt, ist unbekannt. Schimpansen Schimpansen – den nächsten Verwandten des Menschen – traute man diesen Gebrauch schon früh zu, und so fanden schon früh entsprechende Laborstudien statt. Doch dauerte es lange, bis sich herausstellte, dass sie Werkzeuge auch im Freiland benutzen und sogar Jagdwaffen herstellen. In Afrika sind heute acht frei lebende Schimpansen-Populationen so sehr an die Anwesenheit von Beobachtern gewöhnt, dass sie aus großer Nähe von morgens bis abends beobachtet werden können. Frühe Laborstudien Die Schimpansen von Wolfgang Köhler waren Wildfänge, die von Kamerun nach Teneriffa gebracht und zunächst mit sehr einfachen Versuchsanordnungen konfrontiert worden waren. Köhler beschrieb eines der Experimente mit Sultan Jahrzehnte später so: Andere Schimpansen hatten unter anderem Kistentürme gebaut und waren an diesen empor geklettert, um an hoch hängende Bananen heranzukommen. Ferner hatten sie Stöcke ineinander gesteckt, um damit an eine Frucht zu kommen, die sich außerhalb ihres Käfigs befand. Aus den Beschreibungen Köhlers geht hervor, dass die Schimpansen diese Handlungen nicht allein durch Ausprobieren erlernten. Vielmehr habe man beobachten können, dass ein Tier ruhig dasaß, umherschaute – zur Banane, zu den Kisten, zum Platz unter der Banane –, um irgendwann gleichsam überlegt die Kisten unter der Banane zu stapeln und so die Frucht herabholen zu können. Köhler wies aber auch darauf hin, dass nicht jedes seiner Tiere zum Werkzeuggebrauch in der Lage war. Die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften ab 1914 finanzierte Forschungsstation wurde bereits 1920 – nach Ende des Ersten Weltkriegs – aus Geldmangel geschlossen, die fünf erwachsenen weiblichen Schimpansen brachte man im Berliner Zoo unter. 1937 beschrieb der US-amerikanische Psychologe Meredith P. Crawford (1910–2002) sogar einen kooperativen Werkzeuggebrauch bei jungen Schimpansen: Ihnen gelang es, gemeinsam an einem Strick zu ziehen und so eine Kiste zu bewegen, die für ein Tier allein zu schwer war. Erste Freilandbeobachtungen Bereits 1956 hatten Fred G. Merfield und Harry Miller vermerkt, dass Merfield in den 1920er-Jahren Schimpansen dabei beobachtet hatte, wie diese ein Stöckchen in ein Bienennest steckten und nach dem Herausziehen den daran klebenden Honig ablutschten. Die erste Studie in einer Fachzeitschrift erschien aber erst 1964: Jane Goodall berichtete darin, dass Schimpansen im Gombe Stream National Park in Tansania dünne Stöckchen benutzen, um damit Termiten aus Erdlöchern zu fischen. Jane Goodall beobachtete ferner, dass Schimpansen Blätter als Ersatz für einen Schwamm verwenden, um mit ihrer Hilfe Wasser aus Baumlöchern aufzutunken, und dass sie dort Steine als Hammer und Amboss nutzen, um Nüsse zu öffnen. In einem ihrer Filmdokumente sieht man, wie ein Schimpanse, der an Durchfall erkrankt ist, sich mit Blättern säubert. Ein bekanntes Foto zeigt einen Schimpansen, der mit einem langen Stock auf die bewegliche Attrappe eines Leoparden einschlägt. Diese sehr menschlich anmutenden Verhaltensweisen eignen sich die Schimpansen jedoch nicht in gleichem Maße, wie das bei den Menschen geschieht, durch Imitationslernen an, und sie werden auch nicht von Erwachsenen zur Nachahmung ermuntert oder angeleitet. Die Schimpansenjungen sitzen jahrelang neben den Erwachsenen und schauen bloß zu. Peter Weber beschrieb in seinem Buch Der domestizierte Affe das Verhalten so: Nüsseknacken mit Hammer und Amboss Im Nationalpark Taï im westafrikanischen Staat Elfenbeinküste benutzen einige Schimpansen grobe Holzstücke als Hammer und Amboss, um auf diese Weise hartschalige Palmnüsse zu knacken, andere nutzen Steine. Bei Bossou im Naturschutzgebiet Nimba-Berge in Guinea wurden Schimpansen über mehrere Jahre hinweg dabei beobachtet, dass sie immer wieder bestimmte Steine als Hammer und Amboss benutzten, um Nüsse zu knacken. In weiteren Beobachtungsstudien wurden die Lernstrategien von Taï-Schimpansen und Angehörigen vom Volk der Mbendjele BaYaka, die in den Wäldern der Republik Kongo gewöhnlich die gleiche Nussart, Panda oleosa, knacken, verglichen. Demnach „erlernten Schimpansen die Technik verhältnismäßig schneller als Menschen und erreichten auch früher als diese die Effizienz eines Erwachsenen.“ Im Mai 2002 berichteten Forscher um Christophe Boesch aus dem Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie erstmals über den Fund einer 2001 entdeckten „Schimpansenwerkstatt“ an der Fundstelle Panda 100. Eine weitere „Schimpansenwerkstatt“ bei Noulo (ebenfalls Taï-Nationalpark) wurde 2007 auf ein Alter von ca. 4300 Jahren datiert. Die ausgegrabenen Steine zeigen ihren Angaben zufolge die gleichen typischen Abnutzungserscheinungen wie jene Steine, die von heute lebenden Schimpansen als Werkzeug zum Zerschlagen von Nüssen benutzt werden; sie unterscheiden sich zugleich von allen Steinwerkzeugen, die man dem Menschen zuordnen konnte. Die Forscher fanden auf den Steinen zudem Überreste von Stärke, die bestimmten Nüssen zugeordnet werden konnte. Die Funde belegen den Autoren zufolge, dass die Vorfahren von Schimpansen und Menschen mehrere tausend Jahre lang bestimmte gemeinsame kulturelle Merkmale aufwiesen, die man lange Zeit ausschließlich dem Menschen zugetraut hat. Hierzu gehören unter anderem die Auswahl und das Beschaffen von Rohmaterialien und deren gezielte Verwendung für eine bestimmte Arbeit an einem bestimmten Ort, ferner das wiederholte Aufsuchen bestimmter Orte für bestimmte Zwecke, so dass sich dort Reststoffe und Schutt anhäufen. Beutemachen mit Spießen Im Senegal beobachteten Forscher um Jill D. Pruetz von der Iowa State University im Verlauf einer insgesamt 2500 Stunden umfassenden Beobachtungszeit, dass Schimpansen gewohnheitsmäßig Spieße benutzen, um Beutetiere zu jagen. Mindestens eine von 22 beobachteten Attacken war erfolgreich. Die zehn derart aktiven Tiere waren überwiegend Weibchen, die zunächst einen Ast von einem Baum abbrachen und danach dessen Seitentriebe entfernten. Vier dieser Weibchen spitzten schließlich sogar ein Ende des Astes mit den Zähnen an. Mit ihrem Werkzeug stocherten sie kräftig in die Schlafhöhlen von nachtaktiven Galagos; hin und wieder rochen oder leckten sie danach an der Spitze ihres Werkzeugs. Die Zeitschrift Science schrieb hierzu im Jahr 2007, dies sei der erste Nachweis, dass ein nicht-menschlicher Primat „tödliche Waffen für die Jagd auf andere Tiere“ hergestellt habe. Im Jahr 2015 bekräftigte Jill D. Pruetz die Beobachtungen im Senegal und wies darauf hin, dass die Schimpansen von Fongoli die einzigen bislang bekannten Tiere seien, die mit Werkzeugen Jagd auf andere Wirbeltiere machen. Sequenzieller Werkzeuggebrauch bei der Honigernte Forscher um Christophe Boesch vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie beobachteten Schimpansen (Pan troglodytes) im Loango-Nationalpark in Gabun dabei, wie sie Honig aus den Nestern unterirdisch lebender Bienen ernteten. Die Schimpansen benutzen fünf unterschiedlich geformte Werkzeuge: dünne, gerade Stöckchen, mit denen sie im Boden stochern, um auf diese Weise Nester zu entdecken; dicke, stumpf endende Stöcke, mit denen der Eingang zum Bienennest aufgebrochen wird; dünnere, hebelartige Stöcke, mit denen die Wände der Gänge innerhalb eines Bienennests aufgebrochen werden; Stöckchen mit ausgefransten Enden, die in den Honig eingetunkt werden; und entrindete Stöcke mit löffelartig breiten Enden, mit denen Honig aus der Erde geschöpft wird. Diese Werkzeuge wurden in räumlichem Zusammenhang gefunden, was nahelegt, dass sie in geeigneter Reihenfolge verwendet werden. Einige Fundstücke wiesen sogar Merkmale von zwei Verwendungszwecken auf, was erstmals bei Tieren beobachtet wurde. Die Forscher vermuten, dass ein derart komplexer, sequenzieller Werkzeuggebrauch jenem der unmittelbaren Vorfahren des Menschen in der frühen Steinzeit entspricht. Über eine vergleichbare Beobachtung berichteten im Jahr 2010 schottische Forscher: Eine frei lebende Schimpansin auf einer Insel im Gambia-Fluss benutzte mehrere Werkzeuge, um mit deren Hilfe an Honig zu gelangen. Weitere Beispiele Crickette Sanz und David Morgan vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie dokumentierten mit Hilfe von 18 Kameras im Goualougo-Dreieck (Republik Kongo) zwischen 1999 und 2006 insgesamt 22 unter­schiedliche Formen von Werkzeug­gebrauch bei Schimpansen, darunter mehrere Varianten des Honig­sammelns, des Termiten­angelns und der Wasser­aufnahme mit Hilfe von Blättern. Vergleichbare Befunde wurden in der Region Bili-Uéré im Norden der Demokratischen Republik Kongo erhoben. Auch wurden Hinweis dafür gefunden, dass soziales Lernen eine wichtige Voraus­setzung für den Gebrauch von Werkzeugen ist. Andere Forscher wiesen nach, dass Schimpansen in den Nimbabergen (Guinea) einen „Werkzeugsatz“ nutzen, um mit Hilfe unterschiedlich geformter Stöckchen wehrhafte Ameisen der Gattung Dorylus zu erbeuten. Aus Tansania wurde 2007 berichtet, dass Schimpansen unterirdische Speicher­organe von Pflanzen mit Hilfe von Stöcken freilegten. 2019 wurden vergleichbare Befunde aus dem Kristiansand Zoo in Norwegen veröffentlicht. In Guinea zerkleinern Schimpansen mit Hilfe von aufgelesenen, scharfkantigen Steinen, deren Form an Cleaver erinnert, die Früchte des Okwabaumes in handliche Stücke. Mit Hilfe eines 180 cm langen Zweigs schlug eine Schimpansin im April 2015 im Burgers’ Zoo von Arnhem eine Drohne zu Boden, die Filmaufnahmen für ein Fernsehteam anfertigen sollte. Die Drohne hatte eine Schimpansengruppe zuvor mehrfach dicht überflogen, woraufhin zwei Schimpansinnen sich Stöcke griffen und eine davon die Drohne schließlich gezielt flugunfähig schlug. Die Tiere hatten zuvor keine „Ausbildung“ im Gebrauch von Werkzeugen genossen. Orang-Utans Schon Ende der 1970er-Jahre konnte im Zoologischen Garten Osnabrück mit Sumatra-Orang-Utans gezeigt werden, dass diese Tiere nicht nur in der Lage sind, Werkzeuge zu nutzen, sondern auch einfache Werkzeuge herzustellen (z. B. das Zusammenstecken von Metallstäben), um dadurch an ein Ziel wie Futter zu gelangen. Die ersten verbürgten Beobachtungen von sporadischem Werkzeuggebrauch bei frei lebenden Orang-Utans publizierte 1980 Birutė Galdikas. Ein regelmäßiger Werkzeuggebrauch – die Verwendung von Stöckchen zum Aufsammeln von essbaren Insekten – wurde für diese Art jedoch erst 1996 dokumentiert; bei sechs Orang-Utan-Populationen auf Borneo und Sumatra wurden insgesamt 15 unterschiedliche Formen von Werkzeuggebrauch identifiziert. So werden Blätter beispielsweise als „Regenschirm“ oder zum Schutz der Hände vor dornigem Geäst verwendet. Orang-Utans können zudem gezielt Wasser nutzen, um an Nahrung heranzukommen. Forscher des Max-Planck-Instituts für Anthropologie hatten Erdnüsse in ein durchsichtiges, teilweise mit Wasser gefülltes Glasgefäß geschüttet, in dem sie für die Tiere allerdings nicht mit den Fingern erreichbar waren. Alle fünf Orang-Utans füllten daraufhin ihren Mund mehrfach (im Mittel dreimal) mit Wasser, spuckten es in das Glasgefäß und konnten aufgrund des dann höheren Wasserstands die Erdnüsse herausfischen. Bei allen Tieren verkürzte sich zudem die Latenzzeit nach der Aufnahme des ersten Wasserschlucks „dramatisch“ bei allen späteren Testdurchgängen. Im Verlauf einer weiteren Studie, die sowohl im Leipziger Zoo als auch im Zoo Zürich durchgeführt wurde, gaben Forscher Orang-Utans harte Nüsse und Astabschnitte als „Hämmer“ (ähnlich den Hämmern, die wildlebende Schimpansen nutzen). Von zwölf in Zoos lebenden Orang-Utans setzten mindestens vier die angebotenen Hämmer spontan und erfolgreich zum Nüsseknacken ein, das heißt, ohne dass sie sich dieses Verhalten bei Vorbildern abschauen mussten. Belegt ist ferner die spontane, vorbildlose Nutzung von scharfen Steinen zum Öffnen von Futterboxen. Von anderen Orang-Utans ist bekannt, dass sie Äste als „Fliegenklatschen“ benutzen. Wildlebende Gorillas Thomas Breuer vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie veröffentlichte im September 2005 eine Studie zum Werkzeuggebrauch von frei lebenden Gorillas im Nouabalé-Ndoki-Nationalpark im Norden des Kongos. Erstmals hatte er dort bei zwei Weibchen auch fotografisch dokumentieren können, dass Stöcke von diesen Primaten als Werkzeuge genutzt werden. Ein Weibchen durchquerte einen Tümpel, lotete zunächst die Wassertiefe mit einem Ast aus und stützte sich dann im brusthoch stehenden Wasser auf diesen Stock, gewissermaßen als Gehhilfe. Ein anderes Weibchen stützte sich mit einem Arm auf einen Stock, während es mit der anderen Hand Futter aufsammelte. Kapuzineraffen und Javaneraffen Brasilianische Rückenstreifen-Kapuziner verwenden im Gebiet der Caatinga bis faustgroße Steine, um mit deren Hilfe Wurzeln im Erdreich freizulegen. Antonio de Moura und Phyllis Lee (Universität Cambridge) beobachteten die Tiere auch dabei, wie sie mit Steinen Wurzeln zerteilten oder Nüsse knackten. Ferner benutzen die Kapuzineraffen Zweige, um in Astlöchern nach Insekten, Wasser oder Honig zu stochern. Die Autoren beschrieben das Verhalten der Affen als eine relativ junge, erlernte Anpassung an ihr unwirtliches und zeitweise sehr trockenes Habitat, in dem oberirdisch verfügbare Nahrung zeitweise noch knapper wird, seitdem die Menschen dort durch Brandrodung, Holzeinschlag und andere Eingriffe das Nahrungsangebot für diese Tiere zusätzlich verringert haben. Beim Ausgraben von Wurzeln schlagen die Affen mehrmals mit dem Stein auf den Boden, zugleich kratzen sie mit ihrer zweiten Hand die aufgelockerte Erde zur Seite. Diese Vorgehensweise wurde bei mehreren Gruppen beobachtet, die Kilometer weit voneinander entfernt leben. Die Kapuzineraffen der Caatinga erschlossen sich mit Hilfe ihrer Werkzeuge beispielsweise die Wurzeln des Maniok, die Wurzeln von Thiloa glaucocarpa aus der Familie der Flügelsamengewächse sowie die Früchte der Jatoba-Art Hymenaea courbaril als Nahrungsquelle, Verhaltensweisen, die eine erhebliche Verbesserung ihrer Ernährungssituation bewirkten. Weibliche Rückenstreifen-Kapuziner wurden zudem beobachtet, wie sie mit einem Stöckchen in ihrer Nase stocherten und so einen Niesreiz auslösten. Auch zum Nussknacken verwenden Rückenstreifen-Kapuziner Steine. Die Werkzeuge werden wiederholt benutzt und häufig über größere Entfernungen hinweg transportiert. Im Nationalpark Serra da Capivara reicht das Verhalten, Nüsse und Samen mit Schlagsteinen aufzubrechen, nach archäologischen Untersuchungen rund 3000 Jahre zurück und umspannt so etwa 450 Kapuzineraffen-Generationen. Während dieser Zeit ließ sich auch ein mehrfacher Wechsel im Gebrauch der Schlagsteine belegen. Dies reicht von einer anfänglichen Nutzung kleinerer Schlagsteine hin zu größeren und wieder zu kleineren, wobei die Tiere größere Steine in einem Zeitraum von vor 2400 bis 300 Jahren vor heute nutzten. Es handelt sich hierbei um den ersten Nachweis sich ablösender „Schlag-“ und „Werkzeugtraditionen“ außerhalb der Kulturentwicklung des Menschen. Kapuzineraffen-Populationen an anderen Orten in Brasilien benutzen ebenfalls Steine als Werkzeuge. Beim Zuschlagen platzen gelegentlich unabsichtlich Abschläge ab, die denen gleichen, die an archäologischen Fundstellen in Afrika regelmäßig den frühen Hominini zugeschrieben werden. Die Autoren einer 2016 publizierten Studie wiesen darauf hin, dass ihren Befunden zufolge die direkt zum Menschen führenden, frühen Vorfahren demnach nicht die einzigen Produzenten solcher Abschläge gewesen sein könnten. Ein vergleichbares Verhalten wie das der Kapuziner ist auch für Javaneraffen (Macaca fascicularis) in Myanmar belegt. Im Nationalpark Khao Sam Roi Yot in Zentralthailand nutzen Javaneraffen Steine derart häufig zum Erbeuten von Austern, Krabben und Schnecken, dass der Bestand an Schalentieren merklich zurückgegangen ist und die verbliebenen kleiner sind als außerhalb des Nationalparks. Auf Bali (Indonesien) wurde beobachtet, dass Steine sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Javaneraffen zur sexuellen Stimulation genutzt werden. Weitere Säugetiere Braunbären Vergleichbar mit den frühen Studien von Wolfgang Köhler an Schimpansen wurden in den USA über einem Gehege von Braunbären (Ursus arctos) Donuts als Futterbelohnung angebracht, die allerdings selbst durch Hochspringen in aufgerichteter Körperhaltung nicht vom Boden aus erreichbar waren. Die insgesamt acht Bären wurden zugleich im Verlauf einer instrumentellen Konditionierung darin geschult, einen runden Holzklotz unter die Donuts zu rollen und von diesem aus die Belohnung herunterzuholen, was sechs der Testtiere nach einigen Versuchen zuverlässig beherrschten. Für diese Bären wurden die Belohnungen daraufhin höher angebracht, ihnen wurden aber zusätzliche Holzklötze ins Gehege gelegt. Ohne weitere Konditionierung schoben die Bären nunmehr zwei der Holzklötze übereinander und konnten so die Donuts erbeuten; diese Form der Handhabung frei beweglicher Objekte wurde in einem 2017 veröffentlichten Forschungsbericht als erfolgreicher Werkzeuggebrauch interpretiert. Delfine Unter der Überschrift Flipper geht zur Schwammschule kommentierte New Scientist im Jahr 2005 eine Studie, die kurz zuvor in den Proceedings of the National Academy of Sciences erschienen war. In ihr berichteten Michael Krützen von der Universität Zürich und Forscher der University of New South Wales in Sydney, dass einige der Großen Tümmler in der westaustralischen Shark Bay bei der Futtersuche Schwämme vom Meeresboden ablösen und diese über ihre Schnauze stülpen. Die Schwämme dienen ihnen als eine Art Handschuh, um ihre Schnauze bei der Futtersuche in steinigem Boden vor Verletzungen zu schützen; sie schwimmen knapp über dem Meeresgrund, wobei ihre Schnauzenspitze den Boden aufwühlt, scheuchen auf diese Weise Fische auf und versuchen diese zu erbeuten. Von den rund 3000 Delfinen in der Shark Bay sind nur etwa 30 so genannte Spongers, hat Michael Krützen vom Anthropologischen Institut der Universität Zürich herausgefunden. Um genetische Einflüsse zu untersuchen, wurde die DNA von 13 schwammbenutzenden Delfinen analysiert und die DNA von 172 Delfinen, die keine Schwämme benutzen. Man fand heraus, dass die Töchter anscheinend den Gebrauch von Schwämmen von der Mutter lernen: Die Schwamm benutzenden Tiere zeigten nämlich eine signifikante genetische Verwandtschaft. Die Forscher nehmen daher an, dass die Nutzung von Schwämmen erst vor relativ kurzer Zeit von einer Vorfahrin ‚erfunden‘ worden ist. Es ist überdies das erste Beispiel für eine materielle Kultur bei Meeressäugern und führte zu einer veränderten Nutzung der verfügbaren Nahrung. In einer weiteren Studie in der Shark Bay wurde beobachtet, dass Delfine Fische in die leeren Gehäuse von Riesenschnecken treiben, diese dann samt Fisch mit zur Meeresoberfläche mitnehmen und sie durch Hin- und Herschütteln ausleeren, sodass die Nahrung in ihr Maul fällt. In diesem Fall ergab die genetische Studie, dass sich das Verhalten innerhalb einer Generation ausbreitete. Dies würde bedeuten, dass Delfine nicht nur fähig sind, von der Mutter zu lernen, sondern auch als erwachsene Tiere direkt von Artgenossen. Dingo Ein in Gefangenschaft gehaltener, junger männlicher Dingo zog – ähnlich wie Köhlers Schimpansen – ohne Training wiederholt einen Tisch durch seinen Käfig, in die Nähe eines hoch oben am Gitter, außerhalb seiner Reichweite hängenden Leckerbissens, stieg auf den Tisch und konnte so den Leckerbissen erreichen. Elefanten Auch Elefanten sind bekannt dafür, dass sie Werkzeuge benutzen. Sie schwenken zum Beispiel Zweige mit ihrem Rüssel und vertreiben so Fliegen von ihrem Körper. Joyce Poole, eine Feldforscherin bei Afrikanischen Elefanten, berichtete zudem, dass Elefanten beobachtet wurden, wie sie große Steine gezielt auf einen elektrischen Zaun warfen und auf diese Weise die Stromversorgung unterbrachen. Equiden Bei Pferden wurde der Gebrauch mehrerer verschiedener Werkzeuge beobachtet. Es wurde, unter anderem, ein Pferd und ein Maultier beobachtet, die sich mehrfach Stöcke suchten und dann unter einer Heuraufe Futter hervor holten. Nagetiere Nacktmulle (Heterocephalus glaber) graben mit Hilfe ihrer Schneidezähne große Höhlensysteme. Dabei wurde beobachtet, dass sie – zumindest in Gefangenschaft – häufig Holzspäne und Wurzelstücke hinter ihren Schneidezähnen und vor ihren Lippen und Mahlzähnen platzieren, wenn sie in besonders feinem Bodenmaterial graben. Gedeutet wurde dieses Verhalten als tauglich, das Einatmen von Staub und anderen Fremdkörpern zu verhindern. Zwei Forscher der Cornell University bezeichneten dieses Verhalten in einer 1998 veröffentlichten Publikation als Werkzeuggebrauch; allerdings widerspricht die Aussage der Autoren, die Holz- oder Wurzelstücke dienten dem – rein passiven – Schutz der Atemwege, ihrer Deutung, dies sei ein Werkzeuggebrauch. Eindeutig waren jedoch die Befunde einer weiteren Studie. Fünf Degus (Octodon degus) wurden im Labor von japanischen Biolinguisten binnen zwei Monaten erfolgreich trainiert, mit ihren Vorderbeinen einen Schieber so zu bewegen, dass sie Sonnenblumenkerne einsammeln konnten, die allein mit den Pfoten nicht erreichbar waren. Den Angaben der Autoren zufolge war dies der erste Nachweis der Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch bei Nagetieren. Schweine Drei Visayas-Pustelschweine wurden in der Ménagerie du Jardin des Plantes in Paris dabei beobachtet und per Video dokumentiert, mit einem Holzstock im Maul in der Erde zu wühlen. Ein erwachsener Eber nutzte das Werkzeug vermutlich bei der Futtersuche, zwei erwachsene Sauen nutzten einen Stock während der letzten Phase des Nestbaus. Seeotter Seeotter legen sich, auf dem Rücken treibend, Steine auf den Bauch und benutzen sie zum Knacken von Schalentieren. Sie zerschlagen die Schalen von Muscheln und die Gehäuse von Schnecken mit Hilfe von Steinen ferner auch auf Felsformationen und nutzen zudem über Jahre hinweg die gleichen Steine; sie sind die einzigen Meerestiere, bei denen diese Verhaltensweisen bislang beschrieben wurden. Vögel Zum Werkzeuggebrauch von Vögeln gab es immer wieder anekdotische, aber nicht wissenschaftlich gesicherte Zufallsbeobachtungen, gegen die aber häufig eingewendet werden konnte, dass die Handhabung von kleinen Stöckchen primär dem Nestbau gedient habe. Systematische Beobachtungen zum Werkzeuggebrauch von Vögeln sind daher erst spät durchgeführt worden. Geradschnabelkrähen und Hawaiikrähen Geradschnabelkrähen (Corvus moneduloides) aus Neukaledonien können Drähte verbiegen und damit Futter angeln – ein Verhalten, das zumindest in einigen freilebenden Populationen der Geradschnabelkrähen zum natürlichen Verhaltensrepertoire gehört. Forscher der Universität Auckland berichteten zudem, dass die Vögel einen gegabelten Zweig in mehreren Arbeitsschritten zu einem Haken umgestalteten. Die Krähen wurden ferner dabei beobachtet, wie sie in freier Natur Blätter von Schraubenbäumen so bearbeiteten, dass sie mit ihnen Maden aus Baumritzen angeln konnten. Mit Hilfe von Minikameras, die man an einigen frei lebenden Vögeln befestigt hatte, konnte nachgewiesen werden, dass erfolgreich als Werkzeug zum Aufstöbern von Insekten benutzte Grashalme im Schnabel mitgenommen werden, wenn die Vögel zu einem anderen Futterplatz fliegen. In einer anderen Studie wurde berichtet, dass mit Haken versehene („wertvolle“) Stöckchen eher für einen späteren Gebrauch aufbewahrt werden als einfachere Werkzeuge. Mit Hilfe ihrer Werkzeuge beschaffen sich die Krähen einen erheblichen Anteil ihrer täglichen eiweiß- und fetthaltigen Nahrung. In einem Laborexperiment gelang es mehreren Testtieren sogar, sich mit Hilfe eines Werkzeugs ein anderes Werkzeug zu beschaffen. Ein verlockendes Stück Fleisch war für die Vögel nur zu erreichen, wenn sie zunächst mit einem leicht erreichbaren kleinen Stöckchen ein deutlich längeres Stöckchen aus einem vergitterten Kasten herausstocherten. Drei von sieben Vögeln meisterten diese Situation auf Anhieb. Drei weitere Vögel setzten zwar ebenfalls das kurze Stöckchen als Werkzeug ein, scheiterten zunächst aber daran, sich das lange Stöckchen zu beschaffen. Insgesamt sechs Vögel holten sich schließlich das Futter; nur eine einzige Krähe versuchte zunächst, mit dem kleinen, ungeeigneten Stöckchen das Futter zu erreichen. Aus diesen Beobachtungen schlossen die neuseeländischen Verhaltensforscher, dass die Geradschnabelkrähen die ihnen gestellte Aufgabe bewältigen konnten, ohne sich durch Versuch und Irrtum an eine Lösung heranzutasten. Später gelang es einigen Testtieren sogar, drei Werkzeuge zu kombinieren. Wie die Geradschnabelkrähen benutzen auch die Hawaiikrähen (Corvus hawaiiensis) kleine Stöckchen als Werkzeuge, um Futter aus Löchern und Spalten zu holen. Diese Fähigkeit gilt als angeboren, da sie auch von Jungkrähen entwickelt wird, die keine Gelegenheit hatten, dieses Verhalten von erwachsenen Vögeln zu lernen. Kakadus Ein Goffinkakadu (Cacatua goffiniana) wurde dabei beobachtet, wie er mit seinem kräftigen Schnabel zum einen längliche Splitter aus einem Holzbalken biss, zum anderen aus einem verzweigten Ast Stöckchen zurechtbrach und schließlich mit diesen Hölzern Nüsse zu sich heran holte, die ohne Werkzeuggebrauch außerhalb seiner Reichweite lagen. In ähnlicher Weise trennte eines der Tiere einen schmalen Streifen Pappe von einem größeren Pappstück ab und nutzte den Streifen als Werkzeug, während bei einem weiteren Experiment das Ende eines geraden Drahtes zu einem Haken verbogen wurde, um an Futter zu gelangen. 2014 konnte im Zuge eines Experiments beobachtet werden, wie drei (von sechs) Goffinkakadus die Benutzung eines Stöckchens als Werkzeug von einem Artgenossen erlernten, wobei sie dessen Vorgehen nicht kopierten, sondern deutlich modifizierten. Laut den Forschern sei dies „der erste Beleg für eine soziale Weitergabe der Werkzeugnutzung bei einem Vogel“. Auch die aufeinanderfolgende Nutzung von drei unterschiedlichen Werkzeugen beim Öffnen einer beliebten Frucht wurde beobachtet. Palmkakadus (Probosciger aterrimus) benutzen passend zugebissene Stöcke, hartschalige Früchte sowie Steine und schlagen diese wiederholt und in je Tier eigenem Rhythmus gegen Baumäste, wodurch weithin hallende Klopfgeräusche erzeugt werden. Dieses Verhalten dient vermutlich der Reviermarkierung. Saatkrähen und Keas Saatkrähen, für die im Freiland bisher kein Werkzeuggebrauch nachgewiesen wurde, zeigten im Labor Verhaltensweisen, die denen der Geradschnabelkrähen ebenbürtig sind: Um einen Leckerbissen aus einer Glasröhre herauszuholen, benutzten die Vögel Stöckchen, und zwar umso kleinere, je enger die Glasröhre war. Auch bogen sie die Enden von Drahtstücken so um, dass sie diese Enden als Haken benutzen konnten. Ähnliche Verhaltensweisen zeigen Keas. Weitere Beispiele Otto Koehler berichtete, dass Schmutzgeier dafür bekannt sind, so lange Steine gegen Straußeneier zu schleudern, bis diese zerspringen; danach verzehren sie deren Inhalt. Heinz Sielmann berichtete über Beobachtungen an Spechtfinken der Galapagosinseln mit dem bezeichnenden Namen Cactospiza pallida, dass diese einen Kaktusstachel oder ein gerades Hölzchen benutzen und sogar selbst zurechtbrechen, um damit Insekten aus Löchern im Holz zu stochern. Blauhäher wurden in Gefangenschaft dabei beobachtet, dass sie mit Hilfe von Werkzeugen Futter vergraben. Der männliche Gelbnacken-Laubenvogel erstellt (ähnlich wie andere Laubenvögel) speziell für die Balz eine Laube vom Allee-Typ (bestehend aus zwei aus Stöcken verflochtenen Wänden von etwa 36 cm Länge, parallel im Abstand von etwa 25 cm angeordnet). An der Laube, vorzugsweise an deren beiden Öffnungen, bringt das Männchen bevorzugt farbige Gegenstände an (Beeren, Schneckenschalen, Metall, Glas, Plastikteile), möglichst in roten oder gelbbraunen Tönen. Außerdem benutzt er braun-rot-gelbe Farbstoffe zum Bemalen der Wände. Den Farbauftrag führt er durch Horizontalbewegungen mit Bündeln von Blättern durch, die er quer im Schnabel hält. Mit diesem „Pinsel“ trägt er eine Farbstoffmischung aus Blättern, Früchten und Lehm, mit Speichel vermischt, an den Wänden auf. Anschließend säubert er den Arbeitsplatz und entfernt alle Arbeitsmittel, Blätter und andere lose Gegenstände auch im Umkreis seiner Laube. Mehrere in Gefangenschaft lebende Große Vasapapageien wurden dabei beobachtet, wie sie Kieselsteine und Dattelkerne verwenden, um das Innere von Muschelschalen abzuschleifen und danach das Kalkpulver abzulecken. Ferner nutzen sie diese Werkzeuge, um Muschelschalen zu zerbrechen. Zwei Papageitaucher wurden in ihrer natürlichen Brutkolonie – in Wales und Island – dabei beobachtet, wie sie sich mit Hilfe eines Stöckchens am Unterleib kratzten; für die Beobachtung in Island liegt eine Video-Dokumentation vor. Fische Ein Lippfisch (Choerodon anchorago) wurde 2009 beobachtet und dabei gefilmt, wie er auf hartschalige Beute traf, sich einen passenden Stein suchte, diesen ins Maul nahm, zurück zur Nahrungsquelle schwamm und damit die Beute aufschlug. Ähnliche Verhaltensweisen waren zuvor auch vereinzelt bei anderen Lippfischen beobachtet worden. An südamerikanischen Süßwasserstechrochen der Gattung Potamotrygon (Potamotrygon castexi) wurde in einer Versuchsanordnung beobachtet, wie sie zielgerichtet Wasser so in Bewegung setzten, dass sie Futter aus einer Testapparatur freisetzen konnten. Sonderfälle Auch in dem 1980 publizierten Standardwerk Animal Tool Behavior: The Use and Manufacture of Tools by Animals, das im Jahr 2011 überarbeitet neu aufgelegt wurde, lautet eine gängige Definition wie folgt: Werkzeuggebrauch ist „die äußerliche Benutzung eines externen Gegenstandes aus der Umwelt, um die Gestalt, die Lage oder den Zustand eines anderen Gegenstandes, eines anderen Organismus oder des Benutzers selbst effizienter zu modifizieren, während der Nutzer das Hilfsmittel während oder unmittelbar vor dessen Nutzung hält oder mit sich führt und verantwortlich ist für die sachgerechte und erfolgreiche Ausrichtung des Hilfsmittels.“ Auch in Fachveröffentlichungen werden gelegentlich jedoch auch Verhaltensweisen als „Werkzeuggebrauch“ beschrieben, die von den üblichen Definitionen nicht abgedeckt werden. Sumpfkrokodile (Crocodylus palustris) in Indien und Mississippi-Alligatoren (Alligator mississippiensis) in den USA wurden dabei beobachtet, wie sie, teilweise untergetaucht, inmitten von Reiher-Kolonien lauerten, wobei sie Stöcke auf ihren Schnauzen balancierten. Vögel, die sich näherten, um die Stöcke als Material für den Nestbau zu sammeln, wurden von den Reptilien gepackt und gefressen. Die beobachtenden Forscher interpretierten diese Stöcke als Köder, um potentielle Beute anzulocken, und das Verhalten der Krokodile als Werkzeuggebrauch, da die Stöcke Objekte sind, die für eine bestimmte Funktion verwendet werden. Das Balancieren der Stöcke war am häufigsten bei jenen Krokodilen zu beobachteten, die in Vogelkolonien leben, und zudem während der Brutzeit der Reiher. Grabwespen der Gattung Ammophila nehmen gelegentlich Steinchen zwischen ihre Mandibeln, um nach dem Zugraben ihrer Eikammer den losen Sand über dem Eingang festzustampfen. Für die Ameisenarten Aphaenogaster rudis sowie Aphaenogaster subterranea und Aphaenogaster senilis wurde Werkzeuggebrauch im Zusammenhang mit dem Nahrungserwerb beschrieben. Oktopusse nutzen gelegentlich Muschelschalen oder andere Gegenstände als Unterschlupf, was als „defensiver Werkzeuggebrauch“ beschrieben wurde. Siehe auch Oldowan, archäologische Kultur mit den weltweit ältesten Steinwerkzeugen Spielverhalten der Tiere Mengenunterscheidung bei Tieren Literatur Peter-Rene Becker: Werkzeuggebrauch im Tierreich. Wie Tiere hämmern, bohren, streichen. In: Edition Universitas. Hirzel / Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1999, ISBN 3-8047-1291-6; 2. Auflage. S. Hirzel, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-7776-2848-6. Vicki K. Bentley-Condit und E.O. Smith: Animal tool use: current definitions and an updated comprehensive catalog. In: Behaviour. Band 147, Nr. 2, 2010, S. 185–221 und A1–A32, doi:10.1163/000579509X12512865686555, Volltext (PDF). Peter Beurton: Werkzeugproduktion im Tierreich und menschliche Werkzeugproduktion. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Band 38, Nr. 12, 1990, S. 1168–1182, doi:10.1524/dzph.1990.38.12.1168. Wiederabdruck in: Marxistische Blätter. 44. Jg. (2006), Nr. 3, S. 48–53 und Nr. 4, S. 73–82. Hans-Albrecht Freye: Biologische Grundlagen des Werkzeuggebrauchs. In: Wissenschaft und Fortschritt. Heft 10/1981, S. 385–389. Robert W. Shumaker, Kristina R. Walkup und Benjamin B. Beck: Animal Tool Behavior: The Use and Manufacture of Tools by Animals. Johns Hopkins University Press, 2011, ISBN 978-0-8018-9853-2. Timothy Taylor: The Artificial Ape: How Technology Changed the Course of Human Evolution. Palgrave Macmillan, 2010, ISBN 978-0-230-61763-6. Thomas Wynn et al.: “An ape’s view of the Oldowan” revisited. In: Evolutionary Anthropology: Issues, News, and Reviews. Band 20, Nr. 5, 2011, S. 181–197, doi:10.1002/evan.20323. Weblinks Bilder und Videoclips von Werkzeuggebrauch bei Schimpansen.: Auf: eva.mpg.de (Webseiten von Christophe Boesch). Chimpanzee Tool Technology in the Ndoki Forest. Video zum Werkzeuggebrauch von Schimpansen im Ndoki Forest. Abbildung: Kapuzineraffe benutzt großen Stein zum Knacken einer Nuss. Auf: newscientist.com vom 19. November 2015. Video: Werkzeuggebrauch bei Krähen und Keas. (MP4; 20,7 MB) Birdies über Par: Golf spielende Kakadus können werkzeuggebrauchenden Primaten das Wasser reichen. Auf: vetmeduni.ac.at vom 27. Januar 2022. Mit Abbildungen und einem ausführlichen Video zum Werkzeuggebrauch bei einem Goffinkakadu. Die Werkzeugkiste der Tiere. Artikel auf der Website vom Weizmann-Institut für Wissenschaften, 8. November 2020. Belege Verhaltensbiologie Wikipedia:Artikel mit Video
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https://de.wikipedia.org/wiki/Charlottenh%C3%B6hle
Charlottenhöhle
Die Charlottenhöhle ist eine Tropfsteinhöhle bei Hürben, einem Stadtteil von Giengen, auf der Schwäbischen Alb in Baden-Württemberg. Die Höhle ist mit Seitengängen 587 Meter lang, liegt 487,5 Meter über Normalnull und dürfte zweieinhalb bis drei Millionen Jahre alt sein. Das Hundsloch, der Eingang zur Höhle, war schon 1591 in einer Forstkarte eingetragen. Die Bevölkerung warf Kadaver von Haustieren in dieses Loch. Die erste Befahrung unternahm Oberförster Hermann Emil Sihler im Frühjahr 1893 mit einer Strickleiter. Bei weiteren Befahrungen und Grabungen wurde die Höhle freigelegt, für den Publikumsverkehr erschlossen und mit einer elektrischen Beleuchtung ausgestattet. Die feierliche Eröffnung fand am 17. September 1893 statt. Am 23. September besuchte die Königin Charlotte von Württemberg die nach ihr benannte Höhle. Diese wird als Schauhöhle auf einer Länge von 532 Metern touristisch genutzt und ist eine der Infostellen des UNESCO Geoparks Schwäbische Alb, etwa 100 Kilometer östlich von Stuttgart. Der von fließendem Wasser gebildete, verhältnismäßig enge Höhlengang zieht sich schlauchartig durch den Berg und ist von mehr als zehn geräumigen, oft recht hohen Hallen unterbrochen. Die Höhle enthält reiche Versinterungen mit verschiedenen Tropfsteinformen. Die Charlottenhöhle gilt mit ihrem Tropfsteininventar als eine der schönsten Schauhöhlen in Deutschland. Im Juli 2005 wurde am Fuße der Charlottenhöhle das Informationszentrum HöhlenHaus erbaut. Um das HöhlenHaus entstand die HöhlenErlebnisWelt und am Aufgang zur Charlottenhöhle ein Zeitreisepfad. Im Juli 2008 wurde das HöhlenSchauLand, ein multimediales Museum, in unmittelbarer Nähe des HöhlenHauses eröffnet. In den letzten Jahren konnte die Zahl der Besucher gegen den Trend der meisten anderen deutschen Schauhöhlen bei 40.000 pro Jahr gehalten werden. Geschichte Entdeckung Mit dem Eintrag in der Giengener Forstkarte des Ulmer Stadtmalers Philipp Renlin im Jahre 1591 wurde die Höhle zum ersten Mal erwähnt und als Hundsloch im Hürbener Gewann Krauthalde bezeichnet. Es fehlt jedoch die Angabe der genauen Lage. Der Name der Doline mit etwa drei Meter Durchmesser leitet sich wohl davon ab, dass die Bevölkerung vermutlich bereits seit dem Mittelalter Kadaver von Haustieren hineinwarf. Aus diesem Grund wurde das Loch von den Einheimischen längere Zeit nicht näher untersucht. Erstmals hatte 1893 der Giengener Oberförster Hermann Emil Sihler Interesse an der Erkundung des Lochs. Er war ein erfahrener Höhlenforscher, der sich schon vorher mit den Höhlen der Schwäbischen Alb befasst und 1892 die Irpfelhöhle bei Giengen entdeckt hatte. Der Wald mit dem Hundsloch lag in seinem Revier. Sihler versuchte im Frühjahr 1893, unterstützt vom Forstwart Gaiser und von einem Tagelöhner aus Hürben, mit einer Leiter in die Höhle einzudringen. Da die Leiter nicht bis zum Boden der Höhle reichte, scheiterte der Versuch. Eine geheimgehaltene Befahrung fand am Sonntag, den 7. Mai 1893, statt. Drei Einwohner der Gemeinde Hürben, die Zimmerleute Friedrich Strauß, Jakob Beutler und Kaspar Schlumpberger, stiegen mit einer 15 Meter langen Strickleiter in die Höhle ein. Friedrich Strauß sprang von der zu kurzen Leiter auf einen Knochenhaufen. Es gelang nicht, in weitere Höhlenteile, die andeutungsweise zu erkennen waren, vorzudringen. Am 9. Mai erfolgte ein weiterer Einstieg, diesmal mit Sihler, wobei Forstwart Gaiser von oben sicherte. Die angeseilten Männer beseitigten zunächst in mehreren Stunden den Knochenberg so weit, dass sie in die eigentliche Höhle eindringen konnten. Als Erstes entdeckten sie einen etwa zwei Meter hohen Bodentropfstein, der später Berggeist genannt wurde. Sie drangen 163 Meter bis zu einer Engstelle in der Schatzkammer vor. Unterwegs entdeckten sie zahlreiche Tropfsteinformationen. Die Befahrung dauerte etwa zwei Stunden. Unter der Leitung von Oberförster Sihler fanden in den nächsten Tagen weitere Höhlenbefahrungen statt, bei denen die Hürbener Feuerwehr mithalf. Die Männer konnten sich dabei einen Überblick über die Ausmaße der Höhle verschaffen. Die ersten Berichte über die entdeckte Tropfsteinhöhle erschienen am 10. und 13. Mai im Brenztal-Boten. Er schrieb am 15. Mai 1893: Erschließung Auf Beschluss des Gemeinderates vom 16. Mai wurde das Begehen der Höhle streng verboten, da bereits Tropfsteine entwendet worden waren. Weiterhin wurde über das zukünftige Vorgehen beraten. Die Höhle wurde mit Unterstützung des Oberamtsvorstands Filser aus Heidenheim an der Brenz auf Kosten der Gemeinde in ihrer gesamten Länge erforscht und begehbar gemacht. Der untere Zugang zur Höhle war bis auf eine schmale Öffnung, die als Einschlupf eines Fuchses diente, verschüttet. Von innen wurden die angeschwemmten Schuttmassen entfernt, wodurch der einstige Ausfluss des Höhlenbaches freigelegt werden konnte. Damit bekam die Höhle wieder einen ebenerdigen Zugang. Nach der Erschließung der Höhle bis in die hinteren Räume konnte sie der Geologe und Paläontologe Eberhard Fraas aus Stuttgart am 17. Juni mit einer Gruppe weiterer Sachverständiger wissenschaftlich untersuchen. Dabei fanden auch Grabungen statt. Fraas fand zahlreiche Knochen von eiszeitlichen Tieren, vor allem von Höhlenbären, jedoch keine prähistorischen menschlichen Spuren. Er bescheinigte noch am Tag des Besuches, „daß die Höhle zu den schönsten Naturschönheiten von Württemberg gehört und darum eine weitere Zugänglichmachung sich im höchsten Grade lohnen dürfte“. Des Weiteren erklärte er: „Eine neue Naturschönheit ersten Ranges ist auf unserer Alb erschlossen und gewiß wird kein Besucher den Gang durch diese prächtige Höhle bereuen.“ Dies ermutigte die Gemeinde, die Höhle für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Am 2. Juli 1893 schrieb der Grenzbote des Amts- und Intelligenzblattes für den Oberamtsbezirk Heidenheim, dass die Höhle „an Ausdehnung und Schönheit der Tropfsteingebilde alle bis jetzt bekannten Höhlen Württembergs übertrifft und wohl in kurzer Zeit eine der besuchtesten Naturschönheiten der Gegend bilden dürfte“. Fraas schilderte dort auch seine Begehung der Höhle: Die Gemeinde bat die Königin von Württemberg um Erlaubnis, die Höhle nach ihr benennen zu dürfen. Man hatte sich wahrscheinlich erhofft, einen staatlichen Zuschuss zur Erschließung der Höhle zu erhalten. Später wurden 1000 Mark zugesagt. Die Gemahlin des letzten württembergischen Königs Wilhelm II. wurde zu einer Besichtigung der Höhle eingeladen. Man begann, die Höhle komplett auszubauen und begehbar zu machen. An einer Engstelle in der Höhle, der heutigen Schatzkammer, 163 Meter vom Eingang entfernt, musste ein Durchbruch geschaffen und zur Überbrückung des Höhenunterschiedes eine Treppenanlage gebaut werden, um in das Zyklopengewölbe zu gelangen. An der Straße unterhalb der Höhle wurde am 13. August eine Gastwirtschaft in einem 32 Meter langen Holzgebäude eröffnet. Elektrische Beleuchtung Die elektrische Beleuchtung wurde auf Initiative von Oberamtmann Filser und Schultheiß Kost von einem Pionier der Elektrotechnik eingerichtet, Paul Reißer aus Stuttgart. Ihm wurde vorgegeben, die komplette elektrische Anlage innerhalb von 14 Tagen auszuführen, damit sie zur Eröffnung der Höhle fertig sei. Die Charlottenhöhle gehört damit zu den ersten Schauhöhlen mit elektrischer Beleuchtung weltweit nach der Kraushöhle in der Steiermark, die 1883 als erste Höhle der Welt elektrisch beleuchtet wurde. In Deutschland folgten 1884 die Olgahöhle und 1891 die Gußmannshöhle. Im Höhlengang wurden an der Decke Querstreben angebracht, an denen die Leitungen und Lampen auf Glasisolatoren befestigt waren. An einem 570 Meter langen Bleikabel hingen 89 Kohlefaden-Edisonlampen. Gleichstrom von 105 Volt wurde von einem Verbrennungsmotor, der einen Generator mit Nebenschlussregulator antrieb, erzeugt. Die Kosten der Höhlenbeleuchtung beliefen sich auf 13.130 Mark, die von der Gemeinde mit einem Kredit finanziert wurden. Im August 2011 wurde die Beleuchtung der Höhle in dreimonatiger Arbeit komplett auf LED-Technik umgestellt, wobei durch Punktstrahler gezielt Partien der Innenwandung ins Licht gesetzt wurden, statt die gesamte Höhle zu erhellen. Die alten Stromleitungen wurden dabei größtenteils abgebaut. Ein Abschnitt, an dessen Leitungsdrähten sich mittlerweile Tropfsteine gebildet hatten, wurde als Attraktion belassen. Eröffnung Die offizielle Eröffnung der Höhle, die aufgrund der Zeitungsberichte schon weit über die Grenzen der Gemeinde hinaus bekannt war, fand am 17. September 1893 statt. Schon vorher hatten sie sonntags 500 bis 1000 Personen, die zu Fuß oder mit dem Wagen gekommen waren, aufgesucht. Es wurden Höhlenführer eingestellt und die Eintrittspreise festgelegt. Zur Einweihung kamen zahlreiche Schaulustige mit Pferdekutschen und Leiterwagen. Ein Festzug wurde von der Stadtkapelle Heidenheim begleitet. Schultheiß Kost dankte in seiner Begrüßungsansprache Fraas für die wissenschaftliche Erforschung der Höhle. Die Festrede hielt Oberamtmann Filser, der Vorsitzende des Höhlenkomitees, und überreichte dem ersten Höhlenführer, Beutler, feierlich den Höhlenschlüssel. Daraufhin wurde die Höhle für die Allgemeinheit freigegeben. Der zugesagte Besuch der Königin wurde am 23. September 1893 nachgeholt. Bis zum Jahresende besuchten etwa 15.000 Personen die Höhle. Der Eintritt belief sich auf eine Mark für Erwachsene, das entsprach damals dem Drei- bis Vierfachen des durchschnittlichen Stundenlohnes eines Arbeiters. Königin Charlotte Ihren Besuch am Samstag, dem 23. September 1893, verband die Königin mit einer Visitation von sozialen Einrichtungen in Stadt und Bezirk Heidenheim. Sie reiste mit einem Extrazug nach Heidenheim und fuhr in einem offenen Hofwagen bei strömendem Regen durch die Stadt, wo das dichtgedrängte Publikum die geschmückten Straßen säumte. Um 15:15 Uhr erreichte die Königin unter Glockengeläut den bekränzten und mit Fahnen geschmückten Ort Hürben. Neben dem Gefolge der Königin waren alle Bezirks- und Gemeindebeamten und Geistlichkeiten zum Empfang erschienen. Da der Weg zur Höhle durch den starken Regen aufgeweicht war, wurde er auf einer Länge von mehreren hundert Metern mit Leinen ausgelegt. Die Königin war von der Schönheit der Höhle, die mit weiteren 149 Lampen, darunter 39 farbigen, ausgeleuchtet worden war, sichtlich überrascht und beeindruckt. Sie wurde bis zur Höhlenmitte, dem Königssaal, von Fraas geführt. Bis dorthin reichte die elektrische Beleuchtung. Anschließend ging es mit Kerzenlicht tiefer in die unbeleuchteten Höhlenbereiche bis zur Kristallgrotte. Nach einer halben Stunde verließ die Königin die Höhle und begab sich zur neuen Gaststätte. Gegen 16:30 Uhr fuhr sie zunächst zur Kinderrettungsanstalt in Herbrechtingen und später zum Bahnhof, von wo sie ein Sonderzug mit ihrem Gefolge zurück zur Residenz brachte. Die Kosten des Besuchs und der Einweihungsfeierlichkeiten beliefen sich auf 2000 Mark. Schauhöhle Als die erste Begeisterung für die Höhle nachließ und die Besucherzahlen abnahmen, reichten die Einnahmen zur Bestreitung der Unkosten, insbesondere der hohen Stromkosten, nicht mehr aus. Diplomingenieur Carl Gaulé aus Stuttgart sollte klären, ob eine kostengünstigere Beleuchtung möglich sei. Er wägte in seinem Gutachten vom 25. November 1902 Vor- und Nachteile von Fackeln, Magnesiumfackeln, Acetylengasanlage, Acetylengas-Handlampen und elektrischer Beleuchtung ab und kam zum Ergebnis, dass Letztere die zweckmäßigste Beleuchtungsart sei. Am 3. Juni 1903 kam es im Maschinenhaus zu einem Brand, bei dem Motor, Dynamo und sonstiges Zubehör vernichtet wurden. Die Gemeindeverwaltung beschloss daraufhin, die Höhle ab 3. August 1905 auf 30 Jahre an den Gastwirt Friedrich Föll aus Herbrechtingen zu verpachten. Es bestand noch ein Restdarlehen von 5650 Mark aus der Erschließungszeit der Höhle, die der Pächter übernehmen musste. Im Gegenzug erhielt er die Versicherungssumme aus dem Maschinenhausbrand in Höhe von 7568 Mark. Mit diesem Geld schaffte er 1906 einen neuen Motor und eine Dynamomaschine an. 1934 wurde der Pachtvertrag nicht verlängert, und die Höhle ging ab 1. April 1935 wieder in die Verantwortung der Gemeindeverwaltung über. Auf Initiative des Bürgermeisters Ernst Bosch wurde 1957 damit begonnen, die Beleuchtung der Höhle zu erneuern. Dabei wurden die Lichtquellen so verlegt, dass sie nicht mehr einsehbar sind und die Tropfsteine gezielt anstrahlen. Bis 1965 wurden 203 Lampen und zwei Scheinwerfer angebracht. Im Winter 1976/1977 wurde die elektrische Installation auf den neuesten Sicherheitsstandard gebracht. Die Tropfsteinhöhle gehört seit 2004 zum UNESCO-Geopark Schwäbische Alb. Im August 2005 wurde am Fuß der Höhle das Informationszentrum HöhlenHaus des Höhlen- und Heimatvereins Hürben eingeweiht. Das HöhlenHaus ist eine von 26 Infostellen des Geoparks Schwäbische Alb. Um das Höhlenzentrum entstand die HöhlenErlebnisWelt mit einem Zeitreisepfad am Aufgang zur Charlottenhöhle. In unmittelbarer Nähe des HöhlenHauses besteht seit Juli 2008 das HöhlenSchauLand, ein multimediales Museum. Die Kosten beider Einrichtungen einschließlich der Gestaltung der Außenanlage beliefen sich auf etwa 1,8 Millionen Euro, wobei sich die Europäische Union (EU) und das Land Baden-Württemberg zusammen mit 1,2 Millionen Euro beteiligten. Von April bis August 2011 wurde die komplette Beleuchtungsanlage der Höhle durch LED-Beleuchtung ersetzt. Dazu wurden auf Initiative der Stadt Giengen und des Höhlen- und Heimatvereins Giengen-Hürben mehrere hundert neue Lampen eingebaut. Unterstützt wurde das Projekt durch das Förderprogramm LEADER der Europäischen Union. Geologie Entstehung Das Alter der Höhle beträgt etwa zweieinhalb bis drei Millionen Jahre. Sie entstand im Weißen Jura in einer Karstlandschaft. Zunächst bildete sich eine Höhlung im stehenden Grundwasser, das als kalkgesättigtes Sickerwasser von der Kuppe her entlang der Schichtfugen und Klüfte eingedrungen war. Nach der Eintiefung der Brenz, die damals durch das heutige Hürbetal floss, kam es zu einem Abfluss des Wassers. Die Schwäbische Alb wurde am Ende des Tertiärs im Übergang zum Quartär angehoben, die Brenz tiefte sich ein und passte sich dem neuen Gefälle an. Ihr wurde in der Karstlandschaft das Wasser entzogen, und es bildete sich ein Trockental. Später floss in diesem Tal die Hürbe. Der ehemalige Höhlenfluss schnitt sich immer tiefer in die ursprüngliche Röhre ein und weitete die Höhle aus. Durch die Eintiefung des ehemaligen Brenztals sank der Karstwasserspiegel. Die höhergelegenen Abflusssysteme waren nicht mehr an der Entwässerung beteiligt. Das Umfeld der Höhle hat sich dadurch geändert. Das Wasser hatte das Gangsystem verlassen und floss nun obertägig in das tiefere Brenztal ab. Das Tal, das jetzt von der Hürbe durchflossen wird, liegt etwa 35 Meter tiefer. Der Wasserlauf in der Höhle fiel schließlich trocken. Die Aneinanderreihung von Räumen mit Kaminen, die hallenartigen Erweiterungen im unteren Höhlenteil und die engen Verbindungsgänge mit Wasserstandsmarken sind ebenfalls Hinweise auf das Flusshöhlenstadium. Als das ausgewaschene Gestein von der Höhlendecke brach, bildeten sich Versturzhallen. Auf den Gesteinsmassen am Höhlenboden entwickelten sich teilweise Tropfsteine. Die Charlottenhöhle ist eines der seltenen Beispiele einer Flusshöhle. Vergleichbare Schauhöhlen sind die Eberstadter Tropfsteinhöhle und die Binghöhle. Höhlendaten Die Höhle im dolomitischen Weißen Jura Zeta (Tithon) besteht aus einem engen schlauchartigen Höhlengang, der von mehr als zehn geräumigen, oft recht hohen Hallen unterbrochen ist. Der von fließendem Wasser gebildete Gang ist häufig schlüssellochförmig ausgebildet. Die Höhle besitzt zwei Kluftrichtungen; die eine verläuft von Osten nach Westen, die andere von Nordosten nach Südwesten. Das abrupte Umschwenken in eine andere Richtung lässt sich innerhalb der Höhle an vielen Stellen beobachten. Zu erkennen sind die Klüfte auch beinahe immer an der Decke. Die für Flusshöhlen typischen Wasserstandsmarken lassen die Auswaschungsabschnitte (Erosionsgrenzen) im Kalkgestein und den häufig wechselnden Wasserstand erkennen. Die Höhle mit klammartigem Profil hat vom Höhlenende bis zum Eingang ein Gefälle von etwa zehn Metern, durchschnittlich etwa zwei Prozent. Der Boden verläuft entsprechend dem Gefälle schräg. Der Höhleneingang liegt auf 487,5 Meter über Normalnull. Am letzten Messpunkt kurz vor dem Höhlenende hat der Boden eine Höhe von 495,6 und im verstürzten Bereich am Höhlenende von 500,1 Metern über Normalnull. Das Hürbetal liegt 452,7 Meter hoch. Die Gesamtlänge der Höhle beträgt 587 Meter. Dabei ist ein etwa 50 Meter langer, nicht begehbarer Gang, der über einen acht Meter hohen Schacht erreichbar ist, eingeschlossen. Ohne diesen Nebengang ist die Höhle 532 Meter lang. Die Höhle liegt durchschnittlich 25 bis 30 Meter unter der Erdoberfläche. Tropfsteine Die Charlottenhöhle besitzt reiche Versinterungen, mit allen möglichen Formen von Tropfsteinen. Das erste Drittel ist tropfsteinarm, weiter hinten sind der Gang und die Hallen reicher ausgestattet. Dies kann mit den Kluftkreuzungen zusammenhängen, die weiter hinten häufiger auftreten. In der Höhle befinden sich Stalaktiten, Stalagmiten und Stalagnate in den verschiedensten Größen und Formen. Es gibt kugel-, stäbchen-, fransen-, röhrchen- und schleierförmige Tropfsteingebilde. In der Höhle zeigen sich an manchen Stellen Excentriques, unabhängig von der Schwerkraft seitwärts oder nach oben gekrümmte Auswüchse von einigen Zentimetern Länge. Im Eingangsbereich der Höhle befinden sich nur wenige Tropfsteine, dafür jedoch Mondmilchausscheidungen aus weißem, rauem Kalk. Zum Ende der Höhle hin werden die Versinterungen immer reichhaltiger, es gibt vor allem große Bodentropfsteine (Stalagmiten). Eine Besonderheit sind rüben- und rettichartig geformte große Deckentropfsteine. Auch runder Perlsinter ist dort vorhanden. Der Wechsel zwischen Tropfstein- und Perlsinterwachstum könnte die Ursache für die runden Stalaktiten sein. Aufgrund des Verschlusses der Höhle im eiszeitlichen Klima kam es durch Vermischung von Sickerwasser mit kohlendioxidangereicherter Höhlenluft zu einer Korrosion von älteren Tropfsteinpartien. Führungsweg Alle Raumerweiterungen tragen der besseren Unterscheidung wegen Namen. Manche wurden nach geschichtlichen Persönlichkeiten benannt. Die Mehrzahl der markanten Tropfsteinformen haben ebenfalls Namen, wobei die meisten aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit bestimmten Objekten benannt wurden. An einem noch vorhandenen Abschnitt des originalen Leitungsstückes aus dem Jahre 1893 hat sich in den letzten hundert Jahren ein sowohl nach oben als auch nach unten gewachsener, etwa sieben Zentimeter großer Tropfstein gebildet. Sein relativ schnelles Wachstum ist durch eine mit Humus gefüllte Doline an der Erdoberfläche begründet. Die Huminsäuren führen zu einer verstärkten Lösung von Kalk. An verschiedenen Stellen ist sogenannter Bärenschliff mit glatt polierten Wandpartien zu sehen. Dort hatten die Bären versucht, getrockneten Schlamm und juckendes Ungeziefer aus dem Fell zu entfernen. Die Glättung entstand durch das Reiben der Quarzanteile des Lehms an der Wandung. In der Höhle wird nach wenigen Metern eine größere Felsenhalle erreicht. Darin befinden sich die ersten Tropfsteine, wie der zwei Meter hohe und fast zwei Meter im Umfang messende Berggeist. Die Sihlerhalle ist nach dem Ersterforscher, dem Oberförster Hermann Sihler, benannt. Damals war der Berggeist noch strahlend weiß. Er hat heute durch Verunreinigungen eine viel dunklere Farbe. Der Weg macht anschließend einen Knick von fast 90 Grad, es folgt ein Trockengang mit dem Namen Vulkans Esse. Danach öffnet sich der Gang zu einer geräumigen Halle, in der vielgestaltige Tropfsteinformen anzutreffen sind. Sie heißt Paulinendom nach dem einzigen Kind des damaligen Königs Wilhelm II. Die nächste größere Halle, ebenfalls mit einer Vielzahl weißer Tropfsteine, nennt sich Elfenbeinkammer. Die Tropfsteine des darin befindlichen Schlösschens sehen wie Türme und Zinnen aus. Durch einen engeren Gang geht es wieder in eine größere, etwa 98 Meter vom Eingang entfernte Halle, das Refektorium der Mönche. Darin befinden sich viele Stalagmiten und vorhangartige Stalaktiten. Durch einen spitzbogenartigen Gangabschnitt geht es weiter zur Kanzel mit Kanzelredner, benannt nach den Bodentropfsteinen, die dort bis an die Decke gewachsen sind. Eine der schönsten Stellen der Höhle folgt 163 Meter nach dem Eingang mit der Schatzkammer. Darin befindet sich eine etwa drei Meter hohe Tropfsteinwand wie ein gefrorener Wasserfall. Bis dorthin drangen die Höhlenentdecker 1893 nach dem Wegräumen des Schuttberges am Eingang vor. Der einzige künstlich geschaffene Durchgang wird passiert. Danach geht es in einem etwas engeren Gang zum 222 Meter vom Eingang entfernten Hohen Kamin. An dieser Stelle zweigt ein Kamin etwa 14 Meter senkrecht nach oben ab. An seinem Ende befindet sich ein etwa 50 Meter langer, waagerecht verlaufender, mit zahlreichen Tropfsteinen ausgestatteter Gang, der jedoch bei der Führung nicht begeh- und einsehbar ist. Nach dem Kamin macht der Höhlengang mehrere Windungen, danach folgt der Königssaal mit dem Königsthron. Dort wurde bei der Erschließung eine Treppe angelegt, um in das Zyklopengewölbe zu gelangen. Das Gestein ist durch die dauernde Auswaschung wild zerklüftet. Als nächste Räume folgen die Rettichgrube und das Braustübchen. Eine Besonderheit der Charlottenhöhle sind tausende rettich- und rübenartige Tropfsteine an der Decke, die in keiner anderen Schauhöhle in Deutschland in dieser Vielzahl zu finden sind. Der folgende Gang verbreitert sich zu einer großen Halle, dem Hohen Chorturm. An dem weitgespannten hohen Gewölbe hängen zahlreiche Tropfsteine. Die Halle ist beinahe 400 Meter vom Höhleneingang entfernt. Danach geht es durch einen Gang zur Kapelle mit vielen Boden- und Deckentropfsteinen, die teilweise große Ausmaße haben. 436 Meter vom Eingang entfernt folgt der Göttersaal, eine der schönsten Hallen. Dort gibt es die eigenartigsten Tropfsteinformen. Neben zahlreichen Deckentropfsteinen befindet sich dort ein großer Bodentropfstein mit dem Namen Schiefer Turm, der wegen seiner schrägen Lage an den Schiefen Turm von Pisa erinnert. Nach mehreren Windungen führt der Weg durch das Wilhelmsportal. Dort befindet sich quer über dem Höhlengang ein Versturzfelsblock. Auf diesem sind zwei Tropfsteine mit einem beziehungsweise einem halben Meter Höhe gewachsen. Benannt ist das Wilhelmsportal nach König Wilhelm II. Von dort sind es noch 31 Meter bis zum Höhlenende. Der Führungsweg endet nach 532 Metern. Verschiedene Grabungsversuche nach einer vermuteten Fortsetzung der Höhle blieben ergebnislos. Um zum Eingang zurückzugelangen, geht es den gesamten Weg zurück. Flora und Fauna Tierwelt Die Tierwelt der Höhle wurde mehrmals erforscht. Ausführliche Arbeiten stammen von Kurt Lampert aus dem Jahre 1908 und von E. Strand aus den Jahren 1907 und 1910. Weitere Untersuchungen haben H. Hölker und Hans Löhrl 1960 durchgeführt. Ebenfalls aus dem Jahre 1960 stammen einschlägige Forschungen von Klaus Dobat. Es werden drei Gruppen von Tieren unterschieden. Die höhlenfremden Tiere geraten zufällig in die Höhle, weil sie sich dorthin verirren. Sie gehen bald zugrunde, da die Höhle nicht ihr eigentlicher Lebensraum ist. Eine weitere Gruppe sind die Höhlenfreunde (Troglophilen), die ihr gesamtes Leben in der Höhle verbringen. Sie können aber auch in der Außenwelt existieren. Die dritte Gruppe wird als Troglobionten bezeichnet und hat Eigenschaften, die ihr ein dauerhaftes Leben in der Höhle ermöglicht. In der Charlottenhöhle wurden Tiere aller drei Gruppen gefunden. Sechs Arten von Höhlenspinnen (Nesticidae) sind bekannt, darunter die troglophilen Spinnenarten Lepthyphantes pallidus und Nesticus cellulanus. Die Baldachinspinne Lepthyphantes pallidus ist nur zwei Millimeter groß. Hygrophil (feuchtigkeitsliebend) ist die Höhlenspinne Nesticus cellulanus. Auch Weberknechte befinden sich in der Höhle. In Wasserbecken gibt es kleine, meist nur bis zu einem Millimeter große, weiße und augenlose Springschwänze (Collembola), von denen bisher zehn Arten bekannt sind. Sie zählen zu den Troglobionten. Als Schmetterling kommt die Zackeneule (Scoliopteryx libatrix L.), ein Nachtfalter aus der Familie der Eulenfalter, vor. Von den Zweiflüglern (Diptera) gibt es Mücken wie die Gemeine Stechmücke (Culex pipiens L.) und Fliegen wie Helomyza serrata L. An Nagetieren gibt es in der Höhle den Siebenschläfer (Glis glis). Mehrere Fledermausarten konnten in der Höhle nachgewiesen werden. Sie halten dort etwa ab November bis in den März und April hinein ihren Winterschlaf und zählen zu den höchstentwickelten Höhlenbewohnern. Untersuchungen über die Fledermäuse der Charlottenhöhle unternahm im Jahre 1960 Löhr. Am häufigsten war die Kleine Hufeisennase (Rhinolophus hipposideros) vertreten. Am zweithäufigsten beobachtete Löhr das Große Mausohr (Myotis myotis). Seltener ist die kleine schwärzliche Mopsfledermaus (Barbastella barbastellus) anzutreffen. Die restlichen fünf Fledermausarten, Breitflügelfledermaus (Eptesicus serotinus), Bechsteinfledermaus (Myotis bechsteinii), Kleine Bartfledermaus (Myotis mystacinus), Fransenfledermaus (Myotis nattereri) und Braunes Langohr (Plecotus auritus) wurden nur vereinzelt angetroffen. Gegenwärtig wird von den beiden häufigsten Fledermausarten nur noch das Große Mausohr angetroffen. Seit den 1970er Jahren wurde die Kleine Hufeisennase nicht mehr nachgewiesen. Lampenflora Im Schein der Lampen hat sich in der Charlottenhöhle eine ausgeprägte, als Lampenflora bezeichnete Pflanzengemeinschaft entwickelt. Im Bereich der Lichtquellen können sich vor allem Algen, Moose und Farnpflanzen ansiedeln. Dabei handelt es sich meistens um Kümmerformen, die in absoluter Dunkelheit ohne künstliche Beleuchtung nicht überleben könnten. In manchen Höhlenbereichen konnte sich aufgrund der Trockenheit keine oder nur eine geringe Lampenflora ausbilden. Außerdem konnten sich zwei von der Beleuchtung unabhängige Pilzarten, der Köpfchenschimmel Mucor mucedo und der Tannenblättling (Gloeophyllum abietinum), ansiedeln. Die Lampenflora wurde 1960 von W. Weber, Otti Wilmanns und K. Mahler und 1966 von Klaus Dobat untersucht. Dabei fanden sich neben neun Blau- (Cyanophyta) und Grünalgenarten (Chlorophyta) noch 31 verschiedene Moose (Bryophyta) und zwei Farne (Pteridophyta-Filices). Außer in der Charlottenhöhle und der Karls- und Bärenhöhle konnte das Brunnenlebermoos (Marchantia polymorpha L.) in keiner anderen Schauhöhle in Deutschland nachgewiesen werden. In der Charlottenhöhle müssen die Algen, Moose und Farne während der Ruhephase des Schauhöhlenbetriebes im Winter eine mehrmonatige Dunkelperiode überstehen. Fossilien In der Charlottenhöhle wurden zahlreiche jungdiluviale Säugetierreste gefunden, die alle der letzten großen Eiszeit zuzuordnen sind. Dies hängt damit zusammen, dass die Höhle lange einen ebenerdigen Zugang hatte, bevor dieser verschüttet und zugeschwemmt wurde. In der Höhle fanden 1893 Grabungen für wissenschaftliche Untersuchungen und zur Verlegung der elektrischen Beleuchtung statt. Eberhard Fraas fand Überreste von acht eiszeitlichen Säugetieren, darunter zwei Mittelfußknochen des Höhlenlöwen (Panthera spelaea) und ein Oberkieferbruchstück einer Höhlenhyäne (Crocuta crocuta spelaea). Kurz nach der Entdeckung der Höhle, am 29. Juni 1893, berichtete er in Kirchheim unter Teck bei der 48. Generalversammlung des Vereins für vaterländische Naturkunde in Württemberg von ausgegrabenen Knochen und Zähnen einer kleinen schlanken Form des Höhlenbären (Ursus spelaeus). Beim Ausgraben des verschütteten Höhleneinganges konnten Knochen von Wildpferd (Equus ferus) und Rentier (Rangifer tarandus) geborgen werden. Bei Grabungen wurden außerdem Reste des Wollnashorns (Coelodonta antiquitatis) und eines Wildrinds (Bos) sowie des groß- und kleinwüchsigen Höhlenbären gefunden. Insgesamt konnten 136 Skelettteile gefunden werden. Sie wurden in das Königliche Naturalienkabinett zu Stuttgart zur Verwahrung gebracht. Im Jahre 1960 fanden weitere Grabungen in der Höhle statt, wobei weitere Funde wie von einer eiszeitlichen Großkatze, darunter ein 45 Zentimeter langer Ellenknochen, gemacht wurden. Zahlreiche Knochen wie die von Pferden, Rindern, Schafen, Schweinen, Katzen und Hunden sind jüngeren Datums und stammen wahrscheinlich von Tieren, die erst nach dem Verschluss des eigentlichen Höhleneinganges durch das Hundsloch in die Höhle gelangten. Überreste von eiszeitlichen Jägern wie bei Höhlen im benachbarten Lonetal, zum Beispiel der Vogelherdhöhle, konnten in der Charlottenhöhle nicht nachgewiesen werden. Tourismus Allgemein An der Straße südlich von Hürben befindet sich ein großer Parkplatz mit öffentlichen Toiletten und dem HöhlenHaus, das täglich geöffnet ist. Es beherbergt ein Info- und Service-Zentrum, das Einblicke in die Erdgeschichte der Region bietet und über die Entstehung und Geschichte der Charlottenhöhle informiert. Dort befindet sich auch das Portal des GeoParks Schwäbische Alb. Das HöhlenSchauLand schräg gegenüber dem Höhlenhaus mit der Erlebnisausstellung Faszination Höhle-Mensch-Natur ist ebenfalls ganzjährig täglich geöffnet. Auf 450 Quadratmeter Ausstellungsfläche werden in verschiedenen Themenbereichen wissenschaftlich die Geschichte und Geologie der Höhle vermittelt und an Modellen verschiedene Gesteins- und Erdschichten der Schwäbischen Alb erläutert. In der Nähe des Parkplatzes beginnt der Zeitreisepfad zur Höhle, der an acht Stationen von der Gegenwart in die Vergangenheit führt. An der Höhle befindet sich ein kleiner Kiosk für den Verkauf von Eintrittskarten und Andenken. Führungen Bei den täglichen Führungen von Anfang April bis Ende Oktober (außer Sonntags) werden gut begehbare Wege in die einzelnen Höhlenerweiterungen und an den Tropfsteinformationen vorbei mit insgesamt 74 Treppenstufen benutzt. Eine Führung, bei der eine Strecke von 532 Metern zurückgelegt wird, dauert etwa 45 Minuten. Das ist der längste der Führungswege aller Schauhöhlen der Schwäbischen Alb und einer der längsten in Deutschland. Da die Höhle nur einen Zugang besitzt, muss nach dem Erreichen des Höhlenendes die gleiche Strecke wieder zurückgegangen werden. In der Höhle herrscht ständig eine Temperatur von etwa neun Grad Celsius bei einer Luftfeuchtigkeit von über 80 Prozent. Auf Anfrage werden auch Führungen in französischer Sprache angeboten und Sonderführungen für Kinder und Erwachsene durchgeführt. Bei der Sinnesführung zu Stationen zum Sehen, Riechen und Tasten wird das Höhlenlicht ausgeschaltet und jeder Besucher mit einer Taschenlampe ausgerüstet. Besucherzahlen 1893, im Jahr der Eröffnung der Höhle, besuchten sie 15.000 Personen. In den nächsten Jahren ließ der Besuch rasch nach, da Hürben und die Höhle verkehrsmäßig schlecht zu erreichen waren. Die Besucherzahlen lagen vor dem Zweiten Weltkrieg nur noch bei etwa 3000 jährlich. Ab den 1950er Jahren, als die Motorisierung und das Interesse für Höhlen durch die Entdeckung neuer Abteilungen in der Karls- und Bärenhöhle bei Erpfingen zunahmen, stiegen die Besucherzahlen wieder. Sie lagen damals jährlich bei 32.000 bis 38.000. Der Anstieg setzte sich auch in den 1960er Jahren fort. 1968 und 1969 gab es mit 40.000 beziehungsweise 42.500 neue Besucherrekorde. In den 1970er Jahren wurde mehrmals die 50.000er-Grenze überschritten. In den 1990er Jahren ging die jährliche Besucherzahl wieder auf 35.000 zurück. Seit dem Jahrtausendwechsel ist entgegen dem allgemeinen Trend deutscher Schauhöhlen wieder ein Anstieg der Besucherzahlen zu verzeichnen. Innerhalb von etwa zehn Jahren haben sie sich beinahe verdoppelt. Die hohen Werte der letzten Jahre sind durch die gesteigerte Attraktivität im Umfeld der Höhle wie dem HöhlenHaus ab 2005 zu begründen. Sie lagen im Jahre 2000 bei 26.334, dem Tiefstwert der letzten 20 Jahre, und stiegen im übernächsten Jahr wieder auf über 30.000 an. Die Höchstzahl wurde im Jahre 2007 mit 47.255 Besuchern erreicht. Im Jahre 2015 besuchten 38.091 Besucher die Höhle. In den Jahren 2011 bis 2015 lag die durchschnittliche Besucherzahl bei 39.483. Mit diesem Wert lag die Schauhöhle im oberen Mittelbereich der Schauhöhlen in Deutschland. Von den zwölf Schauhöhlen der Schwäbischen Alb wurde die Charlottenhöhle im Vergleichszeitraum nur von der Bärenhöhle (jährlich 78.200 Besucher) und der Nebelhöhle (jährlich 45.800 Besucher) übertroffen. Von den 25 Schauhöhlen Süddeutschlands (Baden-Württemberg und Bayern) wird die Charlottenhöhle von fünf Höhlen überboten, wobei die Teufelshöhle bei Pottenstein mit 142.500 Besuchern im Durchschnitt der Jahre 2011 bis 2015 die meisten Besucher hat. Literatur Weblinks Charlottenhöhle, Stadt Giengen an der Brenz Charlottenhöhle, showcaves.com Die Charlottenhöhle bei Hürben, HöhlenErlebnisWelt Giengen-Hürben Einzelnachweise Schauhöhle der Schwäbischen Alb Höhle in Europa Höhle im Landkreis Heidenheim Naturdenkmal im Landkreis Heidenheim Geotop im Landkreis Heidenheim Charlotte zu Schaumburg-Lippe als Namensgeber Geographie (Giengen an der Brenz) Karsthöhle in Deutschland
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Rudolf Schmundt
Rudolf Schmundt (* 13. August 1896 in Metz; † 1. Oktober 1944 in Carlshof bei Rastenburg) war ein deutscher Offizier, zuletzt General der Infanterie der Wehrmacht. Mehr als sechs Jahre lang war er in der Zeit des Nationalsozialismus von 1938 bis 1944 Chefadjutant der Wehrmacht bei Adolf Hitler und damit einer der engsten Mitarbeiter und Vertrauten des Diktators. Ab 1942 leitete er zudem das Heerespersonalamt und war in dieser Stellung maßgeblich für die Personalpolitik des Heeres verantwortlich, die er auch unter nationalsozialistischen Gesichtspunkten gestaltete, wobei er die Auffassung vertrat, dass eine entschieden antisemitische Einstellung der Wehrmachtsoffiziere ein kriegsentscheidendes Kriterium sei. Schmundt starb an Verletzungen, die er beim Attentat vom 20. Juli 1944 erlitten hatte. Bekannt ist er vor allem durch die Anfertigung des Schmundt-Protokolls, das im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 eines der Schlüsseldokumente der Anklage wurde. Leben Herkunft und Jugend Rudolf Schmundt wurde als Sohn des Berufsoffiziers Richard Schmundt und dessen Ehefrau Hedwig (geborene Seyffardt) im Reichsland Elsaß-Lothringen geboren. Als der Vater im Juni 1913 als Kommandeur des Füsilier-Regiments „Prinz Heinrich von Preußen“ (Brandenburgisches) Nr. 35 nach Brandenburg an der Havel versetzt wurde, folgte ihm die gesamte Familie, zu der auch der jüngere Bruder, der spätere Sozialwissenschaftler und Anthroposoph Wilhelm Schmundt zählte. Schmundt besuchte das Von-Saldern-Realgymnasium in Brandenburg bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Um sich selbst als Freiwilliger melden zu können, legte er das Notabitur ab und trat am 4. August 1914 als Fahnenjunker in das Regiment seines Vaters ein. Bereits nach einer kurzen Ausbildung kam Schmundt mit seinem Regiment am 30. September 1914 an die Westfront. Einige Monate später erhielt er am 22. März 1915 die Beförderung zum Leutnant. Während der anhaltenden Kämpfe wurde er am 20. Mai 1915 verwundet und erhielt für seine Leistungen an diesem Tag das Eiserne Kreuz II. Klasse. Nachdem er sich als Truppenoffizier verdient gemacht hatte, wurde er am 15. März 1916 Bataillonsadjutant. Im November desselben Jahres wurde ihm auch das Eiserne Kreuz I. Klasse verliehen. Am 11. Juli 1917 wurde er als Adjutant des Kommandeurs in den Regimentsstab versetzt, in dem er bis zum Ende des Krieges blieb. In diesen Jahren nahm Schmundt an vielen Schlachten und Gefechten teil, deren größte die Herbstschlacht in der Champagne, die Schlacht an der Somme und die an der Marne waren. Ordonnanz- und Truppenoffizier Beförderungen 4. August 1914 Fahnenjunker 22. März 1915 Leutnant 1. Mai 1926 Oberleutnant 1. Februar 1932 Hauptmann 1. Januar 1936 Major 1. Oktober 1938 Oberstleutnant 4. August 1939 Oberst 1. Januar 1942 Generalmajor 1. April 1943 Generalleutnant 1. September 1944 General der Infanterie Nach dem Waffenstillstand wurde Schmundts Regiment zurück nach Brandenburg an der Havel verlegt. Im Januar 1919 trat Schmundt in das „Detachement Graf Stillfried“ ein, ein vorwiegend aus ehemaligen Heeressoldaten gebildetes Freikorps, das sich an den Straßenkämpfen in Berlin, etwa gegen den Spartakusaufstand, beteiligte. Im Juni 1919 wurde aus dem Detachement und dem Füsilierregiment Nr. 35 das Reichswehr-Infanterie-Regiment 5 gebildet. In dieser neuen Formation tat Schmundt ab dem 25. August 1919 Dienst als Ordonnanzoffizier. Als die Reichswehr am 1. Januar 1921 ihre endgültige Organisation erhielt, wurde Schmundt in das unter anderem aus Teilen des Infanterie-Regiments 5 neu aufgestellte 9. (Preußische) Infanterie-Regiment in Potsdam übernommen. Am 28. Dezember 1921 wurde er stellvertretender Regimentsadjutant. 1923 und 1924 diente Schmundt als Truppenoffizier im Regiment, bevor er von April bis August 1925 an einem Lehrgang der Heereswaffenschule teilnahm. In dieser Zeit holte er die Offiziers-Ausbildung nach, die während des Krieges nicht hatte durchgeführt werden können. Nach erfolgreichem Abschluss erhielt er aufgrund seiner Kriegsverdienste einige Monate später die Beförderung zum Oberleutnant und kehrte in den Tätigkeitsbereich zurück, der ihm am meisten lag – die Adjutantur. Am 1. Juni 1926 wurde er Adjutant des I. Bataillons und am 1. August 1927 des Regiments selbst. Am 14. Oktober 1926 heiratete Schmundt in der Potsdamer Garnisonkirche Anneliese von Kummer (* 1898). Die Verlobung hatte Anfang 1926 in Potsdam stattgefunden. Anneliese von Kummer stammte aus Torgau und war die einzige Tochter des Oberstleutnants Wilhelm von Kummer (⚔ Oktober 1914 als Führer des Reserve-Regiments Nr. 24) und seiner Frau Helene geb. Reineke (1917 Wiederverheiratung mit Generalmajor Rudolf von Cramer). Aus der Ehe zwischen Rudolf und Anneliese Schmundt gingen die Kinder Barbara Wilhelma (* 8. November 1927), Henning (* 15. August 1931), Gisela (* 1. Juni 1933) und Jürgen (* 18. August 1940) hervor. Anneliese Schmundt bezeichnete später die Jahre 1926 bis 1929 als „die schönsten Jahre des militärischen Lebens meines Mannes und unseres privaten Lebens.“ In Stabsverwendung und Wehrmachtführung Am 8. März 1929 bestand Schmundt die Wehrkreisprüfung, die die Grundvoraussetzung für die Ausbildung zum Generalstabsoffizier und für jeden Reichswehr-Offizier obligatorisch war. Am 1. Oktober wurde er in den Stab der 1. Division beziehungsweise des Wehrkreises I nach Königsberg in Ostpreußen versetzt, wo er in den nächsten Jahren die Führergehilfenausbildung absolvierte. Kommandeur dieses Verbandes war zu dieser Zeit der Generalleutnant und spätere Reichskriegsminister Werner von Blomberg; Chef des Stabes wurde im Frühjahr 1931 Oberstleutnant Walter von Reichenau. Während dieser Zeit wurde Schmundt am 1. Februar 1931 zum Hauptmann befördert. Am 1. Oktober 1932 wurde Schmundt in die Heeres-Organisations-Abteilung (T2) des Truppenamtes im Reichswehrministerium versetzt. Leiter dieser Abteilung war zu diesem Zeitpunkt Oberst Wilhelm Keitel, der spätere Chef des Oberkommandos der Wehrmacht. Eine andere Amtsgruppe wurde von Major Alfred Jodl, dem nachmaligen Chef des Wehrmachtführungsstabes, geleitet. Schmundt war nun unmittelbar an der organisatorischen Vorbereitung der Heeresaufrüstung beteiligt und kam mit Personen in engen Kontakt, die später zum engsten Zirkel Hitlers gehörten. Da es üblich war, Generalstabsoffiziere immer wieder für einige Zeit in die Truppe abzukommandieren, wurde Schmundt am 1. Juni 1935 als Kompaniechef in das Infanterie-Regiment 2 in Allenstein versetzt. Dort wurde er zum Major befördert, bevor er am 6. Oktober 1936 in den Generalstab der 18. Infanterie-Division versetzt wurde, die unter Generalmajor Hermann Hoth in Liegnitz formiert wurde.Im Januar 1938 wurde er zum „Chefadjutanten der Wehrmacht beim Führer und Reichskanzler“ ernannt. Die plötzliche Berufung Schmundts erfolgte auf Grund der Blomberg-Fritsch-Krise, in der Hitler seinen Heeresadjutanten, Oberst Friedrich Hoßbach, als ihm gegenüber nicht loyal genug befunden hatte. Hitler hatte zu Keitel, der nunmehr Chef des Wehrmachtamtes im Reichskriegsministerium war, gesagt: „Ich will einen neuen Adjutanten, der mein Vertrauter und der Ihrige ist und nicht der anderer Stellen.“ Keitel empfahl daraufhin Schmundt, den er aus dessen Zeit als Regimentsadjutant in Potsdam und aus dem Truppenamt kannte. Am 29. Januar 1938 trat Schmundt seine neue Dienststellung an, wobei er offiziell zum Oberkommando der Wehrmacht versetzt wurde. Während er in den nächsten Jahren einer der engsten Mitarbeiter und Vertrauten Hitlers wurde, stieg er rasch im Rang auf. Im Oktober 1938 wurde er Oberstleutnant, im August 1939 Oberst, am 1. Januar 1942 Generalmajor und schließlich im April 1943 Generalleutnant. In seiner Funktion stellte er einen Mittler zwischen dem höheren Offizierskorps einerseits und Hitler andererseits dar, wobei er oft versuchte, korrigierend in beide Richtungen zu wirken. Schon bald wurde er auch von Hermann Göring als „einziger offener und vertrauenswürdiger Charakter im F[ührer]H[aupt]Qu[artier]“ wahrgenommen. Als General der Infanterie Bodewin Keitel als Chef des Heerespersonalamtes abgelöst wurde, weil er die Intentionen des Führers nicht mehr genügend berücksichtigt hatte, setzte Hitler am 1. Oktober 1942 seinen Vertrauten Schmundt als neuen Amtschef ein – zusätzlich zu dessen Aufgaben als Chefadjutant. Fast zwei Jahre lang beeinflusste Schmundt in dieser Dienststellung die Personalpolitik des Heeres in bestimmendem Maße (Einzelheiten zu diesen Aktivitäten siehe Schmundt und das Heerespersonalamt). Todesumstände Am 20. Juli 1944 zündete Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg während einer Lagebesprechung im Führerhauptquartier Wolfsschanze eine Bombe, die Adolf Hitler töten sollte. Das Attentat verfehlte sein Ziel, doch mehrere Stabsoffiziere, darunter auch Schmundt, wurden schwer verwundet. Er verlor das linke Auge und erlitt Verbrennungen sowie schwere Verletzungen durch Splitter an beiden Beinen. Am 25. Juli besuchte Hitler seinen Vertrauten im Lazarett Carlshof bei Rastenburg und beförderte ihn zum General der Infanterie. Auch in den nächsten Tagen erkundigte sich Hitler immer wieder nach Schmundt: Ende September 1944 verschlechterte sich jedoch der Gesundheitszustand Schmundts rapide. Er blieb stundenlang bewusstlos und erlitt lange Fieberdelirien. Am 1. Oktober 1944 verstarb er schließlich in Carlshof. Gemäß einem Wunsch, den Schmundt vor seinem Tod geäußert hatte, wurde seine Leiche am 5. Oktober 1944 in das Reichsehrenmal Tannenberg übergeführt, wo am folgenden Tag die Trauerfeier stattfand. Hitler hatte ein Staatsbegräbnis angeordnet. Die Trauerrede wurde von Generalfeldmarschall Ernst Busch gehalten, einem ehemaligen Bekannten Schmundts aus dem Infanterie-Regiment 9. Er betonte die Bedeutung des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers für den Verstorbenen. Er gab außerdem bekannt, dass Schmundt postum mit der obersten Stufe des Deutschen Ordens, der höchsten Auszeichnung der NSDAP, geehrt werden sollte. Anschließend wurde der Leichnam nach Berlin übergeführt und am 7. Oktober 1944 auf dem Invalidenfriedhof beigesetzt. Hier widmete Generaloberst Heinz Guderian dem Verstorbenen Abschiedsworte. Er zeichnete das Bild eines preußisch geprägten Idealisten, dessen Bemühen es gewesen sei, Preußentum und Nationalsozialismus zu versöhnen. Er sei ein unentbehrlicher Weggenosse Hitlers gewesen und habe an diesen geglaubt. Wirken in der Wehrmachtführung Schmundt und die Wehrmachtadjutantur „Offenbar war er [Schmundt] der ideale Adjutant: Kommunikativ und kameradschaftlich, im Schriftlichen gewandt, mit Begabung und Gedächtnis in Personalsachen, dabei diskret und selbstbewußt genug, um in der schwierigen Position zwischen Kommandeur und Kameraden bestehen zu können. So war ihm die Adjutantenlaufbahn vorgezeichnet.“ Reinhard Stumpf Als Schmundt am 29. Januar 1938 seine neue Stelle als Chefadjutant bei Hitler antrat, ging damit eine Umorganisation der Adjutantur einher. War zuvor mit Oberst Hoßbach ein Vertreter des Oberkommandos des Heeres der einflussreichste Militär in Hitlers Umgebung gewesen, so repräsentierte Schmundt als Keitels Untergebener das neue Oberkommando der Wehrmacht. Als solcher stieß er in der um ihren Einfluss gebrachten Heeresführung auf Ablehnung. Obwohl er selbst ein Verehrer des Generalstabschefs General der Artillerie Ludwig Beck gewesen war, wurde er bei einer Meldung von diesem nur kühl empfangen. Oberst Hoßbach weigerte sich sogar, ihn in seine neue dienstliche Position einzuführen. Prinzipiell gehörten zu Schmundts Aufgaben nun alle Vorgänge, welche die gesamte Wehrmacht betrafen. Dazu unterstanden ihm neben einigen Unteroffiziersdienstgraden als Schreibkräften jeweils ein Adjutant des Heeres (Major Gerhard Engel), der Luftwaffe (Oberst Nicolaus von Below) und der Kriegsmarine (Konteradmiral Karl-Jesko von Puttkamer). Jeder dieser Adjutanten war für ein eigenes Referat zuständig. Engel bearbeitete Gnadengesuche von Wehrmachtangehörigen in Rassenfragen, Below Angelegenheiten des Führerhauptquartiers und Dienstreisen, und Puttkamer war verantwortlich für Protokollfragen und die Wehrmachtgerichtsbarkeit. Schmundt selbst behielt sich allerdings Gnadengesuche von Heeresoffizieren selbst vor. Die große Bedeutung, die Schmundts Tätigkeit zukam, hatte ihre Ursache in dem eigenwilligen Arbeitsstil Hitlers. Dieser arbeitete selten an einem Schreibtisch und gab seine Anweisungen und Anordnungen mündlich an die Adjutanten. Deren Aufgabe bestand dann darin die Absichten des »Führers« in eine konkrete schriftliche Befehlsform zu bringen. Ihnen fiel damit eine wichtige Mittlerrolle zwischen Hitler und der Wehrmacht zu. Vor allem Schmundt wurde dadurch als Chefadjutant immer mehr auch mit politischen Fragen konfrontiert. Schon bald wurde Schmundt, wie es Oberst Nicolaus von Below formulierte, durch „seine persönliche Bescheidenheit und Uneigennützigkeit und seine Treue“ zu einem engen Vertrauten Hitlers: „Je mehr Vertrauen Hitler zu Schmundt faßte, desto intensiver zog er ihn als Berater hinzu.“ Schmundt fasste diese Stellung als militärische Vermittlerrolle zwischen Hitler und der Heeresführung auf. So versuchte er, die Einflüsse von NSDAP und SS auf die Wehrmacht zurückzudrängen. Andererseits versuchte er aber auch, die Heerführung näher an Hitler zu bringen. Der Generalität warf er in den Jahren 1937/38 „Haltlosigkeit“ vor, durch die „viel Vertrauen [bei Führer und Volk] verschüttet worden“ sei. Aus diesem Blickwinkel bedauerte er nach dem Zustandekommen des Münchner Abkommens im Herbst 1938, dass es um die Tschechoslowakei nicht zum Krieg gekommen sei, weil ein solcher die Verbindung von Wehrmacht und »Führer« gefestigt hätte. Schmundt stand damit im deutlichen Gegensatz zu anderen Wehrmachtangehörigen, die zu diesem Zeitpunkt einen Staatsstreich planten, gerade um einen neuen Krieg zu verhindern. Die besondere Stellung Schmundts erlaubte ihm tiefe Einblicke hinter die Kulissen des Regimes, da er bei praktisch allen wichtigen Besprechungen ab 1938 zugegen war. In diesem Zusammenhang entstand auch das sogenannte Schmundt-Protokoll, eine Aufzeichnung Schmundts von den Inhalten einer Rede Hitlers vor der militärischen Führungsspitze am 23. Mai 1939 in der Neuen Reichskanzlei. Da Hitler in dieser seinen unbedingten Entschluss zur Entfesselung eines Krieges gegen Polen bekannt gab, wurde diese Mitschrift Schmundts im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 – mit „Dokument L-79“ betitelt – zu einem der Schlüsseldokumente der Anklage. Die Vermittlerrolle, die Schmundt zwischen der höheren Führung des Heeres und Hitler einnahm, gewann vor allem nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges an Bedeutung. Im Auftrag Hitlers besuchte er oft die Front und konnte sich dadurch persönliche Eindrücke verschaffen, die er später Hitler nahezubringen versuchte. Oft versuchten die deutschen Heerführer, über Schmundt den Diktator in seinen militärischen Entscheidungen zu beeinflussen. Ein Beispiel dafür war Schmundts Einfluss auf die Offensive gegen Frankreich im Jahre 1940. Er erfuhr Ende Januar 1940 bei einem Frontbesuch von den operativen Plänen des Generalleutnants Erich von Manstein, die vom Oberkommando des Heeres abgelehnt worden waren. Er organisierte daraufhin ein Treffen zwischen Manstein und Hitler, und Ersterem gelang es, sein Konzept durchzusetzen. Dieser „Sichelschnittplan“ wurde später die Basis für den Erfolg der deutschen Offensive im Westen. In einem anderen Fall begleitete Schmundt im Februar 1941 die deutschen Truppen nach Nordafrika, um dort Hitlers persönliches Interesse an diesem Kriegsschauplatz zu bestärken. Ähnlich lagen die Dinge, wenn Schmundt als persönlicher Gesandter Hitlers Dotationen an einzelne Spitzenmilitärs überbrachte. Und schon vor seiner Ernennung zum Chef des Heerespersonalamtes hatte Schmundt Einfluss auf wichtige Personalangelegenheiten. So empfahl er im Frühjahr 1942 Kurt Zeitzler als Chef des Oberbefehlshabers West und einige Monate später als neuen Chef des Generalstabes. Allerdings hatte diese Vermittlerrolle auch ihre Grenzen. Zwar war Schmundt bei seinen zahlreichen Frontbesuchen vor allem während der späteren Phasen des Krieges wegen der Zustände in der Truppe besorgt und versprach, Hitler darüber ein ungeschminktes Bild der Lage zu unterbreiten. Doch scheint er bewusst nicht alles weitergegeben zu haben. So soll er einmal bei der Rückkehr von der Ostfront zu einem Bekannten gesagt haben: Schmundt versuchte mehrfach, andere hohe Offiziere im Rahmen seiner Möglichkeiten vor SS und Gestapo zu schützen. So warnte er 1943 beispielsweise Generalleutnant Adolf Heusinger, den Chef der Operationsabteilung im OKH, dass Hitlers offizieller Verantwortlicher für die Kriegsgeschichtsschreibung, Generalmajor Walter Scherff, ihn wegen defätistischer Äußerungen bei der SS gemeldet habe, wie der Historiker Marcel Stein unter Bezugnahme auf Heusingers nach dem Krieg veröffentlichten Memoiren darstellt. In einem anderen Fall hatte die Gestapo Ermittlungen gegen die Ehefrau des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter von Leeb eingeleitet, nachdem sich diese gegenüber ihrem Zahnarzt kritisch über Hitler geäußert hatte. Schmundt verhinderte angeblich eine weitere Verfolgung des Falles und wies den Feldmarschall darauf hin, seine Frau solle besser ihren Zahnarzt wechseln. Schmundt und das Heerespersonalamt Am 2. Oktober 1942 wurde Schmundt unter Beibehaltung seiner Stellung als Chefadjutant der Wehrmacht zum Leiter des Heerespersonalamtes bestimmt. Damit gewann er entscheidenden Einfluss auf die Personalpolitik des Heeres und kurze Zeit später auch auf die des Generalstabsdienstes. Um beiden Dienststellungen gerecht werden zu können, ernannte Schmundt Generalmajor Wilhelm Burgdorf zum stellvertretenden Leiter des Heerespersonalamtes und damit zu seinem wichtigsten Mitarbeiter. Schmundt war von Hitler dazu ausersehen, die seiner Ansicht nach strukturelle Fehlentwicklung im Offizierskorps zu beseitigen und die alte Generalität durch einen neuen nationalsozialistischen Typus Offizier zu ersetzen. Das dringendste Problem in diesem neuen Arbeitsbereich bestand für die Wehrmacht in der Vergrößerung des Offizierskorps. Seit 1939 waren 16.000 Offiziere gefallen oder verwundet worden, was 30 Prozent des damaligen aktiven Bestandes ausmachte. Um diese Verluste auszugleichen, hatte man das Beförderungsprinzip der Anciennität aufweichen müssen, indem die Dienstzeiten in den einzelnen Dienstgraden verkürzt wurden. Die Dienstzeit bis zum Rang Hauptmann verringerte sich bis April 1942 durchschnittlich um 40 Prozent, die bis zum Major um bis zu 50 Prozent. Am 7. Juni 1942 war schließlich die Leistungsbeförderung eingeführt worden. Doch erst Schmundt setzte diese Richtlinien in konkrete Anordnungen um, die von Hitler am 4. Oktober und 4. November 1942 per Führerbefehl in Kraft gesetzt wurden: „In Zukunft soll jeder junge Deutsche, aus allen Kreisen der Bevölkerung ohne Rücksicht auf Herkunft, nur ausgelesen auf Grund der Persönlichkeit und Bewährung vor dem Feinde […] Offizier werden können.“ Damit lag Schmundt mit seinen Vorstellungen von einer Verjüngung des Offizierskorps auf einer Linie mit den Vorstellungen Hitlers, nach dessen sozialdarwinistischer Auffassung Tapferkeit, Willenskraft und „fanatischer Glaube“ die Tugenden des „neuen Offiziers“ sein sollten. Wer sich an der Front bewährte und die passende politische Einstellung bewies, sollte befördert werden. In diesem Zusammenhang wurde auch die bisherige Voraussetzung eines höheren Schulabschlusses für Offiziersanwärter fallengelassen und auch Hochschulstudien für Offiziere waren nicht mehr vorgesehen. Für Hitler war dies Ausdruck der nationalsozialistischen Chancengleichheit in der „Volksgemeinschaft“, während für Schmundt wohl eher die Tatsache entscheidend blieb, dass die Abiturienten-Jahrgänge nicht mehr ausreichten, um den Bedarf an Offizieren zu decken. Erst vor diesem Hintergrund wurden zahlreiche „Blitzkarrieren“ in der zweiten Hälfte des Krieges möglich, von denen Personen wie Walter Model oder Ferdinand Schörner profitierten. Dietrich Peltz wurde so mit nur 29 Jahren zum jüngsten Generalmajor der Wehrmacht. Eine Ausnahme bildeten die Offiziere des Generalstabsdienstes. Hitler wollte sämtliche Klassenunterschiede abschaffen und auch diese langjährig ausgebildete Elite des Offizierskorps in die neuen Regelungen einbeziehen. Sie sollten die „roten Streifen“, ihr äußeres Erkennungsmerkmal, verlieren und sich ebenfalls an der Front bewähren. Da jedoch bereits ein Mangel an Generalstabsoffizieren bestand, war eine solche Rotation nicht möglich, was zu einer Benachteiligung der Generalstabsoffiziere führen musste. Schmundt setzte sich deshalb für die häufigere Beförderung dieser Gruppe ein und überzeugte Hitler ebenfalls, deren Statussymbole nicht anzutasten. Allerdings wurde in der „neuen Personalpolitik“ des Heeres erhöhter Wert auf die politische Einstellung des Offizierskorps gelegt. Schmundt machte hier nationalsozialistische Grundsätze zu Schlüsselelementen seiner Politik, die weit über die zunächst betonte Chancengleichheit und Frontbewährung hinausgingen. Auch der Einfluss Hitlers muss dabei in Betracht gezogen werden, da dieser darauf bestand, dass die nationalsozialistische Weltanschauung für jeden Offizier eine Grundvoraussetzung darstellen solle. In diesem Sinne versuchte Schmundt, das Offizierskorps an Hitler heranzuführen und auf einen nationalsozialistischen Kurs einzuschwören. Schmundt nahm im Oktober 1942 zwei Fälle von Offizieren, die Kontakt mit Juden hielten, zum Anlass für eine Verfügung des Heerespersonalamtes. Der eine Offizier hatte mit einem ehemaligen jüdischen Schulkameraden einen persönlichen Briefwechsel gepflegt, der andere sich mehrmals öffentlich mit einem Juden, einem ehemaligen Offizier des Ersten Weltkriegs, der nun den Davidstern zu tragen hatte, in einer deutschen Stadt gezeigt, was für beide Offiziere die Entlassung aus dem Heeresdienst zur Folge hatte. In seinem Tätigkeitsbericht vom 31. Oktober vermerkte Schmundt, dass „mehrere Vorfälle Veranlassung [gaben] auf die Einstellung des Offiziers zum Judentum als einem kriegsentscheidenden Teil der nat[ional]soz[ialistischen] Haltung des Offiziers eindeutig hinzuweisen“. Er forderte in seiner auf denselben Tag datierten Verfügung: „Jeder Offizier muß von der Erkenntnis durchdrungen sein, daß in erster Linie der Einfluß des Judentums dem deutschen Volk den Anspruch auf Lebensraum und Geltung in der Welt streitig macht und zum zweiten Male unser Volk zwingt, mit dem Blute seiner besten Söhne sich gegenüber einer Welt von Feinden durchzusetzen […] Es gibt keinen Unterschied zwischen sog. anständigen Juden und anderen. Es darf ebensowenig Rücksichtnahme geben auf Beziehungen irgendwelcher Art, die zu einer Zeit bestanden haben, zu der die Erkenntnis der Gefahr des Judentums noch nicht Allgemeingut des deutschen Volkes war. Es darf demgemäß keinerlei, sei es auch noch so lockere Verbindung zwischen einem Offizier und einem Angehörigen der jüdischen Rasse geben. Der gegenwärtige harte Kampf gegen den jüdisch-bolschewistischen Weltfeind zeigt mit besonderer Deutlichkeit das wahre Gesicht des Judentums. Der Offizier muß deshalb aus innerer Überzeugung heraus das Judentum und damit jede Verbindung zu ihm ablehnen. Wer gegen diese kompromisslose Haltung verstößt, ist als Offizier untragbar. Die unterstellten Offiziere sind in geeigneter Weise zu belehren.“ Diese Aussage, dass die Einstellung zum Judentum ein kriegsentscheidendes Kriterium sei, wiederholte Schmundt auch am 17. November 1942 vor den ersten Lehrgangsteilnehmern der neuen „Höheren Adjutantur“. Daraus sei ferner eine konsequente Einstellung abzuleiten hinsichtlich der „Exekutionen, die ja nicht die Wehrmacht auszuführen“ habe. Hatte Schmundt auf diese Weise die Wehrmacht auf die Unterstützung der Einsatzgruppen-Morde verpflichtet, so erklärte er in einem Befehl vom 5. Januar 1944 das Offizierskorps zu einer tragenden Säule des Regimes: „Die fanatische Kampfentschlossenheit und die Beharrlichkeit des Glaubens an den Sieg liegt in unserer nationalsozialistischen Weltanschauung begründet […] Der Offizier ist in besonderem Maße durch seinen Eid an den Führer und dessen Staatsidee gebunden. Er ist damit ebenso ein tragendes Element des Staates wie der Hoheitsträger der Partei.“ Diese Betonung weltanschaulicher Voraussetzungen wurde von Schmundt auch in die Praxis umgesetzt. Die Vorschläge für die Leistungsbeförderungen sollten von den Kommandobehörden an der Front ausgehen. Deshalb schuf Schmundt in diesen von der Division aufwärts die Institution eines ‚Höheren Adjutanten‘. Diese Adjutanten bearbeiteten derartige Personalfragen und waren angewiesen, bei ihrer Beurteilung von Offizieren deren nationalsozialistischer Einstellung eine zentrale Rolle einzuräumen. Zugleich stellte diese ‚Höhere Adjutantur‘, die gleichberechtigt neben dem Generalstab stehen sollte, einen Versuch Schmundts dar, sich eine „Hausmacht“ zu schaffen. Schmundt und der Widerstand Schmundt stand in nahem Kontakt zu Vertretern des militärischen Widerstands in der Wehrmacht, ohne diesem jedoch anzugehören. Dabei stellte seine enge Beziehung zu Henning von Tresckow, einem der führenden Köpfe der Widerstandsbewegung, ein Schlüsselmoment dar. Beide hatten als junge Leutnante im Infanterie-Regiment 9 gedient und dort zusammen die Fahnen des Gardekorps vor der Interalliierten Militär-Kontrollkommission versteckt. Schmundt besuchte als Chefadjutant Hitlers mehrmals den Stab der Heeresgruppe Mitte, in dem Tresckow diente und der als ein Zentrum des militärischen Widerstandes galt. Bei den dort geführten relativ offenen Reden merkte Schmundt an, dass Tresckow „den Führer ablehne“, doch vertraute er ihm weiterhin und meldete dessen Ansichten nicht weiter. So wurde beispielsweise Oberst Graf Stauffenberg, den Schmundt für sehr befähigt hielt und den er deshalb verwundet aus Afrika hatte ausfliegen lassen, auf Betreiben Tresckows mit Hilfe Schmundts in den Stab des Ersatzheeres versetzt. Nur so konnte er später an der Lagebesprechung im Führerhauptquartier am 20. Juli 1944 teilnehmen. Auch zuvor schon hatte Schmundt die Widerstandsbewegung unabsichtlich mit wichtigen Informationen versorgt. So erfuhren die Verschwörer im März 1943 von ihm, zu welchem Zeitpunkt Hitler eine Beutewaffen-Ausstellung im Berliner Zeughaus besuchen wollte. Er setzte sich außerdem dafür ein, dass der »Führer« beim Rundgang durch die Ausstellung von Schmundts langjährigem Bekannten Oberstleutnant Freiherr von Gersdorff, dem designierten Attentäter an diesem Tag, begleitet wurde. Das Attentat scheiterte jedoch, da Hitler das Gebäude zu schnell wieder verließ. Tresckow soll versucht haben, durch Schmundt noch 1944 selbst ins Führerhauptquartier versetzt zu werden, wo er besser an den Umsturzplänen beteiligt werden konnte. Dies scheiterte jedoch. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Beziehung der beiden Freunde bereits merklich abgekühlt. Wenige Wochen vor dem Attentat vom 20. Juli 1944 gerieten beide in einen heftigen Streit über die Beendigung des Krieges. Dennoch versuchte Tresckow im Sommer 1944 erneut, mit Hilfe Schmundts eine Versetzung zu erreichen, diesmal in den Stab seines ehemaligen Vorgesetzten, des nunmehrigen Oberbefehlshabers West in Frankreich, Generalfeldmarschall Günther von Kluge. Er hoffte, dort nach dem Staatsstreich die Front für die Alliierten öffnen zu können. Kluge kannte jedoch die konspirative Einstellung Tresckows und lehnte ab. Urteile über Schmundt Bei der Ernennung zum Chefadjutanten Hitlers fand Schmundt nicht nur positive Aufnahme. Sein Vorgänger Oberst Friedrich Hoßbach lehnte es strikt ab, seinen Nachfolger in die Geschäftsgänge einzuarbeiten. Auch der damalige Chef des Generalstabes, General der Artillerie Ludwig Beck, zeigte ihm „die kalte Schulter“, sah er doch in ihm einen „Abtrünnigen“, der nunmehr zu Hitler und zum OKW gehörte und damit in Gegnerschaft zur Heeresführung stand. Jedoch war sein Ruf im Offizierskorps auch in späteren Jahren nicht durchweg negativ, auch wenn er weithin als hitlerhörig galt, was ihm den spöttischen Namen „Jünger Johannes“ eintrug. Ursächlich dafür war, dass Schmundt „ein Herz für die Truppe“ hatte, sich deren Sorgen und Nöte anhörte und zwischen ihr und Hitler zu vermitteln versuchte. Unterstützung fand er auch in dem Bestreben, Einflüsse der Partei auf Personalentscheidungen des Heeres zu unterbinden. Hinzu kam seine menschlich sympathische Art, mit welcher er sein Umfeld für sich gewann. Nicolaus von Below, Schmundts langjähriger Mitarbeiter, berichtete, dass Schmundt diesbezüglich das Gegenteil seines Vorgängers Hoßbach war: „Wie diesem jegliche Warmherzigkeit fehlte, besaß Schmundt die aufgeschlossene Verbindlichkeit, die ein Offizier für seine Kameraden und Untergebenen haben muss. Schmundt konnte ausgesprochen fröhlich sein.“ Es fanden sich jedoch auch unter den Zeitgenossen ausgesprochen kritische Stimmen. Ein anderer zeitweiliger Mitarbeiter im Oberkommando der Wehrmacht war Helmuth Greiner. Dieser beschrieb Schmundt nach dem Krieg als „ängstlich bemüht, auch nicht den mindesten Schatten auf seinen Herren und Meister fallen zu lassen“. Sein größter Fehler sei gewesen, Hitler ständig im Glauben an die eigene Unfehlbarkeit bestärkt zu haben. Außerdem sei er für zahlreiche Fehlbesetzungen in den oberen militärischen Führungsrängen mitverantwortlich gewesen. Der Historiker Reinhard Stumpf geht davon aus, dass Schmundt zu den Deutschen gehörte, die glaubten, dass sich Altes und Neues, Preußentum und Nationalsozialismus miteinander verbinden ließen. Während allerdings die Mehrheit der Offiziere abwartete, war Schmundt wie auch Keitel, Blomberg oder Reichenau bestrebt, das Heer an Hitler heranzuführen. Schmundt habe sich aber „bei aller Begeisterung für Hitlers Genie“, so Stumpf, „mehr als Keitel und Jodl, stets als Angehöriger des Heeres gefühlt; Eingriffe, die von außen kamen und nicht unmittelbar über Hitler liefen“, sei er entgegengetreten. Manfred Messerschmidt hingegen sieht in Schmundt lediglich „ein gefügiges Werkzeug Hitlers“. Er habe mit seiner Personalpolitik ab 1942 dem Offizierskorps einen so strikten Loyalitätsbegriff zur Verpflichtung gemacht, Hermann Weiß geht noch einen Schritt weiter und charakterisiert Schmundt als „überzeugten Nationalsozialisten und Hitler bedingungslos ergeben.“ Auch der Militärhistoriker Wolfram Wette sieht Schmundt als „überzeugten Nationalsozialisten in der Generalität des Heeres“, der mit seiner Verfügung vom 31. Oktober 1942 „den Offizieren eine eindeutig antisemitische Einstellung abverlangte“. Der Historiker Johannes Hürter betont in seinem Beitrag in der Neuen Deutschen Biographie ebenfalls, das Beispiel dieser Verfügung zeige, „wie sehr S[chmundt] die ideologischen Vorgaben akzeptierte“. Hürter hebt jedoch auch den ambivalenten Charakter der Tätigkeit Schmundts hervor: Literatur Nicolaus von Below: Als Hitlers Adjutant 1937–1945. Hase & Koehler Verlag, Mainz 1980, ISBN 3-7758-0998-8. Dermot Bradley und Richard Schulze-Kossens (Hrsg.): Tätigkeitsbericht des Chefs des Heerespersonalamtes General der Infanterie Rudolf Schmundt. Biblio-Verlag, Osnabrück 1984. ISBN 3-7648-1292-3. Rudolf-Christoph von Gersdorff: Soldat im Untergang. Ullstein, Frankfurt am Main/ Wien/Berlin 1977, ISBN 3-550-07349-6. Geoffrey P. Megargee: Hitler und die Generäle – Das Ringen um die Führung der Wehrmacht 1933–1945. Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 2006, ISBN 3-506-75633-8. Reinhardt Stumpf: Die Wehrmacht-Elite – Rang- und Herkunftsstruktur der deutschen Generale und Admirale 1933–1945. Boldt, Boppard am Rhein 1982, ISBN 3-7646-1815-9. (= Wehrwissenschaftliche Forschungen, Bd. 29). Reinhard Stumpf: General der Infanterie Rudolf Schmundt. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Hitlers militärische Elite. Bd. 2. Primus, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-12678-5. S. 226–235. Hermann Weiß: Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2002. ISBN 3-596-13086-7. Wolfram Wette: Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. S. Fischer. Frankfurt a. M. 2002, ISBN 3-10-091208-X. Weblinks Einzelnachweise Leutnant (Preußen) Leutnant (Deutsches Heer) Hauptmann (Reichswehr) Militärperson (Oberkommando der Wehrmacht) Opfer eines Attentats General der Infanterie (Heer der Wehrmacht) Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich) Träger des Eisernen Kreuzes I. Klasse Träger des Deutschen Ordens Freikorps-Mitglied NSDAP-Mitglied Deutscher Geboren 1896 Gestorben 1944 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Bauchspeicheldr%C3%BCse
Bauchspeicheldrüse
Die Bauchspeicheldrüse – fachsprachlich auch das Pankreas (latinisiert auch Pancreas, von griechisch: πάγκρεας, pánkreas, von πᾶν pân für „alles, ganz“, und κρέας kréas für „Fleisch“) – ist ein quer im Oberbauch hinter dem Magen liegendes Drüsenorgan der Wirbeltiere. Die von ihr gebildeten Verdauungsenzyme („Pankreassäfte“) werden in den Zwölffingerdarm abgegeben. Sie ist daher eine exokrine Drüse (exokrin „nach außen abgebend“; in diesem Falle in den Verdauungstrakt). Die Enzyme der Bauchspeicheldrüse spalten Eiweiße, Kohlenhydrate und Fette der Nahrung im Darm in eine von der Darmschleimhaut aufnehmbare Form. Darüber hinaus werden in der Bauchspeicheldrüse Hormone gebildet, die direkt in das Blut überführt werden. Damit ist sie auch eine endokrine Drüse (endokrin „nach innen abgebend“). Dieser endokrine Anteil der Bauchspeicheldrüse sind die Langerhans-Inseln, eine spezialisierte Gruppe endokriner Zellen, die vor allem für die Regulation des Kohlenhydrat-Stoffwechsels über den Blutzuckerspiegel (durch die Hormone Insulin und Glucagon) sowie von Verdauungsprozessen verantwortlich sind. Durch die Bildung von Somatostatin regeln die Langerhans-Inseln Wachstumsvorgänge. Eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatitis) führt durch die freiwerdenden Verdauungsenzyme zu einer Selbstverdauung des Organs. Bei einer nachlassenden Bildung der Verdauungsenzyme (exokrine Pankreasinsuffizienz) kann die Nahrung nicht mehr ausreichend aufgeschlossen werden. Die häufigste Störung des endokrinen Anteils ist die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus). Anatomie beim Menschen Lage und Gliederung Die Bauchspeicheldrüse des Menschen ist ein etwa 16–20 cm langes, 3–4 cm breites und 1–2 cm dickes keilförmiges Organ. Ihr Gewicht beträgt zwischen 40 und 120 g. Das Organ ist in Läppchen gegliedert, welche auch die Oberfläche charakteristisch strukturieren. Die Bauchspeicheldrüse liegt im Retroperitonealraum, also hinter dem Bauchfell, zwischen Magen, Zwölffingerdarm, Milz, Leber und den großen Blutgefäßen des Bauchraums (Aorta und untere Hohlvene). Sie ist kaum atemverschieblich, d. h., im Gegensatz zu anderen Organen der Bauchhöhle wie der Leber verändert sich ihre Position bei der Ein- und Ausatmung nur wenig. Makroskopisch (mit bloßem Auge) unterscheidet man drei Abschnitte der Bauchspeicheldrüse: den Pankreaskopf (Caput pancreatis), den Pankreaskörper (Corpus pancreatis) und den Pankreasschwanz (Cauda pancreatis). Der Pankreaskopf wird vom Zwölffingerdarm umfasst und trägt einen nach unten gerichteten Hakenfortsatz (Processus uncinatus). An der Pankreaseinkerbung (Incisura pancreatis) geht der Kopf nach links in den Pankreaskörper über. In dieser Einkerbung verlaufen die Arteria mesenterica superior und die Vena mesenterica superior. Der Pankreaskörper quert horizontal verlaufend auf Höhe des ersten bis zweiten Lendenwirbels die Wirbelsäule. Dort wölbt sich das Organ leicht nach innen in den Netzbeutel, was als Netzhöcker (Tuber omentale) bezeichnet wird. Schließlich läuft der im Querschnitt dreieckige Pankreaskörper ohne deutliche Grenze in den Pankreasschwanz aus, der sich bis zum Gefäßpol der Milz erstreckt. Der etwa zwei Millimeter weite Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse (Ductus pancreaticus, Wirsung-Gang) mündet gemeinsam mit dem Hauptgallengang (Ductus choledochus) oder nahe diesem in den Zwölffingerdarm. Diese Mündung stellt eine warzenförmige Erhebung dar (Papilla duodeni major oder Vatersche Papille). Bei manchen Individuen ist ein zweiter, kleiner Ausführungsgang vorhanden, der Ductus pancreaticus accessorius (Santorini-Gang), der dann auf der kleinen Zwölffingerdarmwarze (Papilla duodeni minor) in den Zwölffingerdarm mündet. Feinbau Das Pankreas ist eine zugleich exokrine und endokrine Drüse. Als exokrine Drüse produziert sie Verdauungsenzyme, als endokrine Drüse Hormone (siehe auch Abschnitt Funktion). Der exokrine Anteil besteht aus mehreren Tausend locker zusammengefügten Läppchen mit einem Durchmesser von etwa drei Millimetern. Ein solches Läppchen enthält mehrere, von sekretproduzierenden Zellen umgebene Drüsengänge (Azini). Die von diesen Drüsenzellen gebildeten Verdauungsenzyme werden ohne Verlust von Zellbestandteilen (merokrine Sekretion) in Form eines wässrigen (serösen) Sekrets freigesetzt und über die Azini weitergeleitet und teilweise auch gespeichert. Die Azini werden von einer Basalmembran umgeben, die durch ein feines Netz von retikulären Fasern gestützt wird. Etwa drei bis fünf Azini sind zu einem Komplex oder „Drüsenbäumchen“ verschaltet und münden über sogenannte Schaltstücke in einen gemeinsamen Gang. Die Zellen dieser Schaltstücke werden als zentroazinäre Zellen bezeichnet. Die Ausführungsgänge vereinen sich und werden letztendlich zu den Hauptausführungsgängen. Im exokrinen Anteil der Bauchspeicheldrüse liegen zwischen den Azini auch Zellen, die als Pankreassternzellen bezeichnet werden. Sie spielen vor allem bei Reparaturvorgängen eine Rolle. Der endokrine Anteil sind die Langerhans-Inseln (Insulae pancreaticae), die 1869 von Paul Langerhans entdeckt wurden. Es handelt sich um Anhäufungen von endokrinen Epithelzellen, die sich vorwiegend in Bauchspeicheldrüsenkörper und -schwanz befinden. Sie geben die von ihnen produzierten Hormone direkt in das Blut ab. Die Langerhans-Inseln machen ein bis zwei Prozent der Masse der Bauchspeicheldrüse aus. Abhängig vom produzierten Hormon unterscheidet man: α-Zellen produzieren Glucagon (etwa 30 % der Inselzellen) β-Zellen produzieren Insulin und Amylin (etwa 60 % der Inselzellen) δ-Zellen produzieren Somatostatin (etwa 5 % der Inselzellen) PP-Zellen produzieren pankreatisches Polypeptid (weniger als 5 % der Inselzellen) ε-Zellen produzieren Ghrelin Mittels immunhistochemischer Methoden kann die Lokalisation der Zelltypen innerhalb einer Langerhans-Insel festgestellt werden, die beim Menschen kein bestimmtes Muster erkennen lässt. Die Bauchspeicheldrüse als Ganzes wird von einer dünnen Kapsel aus Bindegewebe umgeben, die Septen (Scheidewände) nach innen sendet. Diese Septen trennen die einzelnen Drüsenläppchen voneinander. Außerdem wird das Organ von einem dichten Kapillarnetz durchzogen, das eine gute Blutversorgung sicherstellt und damit die Sekretionstätigkeit erst ermöglicht. Blutversorgung und Lymphabfluss Die Versorgung der Bauchspeicheldrüse erfolgt über drei größere Gefäße: Die obere Bauchspeicheldrüsen-Zwölffingerdarmarterie (Arteria pancreaticoduodenalis superior), die große Bauchspeicheldrüsenarterie (Arteria pancreatica magna) und die untere Bauchspeicheldrüsen-Zwölffingerdarmarterie (Arteria pancreaticoduodenalis inferior) verzweigen sich in weitere kleinere Arterien, die zum Teil miteinander in Verbindung treten (anastomosieren). Das venöse Blut aus Körper und Schwanz der Bauchspeicheldrüse wird von kleinen Bauchspeicheldrüsenvenen (Venae pancreaticae) über die Milzvene (Vena splenica) in die Pfortader (Vena portae) geleitet. Das Blut aus dem Kopf der Bauchspeicheldrüse gelangt über die Bauchspeicheldrüsen-Zwölffingerdarm-Vene (Vena pancreaticoduodenalis) in die obere Gekrösevene (Vena mesenterica superior) und dann ebenfalls in die Pfortader. Die Lymphgefäße der Bauchspeicheldrüse ziehen in die Nodi lymphoidei (Nll.) pancreatici sowie die Nll. pancreaticoduodenales superiores et inferiores. Diese liegen dicht an der Bauchspeicheldrüse und leiten die Lymphe in den Truncus intestinalis weiter. Innervation Die Bauchspeicheldrüse wird, wie fast alle inneren Organe, durch beide Anteile des vegetativen Nervensystems (Sympathikus und Parasympathikus) versorgt. Die parasympathische Versorgung erfolgt durch den Nervus vagus. Über den M3-Rezeptor werden α- und β-Zellen stimuliert. Sympathische Fasern erreichen über den Nervus splanchnicus major das Ganglion coeliacum, wo sie auf das zweite sympathische Neuron umgeschaltet werden, welches dann in die Bauchspeicheldrüse zieht. Über α2-Adrenozeptoren wird die Sekretion der β- und δ-Zellen gesenkt und die der α-Zellen gesteigert. Über β2-Adrenozeptoren wird die Sekretion der β- und δ-Zellen gesteigert. Anatomie bei Tieren Zellen, die Bauchspeicheldrüsenhormone und solche, die Verdauungsenzyme produzieren, sind bei einer Vielzahl von Wirbellosen nachgewiesen. Als eigenständiges Organ treten sie aber erst bei den Wirbeltieren auf. Bei der Schwarzbäuchigen Taufliege werden beispielsweise Insulin-ähnliche Peptide noch im Gehirn, Glucagon-ähnliche in den Corpora cardiaca (einem Neurohämalorgan) gebildet. Doch auch bei den Wirbeltieren gibt es strukturelle Differenzen, die durch unterschiedliche Lebensweise und Nahrung sowie Stoffwechselbesonderheiten bedingt sind. Bei den Manteltieren und Lanzettfischchen ist noch keine Bauchspeicheldrüse ausgebildet. Hier gibt es lediglich spezialisierte Zellen im Darmepithel, welche die entsprechenden Hormone bilden. Bei Rundmäulern sind endo- und exokriner Anteil getrennt: Während die Verdauungsenzyme herstellenden Zellen in die Darmschleimhaut eingestreut sind, bei Schleimaalen auch in die Leber, bilden die hormonproduzierenden Zellen ein separates Inselorgan an der Mündung des Gallengangs in den Darm. Das Inselorgan der Schleimaale und Neunaugen besteht aus β- und wenigen δ-Zellen, α-Zellen sind dagegen in der Darmschleimhaut lokalisiert. Knochenfische besitzen eine exokrine Bauchspeicheldrüse, während das endokrine Gewebe oft in davon unabhängigen Strukturen zusammengelagert ist. Diese auch als Brockmann-Körper bezeichneten Inselorgane entstehen aus der dorsalen Pankreas-Anlage und liegen im angrenzenden Mesenterium. Bei einigen Arten ist ein einzelner großer Brockmann-Körper (z. B. Grundeln), bei manchen sind mehrere Brockmann-Körper, bei anderen zusätzliches zerstreutes Inselzellgewebe ausgebildet. PP-Zellen sind bei den Knochenfischen im Regelfall noch nicht im Inselorgan lokalisiert. Bei einigen Fischarten ist das exokrine Pankreasgewebe in der Leber lokalisiert (Hepatopankreas). Knorpelfische besitzen eine endokrin-exokrine Bauchspeicheldrüse, bei den meisten Vertretern mit allen vier Hauptzelltypen (α, β, δ, PP), bei den Seekatzen bleiben die δ-Zellen jedoch im Darm angesiedelt. Trotz des Vorhandenseins eines Inselorgans bleiben bei den Knorpelfischen weiterhin viele α-, δ- und PP-Zellen auch im Darm lokalisiert. Bei Amphibien, Reptilien, Vögeln und Säugetieren zeigt die Bauchspeicheldrüse prinzipiell denselben Aufbau. Schwanzlurche haben entweder diffus verteiltes oder in Inseln zusammengelagertes endokrines Gewebe, bei einigen Arten fehlen α-Zellen. Das Inselorgan der Froschlurche besitzt alle vier Hauptzelltypen und ähnelt dem der Säuger, allerdings gibt es Unterschiede in den Zellanteilen: α-, β- und PP-Zellen sind etwa in gleicher Menge vorhanden, hinzu kommen einige δ-Zellen. Bei Krallenfröschen scheinen erstmals auch Ghrelin produzierende ε-Zellen aufzutreten. Auch bei Reptilien gibt es beträchtliche Unterschiede in der Zellzusammensetzung. Bei Krokodilen machen β-Zellen etwa die Hälfte der Inselorganzellen aus, während bei Echsen vier- bis fünfmal so viele Glucagon-produzierende Zellen wie Insulin-produzierende auftreten. Bei der Zierschildkröte bestehen die Langerhans-Inseln nur aus α- und β-Zellen, während PP- und δ-Zellen in den exokrinen Anteil eingestreut sind. ε-Zellen sind bei Reptilien bislang nur bei wenigen Arten wie der Rotwangen-Schmuckschildkröte nachgewiesen. Bei einigen Schlangen bilden die Inselzellen eine Scheide um die Ausführungsgänge des exokrinen Anteils. PP-Zellen sind im Inselorgan bislang nicht nachgewiesen. Bei Vögeln ist die Bauchspeicheldrüse aus vielen Läppchen aufgebaut, die zwischen den beiden Schenkeln des Zwölffingerdarms liegen. Bei Vögeln gibt es neben gemischten auch Inseln, in denen nahezu ausschließlich α- beziehungsweise β-Zellen auftreten. Die Zahl der α-Zellen scheint bei Vögeln generell gegenüber der der anderen Zelltypen zu überwiegen. Ghrelin wurde beim Haushuhn nachgewiesen, bei anderen Spezies ist dies nicht untersucht. Bei den Säugetieren ist der Aufbau der Bauchspeicheldrüse prinzipiell ähnlich, in den Langerhans-Inseln sind alle fünf Zelltypen ausgebildet. In der Veterinäranatomie gliedert man die Bauchspeicheldrüse makroskopisch in einen Körper (Corpus pancreatis), einen rechten, dem Zwölffingerdarm anliegenden Lappen (Lobus pancreatis dexter, „Duodenalschenkel“) und einen der Eingeweidefläche des Magens anliegenden und bis zur Milz reichenden linken Lappen (Lobus pancreatis sinister, „Milzschenkel“). Bei Pferden und Schweinen umschließt der Pankreaskörper ringförmig die Pfortader (Anulus pancreatis). Beim Nilflughund machen die Langerhans-Inseln fast neun Prozent der Organmasse aus, was mehr als doppelt so viel ist wie bei anderen Säugetieren. Aufgrund seiner Herkunft aus einer paarigen und einer unpaarigen Organanlage (siehe Abschnitt Entwicklung) besitzt das Pankreas je nach Spezies einen bis drei Ausführungsgänge. Der „zusätzliche Ausführungsgang“ ist bei Schweinen und Rindern der einzige, während Pferde und Hunde stets beide, einige Vögel (z. B. Entenvögel) alle drei ursprünglich angelegten Ausführungsgänge besitzen. Entwicklung Beim Embryo entwickelt sich die Bauchspeicheldrüse aus dem inneren Keimblatt (Entoderm). Es entstehen zunächst zwei Epithelknospen im Bereich des Zwölffingerdarms, wobei sich die vordere in der bauchseitigen Darmaufhängung des Zwölffingerdarms (Mesoduodenum ventrale) nahe dem Gallengang, die hintere im rückenseitigen Mesenterium (Mesoduodenum dorsale) bildet. Die Hauptsprosse dieser Knospen werden durch Bildung eines Hohlraums (Kanalisierung) zu den Ausführungsgängen, ihre Verzweigungen zum eigentlichen Drüsengewebe. Die rückenseitige (dorsale) Pankreasanlage ist die größere und bildet den Hauptteil der späteren Bauchspeicheldrüse. Ihr Ausführungsgang ist der zusätzliche Bauchspeicheldrüsengang (Ductus pancreaticus accessorius). Die kleinere bauchseitige (ventrale) Pankreasanlage ist zunächst paarig. Bei Säugetieren vereinigen sich während der Embryonalentwicklung beide ventralen Sprosse und bilden den Bauchspeicheldrüsengang (Ductus pancreaticus). Bei Vögeln bleiben beide Sprosse der ventralen Anlage dagegen zeitlebens getrennt. Aus der ventralen Pankreasanlage entsteht der Processus uncinatus („Hakenfortsatz“) und der untere Anteil des Kopfes der Bauchspeicheldrüse. Mit der embryonalen Drehung des Magens um seine Längsachse gelangt die ventrale Anlage über rechts in eine rückenseitige Position. Der ursprüngliche Bauchfellüberzug verschmilzt mit dem der linken Leibeswand. Damit gelangt das zunächst innerhalb der Leibeshöhle gelegene Pankreas sekundär in eine Lage außerhalb des Bauchfells – in den sogenannten Retroperitonealraum. Mit dieser Drehung kommt es auch zur Vereinigung der beiden Hohlraumsysteme und damit beider Anlagen. Dies findet beim Menschen etwa in der sechsten bis siebenten Schwangerschaftswoche statt. Die zweite Magendrehung bringt die Bauchspeicheldrüse in die Querlage. Die ursprünglich zwei Hauptausführungsgänge beider Anlagen bleiben nur bei einigen Säugetieren (z. B. Pferde, Hunde) erhalten. Beim Menschen sowie Schafen und Katzen verschließt sich (obliteriert) der direkt in das Darmrohr mündende (proximale) Abschnitt des Ausführungsgangs der dorsalen Anlage, so dass der Ductus pancreaticus zum gemeinsamen Ausführungsgang beider Anlagen wird. Bei Schweinen und Rindern bleibt dagegen nur der Ductus pancreaticus accessorius – also der der rückenseitigen Anlage – erhalten. Die Langerhans-Inseln – also der endokrine Anteil der Bauchspeicheldrüse – entstehen ebenfalls aus Epithelzapfen, die von den Sprossen des exokrinen Anteils ausgehen. Diese „Inselzapfen“ verlieren aber die Verbindung zum Gangsystem und werden durch gefäßreiches Bindegewebe vom exokrinen Anteil abgegrenzt. Für den ersten Schritt der Differenzierung der Vorläuferzellen für die späteren Inselzellen ist eine Aktivierung des Transkriptionsfaktors Neurogenin3 notwendig. Die weitere Differenzierung wird durch den Transkriptionsfaktor Rfx6 (Transcriptional regulatory factor X6) gesteuert. Darüber hinaus sind eine Reihe weiterer Transkriptionsfaktoren (NeuroD1, Pax4, Nkx2.2, Nkx6.1, Arx, MafA, Pax6, Isl1 und andere) an der Zelldifferenzierung und Organogenese der Bauchspeicheldrüse beteiligt. Evolution Vergleichende Studien legen nahe, dass sowohl endokriner als auch exokriner Anteil der Bauchspeicheldrüse phylogenetisch endodermal-epithelialen Ursprungs sind, obwohl diese Frage noch nicht abschließend geklärt ist. So lassen sich bei Lanzettfischchen Zellen innerhalb des Mitteldarmepithels nachweisen, die ein Insulin-Vorläufermolekül (Protoproinsulin) bilden und zusammen mit anderen Enzymen in das Darmlumen abgeben. Nach Spaltung im Lumen wird es aus dem Darm in das Blut aufgenommen und entfaltet eine Insulin-ähnliche Wirkung. Darüber hinaus lassen sich bei einigen niederen Wirbeltieren „gemischte“ Zellen nachweisen, die sowohl endo- als auch exokrine Funktionen wahrnehmen. Vermutlich ist sogar die Insulin-produzierende β-Zelle Ausgangspunkt der phylogenetischen Entstehung des Organs Bauchspeicheldrüse. Das Inselorgan der Rundmäuler besteht nahezu vollständig aus β-Zellen, bei Seekatzen treten α-Zellen dazu, bei Haien dann PP-Zellen – es kommt also zu einer schrittweisen Erweiterung der Organfunktion. Auch die Expression der an der Entstehung der Bauchspeicheldrüse beteiligten Transkriptionsfaktoren scheint diese Theorie der gemeinsamen phylogenetischen Herkunft zu bestätigen. Funktion Funktion als exokrine Drüse Als exokrine Drüse ist die Bauchspeicheldrüse eine rein seröse Drüse und die wichtigste Verdauungsdrüse. Sie produziert beim Menschen täglich bis zu zwei Liter Sekret, bei Pferden bis zu 35 l. Die Bildung des Verdauungssekrets (auch als Pankreassaft bezeichnet) wird durch Geruch und Geschmack der Nahrung und den Kauvorgang über den Nervus vagus stimuliert. Auch die Dehnung der Magenwand (ebenfalls über den Nervus vagus vermittelt) sowie die Hormone Sekretin, Cholecystokinin und vermutlich Gastrin steigern Bildung und Abgabe des Pankreassafts. Cholecystokinin stimuliert dabei gemeinsam mit dem Nervus vagus (über Acetylcholin) vor allem die Sekretion der Pankreasenzyme aus den Azinuszellen, während Sekretin die Gangepithelzellen des Pankreas zur Bildung eines Bikarbonat-reichen Sekrets anregt, der über einen Cl−/HCO3−-Antiporter Chlorid aus dem Sekret in dem Pankreasgang mit Bikarbonat austauscht. Ein Großteil des dafür verwendeten Chlorids wird über den CFTR-Kanal in das Lumen des Pankreasgangs befördert, was bei der Entstehung der zystischen Fibrose eine große Rolle spielt. Die Hormone Somatostatin, Glucagon, Pankreatisches Polypeptid, Peptid YY sowie der Einfluss des Sympathikus hemmen dagegen die Bildung und Abgabe des Pankreassafts. Das Bauchspeicheldrüsensekret enthält die Vorstufen eiweißspaltender Enzyme (Trypsinogen, Chymotrypsinogen, Procarboxypeptidasen, Proelastase), das stärkespaltende Enzym α-Amylase, Ribo- und Desoxyribonukleasen und zur Fettspaltung dienende Enzyme (Lipasen). Die eiweißspaltenden Enzyme liegen bei der Produktion in der Drüse in einer inaktiven Form vor, um eine Selbstverdauung des Organes zu verhindern. Das Trypsinogen wird erst durch gezielte Abspaltung mittels des Enzyms Enteropeptidase des Bürstensaums der Zwölffingerdarmschleimhaut in Trypsin umgewandelt und damit wirksam. Trypsin wiederum aktiviert die übrigen eiweißspaltenden Enzyme. Die Lipase wird erst durch das Protein Colipase aktiv. Letztere kommt ebenfalls als Vorstufe aus der Bauchspeicheldrüse und wird erst durch Trypsin aktiviert. Hinsichtlich der Enzymzusammensetzung des Pankreassaftes gibt es ernährungsbedingte tierartliche Unterschiede. So bildet die Bauchspeicheldrüse bei Tieren mit geringem Stärkeanteil in der Nahrung, beispielsweise reinen Fleischfressern wie Katzen oder Pflanzenfressern wie Pferde und Wiederkäuer, kaum stärkespaltende Amylase. Bei Monogastriern ändert sich je nach Zusammensetzung der Nahrung nach wenigen Tagen auch das Enzymmuster des Pankreassaftes. Die in den Epithelzellen der Bauchspeicheldrüsengänge produzierten Hydrogenkarbonat-Ionen (HCO3−) erhöhen den pH-Wert des Pankreassaftes auf 8. Das alkalische Pankreassekret neutralisiert den durch den Magensaft angesäuerten Darminhalt und schafft damit ein optimales Milieu für die Verdauungsenzyme. Funktion als endokrine Drüse Neben dieser exokrinen Drüsenfunktion werden vom endokrinen Drüsenanteil, den Langerhans-Inseln, Hormone direkt in das Blut abgegeben. In den α-Zellen wird Glucagon, in den β-Zellen Insulin, in den δ-Zellen Somatostatin, den PP-Zellen das Pankreatische Polypeptid und den ε-Zellen das Ghrelin synthetisiert. Der Reiz für die Insulinausschüttung ist der Anstieg des Blutzuckers. Weitere Stimulation gibt es über den Parasympathikus und einige Darmhormone (Gastrin, Sekretin, GIP, Cholecystokinin und GLP-1). Durch das Insulin wird der Blutzucker wieder auf ein physiologisches Niveau gesenkt, indem Traubenzucker (Glucose) in Leber, Skelettmuskulatur und Fettgewebe aufgenommen wird. Zudem werden die Glucosespeicherung gefördert und die Glucoseneubildung gehemmt. Bei starkem Blutzucker-Abfall wird aus den α-Zellen Glucagon ausgeschüttet, welches zur Freisetzung von Traubenzucker aus der Leber und damit zu einem Anstieg des Blutzuckers führt. Somatostatin dient der Hemmung des exokrinen Anteils und der α-Zellen. In hoher Konzentration hemmt es auch die β-Zellen. Die Funktion des pankreatischen Polypeptids ist noch nicht ausreichend geklärt, es hemmt vermutlich den Appetit. Neben den klassischen fünf Hormonen wird von den Inselzellen eine Vielzahl weiterer Peptide gebildet, wie beispielsweise Cholecystokinin, Calcitonin Gene-Related Peptide, Insulinähnliche Wachstumsfaktoren, Peptid YY, Cocaine and amphetamine regulated transcript und Thyreoliberin, bei Fröschen auch Sekretin. Erkrankungen Erkrankungen des exokrinen Anteils Eine akute Bauchspeicheldrüsenentzündung (Pankreatitis) verursacht starke Schmerzen im Oberbauch („Gummibauch“), Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung und Fieber. Die häufigste Ursache für eine akute Pankreatitis beim Menschen sind Gallensteine, für eine chronische ist es der Alkoholmissbrauch. Auch eine traumatisch bedingte Pankreasruptur kann eine Pankreatitis auslösen. Bei einer akuten Pankreatitis oder Pankreasruptur kommt es zur Selbstverdauung des Organs durch freiwerdende Enzyme und dadurch zu einer starken Entzündungsreaktion. Die ungenügende Sekretion bzw. Ausschüttung von Bauchspeicheldrüsenenzymen bezeichnet man als exokrine Pankreasinsuffizienz. Sie kann durch Verlust von Bauchspeicheldrüsengewebe bei chronischer Pankreatitis oder Bauchspeicheldrüsenkrebs (s. u.) erworben, aber auch durch genetisch bedingte Erkrankungen wie Mukoviszidose angeboren sein. Die exokrine Pankreasinsuffizienz führt zu Verdauungsproblemen mit großvolumigem Fettstuhl und wird durch Verabreichung von Pankreatin oder Rizoenzymen mit den Mahlzeiten behandelt. Pankreaszysten und -pseudozysten, blasenförmige Bildungen in der Bauchspeicheldrüse, können als Entwicklungsstörung, durch Trauma, Entzündung oder Tumoren entstehen. Pankreaszysten verursachen häufig keine Beschwerden. Pseudozysten haben keine Epithelauskleidung und entstehen meist nach einer Pankreatitis durch Gewebseinschmelzung. Sie können mit Entzündungszeichen wie Fieber einhergehen und neigen zu Abszessbildung und anderen Komplikationen. Bösartige oder gutartige Pankreastumoren betreffen in 98 % der Fälle den exokrinen Anteil. In der Mehrheit sind es bösartige Adenokarzinome (duktale Adenokarzinome), die wegen ihrer hohen Sterblichkeitsrate gefürchtet sind. Einige Saugwürmer parasitieren im Gangsystem der Bauchspeicheldrüse. Der Pankreasegel (Eurytrema pancreaticum) tritt vor allem bei Paarhufern in Ostasien und Südamerika auf, kann aber auch den Menschen befallen. Der Waschbären-Pankreasegel (Eurytrema procyonis) kommt in den Vereinigten Staaten von Amerika vor und parasitiert bei Waschbären, selten auch bei Katzen. Lyperosomum intermedium tritt nur in den US-amerikanischen Südstaaten Florida und Georgia auf und befällt Reisratten. Erkrankungen des endokrinen Anteils Die häufigste Erkrankung des endokrinen Anteils ist die Zuckerkrankheit (pankreopriver Diabetes mellitus). Beim Diabetes mellitus liegen ein absoluter oder relativer Insulinmangel oder eine abgeschwächte Wirksamkeit des Insulins vor. Die Zuckerkrankheit ist eine weltweit verbreitete Massenerkrankung mit erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Etwa 380 Millionen Menschen (8,3 % der Bevölkerung) leiden an dieser Krankheit, allerdings sind nur etwa fünf bis zehn Prozent der Diabetes-Erkrankungen durch eine Unterfunktion der Langerhans-Inseln bedingt. Auch bei Haushunden und -katzen ist Diabetes mellitus eine der häufigsten endokrinen Erkrankungen. Bei der erblich bedingten Nesidioblastose ist das Inselzellgewebe vermehrt und die Insulinausschüttung erhöht, was bereits bei Säuglingen zu schwerer Unterzuckerung führt. Endokrine Tumoren machen nur etwa zwei Prozent der Bauchspeicheldrüsentumoren aus. Hier überwiegen Tumoren der Insulin-produzierenden β-Zellen (Insulinom) und Tumoren, die Gastrin produzieren (Zollinger-Ellison-Syndrom). Eine Häufung endokriner Bauchspeicheldrüsentumoren kommt beim Wermer-Syndrom vor. Fehlbildungen Während der Entwicklung des Organs kann es zu verschiedenen Fehlbildungen kommen. Wird die Bauchspeicheldrüse nicht oder nur unvollständig ausgebildet, spricht man von einer Pankreasagenesie. Während die totale Pankreasagenesie mit schweren Verdauungsstörungen und Zuckerkrankheit beim Neugeborenen einhergeht, bleibt die partielle meist symptomlos, da das vorhandene Gewebe eine ausreichende Synthesekapazität hat. Das Pancreas divisum („geteilte Bauchspeicheldrüse“) beruht auf einer ausbleibenden Verwachsung der beiden Organanlagen. Hier besteht eine Neigung zu einer Verstopfung im Ausführungsgangbereich, da der Abfluss des Pankreassaftes der größeren rückenseitigen Anlage über den kleineren Gang (Ductus pancreaticus accessorius) erfolgt. Beim seltenen Pancreas bifidum („zweigespaltene Bauchspeicheldrüse“) ist der Hauptausführungsgang im Bereich des Schwanzes der Bauchspeicheldrüse wie ein Fischschwanz aufgespalten. Als Pancreas anulare („ringförmige Bauchspeicheldrüse“) wird eine seltene ringförmige Verwachsung um den Zwölffingerdarm bezeichnet, durch die es zu einer Duodenalstenose (Zwölffingerdarmeinengung) kommen kann. In der Literatur wird als Ursache eine nicht obliterierte (verödete) linke Knospe der ventralen Anlage bzw. eine generell abnormale Entwicklung einer zweigeteilten ventralen Pankreasanlage angegeben. Diese Anlage wächst um das Duodenum herum und verschmilzt mit der dorsalen Anlage. Therapiemöglichkeit ist eine Duodenojejunostomie, eine operative Verbindung des Zwölffingerdarms mit dem Jejunum (Leerdarm), oder eine kurze Überbrückung der eingeengten Stelle innerhalb des Zwölffingerdarms (Duodenum-Duodenum-Anastomose). Ektopes Gewebe des Pankreas (versprengtes Pankreasgewebe) kann u. a. im Magen, im Dünndarm (vor allem im Meckelschen Divertikel) oder in der Leber vorkommen. Im Rahmen seltener Syndrome kann das Pankreas mit beteiligt sein wie beim Mitchell-Riley-Syndrom. Verletzungen Beschreibungen der seltenen Verletzung der Bauchspeicheldrüse erfolgten erstmals im 19. Jahrhundert, etwa durch den Londoner Arzt Tavers (1826) und Otis (1864), später unter anderem auch von Wandesleben und Werner Körte. Untersuchungsmethoden Die Vorgeschichte und der körperliche Untersuchungsbefund ergeben bereits Hinweise auf das Vorliegen einer Pankreaserkrankung. Zur Erkennung einer Pankreatitis hat sich die laborchemische Bestimmung der Pankreaslipase im Blut bewährt. Alternativ kann die Pankreas-Amylase im Serum bestimmt werden. Sie ist jedoch nicht so spezifisch und sensibel. In der Tiermedizin wird vor allem der PLI-Test angewendet. Zum Nachweis einer exokrinen Pankreasinsuffizienz werden in der Humanmedizin der Sekretin-Pankreozymin-Test oder die Bestimmung der Konzentration der Pankreas-Elastase im Stuhl angewendet, in der Tiermedizin vor allem der TLI-Test. Zur Einschätzung der Funktion des endokrinen Anteils werden vor allem Blut- und Urinzucker, HbA1c, C-Peptid, Fructosamin und die verbliebene Eigensekretionsrate bestimmt. Autoimmunerkrankungen der Bauchspeicheldrüse können darüber hinaus durch die Bestimmung von Autoantikörpern diagnostiziert werden. Zur Erkennung von Tumoren der Bauchspeicheldrüse werden bildgebende Verfahren wie Sonografie, Computertomographie, Magnetresonanztomographie sowie ein kombiniertes endoskopisch-radiologisches Verfahren, die sogenannte Endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie, genutzt. Darüber hinaus kann mittels Bauchhöhleneröffnung (Laparotomie) und -spiegelung (Laparoskopie) das Organ direkt beurteilt werden. Die Flexible Transgastrische Peritoneoskopie ist ein im Experimentalstadium befindliches Untersuchungsverfahren. Auch Pankreaspseudozysten, Pankreassteine (deren sicherer Nachweis erst nach Einführung der Röntgendiagnostik, etwa durch Arthur Mayo-Robson, möglich wurde) oder Pankreasverkalkungen können mit den genannten bildgebenden Verfahren erkannt werden. Als brauchbarer Tumormarker hat sich CA 19-9 bewährt. Pankreastransplantation Die kombinierte Pankreas- und Nierentransplantation ist die bisher beste Therapie für sorgfältig ausgewählte Patienten mit insulinpflichtigem Typ-I-Diabetes und dialysepflichtigem oder bevorstehendem Nierenversagen. Die Organvermittlung geschieht dabei zentral über Eurotransplant. Dort werden die Daten aller Patienten gespeichert und verfügbare Organe innerhalb Europas nach festgelegten Kriterien vermittelt. Seit der ersten Pankreastransplantation im Jahre 1966 sind weltweit bisher über 7000 Bauchspeicheldrüsen transplantiert worden. Die meisten Operationen, etwa zwei Drittel, fanden in den USA gefolgt von Europa statt. Nur wenige Transplantationen werden in allen übrigen Teilen der Welt durchgeführt. In Deutschland werden jährlich 150 bis 200 Pankreastransplantationen durchgeführt. Die Transplantation von Inselzellen ist derzeit immer noch als experimentelle Therapiemethode anzusehen. Verwendung Bauchspeicheldrüsen von Schweinen werden bei der Schlachtung gewonnen und technisch aufbereitet. Als Pankreatin wird dieses Enzymgemisch zur Behandlung der exokrinen Bauchspeicheldrüsenunterfunktion eingesetzt. Pankreatin muss zusammen mit der Mahlzeit aufgenommen werden. Darüber hinaus wird aus Bauchspeicheldrüsen von Rindern und Schweinen auch Insulin für die Insulintherapie gewonnen. Die ersten Insulinpräparate aus Rinderbauchspeicheldrüsen kamen bereits 1923 auf den Markt. Durch die Möglichkeit der Herstellung von rekombinantem Insulin spielt aus dem Organ gewonnenes Insulin in der Diabetesbehandlung beim Menschen allerdings keine Rolle mehr. Vor allem in Asien wird die Bauchspeicheldrüse von Schweinen auch als Lebensmittel verwendet. Forschungsgeschichte Das Pankreas wurde vermutlich erstmals von Herophilos von Chalkedon – auch als „Vater der Anatomie“ betitelt – etwa 300 v. Chr. beschrieben, obwohl er es nicht als solches bezeichnete und viele seiner Schriften nicht mehr existieren. Der Begriff „Pankreas“ existierte bereits zuvor. Schon in einem fälschlich Hippokrates zugeschriebenen Text (περί ἀδένων) wird das Wort verwendet, allerdings war es wohl für Lymphknoten üblich. Es ist unklar, ob es sich bei den in der „hippokratischen“ Schrift erwähnten, nach hippokratischer Vorstellung „ganz aus Fleisch“ (griechisch: πᾶν χρέας) bestehenden „Drüsen im Netz“ um die Bauchspeicheldrüse oder die Mesenteriallymphknoten handelt. Etwa zur gleichen Zeit wie Herophilos soll auch Eudemos von Alexandria eine Drüse, die ein speichelähnliches Sekret in den Dünndarm abgibt, erwähnt haben. Galenos (2. Jahrhundert n. Chr.) – auch als Princeps medicorum der Antike betitelt – bezieht sich auf Herophilos’ und Eudemos’ Schriften und die Bauchspeicheldrüse, hielt sie aber für ein Kissen der sie umgebenden Gefäße und anderer Strukturen. Aufgrund der hohen Reputation Galenos’ galt diese Auffassung bis in das 17. Jahrhundert als unumstößliche Tatsache. Die erste eindeutige Abgrenzung der Bauchspeicheldrüse von den Lymphknoten der Bauchhöhle und die Zuordnung des Begriffes Pankreas zu diesem Organ geht auf den Arzt und Anatomen Rufus von Ephesos zurück, der Ende des ersten Jahrhunderts die erste anatomische Nomenklatur erarbeitete. Dennoch gab es in der Mitte des 2. Jahrtausends erneut begriffliche Unschärfen. So bezeichnete Frederik Ruysch (1638–1731) die von Gaspare Aselli Anfang des 17. Jahrhunderts beschriebenen Mesenteriallymphknoten als „Pancreas Aselli“ und Johann Konrad Brunner die von ihm 1686 erstmals beschriebenen Brunner-Drüsen als „Pancreas secundarium“ („zweite Bauchspeicheldrüse“). Das Organ fand im Mittelalter kaum Beachtung. Jean François Fernel, der 1554 verschiedene Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse (zum Beispiel Scirrhi) nennt, hielt die Bauchspeicheldrüse für den Sitz der Melancholie, Hypochondrie und einen Hort für wiederkehrendes Fieber. Jacopo Berengario da Carpi (1470–1550), der das erste gedruckte Anatomie-Lehrbuch herausgab, beschrieb die Bauchspeicheldrüse als sekretorische Drüse, ohne aber ihren Ausführungsgang zu erwähnen. Die älteste erhaltene Zeichnung der Bauchspeicheldrüse stammt von Bartolomeo Eustachi, dessen anatomische Tafeln aber erst 1714 von Giovanni Maria Lancisi publiziert wurden. In den detailreichen Zeichnungen Leonardo da Vincis ist das Organ nicht dargestellt, vermutlich wurde es bei den Sektionen zuvor mit dem Gekröse entfernt. Andreas Vesalius, der eine Renaissance der Anatomie einleitete, fertigte präzise anatomische Zeichnungen an und beschrieb erstmals die präzise Topografie des Organs. Er hielt die Bauchspeicheldrüse allerdings lediglich für ein Kissen des Magens. Einen im Rahmen einer Sektion gefundenen Pankreasabszess (Abszess der Bauchspeicheldrüse) beschrieb 1609 der Mediziner Johann Georg Schenck von Grafenberg. Im Jahre 1642 beschrieb Johann Georg Wirsung den von ihm entdeckten Ausführungsgang der Bauchspeicheldrüse, konnte aber seine Funktion nicht deuten. Wirsung fertigte einen Kupferstich der Bauchspeicheldrüse und des Ganges an und schickte Drucke an zahlreiche Anatomen, mit der Bitte um Hilfe bei der Interpretation seiner Funktion. Diese gelangte über Umwege auch an Thomas Bartholin, der in einem Brief an seinen Schwager Ole Worm den Gang als Ausführungsgang eines Pankreassekretes interpretierte und 10 Jahre nach Wirsung eine noch detailreichere Zeichnung von Bauchspeicheldrüse und ihrem Gang anfertigte. Obwohl die zahlreichen Briefe Wirsungs die Erstautorenschaft seiner Entdeckung untermauern, war es nach eigener Aussage, der seines Sohnes und der Ansicht einiger Medizinhistoriker vielleicht auch Wirsungs Schüler Moritz Hofmann, der den Gang 1641 (ein Jahr vor Wirsung) erstmals bei einem Truthahn fand, obwohl er diese Entdeckung niemals publizierte. Die Entdeckung des zusätzlichen Ausführungsgangs (Ductus pancreaticus accessorius) wird Giovanni Domenico Santorini zugeschrieben, allerdings wurde er bereits 1656 von Thomas Wharton beschrieben. Santorini erkannte aber als Erster, dass dieser zusätzliche Gang keine Fehlbildung, sondern eine „normale“ anatomische Struktur ist. Die ontogenetische Basis, nämlich die Embryologie der Bauchspeicheldrüse, wurde 1812 von Johann Friedrich Meckel d. J. beschrieben. Meckel klärte auch die Entstehung des zweigeteilten Pankreas (Pancreas divisum) auf. Die erste moderne pathologisch-anatomische Darstellung der Bauchspeicheldrüse publizierte 1842 H. J. Claessen. 1875 erfolgte eine Monographie von Nicolaus Friedreich zu den Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse. Im Jahr 1879 entdeckte Albert von Kölliker die beiden Pankreasanlagen. 1711 (erst 1720 publiziert) beschrieb Abraham Vater dann präzise die Anatomie der gemeinsamen Mündung von Gallen- und Bauchspeicheldrüsengang auf der heute nach ihm benannten Papilla Vateri. Bereits 1654 entdeckte Francis Glisson den kleinen Schließmuskel an der Mündungsstelle von Gallen- und Pankreasgang. Ruggero Oddi untersuchte 1887 dessen Existenz vergleichend-anatomisch und deutete ihn auch funktionell präziser, weshalb dieser Schließmuskel heute auch nach Oddi benannt wird (Musculus sphincter Oddi). Mit der Entdeckung der Pankreasausführungsgänge sowie auch der Ausführungsgänge der Speicheldrüsen Mitte des 17. Jahrhunderts war der Weg zur funktionellen Deutung des exokrinen Anteils geebnet. Nachdem Thomas Bartholin bereits 1651 ein von der Bauchspeicheldrüse in den Darm abgegebenes Sekret vermutete, legte Reinier de Graaf 1664 die erste Pankreasfistel bei einem Hund und war so in der Lage, erstmals das Sekret aufzufangen. Die von De Graaf gefundenen Ähnlichkeiten der Speicheldrüsen- und Pankreasgänge inspirierten 1796 Samuel Thomas von Soemmerring zur Prägung der noch heute üblichen deutschen Bezeichnung „Bauchspeicheldrüse“. 1669 verarbeitete Marcello Malpighi diese Erkenntnisse in seinem Buch und schloss, dass das Sekret den Nahrungsbrei im Darm chemisch verändert – die Spaltung der Nahrungsbestandteile durch Pankreasenzyme war postuliert. Ende des 17. Jahrhunderts führte Johann Konrad Brunner bei Hunden Operationen mit Teilentfernung der Bauchspeicheldrüse und Abbinden der Ausführungsgänge durch. Er schloss aus seinen Experimenten allerdings, dass das Organ scheinbar keine essentielle Funktion bei der Verdauung hat. Leopold Gmelin und Friedrich Tiedemann erkannten 1826, dass der Pankreassaft den Nahrungsbrei in eine vom Darm aufnehmbare Form verändert. Allerdings vermuteten sie, dass Speichel die Proteine und Pankreassaft die Stärke spaltet. Wenig später erkannte Johann Eberle die stärkespaltende und Fette emulgierende Eigenschaft des Pankreassaftes. Im Jahre 1838, vier Jahre später, wies Jan Evangelista Purkyně mit Samuel Moritz Pappenheim nach, dass Fette nicht nur emulgiert, sondern gespalten werden, wenn sie mit Galle und Pankreassaft versetzt werden. Im Jahr 1844 hatten Gabriel Gustav Valentin und Apollinaire Bouchardat unabhängig voneinander die eiweißspaltende (diastatische) Wirkung des Sekrets des Pankreassaftes entdeckt. Diese Arbeiten waren Ausgangspunkt der umfangreichen Forschung von Claude Bernard, dem „Vater der Pankreas-Physiologie“. Im Jahre 1846 entdeckte er die Pankreaslipase und erkannte, dass Pankreassaft Stärke, Fette und Eiweiße in kleinere Moleküle spalten kann. Die proteinspaltende Komponente Trypsin wurde erstmals 1862 von Alexander Danilewski isoliert und 1867 von Wilhelm Kühne in einem verbesserten Verfahren nahezu in Reinform extrahiert. Iwan Pawlow und seine Schüler führten Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Experimente zur Steuerung der Bildung des Pankreassaftes, insbesondere durch den Nervus vagus durch. Pawlows Schüler Nikolai Schepowalnikow entdeckte 1899, dass Trypsin erst durch den Inhalt des Zwölffingerdarms aktiviert wird und damit die Enteropeptidase. William Bayliss und sein Schwager Ernest Starling fanden bei ihren Pankreas-Experimenten 1902 das erste Hormon überhaupt, das die Bauchspeicheldrüse anregende Sekretin. 1928/1929 entdeckten Andrew Conway Ivy und Eric Oldberg das zweite auf die Bauchspeicheldrüsensekretion wirkende Enterohormon, das Cholecystokinin, während die übrigen erst in den 1970er Jahren nachgewiesen wurden. Mit der Verbesserung der Lichtmikroskope und der mikroskopischen Techniken im 19. Jahrhundert waren auch die technischen Voraussetzungen zur Erforschung des Feinbaus gegeben. Die erste histologische Beschreibung des Feinbaus des exokrinen Teils legte Moyse in seiner Dissertation 1852 vor, in der er auch erstmals die Acini beschrieb. 1869 entdeckte der deutsche Pathologe Paul Langerhans die später nach ihm als Langerhans-Inseln benannten endokrinen Zellverbände in der Bauchspeicheldrüse, konnte ihre Funktion aber nicht deuten. Im Jahre 1880 erkannte Étienne Lancereaux, dass die seit dem Altertum bekannte Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) definitiv mit Veränderungen der Bauchspeicheldrüse in Beziehung steht. Im Jahre 1889 lösten Oskar Minkowski und Josef von Mering durch die Entfernung der Bauchspeicheldrüse bei Hunden einen Diabetes (die Zuckerkrankheit) aus, doch erst der Russe Leonid Sobolew erkannte 1900 die direkte Beziehung zu den Langerhans-Inseln, eine Beobachtung, die 1909 durch William George MacCallum experimentell bestätigt wurde. Georg Ludwig Zülzer unternahm 1904 bis 1908 zahlreiche Versuche zur Behandlung von Diabetes mellitus mittels Pankreasextrakten. Obwohl er eine Verbesserung der Symptome der Zuckerkrankheit erzielte, brach er aufgrund der starken Nebenwirkungen seine Versuche ab. Einen wertvollen Beitrag zur Diagnostik und Therapie von Pankreaserkrankungen und zum Zusammenhang mit Fettstoffwechselstörungen verfassten 1905 Fritz König und Theodor Brugsch am Krankenhaus von Altona. Michael Lane konnte anhand unterschiedlicher Fixierungen 1907 erstmals zwei Zelltypen (α- und β-Zellen) unterscheiden, δ-Zellen wurden von William Bloom 1931 entdeckt. György Gömöri entwickelte zwischen 1938 und 1950 die Färbeverfahren zur Zelldifferenzierung entscheidend weiter. Sie verloren erst mit dem Aufkommen immunhistochemischer Färbemethoden ab 1976 an Bedeutung. Frederick G. Banting und Charles H. Best gelten als die Entdecker des Insulins. Sie isolierten es 1921 aus Bauchspeicheldrüsen von Hunden und setzten es 1922 erfolgreich zur Behandlung eines zuckerkranken Jungen ein. Der Rumäne Nicolae Paulescu hatte zwar bereits 1916 ein insulinwirksames Extrakt aus Pankreasgewebe hergestellt und sich das Verfahren 1922 patentieren lassen, es jedoch nur bei Hunden eingesetzt. Im Jahre 1923 entdeckten Charles P. Kimball und John R. Murlin bei Extraktionsversuchen ein weiteres Hormon, das Glucagon. Das Vasoaktive intestinale Polypeptid wurde erstmals 1966 von Jerry D. Gardner und James J. Cerda aus einem Pankreastumor isoliert, Somatostatin in der Bauchspeicheldrüse erst 1977 aus Inselzelltumoren. Zu den bedeutenden Pankreaschirurgen des 20. Jahrhunderts zählt unter anderem Karl Vossschulte. Pankreaschirurgie Im Jahr 1883 begründete Carl Gussenbauer die Pankreaschirugie. Werner Körte publizierte 1898 grundlegende Arbeiten zur Chirurgie der Bauchspeicheldrüse. Der erste operative Heileingriff an der Bauchspeicheldrüse wurde 1904 von Erwin Payr durchgeführt. Methoden der um 1900 entwickelten operativen Entfernung der Bauchspeicheldrüse (Pankreatektomie) reichen je nach Ausdehnung einer Pankreaserkrankung von der subtotalen Pankreatektomie über die Hemipankreatektomie bis zur Duodenopankreatektomie bzw. Totalpankreatektomie. Eine Pankreasschwanzresektion schlug Pierre Mallet-Guy 1936 (bei linksseitiger chronischer Pankreatitis) vor. (Mallet-Guy führte zur Behandlung von bestimmten Fällen der schmerzhaften chronischen Pankreatitis auch 1950 die linksseitige subdiaphragmale Splanchnektomie (Durchtrennung eines Eingeweidenerven) mit Resektion des Ganglion semilunare ein). Literatur K. Heinkel, H. Schön: Pathogenese, Diagnostik, Klinik und Therapie der Erkrankungen des exokrinen Pankreas. Schattauer, Stuttgart 1964. Walter Hess: Die chirurgische Behandlung der Pankreaserkrankungen. Enke, Stuttgart 1954. Walter Hess: Die Erkrankungen der Gallenwege und des Pankreas. Thieme, Stuttgart 1961. Benedikt Ignatzek: Pankreaserkrankungen. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1094 f. Rudolf Nissen: Der chirurgische Eingriff am Pankreas. In: Der Internist. Band 2, 1961, S. 343 ff. K. Zimmermann: Bauchspeicheldrüse. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 89–106. Weblinks Einzelnachweise Verdauungsapparat Endokrines Organ Exokrine Drüse
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https://de.wikipedia.org/wiki/Notensatzprogramm
Notensatzprogramm
Ein Notensatzprogramm (auch Notationssoftware oder kurz Notenprogramm) ist eine Musiksoftware zur Eingabe und Aufbereitung von Noten (Notensatz) mit Hilfe eines Computers. Gegenüber einer Sequenzer-Anwendung liegt der Schwerpunkt auf der Komposition und dem Arrangement und nicht auf der akustischen Musikerzeugung. Im Vordergrund steht vor allem das grafische Notenbild; die Funktionalität ist also vorrangig auf das Gestalten und Drucken der Noten hin ausgerichtet. Allgemein Neben der Möglichkeit der Eingabe und Formatierung aller üblichen musikalischen Symbole sind bei einem Notensatzprogramm unterschiedliche Editierfunktionen vorhanden. Hierzu zählen das Erfassen von Liedtexten oder das Transponieren von Musik sowie die Nutzung der Zwischenablage. Manche Programme verfügen über Layout-Automatismen, die etwa horizontale Notenabstände nach ästhetischen Gesichtspunkten ausrichten oder Vorzeichen und Artikulationsangaben korrekt positionieren, ohne dass der Benutzer manuell eingreifen muss. Darüber hinaus kann der Notentext meist abgespielt und angehört werden. Einsetzbare Software-Werkzeuge für den Notensatz wurden erst spät entwickelt – deutlich später als solche für die Textverarbeitung. Zum einen ist die Struktur der Notenschrift komplexer, da die verschiedenen Zeichen oft keine einfache Abfolge bilden, sondern zum Teil gleichzeitig gelesen werden müssen. Zum anderen gibt es nicht immer verbindliche Regeln für die exakte Anordnung der Notenzeichen. Im handwerklichen Notensatz erfolgte die Positionierung der Zeichen vielfach nach mündlich weitergegebenen Erfahrungswerten und ästhetischem Empfinden. Da letzteres subjektiv ist, variieren die Anforderungen an das optische Erscheinungsbild, was sich auch in der großen Zahl vorhandener Computerprogramme widerspiegelt. Zu unterscheiden sind zwei grundsätzliche Konzepte von Notensatzprogrammen: Solche, die nach dem sogenannten WYSIWYG-Prinzip funktionieren, sodass auf einer grafischen Benutzeroberfläche das Endergebnis der Erstellung zu sehen ist und direkt dort auch bearbeitet werden kann; und solche, die keine grafische Benutzeroberfläche bieten, wobei der Anwender die Noten in Form einer speziellen Auszeichnungssprache (englisch ) in eine Textdatei eingibt und diese später vom Computer interpretiert und in Notenform übersetzt wird. Anwendung finden Notensatzprogramme vor allem in Musikverlagen und bei Komponisten oder Arrangeuren, jedoch aufgrund wachsender Benutzerfreundlichkeit auch zunehmend bei Hobbymusikern. Geschichte Anfang 1960 begann man mit den ersten Versuchen, Notensatz mithilfe des Computers zu verwirklichen. Die frühe Geschichte des Notensatzprogramms ist dabei eng verknüpft mit der Entwicklung der Computer-Hardware. So war in den Anfangsjahren die Nutzung von Computern wenigen Firmen und Forschungseinrichtungen vorbehalten; für Notensatz eingesetzte Geräte wie die PDP-10 füllten ganze Räume. Zu den frühsten Programmen am Markt zählen MusE (A-R Edition) und Amadeus (von Kurt Maas vertrieben). Letzteres basierte auf einer PDP-11 sowie in späteren Jahren zusätzlich einem Atari als Grafikterminal und kostete als Gesamtsystem anfangs annähernd 100.000 DM. Ab Mitte der 1980er waren der Atari ST sowie der Acorn RISC gängige Umgebungen zur Programmierung von Notensoftware. Zunächst wurden als Ausgabegeräte Stiftplotter eingesetzt. In diese Zeit fallen die 1971 veröffentlichten Sechs Bagatellen für Klavier von Leland Smith, die gemeinhin als erstes als Computersatz erschienenes Musikstück der Welt gelten. Doch erst ab 1984, als die Seitenbeschreibungssprache PostScript entwickelt wurde und Laserdrucker günstiger wurden, setzten sich Notensatzprogramme im Verlagswesen durch. Mit der etwa zeitgleich erfolgten Veröffentlichung des MIDI-Standards (1982) wurde bessere akustische Wiedergabe der Noten möglich, zunächst jedoch für maximal acht Kanäle gleichzeitig. Erster Industriestandard für Notensatz wurde Score; die Entwicklung begann bereits 1967, doch erst nach der offiziellen Veröffentlichung der Software 1989 wurde Score bei deutschen Verlagen nach und nach eingeführt. Die erste für den Notensatz einsetzbare Software mit grafischer Benutzeroberfläche nach dem WYSIWYG-Prinzip stellen die 1988/1989 veröffentlichten Programme Finale und Notator SL dar, letzteres gilt als erster Sequenzer mit Notensatzfunktionen. Anfangs unterlagen alle Programme funktional engen Grenzen, so war die Vorschau am Bildschirm recht grob gerastert und Elemente wie Bögen mussten teilweise manuell ergänzt werden. Zu Beginn der 1990er Jahre wurden Computer auch für Privatpersonen erschwinglich, was die Konkurrenz belebte und zahlreiche weitere Notensatzprogramme hervorbrachte. Zu ihnen gehören capella (1992) und Sibelius (1993), aber auch viele weitere, denen gemein ist, dass sie zunächst im Herstellungsland Verbreitung fanden; allerdings konnten sich nicht alle Produkte dauerhaft am Markt halten. Zwar haben Notensatzprogramme aus wirtschaftlichen Gründen den traditionellen Notenstich weitestgehend verdrängt, jedoch galt bis etwa 2010 der handwerklich manuell gestochene Notensatz mithilfe von Metallplatte, Stahlstempeln und Griffel als Qualitätsmaß. Wie in der IT-Branche insgesamt, deutet sich auch im Notensatz ein Trend hin zu mobilen Noten-Apps und Cloud Computing an, sodass neben gedruckter Ausgabe auch die Noten-Darstellung auf digitalen Endgeräten an Bedeutung gewinnt. Die frühen mobilen Apps im Bereich Notensatz waren vorrangig zum Abspielen und Anzeigen der Noten konzipiert, erst langsam erschienen auch Notensatzprogramme auf mobilen Endgeräten. Ab circa 2015 kommt als Novum an Funktionalität hinzu, dass Apps für Tablets erstmals auch die Eingabe per Stift auf dem Touchpad unterstützen (siehe Absatz Noteneingabe Eingabestift). StaffPad für Windows und NotateMe für iOS waren die ersten namentlich bekannten Produkte auf dem Markt mit dieser Möglichkeit, andere Software-Hersteller ziehen jedoch nach. Programme und Anwendungsbereiche Das Angebot an Programmen für den Notensatz ist umfangreich. Es gibt heute weltweit etwa 90 Programme für den Notensatz. Den kommerziellen Markt dominieren die Programme Finale und Sibelius (Stand 2013); dabei gilt ersteres als flexibler im Notensatz, während letzteres den Ruf hat, intuitiver bedienbar zu sein. Unter den freien Programmen ist MuseScore der umfangreichste Vertreter. Etwas weniger umfangreiche, aber häufig preisgünstigere Notationssoftware gibt es in großer Zahl. Im deutschsprachigen Raum verfügt capella über einen weiten Benutzerkreis. Einige Programme spezialisieren sich auf engere Zielgruppen wie etwa Arrangeure oder Gitarristen. Viele Sequenzer bzw. Digital Audio Workstations bieten neben ihren Möglichkeiten der Audio- und MIDI-Bearbeitung auch integrierte Notensatzfunktionen. Editiermöglichkeiten und die erreichbare Qualität des Notenbildes bleiben aber hinter spezialisierter Notensatzsoftware zurück. Neu auf den Markt kommende Notensatzprogramme versuchen gezielt, solche Nischen zu bedienen. So konzentriert sich Notion auf die Lücke zwischen Noten- und Audio-Software und setzt auf hohe klangliche Wiedergabetreue mittels großer Samplebibliothek. PriMus legt seinen Schwerpunkt dagegen auf das Layouten von Notenheften und Liedblättern, um die funktionale Lücke zu Textverarbeitungs- und DTP-Software zu überbrücken. Notationsprogramme, die keine interaktive Eingabe über eine WYSIWYG-Benutzeroberfläche bieten, sondern eine Eingabesprache verwenden, benötigen anfänglich einen höheren Einarbeitungsaufwand, da der Nutzer sich die Software nicht durch schlichtes Ausprobieren von Bedienelementen erschließen kann. Ältere Satzprogramme aus dem Verlagsumfeld wie Amadeus, MusE und Score sind Beispiele solcher Software. Die anspruchsvollste moderne Software, die mit einer Eingabesprache arbeitet, ist LilyPond. In Verbindung mit dem ebenfalls freien Editor Frescobaldi bildet sie eine gängige Arbeitsumgebung für Notendruck. Ob man eine grafische Oberfläche oder Klarschrift zum Setzen von Noten bevorzugt, hängt stark vom persönlichen Geschmack und dem Anwendungsfall ab. Für beide Arten der Noteneingabe lassen sich Vor- und Nachteile finden. Zentrale Fragestellungen sind hier, ob man bestimmte Formatierungsaufgaben vom Computer abgenommen bekommen möchte bzw. ob man bereit ist, auf einem etwas höheren Abstraktionsniveau zu arbeiten. Ein Vorteil von Software, die sich vollständig durch Eingabesprachen steuern lässt, ist, dass sie gut in automatisierte Prozesse ohne Nutzerinteraktion eingebunden werden kann. In der Praxis finden Notensatzprogramme, die das Erlernen einer Auszeichnungssprache voraussetzen, vorrangig in technophilen Kreisen sowie bei ambitionierten Notenstechern Einsatz. Der Autor des Programms PMW bemerkt dazu in seiner technischen Autobiografie: Musiker mit geringer Computererfahrung bevorzugen meist grafische Oberflächen. Für einige Arbeiten der musikalischen Praxis, deren Ziel nicht die verlagsreife Perfektion des Layouts ist, eignen sich oft WYSIWYG-Benutzeroberflächen besser, etwa: inhaltliche Arbeit an der Partitur (Entwürfe von Kompositionen oder Arrangements; Transkriptionen von Audioaufnahmen in Notenschrift); gestalterische Aufgaben mit dem Ziel bestmöglicher Übersichtlichkeit (Aufgabenblätter für den Musiktheorieunterricht); Anfertigung von Aufführungsmaterialien (Stimmen oder Klavierauszüge), die nur bestimmten Aufführungen dienen und die oft unter hohem Zeitdruck hergestellt werden müssen. Noteneingabe Neben dem Dateiimport existieren sechs grundlegende Eingabemodi für Noten und Vortragszeichen. Dazu zählen die Noteneingabe per Maus, Tastatur, MIDI-Instrument, Text, Notenscan von ausgedruckter Vorlage (Optische Musikerkennung) und Eingabestift. Nicht jedes Programm unterstützt alle Eingabevarianten. Zudem ist deren konkrete Umsetzung uneinheitlich, je nach Programm und Hersteller schwankt die Art der Bedienung. Die verschiedenen Verfahren können teils auch untereinander kombiniert werden, etwa durch gleichzeitige Nutzung von Tastatur und Maus oder Tastatur und MIDI-Instrument. Maus Die Art der Eingabe per Computermaus hängt stark von der Beschaffenheit der jeweiligen grafischen Benutzeroberfläche ab. Für die Auswahl des Notenwerts steht normalerweise eine Eingabepalette bereit, in der alle Werte (, , , , etc.) geordnet dargestellt sind. Zur Auswahl der Tonhöhe klickt man mit der Maus an die gewünschte Stelle in den Notenlinien, zum Teil kann hierfür auch die entsprechende Taste einer virtuellen Piano-Klaviatur angeklickt werden. Tastatur Die Tastatureingabe erfolgt unter Nutzung einer Standardtastatur. Die Herausforderung besteht darin, dass das normale Tastaturlayout für Text und nicht für musikalische Notation entworfen ist. Die Tastenbelegung und Shortcuts sind entsprechend von Programm zu Programm verschieden und müssen erlernt werden, was einen gewissen Zeitaufwand erfordert. Ein gängiges Verfahren ist es, über die Zahlen-Tasten bis die Notenwerte zu wählen. Je nach Programm müssen diese im Haupt- oder Ziffernblock gedrückt werden. Um also beispielsweise eine Viertelnote () zu erzeugen, drückt man die Taste oder auch , je nachdem welcher Logik die Tastaturbelegung des jeweiligen Programms folgt. Mit den Buchstabentasten , , , , , , bzw. wird die Tonhöhe bestimmt. Über Zusatzzeichen wie , , , oder können musikalische Parameter wie Punktierung, Überbindung, Vorzeichen oder Pausen geschrieben werden. Es wird an einem neuen, auf die Musik-Eingabe hin zugeschnittenem Tastaturlayout geforscht, bislang konnte sich am Markt jedoch keines durchsetzen. MIDI Sofern das entsprechende Programm diese Eingabeart unterstützt, kann prinzipiell jedes Instrument mit MIDI-Schnittstelle als Eingabemedium eines Notensatzprogramms genutzt werden. Meist wird dafür ein Masterkeyboard verwendet. Dabei ist zwischen einstimmiger und mehrstimmiger Eingabe zu unterscheiden. Außerdem kann in aller Regel zwischen den Modi Schritt- und Echtzeit-Eingabe ausgewählt werden. Der Nutzer kann bei der Schritteingabe zu jedem gespielten Ton den Notenwert und den Klang neu wählen. Die Echtzeit-Eingabe ähnelt hingegen einem gewöhnlichen Recording-Prozess. Der Nutzer muss die gesamte einzuspielende Passage möglichst akkurat auf einen vom PC generierten Metronom-Klick spielen, nach Vollendung des Einspielprozesses werden die eingegebenen MIDI-Signale quantisiert. Umgekehrt können MIDI-Dateien auch am Bildschirm als Notensatz angezeigt werden. Text Eine weitere Alternative ist die Erfassung von Text unter Nutzung einer Musik-Auszeichnungssprache, dem Englischen entlehnt oft auch als Markup-Sprache bezeichnet. Jedes musikalische Symbol entspricht dabei einer bestimmten Zeichenfolge, die im Unterschied zu Sprachen wie MusicXML oder CapellaXML möglichst kurz zu sein hat, sodass sie sich möglichst einfach und schnell auch vom Menschen lesen und schreiben lässt. Mit den Elementen der Sprache kann ein Text-Dokument erstellt werden, das vom Computer in Notenschrift übersetzt wird; der Prozess ähnelt der Übersetzung von Programm-Quellcode mittels Compiler. Wie bei der Programmierung auch, kann – je nach Komplexität des Notentextes – ein Texteditor mit entsprechender Syntaxhervorhebung hilfreich sein. Programme mit grafischer Benutzeroberfläche können teilweise auch Textdateien mit bestimmten Auszeichnungssprachen importieren. In der Regel liegt der Schwerpunkt eines Programms aber entweder auf einer grafischen Benutzeroberfläche oder der Verwendung einer Auszeichnungssprache. Nur äußerst wenige Programme verfügen über eine eigene Auszeichnungssprache, obwohl sie eine grafische Oberfläche besitzen. PriMus mit seiner Auszeichnungssprache EMIL bildet hier eine Ausnahme. In folgender Tabelle sind kurze Eingabebeispiele der gängigen Musikauszeichnungssprachen ABC, LilyPond, Score, Amadeus und EMIL dargestellt. Optische Notenerkennung Als Ausgangsmaterial für die Noteneingabe mittels optischer Notenerkennung (englisch , kurz OMR) muss eine fertige Partitur vorhanden sein. Diese kann analog als Druck oder digital als Grafikdatei (meist PDF, BMP oder TIFF) vorliegen. Wird diese Vorlage an das entsprechende Erkennungsmodul übergeben (idealerweise monochrom, also 1 Bit Farbtiefe), indem sie je nach Ausgangsform gescannt oder direkt eingelesen wird, so wird hieraus eine vom Notensatzprogramm lesbare Datei generiert. Jene Datei kann ähnlich der (OCR) frei weiterbearbeitet und umformatiert werden. Man spricht hierbei von Datenextraktion; das subsymbolische Grafikformat wird in ein symbolisches Notenformat überführt. Hierbei verwendete Verfahren sind fehlerbehaftet und liefern je nach Qualität der Vorlage unterschiedlich gute Ergebnisse, die gegebenenfalls nachträglich von Hand korrigiert werden müssen. Eingabestift Ähnlich wie beim manuellen Notenschreiben auf Papier werden hier mit einem speziellen Eingabestift die Noten auf den Bildschirm gezeichnet. Die Eingabe mit einem Stift ist auf Geräten möglich, die über einen Touchscreen verfügen. Technisch zu unterscheiden ist hier zwischen aktiven und passiven Stiften. Der Erkennungsprozess ähnelt dem der Optischen Notenerkennung. Die gezeichneten Elemente werden als Vektoren zwischengespeichert und anschließend mittels Techniken des Maschinellen Lernens interpretiert. Viele Applikationen verwenden für die Realisierung dieser Funktionalität die sogenannte MyScript Music SDK. Funktionsumfang Zu den Grundfunktionen von Notensatzprogrammen zählen Eingabe, Bearbeitung und Druck von Noten. Bei aktuellen Programmen stehen dem Nutzer im Allgemeinen eine Vielzahl weiterer Funktionen zur Verfügung. Für die Erstellung eines einwandfreien Notenbildes sind eine Fülle von Notensatzregeln und das Vorhandensein einer komplexen Kollisionserkennung erforderlich. Wenn das Notensatzprogramm damit nicht automatisch eine korrekte Anordnung der Symbole finden kann, muss der Nutzer dies durch manuelles Editieren aufgrund eigener Kenntnis ausgleichen. Die Aufteilung der Noten auf Seiten und Zeilen sowie die horizontale Verteilung der Notationselemente innerhalb eines Taktes kann mittlerweile von nahezu allen Programmen automatisiert berechnet werden, ebenso die Taktnummerierung. Im Gegensatz dazu ist die vertikal richtige Positionierung von Notenköpfen, Bögen und Sonderzeichen innerhalb eines Taktes eine komplexe Aufgabe, die auch in Profiprogrammen zum Teil manuelles Editieren erfordert. Viele Grundregeln des klassischen Notensatzes muss ein Notensetzer daher auch heute kennen. Gerade wenn viele Zeichen untergebracht werden müssen, kann es zu örtlichen Überlagerungen oder Verdeckungen kommen, z. B. weil ein Bindebogen ein Dynamikzeichen oder eine Note schneidet. Auch die Ermittlung der notensatz- und stiltechnisch korrekten Neigung und Länge der Verbalkung von Achteln oder Sechzehnteln ist eine nicht triviale Aufgabe. Meist werden alle Funktionen westlicher Musiknotation (circa 18. bis 20. Jahrhundert) unterstützt, oft auch Gitarrentabulaturen, Akkordsymbole oder seltener benötigte Sonderzeichen. An ihre Grenzen stoßen Notensatzprogramme häufig, wenn es um spezifischere Tabulaturen (z. B. für Orgel oder steirische Harmonika), sehr moderne oder sehr alte Notation (z. B. Mensuralnotation) geht. Hier muss man oft auf spezialisierte Software oder Vektorgrafikprogramme zurückgreifen. Standardbestandteil eines Notensatzprogramms ist darüber hinaus die MIDI-Wiedergabe der Noten. Funktionen zum Erstellen von Einzelstimmenauszügen () erlauben das automatische Extrahieren der Noten eines Instruments aus der Gesamtpartitur. Teils bleiben diese gar nach dem Export mit der Gesamtpartitur virtuell verknüpft, sodass Änderungen automatisch synchronisiert werden. Die traditionelle Arbeit des Kopisten wird hierdurch erheblich vereinfacht bzw. sicherlich auch teilweise verdrängt. Funktionen zur Transposition existieren sowohl für das gesamte Musikstück als auch für die Berücksichtigung transponierender Instrumente (Umschaltung zwischen klingender und transponierter Darstellung). Wie bei Textverarbeitungsprogrammen verschiedene Schriftarten existieren, so verfügen einige Notensatzprogramme auch über eine Auswahl verschiedener Notenfonts, zwischen denen ausgewählt werden kann. Diese sind im Betriebssystem als TrueType hinterlegt und können meist – mit etwas Aufwand – auch von anderen Notensatz- oder DTP-Programmen genutzt werden. Größere Musikverlage erstellen teils sogar ihre eigenen Notenfonts, was den verlegten Partituren ein charakteristisches Aussehen verleiht. Einige wenige Programme bieten neben der Unterstützung von Notensatzfunktionalitäten auch umfassende Multimediaanbindung. Dazu zählen das Exportieren der Noten als Wave oder MP3, das Einbinden von Soundbibliotheken via VST-Schnittstelle (als Software-Sampler oder -Synthesizer), das Anbinden an Audio-Programme mittels ReWire-Standard sowie Import und Synchronisation von Videomaterial für das Komponieren von Filmmusik. Dateiaustausch zwischen Notensatzprogrammen Eine besondere Herausforderung ist der Dateiaustausch zwischen Notensatzprogrammen. Da viele kommerzielle Programme ein eigenes undokumentiertes Binärformat verwenden, war ein Austausch von Dateien lange Zeit nur indirekt über das MIDI-Dateiformat möglich. Dabei gehen alle grafischen Informationen verloren, weil auf diese Weise lediglich Tonhöhe und -dauer gespeichert werden können. Der erste Versuch, ein Austauschformat für Noten zu etablieren, war das (NIFF). Obwohl bei der Entwicklung des Formats Vertreter der wichtigsten Notensatzprogramme beteiligt waren, fand das Format kaum Unterstützung. Das von Michael Good entwickelte MusicXML erlaubt mittlerweile den Austausch von Dateien zwischen einer Vielzahl verbreiteter Notensatzprogramme, wobei zum Teil Konverterprogramme oder Plug-ins von Drittanbietern benötigt werden. In der Praxis ist es allerdings noch nicht möglich, ein Notenbild präzise von einem Notensatzprogramm in ein anderes zu übertragen. Das liegt vor allem daran, dass die Implementierungen der Softwarehersteller teils unvollständig bzw. uneinheitlich sind und nicht alle für eine präzise Übertragung benötigten Funktionen unterstützt werden, aber auch an kleineren Unzulänglichkeiten in der Spezifikation des XML Schemas. Siehe auch Liste von Notensatzprogrammen Literatur Ted Ross: The Art of Music Engraving and Processing. Hansen Books, Miami 1970, S. 151–157. Weblinks Music-notation.info – Dokumentierte Notationsformate, sowie Programme, die sie unterstützen. Vergleich von 200 Musikschriften aus allen bekannten Notationsprogrammen (englisch) Musiksoftware.net – Home Recording Software Portal, Kategorie Notationssoftware Einzelnachweise
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https://de.wikipedia.org/wiki/Oslo%20T-bane
Oslo T-bane
Die Oslo T-bane ist die U-Bahn der norwegischen Hauptstadt Oslo und die einzige U-Bahn in Norwegen. Sie entstand aus mehreren Vorortbahn- und Straßenbahnstrecken und wurde ab 1966 sukzessive zu einem vollwertigen Metronetz mit sechs Linien umgebaut. T-bane ist eine Abkürzung für Tunnelbane. Liniennetz Das T-bane-Netz ist 86 Kilometer lang (2012) und hat 101 Stationen (2016), von denen sich lediglich 17 im Tunnel befinden. Sämtliche Linien fahren durch den Fellestunnelen in der Innenstadt zwischen Majorstuen und Tøyen, vier Linien verlaufen auf einer durchgehenden Durchmesserstrecke. Die Haltestelle Jernbanetorget im Fellestunnelen verknüpft die U-Bahn mit Oslo Sentralstasjon. Betrieb Betrieben wird die T-bane von Oslo T-banedrift AS, im Auftrag und koordiniert von Ruter AS. Oslo T-banedrift ist eine Tochtergesellschaft von Sporveien, der neben der Oslo T-banedrift AS die Oslo Sporvognsdrift AS gehört, die die Straßenbahn Oslo betreibt. 2012 wurden die Ausgaben von 1361 Mio. Kronen zu etwa 47 % mit Fahrgeldeinnahmen finanziert. Die Platzbelegung betrug im selben Jahr 12 %; drei Jahre zuvor betrug sie noch 16 %. 2018 beförderte die T-bane 122 Mio. Fahrgäste. Damit ist die T-bane nach dem Busnetz (Fahrgäste 2015: 140 Mio.) das am zweithäufigsten benutzte Verkehrsmittel in Oslo. 2004 ist die Zahl der Fahrgäste nach durchschnittlich 66 Millionen Fahrgästen in den Jahren 2000–2003 um 6 Millionen gesunken, was vor allem an der Einstellung von Teilen der Kolsåsbahn gelegen haben dürfte. Geschichte Vorort- und Straßenbahnen im westlichen Oslo Die erste Vorortbahn, aus der später eine T-bane-Strecke wurde, war die Holmenkollbane. Sie wurde von der von 1896 bis 1992 bestehenden selbstständigen Vorstadtbahngesellschaft A/S Holmenkolbanen erbaut und betrieben. Ein provisorischer zweigleisiger Betrieb wurde bereits am 16. März 1898 zwischen Majorstuen und Slemdal aufgenommen. Am 31. Mai 1898 folgte vorerst eine eingleisige Strecke bis nach Holmenkollen Sanatorium (heute Besserud). Erst 1905 wurde das letzte Stück zweigleisig ausgebaut. Die Holmenkollbane führte zum gleichnamigen Berg, wo die älteste Skisprungschanze der Welt steht. Zunächst war die Linie vor allem für den Ausflugsverkehr gedacht, erst später siedelten sich dort Einwohner an. 1916 verlängerte die Stadt Kristiania, wie Oslo damals noch hieß, die Strecke bis zum Bahnhof Frognerseteren, der sich auf einer Höhe von 469 Metern befindet. Bis 1939 fuhr die Bahn sogar noch 800 Meter weiter bis Tryvannshøyden, jedoch nicht im Planverkehr. Von 1911 bis 1912 baute die Gemeinde Aker eine eingleisige Strecke vom westlichen Stadtzentrum, genauer Bahnhof Majorstuen, bis Smestad. Die Trasse ging am 7. November 1912 in Betrieb und blieb bis 1935 eingleisig, danach ließ die Gemeinde zusätzlich ein zweites Gleis verlegen. Im gleichen Jahr begannen die ersten Bauarbeiten für eine unterirdische Strecke vom Knotenpunkt Majorstuen bis ins Stadtzentrum. Wegen Setzungen an den umliegenden Gebäuden ließ die Stadtverwaltung die Bauarbeiten ruhen, erst 14 Jahre später wurden sie wieder aufgenommen. Zwei Bahnhöfe sollten auf der zwei Kilometer langen Tunnelstrecke errichtet werden. Bei den Arbeiten stürzte an einem Punkt teilweise die Tunneldecke ein, deshalb wurde dort der Bahnhof Valkyre plass gebaut, der 1985 geschlossen wurde. So wurde am 28. Juni 1928 die Strecke Majorstuen – Nationaltheatret eingeweiht. Damit hatte die seit 1925 Oslo genannte Stadt den ersten Untergrundstraßenbahntunnel in ganz Nordeuropa. Ab 1. Januar 1930 wurde eine neue Strecke von Lilleaker über Jar nach Avløs erbaut, die den Namen Lilleakerbahn erhielt. 1930 fuhren die Züge im Westen weiter nach Kolsås, wobei bis 1942 nur Straßenbahnwagen fuhren. Danach wurde der westliche Teil vom östlichen getrennt und schloss Ersteren an die Smestadbahn an, nun Kolsåsbahn, sodass eine Verbindung zwischen Kolsås und dem Stadtzentrum bestand. Während der Teil nach Kolsås von T-bane-Zügen befahren wird, sind auf der Strecke Jar–Lilleaker Straßenbahnwagen auf einem eigenen Gleiskörper zu finden. Von 1933 bis 1934 baute die Gemeinde Aker an ihrer zweiten Bahnstrecke, die den Namen Sognsvannbahn erhielt. Diesmal führte sie vom Bahnhof Majorstuen, der sich immer mehr zum Knotenpunkt aller westlichen Linien entwickelte, bis in den Norden nach Sognsvann (damals noch Sognsvatn). Bis zum damaligen Halt Korsvoll (heute Østhorn) war die Strecke zweigleisig ausgebaut. Bis zum Bahnhof Sognsvann war nur ein Gleis verlegt, was sich 1939 änderte. Die Strecke ging am 10. Oktober 1934 in Betrieb. Ein Jahr später, am 24. Januar 1935, verlängerte die Gemeinde Aker die seit 1930 bestehende Smestadbahn bis nach Røa, sodass die Verbindung den Namen Røabahn erhielt. Auf der Strecke wurden fünfzehn Stationen errichtet. Dieser Linienast wurde bis zur T-bane-Umstellung von der Straßenbahn befahren. Am 22. Dezember 1948, inzwischen war Aker eingemeindet worden, wurde die Røabahn über den Fluss Lysakerelven bis Grini verlängert, eine heute nicht mehr vorhandene Station. Am 3. Dezember 1951 folgte eine Verlängerung bis Lijordet. Vorort- und Straßenbahnen im östlichen Oslo Im Gegensatz zur westlichen Stadthälfte Oslos verlief der Bau von Vorortbahnen im Osten nicht so zügig. Die erste Strecke wurde hier am 18. Dezember 1923 zwischen Helsfyr und Brynseng in Betrieb genommen, drei Jahre später fuhren die Straßenbahnzüge weiter in Richtung Süden bis Oppsal. Die 11,4 km lange Strecke führte zur damaligen Gemeinde Østensjø, die heute ein Osloer Bezirk ist, und erhielt den Namen Østensjøbahn. Am 20. Juli 1958 folgte eine 1,4 km lange Verlängerung bis Bøler. Das war die einzige Strecke in den 1920er Jahren im östlichen Oslo. Die nächste Strecke wurde erst von 1956 bis 1957 von Brynseng aus, wo schon die Bahn nach Oppsal bestand, nach Bergkrystallen gebaut. Diese Strecke war von Anfang an für einen möglichen U-Bahn-Betrieb ausgelegt, bis zur Umstellung wurde sie als Schnellstraßenbahn genutzt. Der Zweck der neuen Strecke war die Erschließung des ersten Neubaugebietes seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem Namen Lambertseter. Bis 2004 war dies ein Stadtteil von Oslo, seitdem gehört es nun zum Bezirk Nordstrand. Darauf ist der Name Lambertseterbahn zurückzuführen. Die Eröffnung erfolgte am 28. April 1957. Die Strecke ist 10,51 km lang. Vorbereitungen für den U-Bahn-Betrieb 1949 gründete die Stadt Oslo eine eigene U-Bahn-Abteilung, die Pläne für deren Bau entwickeln sollte. 1954 legte diese Abteilung einen U-Bahn-Plan für Ost-Oslo vor, der vorsah, insgesamt vier der damaligen fünf Straßenbahn- in U-Bahn-Strecken umzubauen. Die fünfte Strecke nach Ljabru sollte weiterhin im örtlichen Straßenbahn-Netz verbleiben. Der Stadtrat fasste darauf den endgültigen Entschluss, den östlichen Teil der Stadt, der nur durch Straßenbahnstrecken erschlossen war, mit U-Bahn-Linien zu versehen. Dabei mussten einige Stationen der bestehenden Straßenbahnstrecken geschlossen werden, um die Reisegeschwindigkeit zu erhöhen. Die Bahnübergänge mussten beseitigt und die Oberleitungen gegen seitliche, von unten bestrichenen Stromschienen ausgetauscht werden. Damals entstand der Name „T-bane“, ausgeschrieben „Tunnelbane“, denn ein Großteil der neuen Strecken sollte, ähnlich wie in Stockholm, möglichst im Tunnel verlaufen. Die ersten Bauarbeiten für das Verbindungsstück der Ostlinien ins Stadtzentrum, das im Tunnel verlaufen sollte, begannen 1957. Bis zum Mai 1966 wurde der etwa fünf Kilometer lange Tunnel zwischen Oslo Østbanestasjonen, Jernbanetorget, und Brynseng errichtet. Der schwierigste Teil war dabei das Stück zwischen Jernbanetorget und Tøyen, da der Untergrund Oslos, ähnlich wie in Stockholm, allgemein aus hartem Fels mit vielen lehmgefüllten Zwischenräumen besteht. Am Bahnhof Grønland wurde ein Schutzraum für gut 3000 Personen angelegt. Östlich des Tunnels wurde die Gleisanlage für die neuen U-Bahn-Linien komplett umgestaltet. Die Gleise wurden so gelegt, dass die Linien kreuzungsfrei ein- und ausgefädelt werden konnten. Außerdem wurden am Bahnhof Brynseng vier Gleise verlegt. Nun erfolgten die verschiedenen, schon beschriebenen Arbeiten für die Umstellung der Vorortbahnlinien. Neue und umgebaute T-bane-Strecken Die erste T-bane-Linie war die Strecke von Jernbanetorget nach Bergkrystallen mit 14 neuen Stationen als Lambertseterbahn auf etwa zehn Kilometern Länge. Am 16. Oktober 1966 ging die 15 km lange Grorudbahn zwischen Jernbanetorget und Grorud in Betrieb, sie zweigte hinter dem Bahnhof Tøyen von der Stammstrecke ab. Die Grorudbahn verbindet Oslo mit den Vorstädten, die an den Stationen Grorud, Romsås und Stovner liegen. Am 21. Dezember 1975 ging eine Verlängerung bis Vestli in Betrieb. Die schon seit 1923 bestehende Østensjøbahn sollte ebenso zu einer U-Bahn-Strecke umgebaut werden. Nach einigen Monaten konnten die Züge auf der nun mit seitlichen Stromschienen versehenen Strecke bis Jernbanetorget fahren. Während des Umbaus wurde die Strecke gleichzeitig um 2,1 km bis Skullerud verlängert. Seit dem 26. November 1967 fahren hier T-bane-Züge. Später kam zu den bestehenden drei T-bane-Linien in Ost-Oslo mit der die Furusetbahn eine weitere hinzu. Sie wurde komplett neu gebaut, sodass es auf dieser Strecke fünf Tunnelbahnhöfe gibt. Der erste Abschnitt zwischen Hellerud und Haugerud ging am 18. November 1970 in Betrieb, weitere Verlängerungen nach Trosterud (15. Dezember 1974), Furuset (19. Februar 1978) bis zum Endbahnhof Ellingsrudåsen (8. November 1981) folgten. Weiteres Vordringen ins Zentrum und Verbindung der Ost- und Westlinien Seit Jahrzehnten gab es Pläne für einen Zusammenschluss der Linien in West- und Ost-Oslo, wobei das bis dahin größte Problem die Stromversorgung war. Während es auf den umgebauten jetzigen U-Bahn-Strecken seitliche Stromschienen gab, wurden die westlichen Vorortbahnlinien per Oberleitung mit Strom versorgt. Ab 1977 fuhren die Züge aus Trosterud, Skullerud, Bergkrystallen und Vestli in der Innenstadt einen Bahnhof weiter bis Sentrum. Dort war nun ein direkter Übergang zu den West-Linien durch einen kurzen Fußgängertunnel möglich. Dabei führten die Gleise der Ostlinien in einer großen Wendeschleife unter den Westgleisen hindurch und wieder zurück in Richtung Osten. Heute (2010) wird diese Schleife von den Zwischenkursen der östlichen Linien 2 und 5 genutzt. Der Bahnhof Sentrum musste jedoch am 22. Februar 1983 geschlossen werden, Wasserprobleme machten einen weiteren Betrieb unmöglich. Erst vier Jahre später konnten hier wieder Züge durch eine geschlossene Station Sentrum bis zum Bahnhof Nationaltheatret fahren. Für die Durchbindung wurde entschieden, das Stromschienensystem des Ostnetzes auf die westlichen Vorortbahnstrecken auszudehnen. Am 10. Januar 1993 wurde die erste durchgängige T-bane-Linie fertig gestellt, die ohne Umsteigen oder Aussetzen von Bergkrystallen (Ostnetz) nach Sognsvann (Westnetz) führte. Dafür wurde die Sognsvannsbahn komplett umgebaut. Neben der Aufhebung von Wegübergängen, dem Abbau der Oberleitungsanlagen und dem Einbau der Stromschienen wurden hier zwei Stationen geschlossen (Frøen und Nordberg), um die Reisegeschwindigkeit zu erhöhen sowie die Bahnsteige für den Betrieb mit Vierwagenzügen verlängert. Im Innenstadttunnel bestanden zwischen dem bisherigen Endpunkt der westlichen Vorortbahnstrecken am Nationaltheater und dem Bahnhof Majorstuen bis zum 26. Mai 1997 sowohl Oberleitung als auch Stromschienen. Der Bahnhof Majorstuen wurde ebenfalls zusätzlich mit Stromschienen ausgerüstet. Als nächste Strecke folgte die Røabahn, die mit der Furusetbahn im Osten verbunden wurde. Vom 5. Februar 1995 bis zum 18. November des gleichen Jahres war der Betrieb auf dieser Strecke aufgrund der Umbauarbeiten eingestellt. Gleichzeitig wurden die Stationen Grini, Huseby skole, Sørbyhaugen, Heggeli und Volvat aufgegeben. Erst am 19. November 1995 konnte der Betrieb von Østerås nach Ellingsrudåsen aufgenommen werden, bis dahin war auf der Strecke ein Schienenersatzverkehr mit Omnibussen eingerichtet. Die Strecken nach Frognerseteren und Kolsås behielten noch mehrere Jahre Oberleitungsabschnitte, bei letzterer bedingt durch den Mischbetrieb mit der von Straßenbahnwagen bedienten Lilleakerbahn. Dies zeigt deutlich den Systemunterschied zwischen den „richtigen“ T-bane-Strecken, die es vor allem in Ost-Oslo gibt, und den ehemaligen Vorortbahnstrecken in West-Oslo. Ein Ring um das Stadtzentrum Nach der Fertigstellung der Verbindung von Ost nach West konnten sich die Osloer Verkehrsbetriebe dem nächsten Ziel zuwenden: dem U-Bahn-Ring (T-baneringen). Der südliche Teil des Ringes besteht aus der 1997 durch den Lückenschluss Ost-West vollendeten Stammstrecke. Die Neubaustrecke Ring verläuft zwischen dem Abzweig Ullevål Stadion der Sognsvannsbahn und dem Abzweig Carl Berners Plass der Grorudbahn. Der Ring soll vor allem zukünftige beziehungsweise sich im Entstehungsstadium befindliche Büro- und Wohnviertel erschließen. Die ersten Bauarbeiten für die 3,3 km lange Strecke Ullevål Stadion – Storo begannen am 5. Juni 2000. Nach drei Jahren Bauzeit wurde die Strecke am 17. August 2003 feierlich in Betrieb genommen. Damit kamen die 102. Station, der U-Bahnhof Nydalen, und die 103. Station, der oberirdische, vorläufige Endbahnhof Storo, zum Osloer T-bane-Netz. Nach weiteren drei Jahren Bauarbeiten konnte am 20. August 2006 die Ringbahn mit einem weiteren 1,7 km langen Stück vollendet werden. Hinter dem Bahnhof Storo schwenkt die Ringbahn Richtung Süden, passiert den Bahnhof Sinsen, und fädelt sich wieder bei der Grorudbahn ein. Seit der Eröffnung befahren die Linien 4, 5 und 6 den nördlichen Ring, der südliche Teil, quasi die Stammstrecke der Osloer T-bane, wird weiterhin von allen Linien befahren. Die Baukosten des neuen Rings beliefen sich auf 1348 Millionen Norwegische Kronen, umgerechnet rund 174 Millionen Euro. Kleine und große Veränderungen 1998 wurde eine 2,5 km lange Verlängerung der Linie 3 von Skullerud nach Mortensrud eröffnet. Nahezu die komplette Strecke befindet sich in einem Felstunnel, der lediglich von zwei Brücken unterbrochen wird. Nachdem ein Jahr später die neue Straßenbahnstrecke zum Rikshospitalet gebaut wurde, deren Eröffnung am 30. Mai 1999 stattfand, wurde die Haltestelle Vestgrensa der heutigen Linien 3, 4, 5 und 6 um etwa 400 Meter verschoben. Dort wurde die Station Forskningsparken mit einem direkten Anschluss zur neuen Straßenbahnstrecke eröffnet, wobei die Osloer Straßenbahn trotz der europäischen Straßenbahnrenaissance weiterhin mit Stilllegungen rechnen muss. Im Jahr 2003 gab es einen großen Streit zwischen der Stadt Oslo und der benachbarten ehemaligen Provinz Akershus um die Finanzierung der Kolsåsbahn. Da sich beide nicht einigen konnten, stellten die Osloer Verkehrsbetriebe AS Oslo Sporveier den Betrieb zum 1. Juli 2003 vorläufig bis zum 17. August, dann bis auf weiteres zwischen Kolsås und Bekkestua, das direkt an der Stadtgrenze liegt, ein. Als Ersatz fuhren auf dieser Strecke Busse, die später wegen der schlechten Umsteigebeziehung in Bekkestua bis ins Stadtzentrum verlängert wurden. Die Einstellung der T-bane-Strecke führte besonders bei Eisenbahnfreunden sowie unter den Bewohnern der angrenzenden Gemeinde, zu Protesten. Bereits nach 16 Monaten konnte die Provinzvorsteherin Hildur Horn Øyen der ehemaligen Provinz Akershus am 22. November 2004 die Strecke nach Kolsås feierlich wiedereröffnen, wo die Kolsåsbahn vorerst gerettet war. 2006 wurde die Strecke nach Kolsås für den Umbau auf T-Bane-Normen eingestellt. Die Strecke von Jar bis nach Bekkestua wurde vorerst von der Straßenbahnlinie 13 bedient. Bei Husebybakken (kurz vor Montebello) wurde eine provisorische Haltestelle eingerichtet. Anschließend wurden die Gleise zwischen Husebybakken und Lysakerelven (kurz vor Jar) zurückgebaut. Alle Bahnübergänge wurden entfernt und mit der Umgestaltung der Haltestellen begonnen. Nach einigen Verzögerungen wurde im August 2008 die Strecke bis nach Åsjordet wieder eröffnet, im August 2010 bis Bjørnsletta. Die Strecke bis Jar wurde im Dezember 2010 wiedereröffnet. Die Strecke bis Bekkestua ging im August 2011 in Betrieb. Der Mischbetrieb mit den Straßenbahnzügen der Lilleakerbahn wurde bis zu diesem Bahnhof wieder eingerichtet, jetzt mit Doppelausrüstung von Stromschienen und Einfachfahrleitung sowie Weichen mit beweglichen Doppelherzstückspitzen und getrennten Bahnsteigen für die Straßen- und U-Bahn-Wagen. Ab 2012 wurde Gjønnes wieder bedient, 2013 Avløs und 2014 schließlich Kolsås. In Avløs wurde das Depot neu gebaut, und im August 2015 eröffnet. Die Holmenkollenbahn wurde für die Nordische Ski-WM 2011 seit Juni 2009 auf Stromschiene umgebaut. Die Bahnübergänge wurden im Vergleich zu den anderen Strecken nicht aufgehoben. Die Station Holmenkollen wurde als einzige auf Sechswagenlänge umgebaut. Während des Umbaus wurde die Strecke durch Busse bedient, zwischen August 2009 und März 2010 fuhren noch Züge bis nach Besserud. Da der ganze Umbau sehr schnell geplant und ausgeführt wurde, hatte es bei der Inbetriebnahme einige Probleme gegeben: so kann die Station Gulleråsen in Richtung Stadtmitte nicht bedient werden, da sie in einem engen Linksbogen liegt und zwischen Bahnsteig und einigen Türen der MX-Wagen eine Lücke von einem halben Meter klafft. Es gibt diese große Lücken an vielen anderen Stationen. Da während des Umbaus keine Bahnsteigverlängerungen vorgenommen wurden, sind die meisten Bahnsteige dieser Bahn nur noch für Zwei-Wagen-Züge ausgelegt, so dass die Türen im hinteren Wagen aus Sicherheitsgründen zwischen Frøen und Frognerseteren gesperrt werden. Die Verlängerung der Bahnsteige soll später nachgeholt werden. Am 3. April 2016 wurde die Lørenbahn, ein Verbindungstunnel zwischen den Stationen Økern der Grorudbahn und Sinsen des Nordrings, eröffnet, zusammen mit einer neuen unterirdischen Station namens Løren. Pendler aus den Trabantenstädten im Groruddal können nun direkt zu den Arbeitsplätzen am Nordring fahren, ohne über das Stadtzentrum reisen zu müssen. Baubeginn der Lørenbahn war im Juni 2013. Gleichzeitig zur Eröffnung der Lørenbahn wurden die Linien neu zusammengestellt und von sechs auf fünf verringert. Ausbau und Planungen Nördlich des bestehenden Innenstadttunnels ist ein zweiter Tunnel geplant, der von Majorstuen über Stortinget nach Tøyen verlaufen soll. Der eine Teil des geplanten Tunnels zwischen Majorstuen und Stortinget würde unter dem Stadtteil St. Hanshaugen verlaufen. Neue U-Bahn-Stationen auf diesem Abschnitt wären Bislett und Hammersborg. Der andere Teil zwischen Stortinget und Tøyen würde unter dem Stadtteil Grünerløkka verlaufen. Hier wären Hammersborg und Olaf Ryes plass neue U-Bahnhöfe. Die Station Stortinget würde den alten mit dem neuen Tunnel verbinden. Eine Anbindung des Stadtteils Fornebu ist mit der Fornebubanen geplant. Die Strecke zweigt bei Majorstuen ab und soll 2027 eröffnet werden. Zusätzlich gibt es Pläne für einen Neubau der Station Majorstuen, eine Querverbindung zwischen der Grorud- und Furusetbahn, eine Verlängerung der Furusetbahn nach Ahus, eine Verlängerung der Østeråsbahn nach Hosle, sowie eine Verlängerung der Østensjøbahn nach Süden (neue Endstation: Gjersrud/Stensrud). Depots Die Osloer U-Bahn besitzt die Betriebshöfe Ryen und Avløs. Der ehemalige Betriebshof Majorstuen beherbergte ursprünglich ausschließlich die Oberleitungsfahrzeuge. Nach der Indienststellung der BR MX3000 wurde er auf Stromschienenbetrieb umgebaut und diente – bis zur Fertigstellung des Betriebshofes Avløs – als Depot auch für diese Baureihe. Die verschiedenen Arbeitsmaschinen der T-Bane Oslo (z. B. Oberbauwagen, Schneepflüge, Lokomotiven) sind im Betriebshof Etterstad – der sich zwischen den Stationen Helsfyr und Brynseng befindet – beheimatet. Der ehemalige Betriebshof Majorstuen wird derzeit (Stand März 2023) von der Bahnmeisterei der Osloer Straßenbahn genutzt. Das Depot Avløs wurde komplett neugebaut und beherbergt die Wagen, die vorher in Majorstuen waren. Wegen Platzmangel übernachten einzelne Züge an den Endbahnhöfen Vestli, Ellingsrudåsen und Mortensrud. Fahrzeuge Baureihe MX3000 Da die über 40 Jahre alten Züge nicht durch die Wagen der Reihe T 2000 ersetzt werden konnten, wurde unter der Bezeichnung MX3000 wiederum eine neue Serie entwickelt. Im Jahr 2003 unterzeichneten die Osloer Verkehrsbetriebe AS Oslo Sporveier einen Vertrag im Gesamtwert von 190  Millionen Euro mit der Verkehrssparte „Transportation Systems“ (TS) der Firma Siemens für den Bau von 63 Garnituren, das sind 189 Einzelwagen, die komplett in Wien gebaut werden. Sie ähneln den ab dem gleichen Jahr produzierten Wiener U-Bahn-Zügen der Baureihe V sowie den ein Jahr älteren Nürnberger U-Bahnzügen der Baureihe 3. Die drei Wagen einer Einheit sind mit Faltenbälgen verbunden und durchgehend begehbar. Die ersten zwei Garnituren, die zum großen Teil aus Aluminium gefertigt sind, wurden ab Juli 2005 im Prüfcenter Wegberg-Wildenrath getestet und im Oktober 2005 für groß angelegte Testfahrten nach Oslo geliefert. Die Serienlieferung begann im Februar 2007 mit einem Intervall von zwei Garnituren pro Monat. Osloer U-Bahn-Fahrzeuge sind einem harten Klima ausgesetzt. Sie müssen Temperaturen von bis zu −25 Grad Celsius aushalten und werden dafür aufwändig im Klima-Wind-Kanal in Wien-Floridsdorf getestet. Die zwei ersten Zuggarnituren wurden seit Anfang September 2006 im regulären Fahrgastbetrieb auf der Linie 4/6 Bergkrystallen–Ring–Åsjordet (zwischenzeitlich war Husebybakken Endbahnhof) eingesetzt. Etwa seit dem Jahreswechsel 2008/2009 werden die Linien 3 und 5 ausschließlich von MX3000 befahren, seit der uneingeschränkten Zulassung der MX3000 für die Linie 2 wichen dort die alten Züge nach und nach. Eine Zuggarnitur, die aus drei nur in der Werkstatt trennbaren Wagen besteht, ist 54 Meter lang und 3,16 Meter breit. Die Leermasse beträgt 98 Tonnen, mit Fahrgästen vollbesetzt 147 Tonnen. Die Fahrzeuge sind mit Querbestuhlung 2+3 ausgerüstet. Wie bisher gibt es drei Türen pro Wagenseite. Als zulässige Höchstgeschwindigkeit gilt die (noch) zulässige Streckenhöchstgeschwindigkeit von 70 km/h. Im Fahrgastbetrieb können zwei Einheiten miteinander gekuppelt werden. Seit Mitte 2010 sind genügend Wagen vorhanden, um alle Linien (außer der Holmenkollenbahn) mit Sechswagenzügen bedienen zu können. Nach 20 Uhr sowie sonntags werden auf den meisten Linien nur Dreiwagenzüge eingesetzt. Bis 2014 wurden 115 Dreiwagenzüge ausgeliefert. Ehemalige Fahrzeuge OS T1–T4 Zwischen 1964 und 1966 wurden die ersten 90 Triebwagen der Baureihe T1000 als Serie T1-1 und T1-2 von den Firmen Strømmens Værksted (Mechanik) und AEG (Elektronik) für die neuen Strecken nach Bergkrystallen (Lambertseterbahn) und Grorud (Grorudbahn) geliefert. Dies war die erste Lieferung (T1). Die Fahrzeuge 1001 bis 1030 hatten an jedem Ende einen Führerstand, die weiteren 60 Triebwagen besitzen nur einen Führerstand. In den Jahren 1967 (T2), 1969–1972 (T3) sowie 1975–1977 (T4) folgten weitere Lieferungen dieser Baureihe. Eine Besonderheit dieser Wagen ist, dass die Führerstände eine Breite von nur etwa zwei Fünfteln der Wagenbreite einnehmen, so dass die Fahrgäste nach vorn hinausschauen können. Mit Inbetriebnahme der MX3000 wurden die Wagen ausgemustert und verschrottet. Sechs Wagen blieben für zukünftige Oldtimerfahrten erhalten. Ein Wagen ist im Straßenbahnmuseum unweit des Bahnhofs Majorstuen ausgestellt worden. OS T5–T8 Um wesentlich ältere Züge im Westnetz zu ersetzen, teils waren dort noch Wagen von 1912 zu finden, wurden 1978 Fahrzeuge der neuen Serie T5 wiederum von den Firmen Strømmens Værksted (Mechanik) sowie AEG/EGA und NEBB (Elektrik) mit Dachstromabnehmer geliefert. Durch eine Umgestaltung des Fahrgastraumes konnten sieben Sitzplätze hinzugewonnen werden. Weitere Lieferungen erfolgten 1980 und 1981 (T6). Um das Westnetz befahren zu können, wurden 1985 bis 1987 und 1989 zusätzlich Fahrzeuge der Serie T4 mit Dachstromabnehmern ausgerüstet und als Serien T7 und T8 auf den dortigen Oberleitungsstrecken eingesetzt. Anfang der 1990er Jahre, kurz bevor und während der Verbindung des Ost- und Westnetzes, wurden alle Wagen mit Stromschienenstromabnehmern versehen. Mit der Lieferung der neuen MX3000-Zügen wurden ab 2009 die ersten T1300 ausgemustert. Die letzte planmäßige Fahrt eines Zuges dieser Baureihe erfolgte am 15. März 2010 von Besserud nach Majorstuen (1301/1302). Nach der Schließung der Holmenkollenbahn für den Umbau auf Stromschienenbetrieb im März 2010 wurden die letzten T1300 ausgemustert. Drei Einheiten bleiben erhalten. Baureihe T2000 Für die Modernisierung des westlichen Wagenparks wurde eine neue Baureihe entwickelt. Die Bestellung erfolgte 1993. Ein Jahr später wurden zwölf Wagen geliefert. Die Produktion der Firmen EB Strømmens Værksted und AEG wurde jedoch gestoppt, da immer wieder technische Probleme auftraten. Während ihrer 16-jährigen Dienstzeit fuhren sie im regulären Fahrgastbetrieb nur als Zweiwagenzüge, meist zwischen Frognerseteren und Helsfyr beziehungsweise Frognerseteren und Bergkrystallen. Eine der wenigen und die letzte Fahrt der T2000 in Doppeltraktion war die Eröffnungsfahrt zur Inbetriebnahme des ersten Abschnittes der Ringbahn von Ullevål Stadion über Nydalen nach Storo. Die T2000 wurden von vornherein für Fahrleitungs- und Stromschienenbetrieb ausgelegt und mit Dach- und Seitenstromabnehmern ausgerüstet. Sie sind für wesentlich höhere Geschwindigkeiten als die älteren Fahrzeuge konstruiert und wurden erfolgreich bis 120 km/h erprobt. Ein Wagen ist 18 m lang, 3,65 m hoch und 3,3 m breit. Die T2000 sind mit einer Leermasse von 31 Tonnen deutlich schwerer als ihre Vorgänger. Die Innenraum-Bestuhlung ähnelte einer Flugzeugbestuhlung, je ein Sitz am Fenster und drei Sitze in der Mitte. Im April 2009 wurde die komplette Baureihe abgestellt. Wegen ihrer technischen Probleme waren die T2000 bei großen Teilen des Personals unbeliebt. Ende 2011 wurden zehn Wagen, also fünf Züge, verschrottet. Ein zweiteiliger Zug wurde für die Nachwelt erhalten und ist in einem Lager außerhalb von Oslo abgestellt, bis ein besserer Ort gefunden wird. Literatur Robert Schwandl: U-Bahnen in Skandinavien – Stockholm, Oslo, Helsinki, København. Robert-Schwandl-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-936573-04-2 W. J. Hinkel, K. Treiber, G. Valenta und H. Liebsch: Gestern-heute-morgen – U-Bahnen von 1863 bis 2010. Schmid-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-900607-44-3 (Kapitel „Oslo“) Weblinks Offizielle Seite von Ruter AS (norwegisch, englisch) Oslo T-bane bei urbanrail.net (englisch) Video zum Transport des Wagens 1089 zum Straßenbahnmuseum in Majorstuen Einzelnachweise Tbane Tbane Schienenverkehr (Oslo)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzfigurige%20Vasenmalerei
Schwarzfigurige Vasenmalerei
Die Schwarzfigurige Vasenmalerei (auch Schwarzfiguriger Stil oder Schwarzfigurige Keramik) zählt zu den Haupttechniken und -stilen der antiken griechischen Vasenmalerei. Besonders verbreitet war sie zwischen dem siebenten und fünften Jahrhundert v. Chr., wobei letzte Ausläufer bis in das zweite Jahrhundert v. Chr. datieren. Sie unterscheidet sich stilistisch von der ihr vorausgehenden orientalisierenden Periode und dem nachfolgenden rotfigurigen Stil. Die Figuren und Ornamente wurden gestalterisch und farblich in an Silhouetten erinnernder Form auf die Vasenkörper gemalt. Die feinen Umrisse wurden vor dem Brand in diese Malereien eingeritzt. Einzelheiten konnten mit Deckfarben, meist Weiß und Rot, unterstützt und hervorgehoben werden. Hauptzentren des Stils waren zunächst das Handelszentrum Korinth und später Athen. Weitere bedeutende Produktionsstätten sind aus Lakonien, Böotien, Ostgriechenland und Italien bekannt. Vor allem in Italien bildeten sich Spezialstile heraus, die zumindest teilweise für den etruskischen Markt bestimmt waren. Die Etrusker fanden großen Gefallen an den griechischen schwarzfigurigen Vasen, wie an den zahlreichen Importen zu sehen ist. Griechische Künstler schufen Spezialanfertigungen für den etruskischen Markt, die sich in Form und Dekor von den üblichen Produkten unterscheiden. Auch entwickelten die Etrusker eine eigene schwarzfigurig arbeitende Keramikindustrie, die sich an den griechischen Werken orientierte. Die Schwarzfigurige Vasenmalerei war der erste Kunststil, der im größeren Umfang Künstlerpersönlichkeiten hervorbrachte. Manche sind unter ihrem echten Namen bekannt, andere werden in der Forschung unter Behelfsnamen (Notnamen) geführt. Vor allem Attika beheimatete zahlreiche namhafte Künstler. Einige Töpfer führten diverse Neuerungen ein, die nicht selten die Arbeiten der Maler beeinflussten oder von diesen selbst beeinflusst worden waren. Wie die rotfigurigen Vasen sind auch diejenigen des schwarzfigurigen Stils eine der bedeutendsten Quellen für die Mythologie und Ikonografie sowie teilweise für die Erforschung des Alltagslebens der griechischen Antike. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert werden die Vasen intensiv erforscht. Herstellungstechnik Grundlage der Vasenmalerei ist der Bildträger, also die Vase, auf die das Bild aufgebracht wurde. Beliebte Formen wechselten wie Modeerscheinungen. Während manche phasenweise wiederkehrten, wurden andere im Laufe der Zeit durch neue ersetzt. Allen gemeinsam war die Art der Herstellung. Nachdem die Vase getöpfert worden war, wurde sie zunächst getrocknet. Werkstattleiter waren die Töpfer, die als Besitzer der Geschäfte eine gehobene Stellung in der Gesellschaft innehatten. Unklar ist, inwieweit Töpfer und Maler identisch waren. Wahrscheinlich erbrachten im Produktionszeitraum vielfach die Töpfermeister selbst die Hauptleistung als Maler, wobei weitere Vasenmaler beschäftigt wurden. Die Verbindung zwischen Töpfer und Maler zu rekonstruieren, ist jedoch schwierig. In vielen Fällen, etwa bei Tleson und dem Tleson-Maler, Amasis und dem Amasis-Maler oder auch Nikosthenes und dem Maler N, sind eindeutige Zuschreibungen nicht möglich, obwohl oft ein nennenswerter Teil der Forschung die Identität von Maler und Töpfer annimmt. Sicher kann man solche Zuschreibungen jedoch nur dann treffen, wenn sowohl Töpfer als auch Vasenmaler ein Gefäß signiert haben. Die Maler, die entweder Sklaven oder als Töpfermaler bezahlte Handwerker sein konnten, arbeiteten an den noch ungebrannten, lederharten Vasen. Bei der schwarzfigurigen Technik trugen die Maler die Motive mit Tonschlicker (Glanzton, in älterer Literatur auch als Firnis bezeichnet), der durch den Brand schwarz wurde, auf den Bildträger auf. Es handelte sich hierbei nicht um eine „Farbe“ im herkömmlichen Sinn, da der Malschlicker aus dem gleichen Material wie der Ton des Gefäßes bestand und sich lediglich in der Partikelgröße unterschied. Zunächst wurden alle Motive flächig mit einem pinselähnlichen Instrument aufgetragen. Die Binnengliederung und die Darstellung der Feinheiten wurden durch Ritzung aus dem Schlicker herausgearbeitet, so dass der Tongrund durch die Ritzungen zu sehen war. Für weitere Detailzeichnungen verwendeten die Künstler oftmals zwei weitere Erdfarben – Rot und Weiß für Ornamente, Gewänder oder Gewandteile, Haare, Tiermähnen, Details von Waffen und anderes Gerät. Auch für die Darstellung von Frauenhaut setzten sie häufig Weiß ein. Der Erfolg der Arbeit konnte erst nach einem komplizierten Dreiphasenbrand beurteilt werden. Erst hierdurch entstanden die Rotfärbung des Gefäßtons und das Schwarz des aufgetragenen Tonschlickers. Auch wenn die Ritzungen eines der Hauptmerkmale des Stils sind, verzichteten einige Werke hierauf. Deren Form erinnert technisch an den orientalisierenden Stil, doch entspricht das Bilderrepertoire nicht mehr den orientalisierenden Gewohnheiten. Entwicklung Die Entwicklung der schwarzfigurigen Vasenmalerei kann nur anhand der einzelnen regionalen Stile und Schulen beschrieben werden. Von Korinth ausgehend, unterschied sich grundsätzlich die Produktion der einzelnen Regionen trotz gegenseitiger Beeinflussung. Vor allem, wenngleich nicht ausschließlich, in Attika haben die besten und einflussreichsten Künstler ihrer Zeit die Vasenmalerei der griechischen Welt geprägt. Die Fortentwicklung der Gefäße als Bildträger und deren Qualität sind die Hauptaspekte dieses Abschnitts. Korinth Die schwarzfigurige Technik wurde um 700 v. Chr. in Korinth entwickelt und im frühen siebten Jahrhundert v. Chr. von protokorinthischen Vasenmalern erstmals verwendet. Diese gehörten noch der Phase des orientalisierenden Stils an. Die neue Technik orientierte sich an gravierten Metallarbeiten, waren doch figürlich bemalte Vasen wohl nur der Ersatz für das höherwertige Metallgeschirr. Noch vor Ende des Jahrhunderts entwickelte sich ein reiner schwarzfiguriger Stil. Der Großteil der orientalisierenden Elemente wurde aufgegeben, mit der Ausnahme von Klecksrosetten (hier wurden die Rosetten aus kleinen Einzelpunkten gebildet), auf Ornamente verzichtet. Der in Korinth benutzte Ton ist weich und hat einen gelblichen, manchmal auch grünlichen Farbton. Fehlbrände waren an der Tagesordnung, wenn das komplizierte Brennverfahren nicht wie gewünscht funktionierte. Die Folge war oft eine ungewollte Verfärbung der ganzen Vase oder Teilen davon. Nach dem Brennen erschien der Glanzton auf den Vasen mattschwarz. Die Zusatzfarben Weiß und Rot wurden erstmals in Korinth eingesetzt und dann reichlich verwendet. Die bemalten Gefäße sind im Allgemeinen kleinformatig, selten höher als 30 cm. Am häufigsten wurden Salbölgefäße (Alabastren, Aryballoi), Pyxiden, Kratere, Oinochoen und Schalen bemalt. Auch plastisch geformte Gefäße wurden häufig verwendet. Anders als bei den attischen Vasen sind Inschriften selten, Malersignaturen noch seltener. Ein Großteil der in Korinth gefertigten, heute erhaltenen Gefäße wurde in Etrurien, Unteritalien und Sizilien gefunden; im siebten und der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. beherrschte die korinthische Vasenmalerei den mediterranen Markt für Keramik. Eine stilistische Abfolge der korinthischen Vasenmalerei ist nicht leicht zu fassen. Besonders problematisch ist, dass sich anders als etwa in der attischen Malerei die Proportionen der Bildträger nur wenig weiterentwickelten. Auch die Datierung der korinthischen Vasen fällt häufig schwer, vielfach ist man auf sekundäre Daten wie die Gründung von griechischen Kolonien in Italien angewiesen. Auf der Grundlage solcher Angaben kann anhand stilistischer Vergleiche eine ungefähre Chronologie erstellt werden, die jedoch nur selten die annähernd gleiche Exaktheit wie die Datierung der attischen Vasen erreicht. Dargestellt werden häufig mythologische Szenen, darunter besonders Herakles und Figuren des trojanischen Sagenkreises. Jedoch ist die Bildsprache korinthischer Vasen thematisch nicht so vielseitig wie die späteren Werke attischer Maler. Götter wurden vergleichsweise selten gezeichnet, Dionysos fehlt völlig. Der thebanische Sagenkreis war hingegen in Korinth beliebter als später in Athen. Zu Darstellungen aus dem Alltagsleben zählen vor allem Kampfdarstellungen, Reiter und die erstmals in frühkorinthischer Zeit vorkommenden Gelageszenen. Sportbilder sind sehr selten. Singulär sind die bis heute in ihrer Deutung umstrittenen Dickbauchtänzer. Dabei handelt es sich um zechende Gestalten, deren Bauch- und Gesäßpartien mit Kissen ausgestopft sind. Sie stehen möglicherweise im Zusammenhang mit Vorformen der griechischen Komödie. Übergangsstil Der Übergangsstil (640–625 v. Chr.) führte vom orientalisierenden (protokorinthischen) zum schwarzfigurigen Stil. Der alte Tierfriesstil der protokorinthischen Zeit hatte sich erschöpft, ebenso das Interesse der Vasenmaler an Mythenbildern. In dieser Zeit herrschen Tiere und Mischwesen vor. Leitform der Zeit waren kugelige Aryballoi, die in großer Stückzahl produziert und mit Tierfriesen oder Szenen aus dem alltäglichen Leben verziert wurden. Die Qualität der Bilder ist im Vergleich zur orientalisierenden Periode nachlassend. Profilierteste Künstler der Zeit waren der Shambling Bull-Maler, dessen bekanntestes Werk ein Aryballos mit einer Jagdszene ist, der Maler von Palermo 489 und dessen Schüler, der Kolumbus-Maler. Die Handschrift des letzteren ist besonders gut an seinen Bildern mit kräftigen Löwen zu erkennen. Neben dem Aryballos sind die Kotyle und das Alabastron die wichtigsten Vasenformen. Kotylen wurden am Rand mit Ornamenten versehen, die restliche Verzierung bestand aus Tieren und Strahlen. Die beiden senkrechten Vasenflächen sind häufig mit Mythenbildern versehen. Die Alabastren waren im Allgemeinen mit einzelnen Figuren bemalt. Frühkorinthisch und Mittelkorinthisch Bedeutendster frühkorinthischer (625–600 v. Chr.) Maler war der Duell-Maler. Er stellte Kampfszenen auf Aryballoi dar. Seit der mittelkorinthischen Periode (600–575 v. Chr.) wurden Deckfarben immer häufiger benutzt, um Details besonders hervorzuheben. Figuren wurden zusätzlich mit einer Reihe weißer Punkte bemalt. Die Aryballoi wurden nun größer und erhielten eine flache Basis. Nennenswert ist der Pholoe-Maler, dessen bekanntestes Werk ein Skyphos mit einem Heraklesbild ist. Obgleich andere Maler diese Tradition schon aufgegeben hatten, malte der Dodwell-Maler weiterhin Tierfriese. Seine Schaffenszeit reichte noch bis in die spätkorinthische Zeit, und sein Einfluss auf die spätere korinthische Vasenmalerei ist nicht zu unterschätzen. Ebenfalls von größerer Bedeutung war der Hauptmeister der Gorgoneion-Gruppe und der um 580 v. Chr. tätige Kavalkade-Maler, der wegen seiner Vorliebe für Reiter auf Schaleninnenbildern benannt wurde. Als zwei seiner Meisterwerke gelten eine Schale, die den Selbstmord des Ajax zeigt, und ein Kolonettenkrater, auf dem ein Hochzeitspaar in einem Wagen zu sehen ist. Auf der Schale sind alle Figuren durch Beischriften gekennzeichnet. Der erste namentlich bekannte Künstler ist der polychrom arbeitende Vasenmaler Timonidas, der eine Flasche und ein Pinax signierte. Ein zweiter Künstlername, der des Milonidas, erscheint ebenfalls auf einem Pinax. Die korinthische Olpe wurde durch Oinochoen in attischer Form mit Kleeblattmündung ersetzt. In der mittelkorinthischen Zeit nahm die Darstellung von Menschen wieder zu. Als besonders gelungen gilt der Eurytios-Krater aus der Zeit um 600 v. Chr., der im Hauptfries ein Symposion mit Herakles, Eurytios und anderen mythischen Personen zeigt. Spätkorinthisch In der spätkorinthischen Zeit (auch Spätkorinthisch I; 575–550 v. Chr.) wurden die korinthischen Vasen mit einem rötlichen Überzug versehen. Das sollte den Kontrast zwischen der großflächig verwendeten weißen Farbe und dem eher blassen Tongrund erhöhen. Die korinthischen Handwerker traten damit in Konkurrenz zu den attischen Töpfermalern, die mittlerweile die Vormachtstellung beim Keramikhandel übernommen hatten. Auch attische Vasenformen wurden nun verstärkt kopiert. Oinochoen, die bis dahin ihre Form wenig geändert hatten, orientierten sich nun an attischen Formen; auch Lekythen wurden vermehrt produziert. Der Kolonettenkrater, eine korinthische Erfindung, die deshalb im restlichen Griechenland Korinthios hieß, wurde variiert. Durch die Abkürzung der Volute über den Henkeln entstand der Chalkidische Krater. Er wurde im Hauptfeld mit verschiedenen Darstellungen aus dem Alltagsleben wie auch aus der Mythologie verziert, der Nebenfries bestand aus einem Tierfries. Die Rückseite zeigte oft zwei groß gemalte Tiere. Schalen wurden schon in mittelkorinthischer Zeit tiefer und setzten diese Entwicklung fort. Sie waren nun ebenso beliebt wie Kotylen. Manche von ihnen sind außen mit mythologischen Szenen und innen mit Gorgonenfratzen bemalt. Diese Form der Bemalung wurde auch von attischen Malern rezipiert. Ihrerseits übernahmen korinthische Maler aus Athen gerahmte Bildfelder. Tierfriese verloren immer mehr an Bedeutung. In dieser Zeit war der dritte namentlich bekannte Maler Korinths, Chares, tätig. Daneben ist auch der Tydeus-Maler zu nennen, der um 560 v. Chr. gerne rotgrundige Halsamphoren bemalte. Geritzte Rosetten wurden weiterhin auf Vasen verwendet, sie fehlen nur auf wenigen Krateren und Schalen. Herausragendes Kunstwerk der Zeit ist der Amphiaraos-Krater. Der um 560 v. Chr. entstandene Kolonettenkrater ist das Hauptwerk des Amphiaraos-Malers und zeigt mehrere Begebenheiten aus dem Leben des Heros Amphiaraos. Um 550 v. Chr. endete die Herstellung figurenverzierter Vasen weitestgehend. Der sich anschließende Stil Spätkorinthisch II zeichnet sich durch nur noch ornamental und meist in Silhouettentechnik bemalte Gefäße aus. Daran schloss sich der rotfigurige Stil an, der jedoch in Korinth keine besonders hohe Qualität erreichte. Attika Mit mehr als 20.000 erhaltenen Stücken sind die attischen schwarzfigurigen Vasen nach den attisch-rotfigurigen Vasen der größte und gleichzeitig der bedeutendste überlieferte Vasenkomplex. Die attischen Töpfer profitierten von dem guten, sehr eisenhaltigen Ton, den man in Attika findet. Hochwertige attisch-schwarzfigurige Vasen weisen einen gleichmäßigen, glänzenden und tiefschwarzen Überzug auf, der farbintensive terrakottafarbene Tongrund ist fein geglättet. Die Haut von Frauen wurde grundsätzlich durch weiße Deckfarbe gekennzeichnet. Daneben kommt diese Farbe auch bei anderen Details, etwa einzelnen Pferden, Gewändern oder Ornamenten häufig vor. Die herausragendsten Künstler Attikas erhoben die Vasenmalerei zu einer grafischen Kunst, jedoch wurde auch in großem Umfang Ware mittlerer Qualität und Serienware produziert. Da der silhouettenhafte Stil nur von begrenzter Ausdrucksmöglichkeit war, entwickelte sich eine formelhafte Bildsprache. Die herausragende Bedeutung der attischen Vasen liegt in ihrem endlos erscheinenden Repertoire an Bildern aus verschiedenen Themengebieten. Vor allem für den Mythos, aber auch die Alltagskultur stellen sie reiche Zeugnisse dar. Dagegen fehlen Bilder mit aktuellen Bezügen nahezu gänzlich. Solche Bezüge kommen nur manchmal durch Beischriften zum Tragen, wenn etwa Lieblingsinschriften aufgemalt wurden. Die Vasen waren zum einen für den heimischen Markt bestimmt und dort für Feierlichkeiten oder auch im Zusammenhang mit Kulthandlungen von Bedeutung. Zum anderen waren sie auch ein wichtiges Exportgut, das in den gesamten Mittelmeerraum verkauft wurde. Darum stammt auch der größere Teil der Vasen aus etruskischen Nekropolen. Pioniere Die erste Verwendung der schwarzfigurigen Technik fällt noch in die Zeit der Protoattischen Vasenmalerei in der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. Unter dem Einfluss der zu dieser Zeit qualitätsvollsten Keramik aus Korinth wechselten die attischen Vasenmaler in der Zeit ab etwa 635 v. Chr. bis zum Ende des Jahrhunderts zur neuen Technik über. Zunächst orientierten sie sich stark an den Methoden und Motiven der korinthischen Vorbilder. Am Beginn steht der Maler von Berlin A 34, der als erster individueller Künstler bekannt ist. Der erste Künstler mit einem individuell fassbaren Stil war der Nessos-Maler. Er schuf mit der Nessos-Amphora das erste herausragende Stück des attisch-schwarzfigurigen Stils. Er war gleichzeitig ein früher Meister des Tierfriesstiles in Attika. Eine seiner Vasen war zudem die erste bekannte attische Vase, die nach Etrurien exportiert wurde. Zudem stammen von ihm die ersten Darstellungen der Harpyen und der Sirenen in der attischen Kunst. Anders als die korinthischen Vasenmaler nutzte der Nessos-Maler doppelte und sogar dreifache Ritzlinien, um die Teile der tierischen Anatomie besser zeigen zu können. Die doppelt geritzte Schulterlinie sollte zu einem kennzeichnenden Charakteristikum der attischen Vasen werden. Früh wurden auch die Möglichkeiten großer Vasen, etwa der Bauchamphora, als Bildträger erkannt. Weitere bedeutende Maler der Pionierzeit waren der Piräus-Maler, der Bellerophon-Maler und der Löwen-Maler. Frühattische Vasen Um das Jahr 600 v. Chr. hatte sich der schwarzfigurige Stil in Athen durchgesetzt. Eine frühe Eigenentwicklung der Athener war die Pferdekopf-Amphore. Sie bekam ihren Namen wegen der Pferdeköpfe, die in einem Bildfenster gezeigt wurden. Die Entwicklung des Bildfensters wurde in der folgenden Zeit häufig verwendet und später selbst in Korinth rezipiert. Aus dem Umkreis der Pferdekopf-Amphoren stammten der Kerameikos-Maler und der Gorgo-Maler. Die Orientierung an Korinth wurde nicht nur beibehalten, sondern intensiviert. Der Tierfries wurde als allgemein verbindlich anerkannt und zumeist genutzt. Dies hatte nicht nur stilistische, sondern auch wirtschaftliche Gründe. Denn Athen konkurrierte nun mit Korinth um Absatzmärkte. Attische Vasen wurden ins Schwarzmeergebiet, Libyen, Syrien, Unteritalien und Spanien sowie innerhalb des griechischen Mutterlandes verkauft. Neben der Orientierung an Korinth zeigten die Athener Vasen jedoch auch eigene Entwicklungen. So entstand zu Beginn des 6. Jahrhunderts v. Chr. die Lekythos des „Deianeira-Typus“, eine langgestreckte, ovale Form. Wichtigster Maler der Frühzeit war der Gorgo-Maler (600–580 v. Chr.). Er war ein sehr produktiver Künstler, der selten mythologische Bilder oder menschliche Figuren zeigt und diese, sofern vorhanden, stets von Tieren oder Tierfriesen begleitet darstellt. Andere seiner Vasen beschränken sich wie viele korinthische Vasen auf die Tierdarstellungen. Nach dem Gorgo-Maler sind vor allem Künstler aus der Komasten-Gruppe (585–570 v. Chr.) zu nennen. Diese Gruppe verzierte mit Lekanen, Kotylen und Kothonen für Athen neuartige Gefäße. Die wichtigste Neuerung war jedoch die Einführung der Komastenschale, die neben den „Vorkomastenschalen“ der Oxford-Palmetten-Klasse am Beginn der Entwicklung der attischen Schale steht. Wichtigste Maler der Gruppe waren der ältere KX-Maler und der nicht ganz so talentierte KY-Maler, der den Kolonettenkrater in Athen einführte. Verziert werden diese für Gelage gedachten Gefäße häufig mit zum Thema passenden Komasten. Weitere nennenswerte Künstler der ersten Generation waren der Panther-Maler, der Anagyrus-Maler, der Maler der Dresdener Lekanis und der Polos-Maler. Der letzte bedeutende Vertreter der ersten Malergeneration war Sophilos (580–570 v. Chr.). Er ist der erste namentlich bekannte attische Vasenmaler. Insgesamt signierte er vier erhaltene Vasen, davon drei als Maler, eine als Töpfer. Schon bei Sophilos zeigt sich, dass die Töpfer des schwarzfigurigen Stils auch Vasenmaler waren. Eine grundsätzliche Trennung beider Bereiche scheint es erst im Verlauf der Entwicklung des rotfigurigen Stils gegeben zu haben, wenngleich Spezialisierungen nicht auszuschließen sind. Sophilos ist mit seinen Beischriften sehr großzügig. Er war offenbar auf größere Gefäße spezialisiert, sind von ihm doch besonders Dinoi und Amphoren bekannt. Sophilos zeigt weitaus öfter als seine Vorgänger mythologische Szenen wie die Leichenspiele für Patroklos. Bei ihm beginnt der Niedergang des Tierfrieses, auch andere Ornamente wie Pflanzenornamente verlieren an Qualität, da ihnen nun weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde. An anderer Stelle zeigte Sophilos jedoch, dass er ein ambitionierter Künstler war. Auf zwei Dinoi finden sich die Hochzeit von Peleus und Thetis. Die Vasen entstanden etwa zur selben Zeit wie die Françoisvase, die das gleiche Thema in Perfektion zeigt. Doch Sophilos verzichtete bei einem seiner beiden Dinoi auf alles Beiwerk in Form von Tierfriesen und vermischte auch nicht verschiedene Mythen in mehreren Darstellungsebenen der Vase. Es ist die erste große griechische Vase, auf der in mehreren untereinander angeordneten Abschnitten ein einzelner Mythos gezeigt wurde. Eine Besonderheit der Dinoi des Malers ist, dass er das Deckweiß für die Frauen nicht wie üblich auf den schwarzen Glanzton auftrug, sondern direkt auf den Tongrund. Die Binnenzeichnungen und Konturen sind in einem matten Rot ausgeführt. Diese Technik findet sich sehr selten, in der Vasenmalerei nur in der Werkstatt des Sophilos, daneben auf bemalten Holztafeln, die im 6. Jahrhundert v. Chr. im korinthischen Stil bemalt wurden. Sophilos bemalte auch einen der seltenen Kalyxe (eine spezielle Kelchvariante) und schuf die erste Serie von Grabtafeln. Er selbst oder einer seiner Nachfolger verzierte zudem den ersten erhaltenen Lebes Gamikos. Hocharchaische Zeit Etwa ab dem zweiten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr. wuchs das Interesse der attischen Künstler an mythologischen Bildern und anderen Figurendarstellungen. Die Tierfriese traten nun zunehmend in den Hintergrund. Nur wenige Maler widmeten sich ihnen mit größerer Sorgfalt, zumeist wurden sie aus dem Blickzentrum in unbedeutendere Zonen der Vasen verbannt. Für diesen neuen Stil steht in besonderem Maße die Françoisvase des Töpfers Ergotimos und des Malers Klitias (570–560 v. Chr.), die beide signiert haben. Der Krater gilt als das bekannteste Werk der griechischen Vasenmalerei. Die Vase ist der erste bekannte Volutenkrater aus Ton. Auf mehreren Friesen werden mythologische Begebenheiten geschildert, Tierfriese werden außerhalb des Hauptblickfeldes gezeigt. Auf der Vase erscheinen mehrere ikonografische und technische Details erstmals. Manche davon, etwa die Darstellung eines umgelegten Mastes eines Segelschiffes, bleiben einmalig, andere werden Standard, so sitzende Personen mit einem nach hinten versetzten Bein anstatt der bisher üblichen parallelen Haltung beider Beine. Von Ergotimos und Klitias sind weitere vier signierte, allerdings kleinere Vasen erhalten, zudem werden ihnen weitere Vasen und Fragmente zugeschrieben. Klitias zeigt darauf weitere Neuerungen wie die erstmalige Darstellung der Geburt der Athene oder den Tanz auf Kreta. Nearchos (565–555 v. Chr.) signierte als Töpfer und Maler. Er zeigte besonders gern große Figuren. Von ihm stammt die erste Darstellung des Anschirrens eines Wagens. Eine weitere seiner Neuerungen war das Auftragen des Zungenblattes unter der Vasenlippe auf einem weißen Untergrund. Weitere qualitätsvolle Künstler waren der Maler von Akropolis 606 und der Ptoon-Maler, dessen bekanntestes Werk die Hearst-Hydria ist. Ebenfalls von Bedeutung ist die Burgon-Gruppe, von der die erste vollständig erhaltene Panathenäische Preisamphora stammt. Aus der Komastenschale entwickelten sich ab etwa 575 v. Chr. die Sianaschalen. Während die Komasten-Gruppe neben den Schalen auch andere Formen produzierte, fand seit dem ersten bedeutenden Vertreter der Sianaschalen, dem C-Maler (575–555 v. Chr.) eine Spezialisierung einiger Handwerker auf die Schalenproduktion statt. Die Schalen haben einen höheren Rand als ihre Vorgänger und einen trompetenförmigen Fuß an einem relativ kurzen, hohlen Stiel. Die Innenseite der Schale wird nun erstmals in der attischen Vasenmalerei mit gerahmten Bildern (Tondo) verziert. Es gab zwei Arten der Verzierung: Bei der „Doppeldecker“-Verzierung wurden Schalenbecken und Lippe getrennt bemalt, bei der „Knickfries“-Variante wird das Bild über beide Ebenen des Vasenkörpers gemalt. Seit dem 2. Viertel des 6. Jahrhunderts v. Chr. lässt sich nicht zuletzt auf Schalen ein gesteigertes Interesse für Athletenbilder erkennen. Ein weiterer bedeutender Sianaschalenmaler war der Heidelberg-Maler. Auch er bemalte fast nur Sianaschalen. Sein beliebtestes Motiv war der Heros Herakles. Der Heidelberg-Maler zeigte ihn als erster attischer Maler mit dem Erymanthischen Eber, mit Nereus, Busiris und im Garten der Hesperiden. Am Ende der Entwicklung der Sianaschalen steht der Kassandra-Maler, der mittelgroße Schalen mit hohen Füßen und Rändern verzierte. Er ist vor allem als erster Maler von Kleinmeister-Schalen von Bedeutung. Zeitgleich mit den Sianaschalen wurden Knopfhenkelschalen produziert. Ihre Henkel in der Form zweizinkiger Gabeln endeten in einer Form, die an einen Knopf erinnern. Ihnen fehlte der abgesetzte Rand, zudem hatten sie ein tieferes Becken und einen höheren und schlankeren Fuß. Der letzte herausragende Maler der hocharchaischen Zeit war Lydos (560–540), der zwei seiner überlieferten Werke mit ho Lydos (der Lyder) signierte. Er oder seine direkten Vorfahren stammten wohl aus Kleinasien, doch genoss er seine Ausbildung zweifelsohne in Athen. Ihm werden heute mehr als 130 erhaltene Vasen zugeschrieben. Eines seiner Bilder auf einer Hydria zeigt die erste bekannte attische Darstellung des Kampfes zwischen Herakles und Geryon. Lydos stellte Herakles als Erster mit dem in der Folgezeit für die attische Kunst typischen Löwenfell dar. Weiterhin zeigte er die Gigantomachie auf einem Dinos, der auf der Athener Akropolis gefunden wurde, und Herakles mit Kyknos. Lydos verzierte unterschiedliche Bildträger, neben Hydrien und Dinoi auch Teller, Schalen (Knickfries-Sianaschalen), Grabtafeln, Kolonettenkratere und Psyktere. Es ist bis heute recht schwierig, die Werke des Lydos als solche zu erkennen, da sie sich häufig nur wenig von denen aus seinem Umfeld unterscheiden. Der Stil ist recht homogen, die Qualität schwankt bei ihnen jedoch sehr. Nicht immer sind die Zeichnungen sorgfältig ausgeführt. Wahrscheinlich war Lydos der Vorarbeiter in einer sehr produktiven Werkstatt des Athener Töpferviertels. Er war wohl der letzte attische Vasenmaler, der auf großen Vasen Tierfriese zeigte. Stand er hierbei noch in der Tradition Korinths, sind seine Figurenzeichnungen ein Glied in der Kette von Vasenmalern, die von Klitias über Lydos und den Amasis-Maler bis zu Exekias führen. Bei diesen trug er die attische Entwicklung mit und prägte sie nachhaltig. Eine Sonderform der attischen Vasen dieser Zeit waren die Tyrrhenischen Amphoren (550–530 v. Chr.). Dabei handelt es sich um eiförmige Halsamphoren, deren Dekoration nicht dem üblichen attischen Dekorationsschema der Zeit entspricht. Fast alle dieser etwa 200 bekannten Vasen wurden in Etrurien gefunden. Der Körper der Amphoren ist gewöhnlich in mehrere Friese unterteilt. Der oberste, der Schulterfries, zeigt im Allgemeinen eine gängige Darstellung aus dem Bereich der Mythologie. Manchmal kommt es auch zu seltenen Darstellungen, etwa der singulären Darstellung der Opferung der Polyxena. Zudem finden sich an der Stelle die ersten bekannten erotischen Bilder auf attischen Vasen. Häufig haben die Maler Tyrrhenische Amphoren mit Beischriften versehen, welche die gezeigten Personen benennen. Die restlichen zwei oder drei Friese wurden mit Tieren verziert, manchmal wurde auch einer durch ein Pflanzenband ersetzt. Der Hals ist meist mit einem Lotus-Palmettenkreuz oder -geschlinge bemalt. Die Amphoren sind recht farbig und erinnern an korinthische Produkte. Hier wurde offenbar vorsätzlich eine korinthische Form übernommen, um diese Vasen für den etruskischen Markt zu produzieren, wo dieser Stil gefragt war. Möglicherweise wurde diese Form nicht in Athen, sondern anderenorts in Attika, unter Umständen sogar außerhalb Attikas gefertigt. Bedeutende Maler waren der Castellani-Maler und der Goltyr-Maler. Die Meisterjahre Die Zeit zwischen den Jahren 560 und dem Beginn der rotfigurigen Vasenmalerei um 530/520 v. Chr. gilt als der Höhepunkt der schwarzfigurigen Vasenmalerei schlechthin. Die besten und bedeutendsten Künstler nutzten in dieser Periode alle Möglichkeiten, die der Stil bot. Erster bedeutender Maler der Zeit war der Amasis-Maler (560–525 v. Chr.), benannt nach dem bedeutenden Töpfer Amasis, mit dem er vorrangig zusammenarbeitete. Viele Forscher sehen in beiden Handwerkern eine einzige Person. Er begann etwa zur selben Zeit wie Lydos mit seiner Malerkarriere, war aber fast doppelt so lange aktiv. Wo Lydos eher handwerkliche Fähigkeiten zeigte, war der Amasis-Maler ein vollendeter Künstler. Seine Bilder zeichnen sich durch Witz, Charme und Raffinesse aus. Die Entwicklung des Vasenmalers spiegelt fast die Entwicklung der schwarzfigurigen attischen Vasenmalerei seiner Zeit wider. In seinen frühen Arbeiten steht er noch den Malern von Sianaschalen nahe. Besonders gut sichtbar ist die Entwicklung an der Zeichnung der Gewandfalten zu erkennen. Seine frühen weiblichen Figuren tragen Gewänder ohne Falten. Später sind sie flach und eckig, am Ende wirken sie wie geschmeidige Gewandformationen. Gewandzeichnungen waren eines seiner Hauptmerkmale, er zeigte gerne gemusterte und gefranste Gewänder. Die Figurengruppen, die der Amasis-Maler zeigte, waren sorgfältig gezeichnet und symmetrisch komponiert. Zunächst wirkten sie noch sehr ruhig, später konnte man die Bewegung der Figuren erkennen. Zwar zeichnete der Amasis-Maler vielfach Begebenheiten aus dem Mythos – so ist er etwa bekannt für seine schweinsgesichtigen Satyrn –, besondere Bedeutung hat er jedoch wegen seiner Szenen aus dem Alltag, die er als erster Maler in größerem Umfang zeigte. Er beeinflusste mit seinen Arbeiten maßgeblich die späteren Arbeiten der rotfigurigen Maler. Möglicherweise nahm er eine ihrer Änderungen vorweg oder wurde am Ende seiner Malerkarriere davon beeinflusst: Auf manchen seiner Vasen wurden Frauen nur noch in Umrisszeichnung, also nicht schwarz gefüllt dargestellt und nicht mehr durch den Auftrag weißer Deckfarbe als solche gekennzeichnet. Die Gruppe E (550–525 v. Chr.) war eine große, in sich geschlossene Gruppe von Kunsthandwerkern. Diese Gruppe gilt als bedeutendste anonyme Gruppe der attisch-schwarzfigurigen Vasenmalerei. Sie brach rigoros mit der stilistischen Tradition des Lydos, sowohl was die Darstellung als auch was die Bildträger angeht. Eiförmige Halsamphoren wurden komplett, Kolonettenkratere fast ganz aufgegeben. Dafür führte die Gruppe den Typus A der Bauchamphora ein, der nun zu einer Leitform aufsteigt. Halsamphoren wurden meist nur in spezielleren Formen produziert. An kleinen Formen hatte die Gruppe kein Interesse. Viele vor allem dem Mythos entstammende Bilder wurden immer wieder reproduziert. So zeigen mehrere Amphoren der Gruppe sowohl Herakles mit Geryon oder dem Nemëischen Löwen als auch vermehrt die Darstellung von Theseus und dem Minotauros sowie der Geburt der Athene. Das besondere Verdienst der Gruppe liegt allerdings in dem Einfluss, den sie auf Exekias ausübten. Der Großteil der attischen Künstler der Zeit schloss sich dem Stil der Gruppe E und Exekias an. Lydos oder der Amasis-Maler wurden dagegen nicht mehr so häufig reproduziert. Beazley formulierte die Bedeutung der Gruppe für Exekias so: „Die Gruppe E ist der Nährboden, aus dem die Kunst des Exekias entspringt, die Tradition, die er auf seinem Weg vom hervorragenden Handwerker zum wahren Künstler in sich aufnimmt und übertrifft.“ Exekias (545–520 v. Chr.) gilt gemeinhin als der Vollender des schwarzfigurigen Stils, der nun seinen Höhepunkt erreichte. Seine Bedeutung liegt nicht nur in der Meisterschaft als Vasenmaler, sondern auch in seinen qualitätsvollen und innovativen Töpferarbeiten. Zwölf seiner erhaltenen Gefäße signierte er als Töpfer, zwei als Maler und Töpfer. Exekias hatte wohl einen größeren Anteil an der Entwicklung der Kleinmeister-Schalen, der schon erwähnten Bauchamphora des Typus A, und erfand möglicherweise auch den Kelchkrater, zumindest ist das älteste erhaltene Stück aus seiner Werkstatt. Als Maler legte er anders als viele andere Vertreter auch großen Wert auf die sorgfältige Ausarbeitung der Ornamente. Auch die Details seiner Bilder – Pferdemähnen, Waffen, Gewänder – sind überdurchschnittlich gut ausgeführt. Seine Bilder sind meist monumental, und die Figuren zeigen eine bis dahin in der Malerei nicht gekannte Würde. Vielfach brach er mit geltenden attischen Konventionen. Er nutzt auf seiner wohl bekanntesten Schale, der Dionysos-Schale, als Erster statt des gewöhnlichen roten einen korallenroten Überzug für die Innenseite. Diese Neuerung bringt Exekias zugleich durch die Verwendung zweier Augenpaare an der Außenseite in Verbindung mit der klassischen Augenschale. Wohl noch innovativer war die komplette Nutzung der Innenseite für sein Bild des Dionysos, der auf einem Schiff liegt, aus dem Weinranken wachsen. Üblich war zu dieser Zeit eigentlich die einfache Verzierung mit einem Gorgonengesicht. Die Schale gehört wohl zu den Experimenten, die im Töpferviertel bis zur Einführung des rotfigurigen Stils gemacht wurden, um neue Wege zu beschreiten. Als Erster lässt er auf dem Rande einer Dinos Schiffe entlangsegeln. Nur selten hielt er sich an die traditionellen Muster bisheriger Mythendarstellungen. Von besonderer Bedeutung ist auch ein Bild vom Selbstmord des Ajax. Exekias zeigte nicht, wie bisher üblich, den Akt selbst, sondern die Vorbereitung dazu. In etwa genauso bekannt wie die Dionysos-Schale ist eine Amphora mit der Darstellung von Ajax und Achilles beim Brettspiel. Nicht nur die Zeichnung ist detailliert, Exekias lässt selbst das Ergebnis des Spieles nicht offen, fast wie in einer Sprechblase lässt er die beiden Spieler ihre gewürfelten Zahlen – Ajax eine Drei und Achilleus eine Vier – ansagen. Es ist das älteste Bild dieser Szene, die nie literarisch erwähnt wird. Nicht weniger als 180 weitere erhaltene Vasen von der Version des Exekias bis etwa 480 v. Chr. zeigen diese Szene. John Boardman betonte die außergewöhnliche Stellung des Exekias, die ihn aus der Tradition der bisherigen Vasenmalerei heraustreten lässt: „Die Menschen der früheren Künstler sind im besten Fall elegante Puppen. Amasis (der Amasis-Maler) war imstande, Menschen als Menschen zu sehen. Exekias aber konnte sie als Götter sehen und damit gibt er uns einen Vorgeschmack von der klassischen Kunst.“ Selbst unter dem Vorbehalt, dass Vasenmaler im antiken Griechenland nicht als Künstler, sondern als Handwerker galten, zählt Exekias für die heutige kunsthistorische Forschung als vollendeter Künstler, der sich mit der gleichzeitigen „großen“ Malerei (Wandmalerei und Tafelmalerei) messen kann. Offenbar erkannten das auch seine Zeitgenossen. In der Antikensammlung Berlin/Altes Museum befinden sich noch heute Reste einer Reihe von Grabtafeln. Die Serie umfasste wahrscheinlich 16 einzelne Platten. Die Vergabe eines solchen Auftrages an einen Töpfer und Vasenmaler ist wohl einmalig in der Antike und zeugt vom hohen Ansehen des Künstlers. Die Tafeln zeigen die Trauer um eine verstorbene Athenerin sowie die Aufbahrung und Überführung zum Grab. Exekias zeigt die Trauer ebenso wie die Würde der Dargestellten. Eine Besonderheit ist beispielsweise, dass der Anführer des Trauerzugs sein Gesicht zum Betrachter gewendet hat und ihn gewissermaßen direkt ansieht. Einmalig ist die Darstellung der Pferde, die einen individuellen Charakter besitzen und nicht auf ihre Funktion als edle Tiere reduziert sind, wie es sonst auf Vasen üblich ist. Die Spezialisierung in Gefäß- und Schalenproduzenten wurde während der Hochklassik weiter vorangetrieben. Aus den eher großen, viel Flüssigkeit fassenden Komasten- und Sianaschalen entwickelten sich über die Gordionschalen feinere Varianten der Schale, die wegen ihrer zierlichen Bemalung Kleinmeister-Schalen genannt werden. Dementsprechend bezeichnet man die Vasenmaler und Töpfer dieser Formen als Kleinmeister. Hauptformen der Kleinmeister sind die Bandschale und die Randschale. Die Randschale erhielt ihren Namen aufgrund des recht hart abgesetzten Randes. Die Außenseite der Schale bleibt weitestgehend tongrundig und ist meist mit nur sehr wenigen kleinen Bildern geschmückt, manchmal auch nur mit Inschriften, oder die Schalen wurden gar nicht aufwändig verziert. Auch in der Henkelzone sind sie selten mit mehr als Palmetten neben den Henkelansätzen und mit Inschriften geschmückt. Diese Inschriften könnten die Töpfersignatur sein, ein Trinkspruch oder auch nur eine sinnfreie Buchstabenzusammenstellung. Die Innenseiten der Randschalen sind häufig auch mit Bildern verziert. Bandschalen haben einen weicheren Übergang vom Becken zum Rand. Der Bildschmuck ist in Form eines umlaufenden Bandes auf der Außenseite der Schale aufgebracht. Dabei handelt es sich nicht selten um sehr aufwändige Friese. Der Rand ist bei dieser Form schwarz gefirnisst. Die Innenseite ist tongrundig belassen, und nur im Zentrum ist ein schwarzer Punkt aufgemalt. Sonderformen sind die Droop-Schalen und die Kassel-Schalen. Droop-Schalen haben schwarze, konkave Ränder und einen hohen Fuß. Der Rand ist wie bei den Bandschalen schwarz belassen, doch wird auch die äußere Unterseite mit in die Bemalung einbezogen. Aufgemalt wurden Ornamente wie Blätter, Knospen, Palmetten, Punkte, Strahlenkränze oder auch Tiere. Kassel-Schalen sind eine kleine Form, sie wirken untersetzter als andere Kleinmeisterschalen. Bei dieser Form wird die gesamte Außenseite verziert. Wie auch bei den Droop-Schalen handelt es sich dabei weitestgehend um eine ornamentale Bemalung. Bekannte Kleinmeister sind die Töpfer Phrynos, Sokles, Tleson und Ergoteles, beides Söhne des Töpfers Nearchos. Hermogenes erfand mit dem Hermogenischen Skyphos eine Kleinmeistervariante des Skyphos sowie die Vasenmaler Phrynos-Maler, Taleides-Maler, Xenokles-Maler und die Gruppe von Rhodos 12264. Das letzte Viertel des 6. Jahrhunderts v. Chr. Bis zum Ende des Jahrhunderts konnte die Qualität der schwarzfigurigen Vasenproduktion weitestgehend aufrechterhalten werden. Seit der Entwicklung des rotfigurigen Stils um 530 v. Chr., wohl durch den Andokides-Maler, nutzten allerdings immer mehr Maler den rotfigurigen Stil. Dieser gab aufgrund seiner Möglichkeiten in der Binnenzeichnung weitaus mehr Gestaltungsspielraum. Zudem ermöglichte der neue Stil weitaus erfolgversprechendere Experimente mit Verkürzungen, perspektivischen Ansichten oder neuen Gestaltungsformen. Bilder unterlagen wie immer geschmacklichen Entwicklungen und dem Zeitgeist, allerdings boten beim rotfigurigen Stil auch die besseren Gestaltungsmöglichkeiten bessere Voraussetzungen für die Darstellung aufwändigerer Bilder. Zunächst konnten jedoch noch einige innovative Handwerker auch der Produktion schwarzfiguriger Vasen Impulse geben. Der erfindungsreichste und geschäftstüchtigste Töpfer der Zeit war Nikosthenes. Mehr als 120 Vasen mit seiner Signatur sind bekannt, die demnach von ihm oder in seiner Werkstatt gefertigt wurden. Er scheint sich besonders auf die Fertigung von Vasen für den Export nach Etrurien spezialisiert zu haben. In seiner Werkstatt wurden gängige Halsamphoren, Kleinmeister-, Droop- und Augenschalen gefertigt, aber auch eine an die Bucchero-Keramik der Etrusker erinnernde Amphorenform, die nach ihrem Erfinder Nikosthenische Amphora genannt wird. Diese Stücke wurden vor allem in Caere gefunden, die übrigen Vasen zumeist in Cerveteri und Vulci. Der Erfindungsreichtum in seiner Werkstatt machte nicht bei den Formen halt. So entwickelte sich in der Nikosthenischen Werkstatt die Six-Technik, bei der die Bilder auf den Glanzton in rotbrauner oder weißer Farbe aufgemalt wurden. Unklar ist, ob Nikosthenes auch Vasenmaler war, wobei er in diesem Fall zumeist hinter dem nach ihm benannten Maler N vermutet wird. Auch der BMN-Maler und der rotfigurig arbeitende Nikosthenes-Maler sind nach Nikosthenes benannt. In seiner Werkstatt beschäftigte er viele namhafte Vasenmaler, darunter den späten Lydos, Oltos und Epiktetos. Die Werkstatttradition wurde vom Nachfolger des Nikosthenes, Pamphaios, fortgeführt. Zwei schwarzfigurige Vasenmaler gelten als Manieristen (540–520 v. Chr.). Der Elbows Out bemalte vor allem Kleinmeisterschalen. Auffällig sind die abgespreizten Ellenbogen seiner Figuren, nach denen er benannt wurde. Mythologische Begebenheiten zeigt er selten, dafür gerne Bilder mit Liebesszenen. Von ihm ist auch ein Lydion, eine seltenere Vasenform, verziert worden. Der bedeutendere der beiden war der Affecter, der seinen Notnamen wegen seiner affektiert wirkenden Gestalten bekam. Die kleinköpfigen Figuren wirken nicht so, als würden sie handeln, sondern als würden sie posieren. In seiner Anfangszeit stellte er vor allem Alltagsszenen dar, später verlegte er sich auf dekorative Bilder, bei denen zwar Figuren und Attribute, jedoch schwerlich Vorgänge erkennbar sind. Zeigt er seine Figuren bekleidet, wirken sie wie gepolstert, zeigt er sie nackt, wirken sie sehr eckig. Der Affecter war sowohl Töpfer als auch Maler, von ihm sind mehr als 130 Vasen überliefert. Der Antimenes-Maler (530–500 v. Chr.) verzierte gern Hydrien mit Tierfriesen in der Predella, daneben vor allem Halsamphoren. Zwei der ihm zugewiesenen Hydrien sind in der Halsregion im weißgrundigen Stil geschmückt. Er war der erste, der Amphoren mit dem maskenhaften Gesicht des Dionysos bemalt. Die bekannteste seiner mehr als 200 erhaltenen Vasen zeigt auf der Rückseite eine Olivenernte. Seine Zeichnungen sind selten besonders präzise, aber auch nie sehr nachlässig. Stilistisch sehr eng mit dem Antimenes-Maler ist Psiax verwandt, der allerdings anders als der Antimenes-Maler auch rotfigurig arbeitete. Psiax hatte vor allem als Lehrer der Maler Euphronios und Phintias großen Einfluss auf die frühe Entwicklung des rotfigurigen Stils. Gerne zeigt er Gespannszenen und Bogenschützen. Die letzte bedeutende Malergruppe war die Leagros-Gruppe (520–500 v. Chr.). Sie wurde nach ihrem viel benutzten Kalos-Namen Leagros benannt. Amphoren und Hydrien, letztere oft mit Palmetten in der Predella, sind die am häufigsten bemalten Bildträger. Die Bildfelder sind im Allgemeinen zum Bersten gefüllt, die Qualität dieser Bilder ist jedoch sehr hoch. Viele der mehr als 200 Vasen der Gruppe wurden mit Szenen aus dem Trojanischen Krieg und mit Bildern aus dem Leben des Herakles geschmückt. Zur Leagros-Gruppe gehörten Maler wie der originelle Acheloos-Maler, der konventionelle Chiusi-Maler und der detailsichere Tagesanbruch-Maler Weitere namhafte Vasenmaler der Zeit sind der Maler der Trauernden im Vatikan, der Princeton-Maler, der Maler von München 1410 und der Schaukel-Maler (540–520 v. Chr.), dem sehr viele Vasen zugeschrieben werden. Er gilt nicht als sehr guter Künstler, doch wirken seine Bilder wegen der Figuren mit ihren großen Köpfen, seltsamen Nasen und nicht selten geballten Fäusten unfreiwillig komisch. Der Rycroft-Maler steht der rotfigurigen Vasenmalerei und den neuen Ausdrucksformen nahe. Besonders gern zeigt er dionysische Bilder, Gespannszenen und die Abenteuer des Herakles. Vielfach zeigt er Umrisszeichnungen. Seine etwa 50 zugewiesenen meist großen Gefäße bemalte er in eleganter Art. Die Klasse von Cabinet des Médailles 218 verzierte vor allem Varianten der Nikosthenischen Amphoren. Die Hypobibazon-Klasse nahm sich einer neueren Variante der Bauchamphora mit gerundeten Henkeln und Füßen an, bei deren Verzierung die Schlüsselmäander über den Bildfeldern auffallen. Eine kleinere Variante der Halsamphoren wird von der Drei-Linien-Gruppe bemalt. Die Perizoma-Gruppe nahm sich der um 520 v. Chr. neu eingeführten Form des Stamnos an. Daneben arbeiteten am Ende des Jahrhunderts noch der Euphiletos-Maler, der Madrid-Maler und der phantasievolle Priamos-Maler in nennenswerter Qualität. Vor allem Schalenmaler wie Oltos, Epiktetos, Pheidippos und Skythes bemalten Vasen – in erster Linie Augenschalen – in beiden Stilen, sogenannte bilingue Vasen. Dabei wurden die Innenseiten meist im schwarz-, die Außenseiten meist im rotfigurigen Stil bemalt. Mehrfach gibt es Amphoren, deren Vorder- und Rückseite in verschiedenen Stilen verziert sind. Besonders bekannt sind hier die Werke des Andokides-Malers, deren schwarzfigurigen Seiten dem Lysippides-Maler zugewiesen werden. In der Forschung ist umstritten, ob beide Maler identisch sind. Nur wenige Maler, etwa der Nikoxenos-Maler und der Athena-Maler, arbeiteten in nennenswerter Quantität in beiden Techniken. Waren Bilinguen eine kurze Zeit lang recht beliebt, ist ihre Zeit gegen Ende des Jahrhunderts schon wieder vorbei. Spätzeit Zu Beginn des 5. Jahrhunderts v. Chr., bis spätestens 480 v. Chr., nutzen alle Maler mit Anspruch den rotfigurigen Stil. Doch noch etwa 50 Jahre wurden auch schwarzfigurige Vasen produziert, deren Qualität immer mehr abnahm. Letzte Maler von akzeptabler Qualität auf größeren Vasen waren der Eucharides-Maler und der Kleophrades-Maler. Einzig Werkstätten, die kleinere Formen wie Olpen, Oinochoen, Skyphoi, kleine Halsamphoren und vor allem Lekythen produzierten, arbeiteten noch vermehrt im alten Stil. Dazu zählten etwa die Maler der Lancut-Gruppe, die auf einfach gehaltene Skyphoi in Silhouettentechnik spezialisiert waren. Der Phanyllis-Maler arbeitete unter anderem in der Six-Technik, der Edinburgh-Maler verzierte wie der Gela-Maler die ersten zylindrischen Lekythen. Ersterer bemalte seine Vasen vor allem mit lockeren, klaren und einfachen Bildern in schwarzfiguriger Technik auf weißem Grund. Der weiße Untergrund der Vasen war recht dick und wurde nicht mehr auf den Tongrund gemalt. Diese Technik sollte für alle Vasen des weißgrundigen Stils verbindlich werden. Der Sappho-Maler war auf Grablekythen spezialisiert. Besonders produktiv war die Werkstatt des Haimon-Malers, von dem mehr als 600 Gefäße erhalten sind. Athena-Maler (vielleicht identisch mit dem rotfigurigen Bowdoin-Maler) und Perseus-Maler verzierten weiterhin die größeren Standardlekythen. Die Bilder des Athena-Malers strahlen noch etwas von der Würde der Bilder der Leagros-Gruppe aus. Der Marathon-Maler ist vor allem für die Grablekythen bekannt, die man im Grabtumulus für die 490 v. Chr. in der Schlacht bei Marathon gefallenen Athener gefunden hat. Als letzter bedeutender Lekythenmaler begann um 470 v. Chr. der Beldam-Maler seine Arbeit, die er bis etwa 450 v. Chr. fortführte. Abgesehen von den Panathenäischen Preisamphoren endete der schwarzfigurige Stil in Attika zu dieser Zeit. Panathenäische Preisamphoren Unter den schwarzfigurigen Vasen Attikas nehmen die Panathenäischen Preisamphoren eine Sonderrolle ein. Sie waren seit 566 v. Chr. – der Einführung oder Reorganisierung des Panathenäen-Festes – der Siegpreis für die Gewinner der sportlichen Wettbewerbe. Auf der Vorderseite waren sie standardmäßig mit einem Bild der Göttin Athene zwischen zwei Säulen, auf denen Hähne stehen, geschmückt, auf der Rückseite mit einer Darstellung aus dem Sport. Die Form war stets die gleiche und änderte sich nur wenig in der langen Produktionszeit. Die Bauchamphora war ihrem Namen zufolge zunächst besonders bauchig, hatte einen kurzen Hals und einen schmalen, hohen Fuß. Gefüllt waren die Amphoren mit einem der Hauptexportgüter der Stadt, Olivenöl. Um 530 v. Chr. werden die Hälse kürzer und der Körper etwas schmaler. Um 400 v. Chr. sind die Schultern schon weit eingezogen, die Kurve des Vasenkörpers wirkt schlaff. Seit 366 v. Chr. werden die Vasen wieder eleganter und noch schmaler. Hergestellt wurden die Vasen vor allem in den führenden Werkstätten des Kerameikos. Es scheint eine Auszeichnung oder besonders lukrativ gewesen zu sein, den Auftrag für die Produktion der Vasen erhalten zu haben. Damit erklären sich auch die vielen Preisamphoren von herausragenden Vasenmalern. Neben schwarzfigurigen Meistern wie dem Euphiletos-Maler, Exekias, Hypereides und der Leagros-Gruppe sind auch viele rotfigurige Meister als Schöpfer der Preisamphoren bekannt. Dazu gehören der Eucharides-Maler, der Kleophrades-Maler, der Berliner Maler, der Achilleus-Maler und Sophilos, der als einziger eine der bekannten Vasen signierte. Die erste Amphora, die Burgon-Vase, stammte von der Burgon-Gruppe. Da seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. manchmal der Name des amtierenden Archon auf der Vase vermerkt ist, kann man einige der Vasen genau datieren. Da die Panathenäen ein religiöses Fest waren, veränderten sich der Stil und die Dekorationsform weder während der Zeit des rotfigurigen Stils, noch nachdem eigentlich keine figürliche Vasenmalerei mehr in Athen betrieben wurde. Die Preisamphoren wurden bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. produziert. Heute sind etwa 1000 solcher Vasen bekannt. Da man für manche Zeiten weiß, wie hoch die Siegprämien waren, kann geschätzt werden, dass etwa ein Prozent der Vasen erhalten ist. Bei weiterer Hochrechnung kann geschlossen werden, dass zusammen etwa 7 Millionen figürlich bemalte Vasen in Athen hergestellt wurden. Neben den Preisamphoren wurden auch imitierende Formen geschaffen, die Pseudo-Panathenäischen Preisamphoren. Lakonien Schon seit dem 7. Jahrhundert v. Chr. wurde in Sparta sowohl zum Eigenbedarf als auch für den Export bemalte Keramik produziert. Die ersten qualitätsvollen Stücke wurden um 580 v. Chr. hergestellt. Der Höhepunkt war mit der schwarzfigurigen Keramik in der Zeit zwischen etwa 575 und 525 v. Chr. erreicht. Hauptfundorte sind neben Sparta die Inseln Rhodos und Samos sowie Tarent, etruskische Nekropolen und Kyrene, das man zunächst für den Ursprungsort der Keramik hielt. Die Qualität der Gefäße ist sehr hoch. Der Ton ist fein geschlämmt, er wurde mit einem cremefarbigen Überzug versehen. Bemalt wurden Amphoren, Hydrien, Kolonettenkratere, die in der Antike krater lakonikos genannt wurden, Volutenkratere und Kratere des chalkidischen Typs, Lebetes, Aryballoi und das spartanische Trinkgefäß Lakaina. Leitform und häufigster Fund ist jedoch die Schale. In Lakonien wurde das tiefe Becken meist auf einen hohen Fuß gestellt, Schalen auf niedrigem Fuß sind weitaus seltener. Typisch ist die Verzierung der Außenseite mit Ornamenten, meist Granatapfelketten, das meist figürliche Innenbild ist recht groß. In Lakonien wurde das Tondo früher als im restlichen Griechenland zum Hauptträger der Handlung bei Schalenbildern. Das Hauptbild wurde ebenfalls schon früh in zwei Abschnitte, ein Hauptbild und ein kleineres unteres Segment geteilt. Häufig wurden die Gefäße nur mit Glanzton überzogen oder nur mit wenigen Ornamenten verziert. Inschriften sind nicht die Regel, kommen allerdings als Namenbeischriften vor. Weder für Töpfer noch für Maler sind Signaturen bekannt. Wahrscheinlich waren die lakonischen Handwerker periökische Töpfermaler, Eigenarten bei den getöpferten Werken decken sich oft mit den erkannten Malerhandschriften. Möglicherweise handelte es sich auch um ostgriechische Wandertöpfer, was den starken ostgriechischen Einfluss vor allem auf den Boreaden-Maler erklären würde. Mittlerweile werden mindestens acht Vasenmaler unterschieden. Fünf Maler, der Arkesilas-Maler (565–555), der Boreaden-Maler (575–565), der Jagd-Maler, der Naukratis-Maler (575–550) und der Reiter-Maler (550–530) gelten als die bedeutenderen Vertreter des Stils, während andere Maler als Künstler von geringerer Kunstfertigkeit gelten. Die Bilder wirken meist eckig und steif. Gezeigt werden Tierfriese, Alltagsszenen, vor allem von Symposien und viele Mythenbilder. Hier sind vor allem Poseidon und Zeus häufig dargestellt, aber auch Herakles bei seinen 12 Taten sowie der Thebanische und der Trojanische Sagenkreis. Als Schalentondo wird vor allem bei frühen Vasen auch ein Gorgoneion (Gorgonenfratze) verwendet. Eine Besonderheit bildet ein Bild der Nymphe Kyrene, ebenso ein Tondo mit einem Reiter, dem eine Volutenranke aus dem Kopf wächst (Namenvase des Reiter-Malers). Von besonderer Bedeutung ist auch eine Schale mit der Darstellung von Arkesilaos II. (Arkesilas-Schale), die dem Arkesilas-Maler den Notnamen gab. Es ist eine der seltenen Darstellungen von aktuellen Ereignissen oder Personen in der griechischen Vasenmalerei. Die Bildthemen lassen attische Einflüsse erkennen. Als Deckfarbe wurde vor allem ein stark ins Purpur gehender Rotton verwendet. Derzeit sind mehr als 360 lakonische Vasen bekannt, fast ein Drittel davon, 116 Stück, gehen auf den Naukratis-Maler zurück. Der Niedergang der korinthischen schwarzfigurigen Vasenmalerei, die einen großen Einfluss auf die lakonische Malerei hatte, um das Jahr 550 v. Chr. führte zu einem massiven Einbruch in der lakonischen Produktion schwarzfiguriger Vasen, die schließlich um 500 v. Chr. zum Erliegen kam. Die Keramik war sehr weit verbreitet, von Marseille bis in das ionische Griechenland. Auf Samos ist lakonische Keramik aufgrund der engen politischen Bindung zu Sparta häufiger als korinthische Keramik. Böotien Vom 6. bis ins 4. Jahrhundert v. Chr. wurden in Böotien schwarzfigurige Vasen produziert. Noch im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. verwendeten viele böotische Maler die orientalisierende Umrisstechnik. Danach orientieren sie sich besonders eng an der attischen Produktion. Manchmal fällt eine Unterscheidung und Zuweisung zu einer der beiden Regionen schwer, auch kann es zu Verwechslungen mit korinthischer Keramik kommen. Nicht selten werden attische und korinthische Vasen von minderer Keramik als böotische Werke deklariert. Häufig wurden gute böotische Vasen zunächst als attisch, schlechte attische Vasen aber fälschlicherweise für böotisch gehalten. Es gab wohl einen Austausch von Fachkräften mit Attika, mindestens einmal ist nachgewiesen, dass ein attischer Töpfer nach Böotien auswanderte (Maler der Dresdener Lekanis, möglicherweise auch der Tokra-Maler, unter den Töpfern sicher Teisias der Athener). Wichtigste Motive sind Tierfriese, Symposien und Komasten. Mythenbilder sind eher selten; wenn sie vorkommen, wird meist Herakles oder Theseus gezeigt. Für das späte 6. Jahrhundert und das 5. Jahrhundert ist ein silhouettenartiger Stil vorherrschend. Bemalt werden vor allem Kantharoi, Lekaniden, Schalen, Teller und Kannen. Wie in Athen gibt es Lieblingsinschriften (Kalos-Inschriften). Besonders gern stellten böotische Töpfer plastische Gefäße her, zudem Kantharoi mit plastischen Ansätzen und Dreifuß-Pyxiden. Aus Athen werden auch Lekanis, Schale und Halsamphora übernommen. Der Malstil wirkt häufig komisch, gezeigt werden bevorzugt Komasten und Satyrn. Zwischen 425 und 350 v. Chr. waren die Kabiren-Vasen der schwarzfigurige Hauptstil in Böotien. Meist handelte es sich dabei um eine tiefe Mischform zwischen Kantharoi und Skyphoi mit vertikalen Ringhenkeln, daneben Lebetes, Schalen und Pyxiden. Sie wurden nach ihren Hauptfundort, dem Kabirenheiligtum nahe Theben benannt. Die Bilder zeigen den dortigen Kult. Die meist nur auf der Vorderseite bemalten Vasen karikieren in humorig-überzeichneter Form mythologische Begebenheiten, manchmal sind auch Komosszenen dargestellt, die wohl in direktem Bezug zum Kult stehen. Euböa Auch die schwarzfigurige Vasenmalerei Euböas wurde von Korinth und vor allem von Attika beeinflusst. Die Abgrenzung zu attischen Vasen ist nicht immer einfach. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass der Großteil der Keramik in Eretria hergestellt wurde. Es wurden vor allem Amphoren, Lekythen, Hydrien und Teller bemalt. Großformatige Amphoren wurden meist als Bildträger für mythische Szenen, etwa die Abenteuer des Herakles oder das Parisurteil, genutzt. Die großen Amphoren, die sich von Formen aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. ableiten, haben konische Lippen und zeigen meist Bilder mit Hochzeitsbezug. Es handelte sich dabei offensichtlich um Grabvasen, die für Kinder gefertigt wurden, die vor ihrer Hochzeit verstorben waren. Typisch für die schwarzfigurige Keramik aus Eretria war die zurückhaltende Nutzung von Ritzungen und die reguläre Verwendung von Deckweiß für die floralen Ornamente. Neben Bildern, die sich an Attika orientierten, wurden auch wildere Bilder, etwa die Vergewaltigung eines Rehs durch einen Satyr oder Herakles mit Kentauren und Dämonen, gezeigt. Die Vasen der Delphin-Gruppe wurden früher als attisch angesehen, gelten heute aber als euböisch. Doch entspricht ihr Ton keiner bekannten Quelle Eretrias. Möglicherweise ist sie in Chalkis produziert worden. Bei einigen schwarzfigurigen Regionalstilen ist die Herkunft umstritten. So ist die Chalkidische Vasenmalerei zunächst nach Euböa verwiesen worden, mittlerweile geht man eher von einer Fertigung in Italien aus. Ostgriechenland In kaum einer anderen griechischen Region sind die Grenzen zwischen orientalisierendem und schwarzfigurigem Stil so fließend wie in der ostgriechischen Vasenmalerei. Bis etwa 600 v. Chr. wurde nur mit Umrisszeichnungen und Aussparungen gearbeitet, dann setzte von Nordionien kommend während der Spätphase des orientalisierenden Stils die Verwendung von Ritzzeichnungen ein. Der bis dahin vorherrschende Tierfriesstil war durchaus dekorativ, bot aber kaum Möglichkeiten zur technischen und gestalterischen Weiterentwicklung. Vor allem in Ionien bildeten sich regionale Stile heraus. In der Endphase des Wilderziegenstils (Wild Goat) imitierten nordionische Künstler – eher qualitativ schlecht – korinthische Vorbilder. Doch schon im 7. Jahrhundert wurden in Ionien hochwertige Vasen produziert. Seit etwa 600 v. Chr. wurde der schwarzfigurige Stil ganz oder als Teil der Verzierung von Vasen verwendet. Neben den sich entwickelnden Regionalstilen in Klazomenai, Ephesos, Milet, Chios und Samos gab es vor allem in Nordionien nicht genauer lokalisierbare Stile. Weit verbreitet waren Salbölgefäße nach dem lydischen Vorbild (Lydion), die meist jedoch nur mit Streifen verziert sind. Daneben gibt es auch originelle Bilder, etwa einen Skythen mit einem baktrischen Kamel oder einen Satyr und Widder. Bei einigen Stilen ist die Zuweisung sehr umstritten. So weist die Northampton-Gruppe starke ionische Einflüsse auf, doch ist sie wohl – möglicherweise durch Einwanderer aus Ionien – in Italien geschaffen worden. In Klazomenai bemalte man zur Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. (etwa 550 bis 530 v. Chr.) vor allem Amphoren und Hydrien sowie tiefe Schüsseln mit flächigen, kantig wirkenden Figuren. Die Gefäße sind wenig elegant gearbeitet. Gerne werden Frauenreigen oder Tiere abgebildet. Führende Werkstätten waren die des Tübingen-Malers, des Petrie-Malers und der Urla-Gruppe. Der Großteil der Vasen wurde in Naukratis und im 525 v. Chr. aufgegebenen Tell Defenneh gefunden. Die Herkunft war zunächst unklar, Robert Zahn erkannte durch Vergleiche mit den Bildern auf Klazomenischen Sarkophagen die Herkunft. Nicht selten wurde Keramik mit plastischen Frauenmasken verziert. Mythologische Szenen werden selten gezeigt, beliebt sind Schuppenornamente, Reihen weißer Punkte und steif wirkende Frauenreigen. Singulär und ungewöhnlich war die Darstellung eines Herolds vor einem König und einer Königin. Kennzeichnend für Männer waren im Allgemeinen gewaltige Spatenbärte. Schon seit 600, bis etwa 520 v. Chr., wurden wahrscheinlich in Klazomenai die Rosettenschalen, Nachfolger der Ostgriechischen Vogelschalen hergestellt. Die samische Keramik tritt erstmals um 560/550 v. Chr. mit Formen hervor, die sie von der attischen Keramik übernommen hat. Es handelt sich dabei um Kleinmeister-Schalen und Kantharoi in Gesichtsform. Die Bemalung ist präzise und dekorativ. Samos war neben Milet und Rhodos eines der Hauptzentren der Produktion von Vasen im Wilderziegenstil. Besonders bekannt ist die Rhodische Vasenmalerei für ihre Rhodischen Teller. Sie werden in polychromer Technik bemalt, manche Details wurden wie bei der schwarzfigurigen Malerei geritzt. Um 560 bis 530 v. Chr. herrschen an ägyptischen Vorbildern orientierte Situlen vor. Sie zeigen sowohl griechische Themen, beispielsweise Typhoeus, als auch altägyptische Bilder wie Ägyptische Hieroglyphen und ägyptische Sportarten. Italien einschließlich Etrurien Caeretaner Hydrien Als Caeretaner Hydrien bezeichnet man eine besonders farbenfrohe Stilrichtung der schwarzfigurigen Vasenmalerei. Über die Herkunft der Gefäße wird in der Forschung gestritten. In den letzten Jahren setzte sich mehr und mehr die Ansicht durch, dass es sich bei den Produzenten der Vasen um zwei aus dem ostgriechischen Raum nach Caere in Etrurien eingewanderte Töpfermaler handelt. Aufgrund ihrer Bemalung wurden die Vasen lange Zeit als etruskisch oder korinthisch angesehen. Doch Beischriften in ionischem Griechisch stützten die Theorie der Einwanderung. Ihre Werkstatt hatte nur eine Generation Bestand. Heute sind etwa 40 Vasen des Stils bekannt, die die beiden Meister produziert haben. Alle sind abgesehen von einem Alabastron Hydrien. Keine von ihnen wurde außerhalb Etruriens gefunden, der Großteil in Caere. Nach dem Ort haben sie auch ihre Namen. Die Vasen werden etwa in die Zeit zwischen 530 und 510/500 v. Chr. datiert. An die Caeretaner Hydrien schließen sich stilistisch mit Streifen bemalte Halsamphoren an. Die technisch eher minderwertigen Hydrien haben eine Höhe von 40 bis 45 Zentimetern. Die Vasenkörper haben abgesetzte, hohe und weit ausladende Hälse, breite Schultern und niedrige Ringfüße in Form umgedrehter Kelche. Nicht wenige der Hydrien sind verformt oder weisen Fehlbrände auf. Die Bemalung des Körpers gliederte sich in vier Zonen: Schulter, eine figürliche und eine ornamentale Bauchzone sowie ein unteres Ende. Abgesehen von der figürlichen Bauchzone waren alle Zonen ornamental verziert. Nur einmal ist bekannt, dass zwei figürliche Bauchfriese aufgebracht wurden. In ihrer Vielfarbigkeit unterscheidet sich diese Gattung von allen anderen schwarzfigurigen Stilformen. Der Stil erinnert an die ionische Vasenmalerei und an in Ägypten gefundene, vielfarbig bemalte Holztafeln. Männer können mit roter, schwarzer oder weißer Haut gezeigt werden, Frauen sind fast immer durch Deckweiß gekennzeichnet. Die Konturen wie auch die Details sind wie beim schwarzfigurigen Stil üblich eingeritzt. Flächen aus schwarzem Glanzton wurden des Öfteren mit einer weiteren farbigen Schicht Glanzton überzogen, so dass bei Ritzungen der schwarze Glanzton zur Binnenzeichnung wurde. Auf der Vorderseite sind die Darstellungen immer bewegt, auf der Rückseite häufiger heraldisch angelegt. Die Ornamente sind wichtiger Bestandteil der Hydrien, sie treten nicht hinter die anderen Motive zurück. Für die Ornamente wurden Schablonen verwendet. Sie sind nicht geritzt. Die Maler werden Busiris-Maler und Adler-Maler genannt. Letzterer gilt als der führende Vertreter des Stils. Sie hatten ein besonderes Interesse an mythologischen Stoffen, die meist auch einen östlichen Einfluss zeigen. Auf der Namenvase des Busiris-Malers trampelt Herakles den mythischen ägyptischen Pharao Busiris nieder. Auch sonst ist häufig Herakles dargestellt. Daneben gibt es Bilder aus dem täglichen Leben. Es werden auch seltene Bilder gezeigt, so Keto, die von einer weißen Robbe begleitet wird. Pontische Vasen Auch die Pontischen Vasen sind stilistisch der ionischen Vasenmalerei nahe verwandt. Auch bei ihnen wurde angenommen, dass sie in etruskischen Werkstätten von aus Ionien eingewanderten Handwerkern hergestellt wurden, diese Sichtweise ist mittlerweile stark umstritten. Den irreführenden Namen bekamen die Vasen aufgrund der Darstellung von Bogenschützen auf einer Vase, die man für Skythen hielt, die am Schwarzen Meer (Pontus) lebten. Der Großteil der Vasen wurde in Gräbern in Vulci gefunden, ein weiterer beträchtlicher Teil in Cerveteri. Leitform war die Halsamphora, die auffallend schlank gebaut war. Sie sind Tyrrhenischen Amphoren sehr ähnlich. Andere Formen waren Oinochoen mit Spiralhenkeln, Dinoi, Kyathos, Teller und hochfußige Becher, seltener Kantharos oder andere. Der Aufbau Pontischer Vasen gleicht sich. Im Allgemeinen haben sie auf dem Hals einen ornamentalen Schmuck, auf der Schulter folgte figürlicher, darauf folgte ein weiteres Ornamentband, dem sich ein Tierfries und schließlich ein Strahlenkranz anschloss. Fuß, Hals und Henkel sind schwarz. Auffällig ist der hohe Stellenwert der Ornamente. Manchmal werden Gefäße rein ornamental verziert. Der Ton der Vasen ist gelblich-rot, der Glanzton, mit dem die Vasen überzogen wurden, war schwarz bis bräunlich-rötlich, ist von hoher Qualität und glänzt metallisch. Rote und weiße Deckfarbe wurde ausgiebig für Figuren und die Ornamente verwendet. Tiere wurden meist mit einem weißen Streifen auf dem Bauch verziert. Die Ornamente sind häufig eher nachlässig gestaltet worden. Die Forschung hat bis heute sechs Werkstätten erkannt. Als früheste und beste gilt die des Paris-Malers. Gezeigt werden mythologische Figuren, darunter ein wie in Ostgriechenland üblicher bartloser Herakles. Manchmal finden sich Szenen außerhalb der griechischen Mythologie, etwa Herakles im Kampf gegen Iuno Sospita des Paris-Malers oder ein Wolfsdämon des Tityos-Malers. Daneben wurden Szenen aus dem Alltag, Komasten und Reiter gemalt. Die Vasen werden in die Zeit zwischen 550 und 500 v. Chr. datiert. Es sind heute etwa 200 Vasen bekannt. Etrurien Eine eigene Produktion etruskischer Vasen setzte wohl im 7. Jahrhundert v. Chr. ein. Die Vasen orientierten sich zunächst an schwarzfigurigen Vorbildern aus Korinth und Ostgriechenland. Es wird angenommen, dass in der Frühphase vor allem griechische Einwanderer die Produzenten waren. Der erste bedeutende Stil war die Pontische Vasenmalerei. Danach folgten in der Zeit zwischen 530 und 500 v. Chr. der Micali-Maler und dessen Werkstatt. Zu dieser Zeit orientierten sich etruskische Künstler schon eher an attischen Vorbildern. Sie schufen vor allem Amphoren, Hydrien und Kannen. Diese zeigen meist Komasten, Symposien und Tierfriese. Seltener sind es Mythenbilder, die allerdings sehr sorgfältig gestaltet werden. Der schwarzfigurige Stil endete um 480 v. Chr. Zuletzt entwickelte sich der Stil manieristisch und hin zu einer wenig sorgfältigen Silhouettentechnik. Chalkidische Keramik Die Chalkidische Vasenmalerei wurde nach mythologischen Beischriften benannt, die manchmal in chalkidischer Schrift aufgebracht waren. Deshalb vermutete man die Herkunft der Keramik zunächst auf Euböa. Mittlerweile geht man davon aus, dass die Keramik in Rhegion, vielleicht auch in Caere, hergestellt wurde. Endgültig ist die Frage bis heute jedoch nicht geklärt. Beeinflusst wurde die Chalkidische Vasenmalerei von der attischen, korinthischen und vor allem der ionischen Vasenmalerei. Die Fundorte liegen in Italien (Caere, Vulci und Rhegion), aber auch an anderen Stellen des westlichen Mittelmeeres. Die Produktion der Chalkidischen Vasen setzt unvermittelt um 560 v. Chr. ein. Vorläufer konnten bislang nicht ausgemacht werden. Schon nach 50 Jahren, gegen 510 v. Chr., endete sie wieder. Es sind heute etwa 600 erhaltene Vasen bekannt. 15 Maler oder Malergruppen sind bislang erkannt. Kennzeichnend für die Vasen ist eine ausgezeichnete Qualität der Töpferarbeiten. Der Glanzton, mit dem sie überzogen wurden, ist im Allgemeinen nach dem Brand tiefschwarz. Der Ton hat einen orangen Farbton. Bei der Bemalung werden rote und weiße Deckfarben großzügig verwendet, ebenso Ritzungen zur Binnenzeichnung. Leitform ist die Halsamphora, die ein Viertel aller bekannten Vasen ausmacht, hinzu kommen Augenschalen, Oinochoen und Hydrien, seltener sind andere Gefäße. Lekaniden und Tassen nach etruskischem Vorbild sind Ausnahmen. In der Konstruktion wirken die Vasen straff und streng. Kennzeichnend ist der „chalkidische Schalenfuß“. Er wird manchmal bei schwarzfigurigen Vasen in Attika, seltener bei rotfigurigen Vasen, nachgeahmt (Chalkidisierende Schale). Bedeutendster Vertreter unter den erkannten Künstlern ist in der älteren Generation der Inschriften-Maler, unter den jüngeren Vertretern der Phineus-Maler. Ersterer ist vermutlich der Erfinder des Stils; der sehr produktiven Werkstatt des Letzteren werden allein etwa 170 der bekannten Vasen zugeschrieben. Er ist wahrscheinlich auch der letzte Vertreter des Stils. Die Bilder wirken meist eher dekorativ als narrativ. Gezeigt werden Reiter, Tierfriese, heraldische Bilder oder Menschengruppen. Häufig gehört ein großes Lotus-Palmetten-Kreuz zum Bild. Nur selten werden Mythenbilder gezeigt, die dann jedoch im Allgemeinen von besonders herausragender Qualität sind. Auf die Chalkidische Vasenmalerei folgt die Pseudo-Chalkidische Vasenmalerei. Sie lehnt sich stark an die Chalkidische an, weist aber auch starke Bezüge zur attischen und korinthischen Vasenmalerei auf. So benutzen die Künstler hier nicht das chalkidische, sondern das ionische Alphabet für Beischriften. Zudem weisen die Vasen eine andere Tonbeschaffenheit auf. Heute sind etwa 70 Vasen der Gattung bekannt, die erstmals von Andreas Rumpf zusammengestellt wurde. Möglicherweise sind die Kunsthandwerker Nachfolger der Chalkidischen Vasenmaler und Töpfer, die nach Etrurien einwanderten. Die Pseudo-Chalkidische Vasenmalerei lässt sich in zwei Gruppen aufteilen. Die ältere der beiden Gruppen ist die Polyphem-Gruppe. Sie hat auch den größeren Teil der erhaltenen Werke gefertigt. Sie schufen vor allem Halsamphoren und Oinochoen. Meist werden Tiergruppen gezeigt, selten Mythenbilder. Die Gefäße wurden in Etrurien und auf Sizilien, aber auch in Marseille und Vix gefunden. Die jüngere und weniger produktive Memnon-Gruppe, der derzeit 12 Gefäße zugeschrieben werden, hatte einen weitaus kleineren Verbreitungsraum, der sich ausschließlich auf Etrurien und Sizilien beschränkte. Bis auf eine Oinochoe produzierten sie nur Halsamphoren, die zumeist mit Tieren und Reitern bemalt wurden. Andere Die Vasen der Northampton-Gruppe waren abgesehen von einer einzelnen Bauchamphora durchweg kleine Halsamphoren. Sie stehen stilistisch der nordionischen Vasenmalerei sehr nahe. Allerdings wurden sie wahrscheinlich nicht in Ionien, sondern in Italien, wohl in Etrurien, um das Jahr 540 v. Chr. produziert. Es handelt sich bei den Vasen der Gruppe um qualitativ sehr hochwertige Produkte. Sie zeigen reiche Ornamentalbemalung und zum Teil wissenschaftlich sehr interessante Bilder, darunter einen Fürsten mit Pferden und einen Kranichreiter. Ihnen stehen die Werke der Gruppe der Campana-Dinoi und die sogenannte Northampton-Amphora nahe, deren Ton dem von Caeretaner Hydrien entspricht. Nach der Northampton-Amphora wurde die Northampton-Gruppe benannt. Die runden, mit Tierfriesen bemalten Campana-Hydrien erinnern an böotische und euböische Vorbilder. Andere Regionen Selten sind Alabastren mit zylindrischem Körper von Andros oder die Lekanen von Thasos, die an böotische Produkte erinnern, allerdings zwei statt der für Böotien üblichen einzelnen Tierfriese aufweisen. Thasische Teller orientieren sich eher an attischen Vorbildern und sind mit ihren Figurenbildern ambitionierter als die Lekanen. Von der Insel sind auch Imitationen chiotischer Vasen des schwarzfigurigen Stils bekannt. Die lokale schwarzfigurige Keramik von Halai ist ebenfalls sehr selten. Nachdem die Athener Elaious bei den Dardanellen besetzt hatten, entstand auch dort eine lokale schwarzfigurige Keramikproduktion. Die bescheidene Produktion brachte einfache Lekanen mit Bildern in Umrisszeichnung hervor. Sehr wenige Vasen im schwarzfigurigen Stil wurden im keltischen Frankreich hergestellt. Auch sie waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von griechischen Vasen inspiriert. Erforschung und Rezeption → Für eine Beschreibung der Erforschung und Rezeption vor dem 19. Jahrhundert siehe die Darstellung im Schwesterartikel Rotfigurige Vasenmalerei, da es keine nennenswerten Unterschiede in der Erforschung beider Stile gab. Die wissenschaftliche Erforschung der Vasen setzte besonders seit dem 19. Jahrhundert ein. Seit dieser Zeit wurde auch immer häufiger vermutet, dass die Vasen nicht etruskischen, sondern griechischen Ursprungs seien. Vor allem ein von Edward Dodwell 1819 gemachter Fund einer Panathenäischen Preisamphora in Athen nährte diese Vermutung. Der erste, der den Nachweis führte, war Gustav Kramer in seinem Werk Styl und Herkunft der bemalten griechischen Tongefäße (1837). Jedoch dauerte es noch einige Jahre, bis sich diese Erkenntnis wirklich durchsetzen konnte. Eduard Gerhard veröffentlichte in den Annali dell’Instituto di Corrispondenza Archeologica den Aufsatz Rapporto Volcente, in dem er sich als erster Forscher der systematischen Erforschung der Vasen widmete. Hierzu untersuchte er 1830 die in Tarquinia gefundenen Vasen und verglich sie mit Vasen, die in Attika oder Ägina gefunden wurden. Während seiner Studien konnte Gerhard 31 Maler- und Töpfersignaturen unterscheiden. Bis dahin kannte man nur den Töpfer Taleides. Der nächste Schritt in der Forschung war die wissenschaftliche Katalogisierung der großen musealen Vasensammlungen. 1854 publizierte Otto Jahn die Vasen der Antikensammlung in München, zuvor wurden schon Kataloge der Vatikanischen Museen (1842) und des British Museum (1851) veröffentlicht. Von besonderem Einfluss war die Beschreibung der Vasensammlung im Antiquarium der Berliner Antikensammlung, die 1885 von Adolf Furtwängler besorgt wurde. Furtwängler ordnete die Gefäße erstmals nach Kunstlandschaften, Technik, Stil, Formen und nach Malstil und hatte damit nachhaltigen Einfluss auf die weitere Erforschung griechischer Vasen. Paul Hartwig versuchte 1893 im Buch Meisterschalen, verschiedene Maler anhand von Lieblingsinschriften, Signaturen und Stilanalysen zu unterscheiden. Edmond Pottier, Konservator des Louvre, initiierte 1919 das Corpus Vasorum Antiquorum. In dieser Reihe werden alle großen Sammlungen weltweit publiziert. Bis heute sind mehr als 300 Bände der Reihe erschienen. Um die wissenschaftliche Erforschung der attischen Vasenmalerei hat sich ganz besonders John D. Beazley verdient gemacht. Ab etwa 1910 begann er sich mit den Vasen zu beschäftigen und griff dazu auf eine vom Kunsthistoriker Giovanni Morelli für die Untersuchung von Gemälden entwickelte und von Bernard Berenson verfeinerte Methode zurück. Er ging davon aus, dass jeder Maler individuelle Kunstwerke schafft, die auch immer unverkennbar zuzuordnen sind. Dabei wurden bestimmte Details, etwa Gesichter, Finger, Arme, Beine, Knie, Faltenwürfe der Kleider und ähnliches herangezogen. Beazley untersuchte 65.000 Vasen und Fragmente, von denen 20.000 schwarzfigurig waren. 17.000 konnte er im Laufe seiner knapp sechs Jahrzehnte dauernden Studien namentlich bekannten oder über ein System von Notnamen erschlossenen Malern zuweisen, er fasste sie in Malergruppen oder Werkstätten, Umkreise und Stilverwandtschaften zusammen. Er unterschied mehr als 1500 Töpfer und Maler. Kein anderer Archäologe hatte je einen solch prägenden Einfluss auf die Erforschung eines archäologischen Teilgebietes wie Beazley, dessen Analysen noch heute zu weiten Teilen Bestand haben. Beazleys Form der Stilanalyse ist in jüngeren Jahren aber auch wiederholt als zirkulär kritisiert worden. Nach Beazley beschäftigten sich Forscher wie John Boardman oder auch Erika Simon und Dietrich von Bothmer mit den schwarzfigurigen attischen Vasen. Die grundlegenden Forschungen zur korinthischen Keramik stammen von Humfry Payne. Payne sorgte in den 1930er-Jahren für eine erste stilistische Gliederung, die im Grunde bis heute Bestand hat. Er ordnete die Vasen nach Formen, Dekorationstypen und Themen der Darstellung. Eine Unterscheidung von Malern und Werkstätten erfolgte erst an letzter Stelle. Dabei orientierte sich Payne an Beazleys Methode, legte aber nur einen untergeordneten Wert auf Maler- und Gruppenzuweisungen. Ihm war ein Gerüst zur chronologischen Ordnung wichtiger. Jack L. Benson nahm sich 1953 dieser Aufgabe an und unterschied 109 Maler und Gruppen. Zuletzt fasste Darrell A. Amyx die Forschung 1988 in seinem Werk Corinthian Vase-Painting of the Archaic Period zusammen. In der Forschung wird allerdings grundsätzlich diskutiert, ob die Möglichkeiten der Zuweisung an Malerpersönlichkeiten in der korinthischen Vasenmalerei überhaupt gegeben sind. Lakonische Keramik war seit dem 19. Jahrhundert in nennenswerter Anzahl aus etruskischen Gräbern bekannt. Zunächst wurde sie jedoch falsch zugeordnet und galt lange Zeit als Produkt aus Kyrene, wo ebenfalls einige der frühesten Funde gemacht wurden. Dank britischer Ausgrabungen, die seit 1906 im Heiligtum der Artemis Orthia von Sparta durchgeführt wurden, wurde schnell die wahre Herkunft erkannt. 1934 fasste Arthur Lane das bekannte Material zusammen und unterschied als erster Archäologe verschiedene Maler. 1956 wurden die Neufunde von Brian B. Shefton untersucht. Er reduzierte die erkennbaren Maler um die Hälfte. 1958 und 1959 wurden weitere wichtige Neufunde aus Tarent veröffentlicht. Zudem fand sich auf Samos eine bedeutende Zahl weiterer Vasen. Conrad M. Stibbe untersuchte alle ihm bekannten 360 Vasen erneut und veröffentlichte seine Erkenntnisse 1972. Er unterschied fünf bedeutende und drei geringere Vasenmaler. Neben der Erforschung der attischen, korinthischen und lakonischen Vasenmalerei interessierten sich Archäologen auch immer wieder besonders für die kleineren, in Italien ansässigen Stile. Die Caeretaner Hydrien wurden als erstes von Carl Humann und Otto Puchstein erkannt und benannt. Andreas Rumpf und Adolf Kirchhoff, der die Bezeichnung prägte, und andere Archäologen vermuteten die Herkunft der Chalkidischen Keramik fälschlicherweise auf Euböa. Georg Ferdinand Dümmler ist für die falsche Benennung der Pontischen Vasen verantwortlich, die er aufgrund der Darstellung eines Skythen auf einer der Vasen in Pontos vermutete. Mittlerweile wird die Erforschung aller Stile weniger von einzelnen Personen als von einer großen Gruppe internationaler Wissenschaftler getragen. Literatur Allgemein John Boardman: Early Greek Vase Painting. 11th – 6th Century BC. A Handbook. Thames and Hudson, London 1998, ISBN 0-500-20309-1. John Percival Droop: Droop Cups and the Dating of Laconian Pottery. In: The Journal of Hellenic Studies. Band 52, 1932, S. 303–304. Thomas Mannack: Griechische Vasenmalerei. Eine Einführung. Theiss, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1743-2. Ingeborg Scheibler: Griechische Töpferkunst. Herstellung, Handel und Gebrauch der antiken Tongefäße. 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Beck, München 1995, ISBN 3-406-39307-1. Erika Simon, Max Hirmer: Die griechischen Vasen. 2. durchgesehene Auflage. Hirmer, München 1981, ISBN 3-7774-3310-1. Matthias Steinhart: Töpferkunst und Meisterzeichnung. Attische Wein- und Ölgefäße aus der Sammlung Zimmermann. von Zabern, Mainz 1996, ISBN 3-8053-1896-0. Attika John D. Beazley: Potter and Painter in Ancient Athens. (= Proceedings of the British Academy 30, ). Cumberledge, Oxford 1944. John D. Beazley: The Development of Attic Black-figure. (= Sather Classical Lectures 24, ). University of California Press u. a., Berkeley CA u. a. 1951 (Revised edition. ebenda 1986, ISBN 0-520-05593-4). John D. Beazley: Attic Black-figure Vase-painters. Clarendon Press, Oxford 1956. John D. Beazley: Paralipomena. Additions to Attic black-figure vase-painters and to Attic red-figure vase-painters. 2nd edition. Clarendon Press, Oxford 1971. John Boardman: Schwarzfigurige Vasen aus Athen. Ein Handbuch (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Bd. 1). Philipp von Zabern, Mainz 1977, ISBN 3-8053-0233-9. Korinth Humfry Payne: Necrocorinthia. A study of Corinthian art in the archaic period. Clarendon Press, Oxford 1931. Humfry Payne: Protokorinthische Vasenmalerei. (= Forschungen zur antiken Keramik. Reihe 1: Bilder griechischer Vasen. Bd. 7, ). Keller, Berlin-Wilmersdorf 1933 (Nachdruck von Zabern, Mainz 1974). Darrell A. Amyx, Patricia Lawrence: Archaic Corinthian Pottery and the Anaploga Well. (= Corinth 7, 2). American School of Classical Studies at Athens, Princeton NJ 1975, ISBN 0-87661-072-6. D. A. Amyx: Corinthian Vase-Painting of the Archaic Period. 3 Bände. University of California Press u. a., Berkeley CA u. a. 1988–1991, ISBN 0-520-03166-0. Bd. 1: Catalogue. (= California Studies in the History of Art 25, 1). University of California Press, Berkeley CA 1988. Bd. 2: Commentary: The Study of Corinthian Vases. (= California Studies in the History of Art 25, 2). University of California Press, Berkeley CA 1988. Bd. 3: Indexes, Concordances, and Plates. (= California Studies in the History of Art 25, 3). University of California Press, Berkeley CA 1988. dazu: Cornelius W. Neeft: Addenda et Corrigenda to D. A. Amyx, Corinthian Vase-Painting in the Archaic Period. (= Allard Pierson Series. Scripta minora 3). Burg, Alkmaar 1991, ISBN 90-71211-18-5. Darrell A. Amyx, Patricia Lawrence: Studies in Archaic Corinthian Vase Painting. (= Hesperia. Supplement 28). American School of Classical Studies at Athens, Princeton NJ 1996, ISBN 0-87661-528-0. Lakonien Arthur Lane: Lakonian Vase Painting. In: The Annual of the British School at Athens. Bd. 34, 1933/34, S. 99–189. Conrad M. Stibbe: Lakonische Vasenmaler des 6. Jahrhunderts v. Chr. (= Studies in Ancient civilization. New Series 1). 2 Bände. North-Holland Publishing Company, Amsterdam und London 1972, ISBN 0-7204-8020-5. Conrad M. Stibbe: Lakonische Vasenmaler des sechsten Jahrhunderts v. Chr. Supplement. von Zabern, Mainz 2004, ISBN 3-8053-3279-3. Conrad M. Stibbe: Laconian Mixing Bowls. A History of the Krater Lakonikos from the seventh to the fifth century B.C. (= Laconian black-glazed pottery. Part 1: Allard Pierson Series. Scripta minora. Bd. 2). Allard Pierson Museum, Amsterdam 1989, ISBN 90-71211-16-9. Conrad M. Stibbe: Laconian Drinking Vessels and Other Open Shapes. (= Laconian black-glazed pottery. Part 2: Allard Pierson Series. Scripta minora. Bd. 4). Allard Pierson Museum, Amsterdam 1994, ISBN 90-71211-22-3. Conrad M. Stibbe: Laconian Oil Flasks and Other Closed Shapes. (= Laconian black-glazed pottery. Part 3: Allard Pierson Series. Scripta minora. Bd. 5). Allard Pierson Museum, Amsterdam 2000, ISBN 90-71211-33-9. Conrad M. Stibbe: Das andere Sparta. (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Bd. 65). von Zabern, Mainz 1996, ISBN 3-8053-1804-9, S. 163–203. Andere Gebiete John D. Beazley: Etruscan vase painting. Clarendon Press, Oxford 1947. John Percival Droop: The dates of the vases called ’Cyrenaic’. In: Journal of Hellenic Studies. Bd. 30, 1910, , S. 1–34. Andreas Rumpf: Chalkidische Vasen. Mit Benutzung der Vorarbeiten von Georg Loeschcke. de Gruyter, Berlin u. a. 1927. Weblinks Anmerkungen Antike Vasenmalerei (Stil)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Santa%20Fe%20Trail
Santa Fe Trail
Der Santa Fe Trail ist eine historische Handelsroute in den Vereinigten Staaten. Die je nach Variante zwischen etwas über 800 und knapp 900 Meilen (1300–1450 km) lange Route verband im 19. Jahrhundert die besiedelten Regionen am Missouri River durch Prärien und Wüsten mit den damals zu Mexiko gehörenden Gebieten im heutigen Südwesten der USA. Nach dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg (1846–1848) wurde New Mexico Teil der Vereinigten Staaten und die Richtung der Handelsströme veränderte sich. Mit der Ankunft der Eisenbahn in den 1870er Jahren verlor die Straße an Bedeutung. Erst in den 1930er Jahren wurden überregionale Highways entlang oder auf der historischen Route gebaut. In den Vereinigten Staaten konnten viele Waren wesentlich günstiger oder in besserer Qualität hergestellt werden, als es in Mexiko möglich war. Importgüter aus Spanien konnten erst recht preislich nicht konkurrieren. Dabei standen Textilien an erster Stelle: Feine Baumwollstoffe oder grober Kattun, Seidengewebe, Samt und Spitze waren begehrt. Werkzeuge erzielten gute Preise und auch Bücher und andere Papiererzeugnisse verkauften sich gut. Die mexikanischen Händler in Santa Fe und Taos bezahlten in Gold und Silber oder lieferten Pferde und Maultiere sowie in begrenztem Umfang Biber- und Otterfelle aus den Bergen des Südens. Die größte Bedeutung hatte der Santa Fe Trail nicht kommerziell, der Umsatz überstieg nur in wenigen Jahren eine halbe Million Dollar, sondern in seiner kulturellen und politischen Funktion. Er war die erste und lange Zeit wichtigste Verbindung zwischen den alten spanischen Territorien mit den jungen, britisch geprägten Vereinigten Staaten. Außerdem war der Handel mit New Mexico neben dem Pelzhandel die erste wirtschaftliche Nutzung des Westens und hatte so entscheidenden Einfluss auf die Geschichte des „Wilden Westens“. Verlauf Der Handel auf dem Santa Fe Trail fällt in die Zeit der Besiedlung des nordamerikanischen Westens. Der Weg begann am Missouri River, auf dem die Waren per Schiff zu den westlichsten Orten der Vereinigten Staaten transportiert wurden. Mit der vorrückenden Besiedlung verschob sich der Beginn des Trails nach und nach flussaufwärts Richtung Westen zu neuen Ortschaften. Wurden die ersten beiden Handelszüge noch in Franklin, Missouri ausgerüstet, konnten sich spätere dem Verlauf des Missouri flussaufwärts folgend in Arrow Rock, dann Lexington, bei Fort Osage und schließlich in Independence sammeln. Je nach Betrachtungszeitraum gelten heute Franklin oder Independence als Beginn des Santa Fe Trails. In Independence verließ die Route den Missouri River und es begann der wochenlange Zug durch die Steppen des späteren Kansas. Diese waren der Lebensraum der großen Bison-Herden und Jagdgebiet der Prärie-Indianer. Der Trail verlief nach Südwesten über den heutigen Ort Olathe nach Gardner. Hier zweigten ab den 1840er Jahren die bis dorthin mit dem Santa Fe Trail gemeinsam verlaufenden Siedler- und Handelswege über die Rocky Mountains ab. Der Oregon Trail, der Mormon Trail und der California Trail verliefen nach Nordwesten Richtung Platte River. Richtung Santa Fe ging es direkt nach Westen. Palmyra im Gebiet des heutigen Baldwin City war ein bedeutender Rast- und Reparaturplatz, an dem sich 1856 eine Siedlung bildete. Council Grove und McPherson waren weitere typische Rastplätze entlang der Route, die schon um 1850 zu Siedlungen wurden. Beim heutigen Great Bend wurde der Arkansas River erreicht. Für die nächsten gut 150 km verlief die Route am Fluss aufwärts, vorbei am markanten Sandsteinfelsen Pawnee Rock und an Fort Larned (ab 1859) bis zu den verschiedenen Forts (ab 1847) beim späteren Dodge City. Dieser Abschnitt galt als einfach und die Wasserversorgung für Zugtiere und Menschen war problemlos. Später etablierte sich für die letzten 50 km dieser Passage eine Abkürzung, die eine große Flussschleife abschnitt und als dry route bekannt wurde. Ab Dodge City gab es zwei Hauptzweige des Santa Fe Trails, die sich jeweils teilweise wieder aufspalteten. Die ursprüngliche, später als Cimarron Cutoff bezeichnete Route war kürzer, aber wesentlich beschwerlicher und noch lange wegen Indianerüberfällen gefährlicher. Sie verlief direkt nach Südwesten in die Cimarron-Wüste, berührte mehrmals den Cimarron River, der im Sommerhalbjahr oft ausgetrocknet war, bevor der Weg durch den Panhandle genannten westlichsten Teil des heutigen Oklahomas New Mexico erreichte. Einige Zweige berührten Colorado knapp, die südlichen kamen nie auf das Gebiet dieses heutigen Bundesstaates (und entsprechen etwa dem Verlauf des heutigen U.S. Highway 56). Die erst einige Jahre später erschlossene, längere, aber sichere Mountain Route führte die Wagenzüge am Arkansas River entlang und in den späteren Bundesstaat Colorado. Bei Bent’s Old Fort zweigte die Route nach Südwesten vom Fluss ab und führte hinauf in die Berge über Trinidad und den anstrengenden Raton Pass nach New Mexico. Bei Fort Union (ab 1851) in New Mexico stießen die beiden Zweige des Trails wieder aufeinander. Ab hier machte der Weg eine Schleife im Süden um die bis zu 3000 m hohen Berge der Sangre-de-Cristo-Kette herum nach Santa Fe. Geschichte Santa Fe war die einzige Stadt in Nuevo Mexico, dem nördlichsten Teil des spanischen Vizekönigreiches Neuspanien. Die Stadt war um 1610 gegründet worden, als die Spanier noch hofften, ein rohstoffreiches und für die Landwirtschaft geeignetes Gebiet im Norden ihres Reiches erschließen zu können. Als sich diese Hoffnungen als Trugschluss herausstellten, behielten sie das Territorium, um ihre Ansprüche auf die Neue Welt gegen die Franzosen und Engländer zu verteidigen. Vorgeschichte Die Provinz Nuevo Mexico lag abgelegen. Im 17. Jahrhundert schickte der Vizekönig nur alle drei Jahre eine Karawane mit Versorgungsgütern auf die 2400 km lange Reise von Ciudad de México (Mexiko-Stadt) über El Camino Real de Tierra Adentro, die königliche Straße nach Norden. Mitte des 18. Jahrhunderts etablierte sich Chihuahua als Handelszentrum nur 550 km südlich von Santa Fe, der Handel lebte langsam auf. Nach dem Franzosen- und Indianerkrieg, den Kämpfen auf dem nordamerikanischen Kontinent im Rahmen des Siebenjährigen Kriegs, trat Frankreich 1763 Louisiana an Spanien ab. Beziehungen von Sante Fe in das von Franzosen gegründete St. Louis kamen jedoch nie in Gang. Ab 1787 gab es vereinzelten Handel mit San Antonio im ebenfalls spanischen Texas, die Stadt Santa Fe blieb aber arm und abhängig von den südlichen Zentren. Um die Wende zum 19. Jahrhundert hatte die Stadt etwa 3000 Einwohner, überwiegend Pueblo-Indianer und Mestizen. Ihre außer am zentralen Marktplatz locker verstreuten Gebäude bestanden fast ausschließlich aus Adobe-Lehmziegeln, was Händler und Autor Josiah Gregg dazu verleitete, bei seinem ersten Blick ins Tal der Stadt zu vermuten, er schaue auf die Vororte und Ziegelbrennereien von Santa Fe. Ein Begleiter antwortete „Es ist wahr, das sind aufgeschichtete Stapel ungebrannter Ziegel, dennoch sind es Häuser − das ist die Stadt Santa Fe.“ 1800 zwang Napoléon Bonaparte im Dritten Vertrag von San Ildefonso Spanien, das ehemals französische Louisiana wieder an Frankreich zu übergeben, er verkaufte die Gebiete schon 1803 im Louisiana Purchase an die jungen Vereinigten Staaten von Amerika. Das von Spanien als Puffer zunächst gegen England und dann die USA gedachte Territorium geriet so in die Hände des Konkurrenten und Neuspanien verbot jeden Handel mit dem als gefährlich empfundenen Nachbarn im Nordosten, sodass es durch die lebensfeindlichen Steppen und Wüsten des Südwestens nur wenige Beziehungen gab. Inzwischen blühte die Stadt St. Louis durch den Pelzhandel auf und das Interesse richtete sich auch auf die neuspanischen Gebiete. Der amerikanische Entdecker und Offizier Zebulon Pike wurde 1807 von Spaniern am Rio Grande festgenommen und erst nach monatelanger Haft freigelassen, als er das neue amerikanische Territorium erkundete und dabei die spanische Grenze überschritten hatte. Andere waren weniger glücklich und wurden jahrelang festgehalten oder verschwanden für immer. Unabhängigkeit Mexikos Mit der Unabhängigkeit Mexikos im Jahr 1821 endete die Sperrung der Grenze. Noch im selben Jahr führte William Becknell den ersten Handelszug im Wert von 700 Dollar vom Missouri River nach Santa Fe und etablierte die Cimarron Route des Santa Fe Trails. Er wurde freundlich empfangen und konnte seine Waren mit großem Profit verkaufen. Über seine Rückkehr wird berichtet: 1822 zogen schon vier Händler durch die Wüste, darunter wieder Becknell, der diesmal Güter im Wert von $3000 mitführte und laut zeitgenössischen Berichten einen Profit von 2000 % erlöste. Seine Waren bestanden überwiegend aus verschiedenen Textilien, Schnallen, Knöpfen, Nähnadeln und Nähgarn, Scheren, Rasiermessern, Töpfen und Pfannen, mehreren Kaffeemühlen, Messern, Schaufeln, Hacken, Äxten, Schreibpapier. Auch ein paar Fässchen Sherry und Claret soll er transportiert haben. Sogar seinen Planwagen, der ihn in Missouri $150 gekostet hatte, verkaufte er in Santa Fe für $750. Als zweiter Händler auf dem neuen Trail gilt Etienne Provost, ein franko-kanadischer Pelzjäger, der bei früheren Versuchen mehrmals von spanischen Grenzsoldaten festgenommen worden war. Einige Händler stiegen bereits im zweiten Jahr in das Kommissionsgeschäft ein und verkauften Waren Dritter, oder sammelten bei interessierten Kapitaleignern Gelder, mit denen sie die Handelswaren einkauften. Nachdem sich die Wirtschaft in den Vereinigten Staaten langsam von der Wirtschaftskrise von 1819 erholte, konnten sich die Händler großzügig mit Kapital versorgen, die Warenmengen und -werte stiegen rapide an. Dabei legten die Kapitalgeber in der Regel nur kleine Summen an. Der typische Einsatz lag zwischen 100 und 600 Dollar. Dafür war fast jeder auf dem Zug selbst am Handel beteiligt, Hilfskräfte gab es kaum. 1824 schlossen sich alle Händler aus Sicherheitsgründen zusammen und bildeten einen gemeinsamen Wagen- und Mulizug durch das Indianergebiet. Laut einer zeitgenössischen Quelle erreichte der Erlös des Jahres 180.000 $ bei einem Wareneinsatz im Wert von 35.000 $. In New Mexico trat in der Folge eine empfindliche Geldknappheit ein. Mexiko reagierte mit kontinuierlich steigenden Zöllen, um einen Teil der Gewinne im Land zu behalten und in die Staatskassen zu leiten. Der Trail Die Reise dauerte zwischen drei und vier Monaten pro Richtung und in dieser Zeit waren die Handelszüge in der menschenleeren Wildnis unterwegs. Die Gefahren reichten von Indianerüberfällen bis zu ausgetrockneten Quellen in der Wüste. Nur eine Fahrt pro Jahr war möglich. Sie konnte nicht beginnen, bevor in den Steppen das frische Gras spross, von dem sich die Zug- und Packtiere ernähren sollten, Die Saison endete mit der Gefahr von Blizzards bei einem frühen Wintereinbruch. Unterwegs verpflegten sich die Karawanen überwiegend durch die Jagd, die Bisons waren die Grundlage ihrer Ernährung. 1825 beschloss der US-Kongress, das Geschäft durch den Ausbau der Straßenverbindung zu fördern. Thomas Hart Benton, Senator aus Missouri, hatte sich in besonderem Maße für das Projekt eingesetzt. Für 10.000 Dollar wurde die Route bis 1827 als Highway ausgebaut, weitere 20.000 Dollar wurden bereitgestellt, um von den Indianervölkern das Recht auf freie Passage zu erwerben. Zwischen 1825 und 1827 erkundete George C. Sibley die Route vom Missouri River zum Arkansas River, der Grenze zu Mexiko. Er errichtete Wegmarkierungen aus Erdhügeln und führte die Straße an Flüssen zu geeigneten Furten. Brücken wurden nicht für nötig erachtet, die Flüsse waren flach und breit, das Gelände eben und jährliche Hochwasser hätten große Investitionen für den Unterhalt erfordert. Soweit nötig wurden Ufer abgeschrägt. Parallel zum Bau der Straße führte er Verhandlungen mit den Indianern. Am Ufer des Neosho Rivers, beim späteren nach der Versammlung benannten Ort Council Grove, Kansas, traf Commissioner Sibley im Sommer 1825 mit Vertretern der Osage zusammen und konnte das Recht zur freien Passage ihres Gebietes für Waren im Wert von $800 erwerben. Später schloss er in der Nähe von McPherson einen Vertrag desselben Inhaltes auch mit den Kansa. Von der Regierung Mexikos erhielt Sibley die Genehmigung, den Verlauf der Straße auf mexikanischem Boden zu erkunden, sie gestatteten ihm aber nicht, Markierungen anzulegen. Enttäuscht kehrte er im Sommer 1826 zurück und nutzte das Jahr 1827, um die Route zu optimieren. Nachdem in Washington der Bericht und die offizielle Wegbeschreibung aus unbekannten Gründen nie veröffentlicht wurde, war der Straßenausbau ein Misserfolg. Die genaue Beschreibung war nicht bekannt, Markierungen verwitterten schnell und die Händler suchten sich je nach Wetter und Bodenbeschaffenheit eigene Routen. Anstelle einer Straße gab es ein breitgestreutes Bündel an möglichen Wegen. Konflikte Mit den jedes Jahr steigenden Werten der Wagenkarawanen stieg auch die Gefahr von Indianerüberfällen. Im Süden des späteren Kansas begann das Land der Komantschen und Pawnees. Diese und andere Völker nahmen zwar Zahlungen der Regierung, griffen aber trotzdem Wagenzüge an. 1828 gab es erstmals Tote, zwei Kundschafter einer mittelgroßen Händlergruppe, die mit einer Herde aus 1200 Pferden und Mulis auf dem Weg nach Osten waren. Die Weißen griffen daraufhin die nächsten Indianer an, denen sie begegneten, und töteten fünf Pawnees. Deren Volk erklärte nunmehr allen Weißen den Krieg und griff an der großen Schleife des Arkansas den Zug an. Beim anschließenden Gefecht gab es wohl auf keiner Seite Tote, aber rund 700 der Tiere brachen in eine Stampede aus und konnten nur zum kleinsten Teil wiedergefunden werden. Später im selben Jahr lockten Komantschen einen anderen Handelszug auf dem Rückweg in eine Falle. Mehrere Tage lang griffen sie Tag und Nacht an, verlangsamten den Zug bis zum Stillstand in einer Wagenburg. Die Händler schlichen sich in der Nacht von ihren Wagen, Mulis und ihrem Vermögen weg und schlugen sich zu Fuß mit immer noch zwischen sechs- und zehntausend Dollar in Silber, die sie an einem Zwischenstopp vergruben, über 800 km bis zur nächsten Siedlung in Missouri durch. Milton Bryan, einer der Leiter des Zuges, schloss sich im folgenden Jahr mit den später berühmten Händlern William und Charles Bent zu einem Zug zusammen, neben einem zweiten Versuch im Handel wollte er das vergrabene Silber bergen. Ihre Karawane wurde erstmals durch US-Infanterie begleitet. Auf Drängen der Händler und der Politik aus den Grenzstaaten hatte Präsident Andrew Jackson angeordnet, dass vier Kompanien unter Major Bennett Riley in den Südwesten verlegt und sie den Frühjahrszug bis zur mexikanischen Grenze begleiten würden. Riley hatte schon 1823 beim ersten Indianer-Feldzug jenseits des Mississippi gegen die Arikaree teilgenommen und galt als erfahren. Der Zug erreichte die Grenze am Arkansas River ereignislos und Bryan konnte sein Silber wiederfinden. Die Armee baute an der Grenze ein Camp und wollte dort auf die Rückkehr der Händler warten. Kurz hinter der Grenze wurde der Zug von Komantschen oder nach anderen Berichten Kiowa angegriffen, ihr Kundschafter starb „gespickt mit Pfeilen“. Als die Händler zu den Waffen griffen, flohen die Indianer. Durch Boten alarmiert überschritt Major Riley mit seinen Truppen die Grenze. Bryant berichtete: „Am nächsten Morgen waren die Hügel mit vollen zweitausend Indianern bedeckt, die wohl zusammengekommen waren, um uns auszulöschen. Als die Feiglinge [die Armee] sahen, verschwanden sie.“ Auf dem Rückweg konnten die Bents und Bryan eine Eskorte durch die mexikanische Armee und einige befreundete Indianer erreichen. Am Arkansas River trafen sich die beiden Armeen, die Kommandeure veranstalteten ein festliches Abendessen und ab hier übernahm wieder Major Riley die Sicherung. Eine regelmäßige Begleitung aller Karawanen war nicht möglich, stattdessen baute die Armee einen Streifendienst in der Region auf. Trotz der Gefahren rentierte sich der Handel, Milton Bryan konnte sich nach den beiden Reisen zur Ruhe setzen. 1831 wurde Jedediah Smith, einer der berühmtesten Trapper, Pelzhändler und Mountain Men bei seinem ersten Handelszug auf dem Santa Fe Trail in der Cimarron-Wüste von Komantschen erschlagen. Gewalt wurde auch in der anderen Richtung ausgeübt, einige Händler zogen toten Indianern nicht nur die Haut ab, sondern ließen sie als Trophäen von den Wagen wehen. Im März 1833 reagierte die Politik auf die Risiken für die lukrativen Beziehungen zum Nachbarn Mexiko. Noch im selben Monat autorisierte der Kongress die Aufstellung einer Kompanie berittener ranger oder dragoons (Dragoner) im Fort Leavenworth, Kansas zum Schutz des Handelsweges. 1834 zogen ein Teil der dragoons in das neue Fort Gibson in Oklahoma um. Ausbau der Beziehungen Für den Handel im Westen wurden in den 1830er Jahren Geschäfte mit den Indianervölkern zunehmend wichtiger. 1833 eröffneten drei erfahrene Santa-Fe-Händler, die Brüder Charles und William Bent mit ihrem Partner Ceran St. Vrain, die erste feste Handelsstation, Bent’s Old Fort, als Stützpunkt für den Handel mit den Cheyenne. Das Fort lag nahe den Rocky Mountains am Grenzfluss Arkansas River auf dem amerikanischen Nordufer. William Bent war mit Owl Woman, der Tochter eines Cheyenne-Medizinmanns verheiratet und hatte hervorragende Beziehungen zu verschiedenen Angehörigen des Volkes. Die Bents kauften Pelze (zunächst Biber und Otter, später überwiegend Büffelhäute) für den Verkauf in St. Louis. Außerdem boten im Fort Handwerker, wie ein Schmied und ein Zimmermann, ihre Dienste den Handelskarawanen auf dem Santa Fe Trail an. Künftig nutzten viele die etwas längere, aber sicherere Mountain Route entlang dem Arkansas River bis Bent’s Fort, dort über den Fluss nach Mexiko und nach Süden über den Raton Pass. Für 13 Jahre war das Fort die einzige Siedlung von Weißen auf mehreren hundert Meilen des Trails. Für die Indianer der benachbarten Völker entwickelte es sich zum neutralen Ort für Powwows und andere Verhandlungen. Mitte der 1830er Jahre wurde der Handel Routine, auch die Konflikte mit den Indianern wurden durch die ständige Präsenz der Armee weitgehend unterdrückt. Mexikanische Händler stiegen ins Geschäft ein und überließen die Profite nicht mehr ausschließlich den Amerikanern. Eine Revolte der indianischen und mexikanischen Bevölkerung von New Mexico gegen den von Mexiko-Stadt eingesetzten Gouverneur im Jahr 1838 und ihre blutige Niederschlagung behinderten den Handel nur wenig. Als der mexikanische Gouverneur Manuel Armijo 1839 eine pauschale Steuer von $500 pro Planwagen einführte, bauten die Händler Wagen von bisher ungekannter Größe: Die Händler nannten die Wagen prairie schooner, nach dem Bootstyp Schoner. Auch andere Begriffe des Handels wurden der Seefahrt entlehnt. Die Prärie wurde zum gras sea (Grasmeer) und die neue Siedlung am Ufer des Missouri, aus der sich das heutige Kansas City entwickelte, wurde West Port (West Hafen) genannt. Im Laufe der Jahre konnten die Händler die Geschwindigkeit der Reise erhöhen und bewältigten in den 1840er Jahren die Strecke in nur noch zwei Monaten. Während der Saison 1843 zogen 250 Wagen durch die Steppen, die Karawanen erreichten eine Länge von bis zu einer Meile (1,6 km). Auf diesen größten Zug reagierte Gouverneur Armijo mit einer Sperre der Grenze. Der amerikanische Einfluss auf das Leben und die Wirtschaft des Landes wurde zu dominant. Das Verbot brachte die mexikanische Bevölkerung der Grenzprovinz gegen die Regierung auf. Der Abzweig nach Nordwesten In den 1840er Jahren begann die eigentliche Besiedelung des Westens. Die Prärien galten als lebensfeindlich, die Siedler zogen über die Rocky Mountains in die Küstenregionen am Pazifischen Ozean in Oregon oder Kalifornien. Nach ersten Pionieren startete der erste größere Siedlertrek 1842 unter der Führung des Missionars Marcus Whitman nach Oregon. Alle Wege über die Rocky Mountains begannen wie der Santa Fe Trail in Independence und sie verliefen die ersten Meilen bis Gardner gemeinsam. Dort zweigten sie nach Nordwesten ab, zum Platte River und seinen Nebenflüssen North Platte River und Sweetwater River hinauf zum South Pass, dem einzigen bekannten Pass über die Berge, der für Planwagen geeignet war. 1846/48: Kriegszug auf dem Trail Im Jahr 1841 versuchte die seit 1836 von Mexiko unabhängige, überwiegend von Amerikanern besiedelte Republik Texas, New Mexico zu erobern und zu annektieren. Der texanische Präsident Mirabeau B. Lamar hoffte, den lukrativen Handel mit Mexiko über seine Republik umzuleiten. Diese Texanische Santa-Fe-Expedition misslang, und Lamar verlor die folgenden Wahlen an seinen Vorgänger Sam Houston. Drei Jahre später versuchte Texas noch einmal, Mexiko zu überfallen und mindestens New Mexico, möglichst auch den mexikanischen Staat Chihuahua zu annektieren. Die texanische Miliz musste nach ihrem nur teilweise erfolgreichen Überfall auf amerikanisches Gebiet ausweichen und wurde dort von der US-Armee gestellt und festgenommen. Als Mexiko von der Festnahme der Texaner hörte, änderte sich die Einstellung zu den Amerikanern und die Grenzen wurden wieder für die Händler geöffnet, doch für einen regulären Handelszug war es in diesem Jahr schon zu spät. Im folgenden Jahr schloss Mexiko die Grenze aber schon vor Beginn der Saison wieder. Grund waren die laufenden Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten und Texas über einen Beitritt der Republik als Bundesstaat. Im Dezember 1845 unterzeichnete Präsident James K. Polk die Urkunde, und Texas wurde als 28. Staat in die Union aufgenommen. Für Mexiko war die Entwicklung inakzeptabel. Die Mexikaner hatten 1836 die Unabhängigkeit Texas' von Mexiko nicht anerkannt und weigerten sich jetzt, den Beitritt und die Grenze am Rio Grande zu akzeptieren. Der mexikanische Botschafter wurde aus Washington abgezogen, und beide Staaten begannen mit Vorbereitungen für den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg. Am 25. April 1846 überschritten mexikanische Truppen den Rio Grande und drangen nach Texas ein. Die US-Armee war vorbereitet, Brigadegeneral Zachary Taylor überschritt seinerseits den Fluss und stieß tief nach Mexiko vor. Die Mexikaner wurden geschlagen, mussten sich zurückziehen und Taylor besetzte drei mexikanische Bundesstaaten. Währenddessen hatten die USA eine zweite Armee aufgestellt, die Army of the West, die unter Brigadegeneral Stephen W. Kearny von Fort Leavenworth über den Santa Fe Trail nach New Mexico zog. Der Brigadegeneral kaufte alle verfügbaren Wagen und Ochsen auf, um seinen Nachschub zu sichern; trotzdem wurde die Reise für seine knapp 1700 Mann mehr zu einem Kampf gegen den Hunger als gegen die Mexikaner, die Santa Fe kampflos aufgaben. Kearny erklärte New Mexico zu einem Territorium der Vereinigten Staaten und setzte den Händler Charles Bent als vorläufigen Gouverneur ein. Mit 300 Mann und Kit Carson als Kundschafter zog Kearney weiter und konnte schließlich im Frühjahr 1847 das ganze mexikanische Oberkalifornien besetzen. Unter General Winfield Scott zog die US-Armee fast gleichzeitig siegreich in Mexiko-Stadt ein. Im Februar 1848 musste Mexiko im Vertrag von Guadalupe Hidalgo die Territorien der heutigen US-Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, Nevada, Utah, Teile von Colorado und Wyoming und auch New Mexico an die Vereinigten Staaten abtreten. Für den Handel war der erwartete Ausgang des Krieges ein Glücksfall. Die Händler hatten gehofft, dass mit der mexikanischen Verwaltung die verhassten Zölle fallen würden, und die amerikanischen Soldaten in Santa Fe erschienen ihnen als zusätzliche zahlungsfähige Kunden. Laut Josiah Gregg, selbst Händler und Autor, überschritt das Handelsvolumen auf dem Santa Fe Trail 1846 erstmals eine Million Dollar, mehr als das Doppelte gegenüber dem bisherigen Rekordjahr. 370 große Wagen, 12 Küchenwagen, 50 kleine Wagen und zwischen 750 und 800 Männer zogen in diesem Jahr über den Trail. 37 weitere Wagen brachen zu spät auf und scheiterten in einem Blizzard. Ausbau und Siedler Mit der Aufnahme der ehemals mexikanischen Gebiete in die Vereinigten Staaten veränderte sich der Charakter des Handels auf dem Santa Fe Trail. Der Westen wurde zunehmend als Siedlungsraum angesehen, immer mehr Amerikaner ließen sich jenseits des Mississippi nieder. Auch auf dem Santa Fe Trail entstanden Siedlungen. Bereits im April 1847, der Krieg war im Süden und Kalifornien noch unentschieden, eröffnete ein General Store in Council Grove, etwa 100 km von Independence entfernt. Gleichzeitig errichtete die US-Regierung eine Reparaturwerkstatt für Wagen am Arkansas River, wo die Cimmaron Route und die Mountain Route sich trennten. Mann’s Fort oder Fort Mann beim späteren Dodge City wurde jedoch nach dem Krieg nicht mehr benötigt und 1848 nach einem Indianerangriff aufgegeben. Im Januar 1848 wurde bei Sutter’s Mill in Kalifornien das erste Goldnugget gefunden. Die Nachricht breitete sich nur langsam aus, erst im Dezember desselben Jahres bestätigte Präsident Polk offiziell den Fund und rechtfertigte damit die Eroberung Kaliforniens. Im Winter trafen Tausende Vorbereitungen und im Frühling 1849 sammelten sie sich am Missouri − Der Kalifornische Goldrausch begann. Am 17. April warteten 2500 hoffnungsvolle Reisenden in Independence, rund 100 in Westport und weitere 100 in Kansas, Missouri auf die Abfahrt ihrer Karawanen. Die Orte hatten zusammen ein paar hundert Einwohner und wurden durch den Ansturm förmlich überrannt. Rund 20.000 Mann zogen alleine 1849 über die Rocky Mountains nach Kalifornien. Aber etwa 2500 entschieden sich, nach Südwesten zu gehen und dem Santa Fe Trail nach New Mexico zu folgen. Viele von ihnen zogen auf dem Old Spanish Trail weiter nach Südkalifornien, einige blieben und siedelten sich in den neuen Gebieten an. In den Jahren 1850/51 reagierte die US-Regierung auf die wieder wachsende Bedrohung des Handels und kleinerer Siedlungen durch Indianer. Die Armee hatte nach der Eroberung New Mexicos elf kleine Posten hinterlassen, die sich als unpraktisch herausstellten. Einzeln waren sie zu schwach gegen die Apachen und Komantschen, für koordinierte Aktionen lagen sie zu weit auseinander. So baute die Armee Forts an den Knotenpunkten des Santa Fe Trails. Am Standort des ehemaligen Forts Mann wurde Fort Atkinson errichtet, wo die beiden Zweige des Trails in New Mexico wieder zusammentrafen, entstand Fort Union. Gut 150 km von Santa Fe und an der Ostflanke der Rocky Mountains wurde Fort Union zeitweilig der größte Stützpunkt westlich des Mississippi Rivers und der zentrale Versorgungsknoten und Aufmarschplatz für Militärkampagnen im ganzen Südwesten, so wie Fort Atkinson die Prärien kontrollierte. Seit Mitte des Jahres 1850 gab es einen regelmäßigen Postdienst zwischen Santa Fe und Independence. Um acht Uhr morgens an jedem Monatsersten startete ein Postwagen in Santa Fe und einer in Independence. Die Zustellung am anderen Ende des Weges innerhalb von 29 Tagen wurde garantiert. In den folgenden Jahren baute die Armee ihre Standorte Richtung Westen aus. Teile der Truppen aus Fort Leavenworth zogen 1853 nach Fort Riley, beim heutigen Junction City. Der Name stammte von Bennett Riley, der 1823 gegen die Arikaras gekämpft, 1829 die Santa-Fe-Händler auch auf mexikanischem Boden geschützt hatte, inzwischen zum Zwei-Sterne-General befördert worden war und bis zur Anerkennung Kaliforniens als Bundesstaat 1850 als Militär-Gouverneur des Territoriums gedient hatte. Am Arkansas River zwischen Great Bend und Fort Atkinson wurde mit Fort Larned ein weiterer Militärstützpunkt zur Kontrolle der Prärien errichtet. Der Handel blühte in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre, es entstand eine stabile Berufsgruppe der Teamsters, die für Auftraggeber im Handel oder zur Versorgung des Militärs Wagenzüge organisierten und führten. Wild Bill Hickok sammelte so erste Erfahrungen, bevor er später als Sheriff und Marshall zum Wild-West-Helden wurde. Ein Erfinder namens Thomas erschien in Westport, und stellte seinen selbst konstruierten Windwagon vor, einen durch Segel angetriebenen Planwagen, mit dem er in nur 6 Tagen nach Kalifornien fahren wollte. Er kam immerhin rund 100 km bis Council Grove, wo sein Wagen umstürzte und schwer beschädigt wurde. Bürgerkrieg Im Jahr 1854 wurden zwei neue Territorien im ehemaligen Louisiana errichtet: Kansas und Nebraska. Umstritten war der Kansas-Nebraska Act, weil sich damit das seit dem Missouri-Kompromiss von 1820 bestehende Gleichgewicht zwischen sklavenhaltenden und „freien“ Staaten in der Union zu verschieben drohte. Sowohl Befürworter der Sklavenhaltung, vorwiegend aus dem benachbarten Missouri, als auch Abolitionisten rekrutierten in ihren Kreisen für die Besiedelung von Kansas, um dort die Mehrheit zu erringen. Die Konflikte zwischen den Staaten des Nordens und dem Süden spitzten sich zu. Ab Dezember 1860 traten die Konföderierten Staaten von Amerika aus der Union aus, was die Mehrheiten im Kongress änderte. Im April 1861 konnte Kansas als Bundesstaat anerkannt werden, mit einer Verfassung, die die Sklaverei verbot. Bei einer Rückkehr der Südstaaten in die Union wären sie so immer in der Minderheit gewesen. Weniger als 90 Tage später begann der Sezessionskrieg. Der Handel über den Santa Fe Trail litt anfangs nur wenig unter dem Ausbruch des Krieges. Der Dampfschiff-Verkehr war kurz unterbrochen, bevor der Nachschub der Händler sich neu organisierte. Die Frachtschiffe landeten nun bei Fort Leavenworth und umgingen so Kansas City, Westport und Independence auf dem Ostufer des Missouri. Der Staat Missouri war in der Sklavenfrage und der Unterstützung der Sezession selbst zerrissen, es bildeten sich zwei feindliche Regierungen und beide Seiten stellten irreguläre Truppen auf. Mit den Südstaaten verbündete Missourians brannten Gardner, Kansas am Santa Fe Trail nieder, die Handelszüge verlagerten sich etwas nach Norden, gingen aber weiter. Das änderte sich, als die konföderierten Truppen im August 1861 von Texas aus im New-Mexico-Feldzug große Teile New Mexicos besetzten und die konföderierten Territorien New Mexico und Arizona ausriefen. Im Januar 1862 zogen Truppen der Südstaaten gegen Santa Fe und Fort Union, wurden aber in der Schlacht am Glorieta Pass von der Armee des Nordens und freiwilligen Milizen aus Colorado zunächst zurückgeschlagen und dann von ihren Nachschubwegen abgeschnitten, so dass sich die Konföderierten im März aus ganz New Mexico zurückziehen mussten. Am anderen Ende der Trails gingen die Kämpfe weiter. Konföderierte führten bis Frühjahr 1863 einen Guerillakrieg im östlichen Kansas. Sie überfielen kleine Siedlungen, griffen Nachschubzüge der Union an und raubten auch die Expresspost aus. Die Geschäfte der Händler gingen trotzdem nicht schlecht. Zwar litt der zivile Handel, dafür kamen lukrative Aufträge zur Versorgung der Armeen. Der Herbst 1864 brachte eine neue Bedrohung von Osten. Der konföderierte General Sterling Price marschierte mit einer Armee von zwischen 12.000 und 15.000 Mann in Missouri ein und holte den Staat symbolisch in die Konföderation. Anschließend zog er weiter auf Kansas. Im Oktober kam es zu mehreren Gefechten nahe dem Santa Fe Trail. Die ersten konnte Price noch für sich entscheiden, dann gewannen die Truppen der Union die Oberhand. Price wurde am 23. Oktober 1864 bei Westport entscheidend geschlagen und musste sich unter schweren Verlusten nach Süden zurückziehen. Damit endeten die Kampfhandlungen des Sezessionskriegs im Umfeld des Santa Fe Trails. Im Westen waren die regulären Truppen aus den Prärieforts nach Osten abgezogen worden. Die Freiwilligen, die als Besatzung übernahmen, hatten keine Erfahrung im Umgang mit den Indianern. Kiowas, Cheyennes und Arapahos nutzten die Gelegenheit und griffen wieder verstärkt Handels- und Nachschubzüge an. Sie trauten sich sogar, eines der kleineren Forts zu belagern und die Pferde der Armee zu entführen. Die Milizen schlugen brutal zu, auch gegen friedliche Dörfer, wie im Sand-Creek-Massaker an den Cheyenne. Gegen die beweglichen Gruppen von Indianern konnten sie aber nur geringe Erfolge erreichen. Die Völker wurden zwar vom Santa Fe Trail und aus Kansas vertrieben, im benachbarten Colorado, das wegen der dortigen Goldvorkommen für den Krieg von großer Bedeutung war, blieb die Bedrohung bestehen. Im Winter 1864/65 richtete die Armee drei neue Forts im Gebiet des Santa-Fe-Trails ein, darunter Fort Dodge am Arkansas River als Ersatz für das kurz zuvor aufgegebenen Fort Atkinson. Aus dem Fort sollte sich in der Folge die Stadt Dodge City entwickeln. Außerdem führte die Armee einen Reiseplan für die Händler auf dem Santa-Fe-Trail und die Planwagenzüge durch Colorado ein. Nur noch am 1. und am 15. jeden Monats durften sie aufbrechen, und jeder Zug wurde von Soldaten begleitet. Damit wurden die Angriffe für einige Zeit beendet. Das Ende des Santa Fe Trails In den 1830er Jahren begann der Ausbau der Eisenbahn im dichtbesiedelten Osten der Vereinigten Staaten, schon früh wurden Forderungen laut, eine durchgehende Verbindung durch den ganzen Kontinent zu planen. 1853 leistete die Armee erste Vorarbeiten zu einer solchen Planung, der Sezessionskrieg verhinderte aber zunächst die Umsetzung. Andererseits zeigte sich im Laufe des Krieges die Bedeutung der Eisenbahn als Transportmittel für Güter und Personen, so dass der Kongress auf Antrag von Präsident Abraham Lincoln 1862 den Bau einer Schienenverbindung nach Kalifornien anordnete. Schon 1864 erreichten die Schienen der Union Pacific Railroad den Ort Lawrence, 50 km westlich von Kansas City und nur wenige Kilometer nördlich des Santa Fe Trails. Transporte per Bahn waren schneller und billiger, so dass die Siedlung schnell zum neuen Ausgangspunkt des Trails wurde. In den folgenden Jahren verschob sich der Endpunkt der Eisenbahn immer weiter in die Steppen von Kansas, der Santa Fe Trail wanderte mit und wurde immer kürzer. 1865 wurde Topeka erreicht, 1866 Junction City. Im Oktober 1868 gingen Union Pacific vorläufig die Gelder aus, die Fördermittel der Bundesregierung für die Erschließung des Westens waren aufgebraucht. Die Schienen lagen zu diesem Zeitpunkt bis kurz vor der Grenze zu Colorado. Mitten in der Prärie entstand beinahe über Nacht eine Stadt aus dem Nichts. Am Sheridan genannten, vorläufigen Endpunkt der Eisenbahn stiegen die Passagiere auf Kutschen um, die Fracht wurde auf Wagen umgeladen. Denver und Pueblo waren von hier nur noch 30 Stunden, Santa Fe nur drei Tagesreisen entfernt. Schon im März 1869 konnte sich die Bahngesellschaft neue Geldquellen erschließen. Sie gliederte den Geschäftsbereich als Kansas Pacific aus und baute die Schienen weiter − im März 1870 war Kit Carson erreicht. Fast alle Bauten aus Sheridan wurden auseinandergenommen und an den neuen Endpunkt der Strecke transportiert. Bis 1871 blieben noch rund 80 Personen in Sheridan, dann schloss dort das Post Office, die letzten Einwohner zogen weg. Heute gibt es keine Spuren der Siedlung mehr. Die Indianervölker waren die großen Verlierer der Besiedelung des Westens durch die Weißen. Nach einigen Überfällen der Cheyenne, Arapahos, Kiowas und Komantschen auf die Wagenkolonnen und die Eisenbahn erhöhte die Armee 1867 den Druck auf die Indianer. Im Frühsommer wurden die Völker gezwungen, einen Vertrag abzuschließen, der ihnen Reservate im Norden des Indianer-Territoriums zuwies. Der Vertrag wurde nicht eingehalten, die Indianer konnten oder wollten nicht ihre Jagdgebiete und die einzige Lebensweise aufgeben, die sie kannten. Im November des folgenden Jahres führte Oberstleutnant George Armstrong Custer mit der 7. Kavallerie als Vergeltungsmaßnahme einen Angriff auf ein großes Dorf der Cheyenne. Das im Winter auf Frieden eingestellte Dorf war in zehn Minuten besetzt, rund 100 Männer erschlagen und der Reichtum des Volkes, etwa 800 Pferde erschossen. Der folgende große Aufstand der Cheyenne wurde blutig niedergeschlagen. Im Juli 1869 starb ihr Kriegshäuptling Tall Bull beim letzten großen Gefecht im Süden Colorados. Im Mai 1869 war die transkontinentale Eisenbahnverbindung mit einem symbolischen Golden Spike (goldenen Schienennagel) in der Nähe des Großen Salzsees in Utah vollendet worden. Die Siedlerströme nach Westen hatten aber schon lange nicht mehr am Missouri begonnen, so dass sich für Kansas und den Santa Fe Trail zunächst nicht viel änderte. Aber in den 1870ern fand ein Wettbewerb um den Warenverkehr nach Santa Fe statt. Die neugegründete Atchison, Topeka and Santa Fe Railway baute eine Stichstrecke ab Topeka nach Südwesten und erreichte 1873 Granada am Arkansas River, kurz hinter der Grenze in Colorado. Um ihr das Geschäft nicht zu überlassen, stieß die Kansas Pacific ihrerseits nach Süden an den Arkansas vor. Mittlerweile war ein dritter Mitspieler aufgetreten, die Denver & Rio Grande Railway hatte eine Verbindung entlang der Ostflanke der Rocky Mountains von Denver bis kurz vor die Grenze nach New Mexico am Raton Pass gebaut. Kansas Pacific orientierte sich nach Nordwesten und baute Richtung Denver. Aber Atchison, Topeka and Santa Fe Railway (ATSF) und Denver & Rio Grande Railway (DRG) konkurrierten 1878 um den Übergang über den Pass und den Zugang nach New Mexico. Es entbrannte ein Wirtschaftskrieg um die lukrativen Rechte. Als ATSF eine Bande Revolverhelden anheuerte und gleichzeitig der kleineren DRG das Geld ausging, setzte ATSF sich durch. Im Jahr 1879 war die Strecke bis Lamy (rund 35 km südlich von Santa Fe) vollendet, und der Bau ging nach Albuquerque weiter. Im folgenden Jahr legte ATSF die letzten Meilen Schienen entlang dem Rio Grande ins Stadtgebiet von Santa Fe. Die Zeitung New Mexican titelte „Der alter Santa Fe Trail fällt in Vergessenheit“. Die Straßenverbindung verlor stark an Bedeutung bis ab den 1930er Jahren das Highway-System moderne, asphaltierte Überlandstraßen auch in den Südwesten brachte. Santa Fe Trail heute Im Jahr 1907 begann die Frauenvereinigung Daughters of the American Revolution im Rahmen einer Erinnerungskampagne Wegmarkierungen aufzustellen, die das Gedenken an den Santa Fe Trail aufrechterhalten sollen. Der Santa Fe Trail ist seit 1987 als National Historic Trail ausgewiesen. Der National Park Service koordiniert zusammen mit dem Verein Santa Fe Trail Association eine gemeinsame Beschilderung von über 100 Orten, an denen Spuren des Trails oder historische Einrichtungen aus der Zeit erhalten geblieben sind. Im Ford County in Kansas haben die Überreste des Trails den Status einer National Historic Landmark. Die Bandbreite reicht von Ruts genannten Wagenspuren, die auch nach fast 200 Jahren noch die Stelle erkennen lassen, wo die Planwagen ein Flussufer passiert haben, bis zu Forts, Farmen oder Poststationen. Einige davon sind selbständig als Schutzgebiete oder Gedenkstätten des Bundes oder eines der Bundesstaaten am Trail ausgewiesen. Entlang des Abschnitts vom Arkansas River in Kansas nach New Mexico verläuft der heutige US-Highway 56 auf oder parallel der historischen Route des Cimarron Cutoff. In Colorado und New Mexico sind Highways entlang der längeren Mountain Route unter dem Namen Santa Fe Trail National Scenic Byway als National Scenic Byway ausgeschildert. Umsatz auf dem Santa Fe Trail bis 1843 Quelle: Josiah Gregg, Commerce of the Prairies − or The journal of a Santa Fè trader − during eight expeditions across the great western prairies, and a residence of nearly nine years in northern Mexico, H.G. Langley, New York 1844, Band 2, Kapitel 9 Einigermaßen verlässliche Zahlen über die Umsätze auf dem Santa Fe Trail liegen nur für die Jahre bis 1843 vor. Auch sie sind nicht vollständig, denn sie geben nur die Zahlen der amerikanischen Händler wieder, berechnet nach dem Warenwert bei ihrem Aufbruch Richtung Santa Fe. Die Umsätze der ab den 1830er Jahren beteiligten mexikanischen Händler fehlen. Dafür zeigen sie, welcher Anteil der Waren in Santa Fe verkauft wurde und wie viel durch Amerikaner in anderen Orten New Mexicos wie Taos und Chihuahua abgesetzt wurde. Bedeutung des Santa Fe Trails Kommerziell war die Bedeutung des Überlandhandels mit Mexiko eher gering. Soweit Zahlen vorliegen machen sie nur einen Bruchteil des Außenhandels der USA aus. In den 1830er Jahren schwankte der Umsatz zwischen 90.000 $ und 250.000 $. Vom Beginn bis 1843 liegt der durchschnittliche Umsatz bei $130.000. In den folgenden Jahren sticht das Kriegsjahr 1846 heraus, in dem erstmals eine Million Dollar an Umsatz erreicht wurden. Auch als New Mexico als Teil der Vereinigten Staaten etabliert war, war der Handel mit 3,5 Millionen Dollar im Jahr 1860 kein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Wirklich reich geworden ist im Santa-Fe-Handel wohl niemand. Das Geschäft blieb auch die größte Zeit eine Domäne kleiner Unternehmer, nie bildeten sich Handelsimperien wie im anderen Wirtschaftszweig des Westens, dem Pelzhandel. Dafür hatte der Handel bedeutende Auswirkungen auf die politischen Beziehungen zwischen den jungen Vereinigten Staaten und dem spanisch geprägten Mexiko. Nach der Abschottung gegen alle äußeren Einflüsse bis zur Unabhängigkeit war der Handel für die Bewohner New Mexicos von großer Bedeutung und ermöglichte ihnen den Zugang zu Waren, die wegen der langen, teuren Transportwege in Mexiko nie die abgelegenen Regionen erreicht hätten. Kulturell prägte der Santa Fe Trail das Bild der Amerikaner in den Siedlungsgebieten an der Ostküste vom Westen fast genauso stark wie vorher der Pelzhandel und später die Rinderfarmen. Die weiten Steppen und die Gefahren durch Indianer machen bis heute das Bild vom „Wilden Westen“ aus. Dodge City ist einer der am stärksten mit der Zeit identifizierten Ortsnamen. Der Santa Fe Trail in den Medien Die Handelszüge und die Kämpfe gegen Mexiko und die Indianer auf dem Santa Fe Trail waren ein häufiges Thema in frühen amerikanischen Western-Filmen. Am bekanntesten ist Santa Fe Trail (1940), Regie: Michael Curtiz, Darsteller: Errol Flynn, Olivia de Havilland und Ronald Reagan. Er hat aber nicht viel mit der realen Geschichte zu tun. Näher am historischen Geschehen ist Santa Fe Passage von 1955, mit John Payne, Faith Domergue und Rod Cameron in den Hauptrollen, Regie: William Witney. Glenn Miller spielte den Song „Along the Santa Fe Trail“, geschrieben von Will Grosz (Musik) und Al Dubin und Edwina Coolidge (Text), 1939. Walt Disney produzierte 1961 den Zeichentrick-Kurzfilm Saga of Windwagon Smith in Anlehnung an den historischen Erfinder Thomas und seinen Planwagen mit Segelantrieb. Literatur David Dary: The Santa Fe Trail – Its History, Legends, and Lore. Alfred A. Knopf, New York 2001, ISBN 0-375-40361-2 William Y. Chalfant: Dangerous passage – the Santa Fe Trail and the Mexican War. University of Oklahoma Press, Norman, Oklahoma 1994, ISBN 0-8061-2613-2 Josiah Gregg: Commerce of the Prairies – or The journal of a Santa Fè trader – during eight expeditions across the great western prairies, and a residence of nearly nine years in northern Mexico. H.G. Langley, New York 1844 (auch im Volltext online: Commerce of the Prairies) William H. Davis: El Gringo – or New Mexico and Her People. Harper & Brothers Publishers, New York 1857 (auch im Volltext online: El Gringo) Weblinks Einzelnachweise Straße in den Vereinigten Staaten Geographie (Missouri) Geographie (Kansas) Geographie (Colorado) Geographie (Oklahoma) Geographie (New Mexico) National Historic Landmark (Kansas) Altstraße Früherer Handelsweg National Historic Trail Verkehrsgeschichte (Vereinigte Staaten) Straße in Nordamerika Denkmal im National Register of Historic Places (Kansas) Denkmal im National Register of Historic Places (Missouri) Denkmal im National Register of Historic Places (New Mexico) Denkmal im National Register of Historic Places (Oklahoma)
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Wanderlibelle
Die Wanderlibelle (Pantala flavescens) ist neben Pantala hymenaea die einzige Libellenart der Gattung Pantala aus der Unterfamilie Pantalinae. 1798 beschrieb Fabricius die Art erstmals. Sie gilt als die auf der gesamten Erde am weitesten verbreitete Libelle. 2019 wurde die Wanderlibelle zum ersten Mal in Deutschland sowie in der Schweiz nachgewiesen. Dieser Umstand wird mit den stattfindenden Klimaveränderungen in Verbindung gebracht und war auch Anlass zur Benennung dieser Art als „Libelle des Jahres 2021“. Merkmale Bau der Imago Wanderlibellen werden bis zu 4,5 cm lang und erreichen Flügelspannweiten zwischen 7,2 cm und 8,4 cm. Die Vorderseite des Kopfes ist gelblich bis rötlich. Der Rumpf (Thorax) ist meist gelblich bis goldfarben mit einem dunklen Strich und behaart. Es wurden aber auch schon Exemplare mit bräunlichem oder olivfarbenem Thorax entdeckt. Der Hinterleib (Abdomen) weist eine ähnliche Farbcharakteristik wie der Thorax auf. Am Hamulus, einem kleinen hakenförmigen Fortsatz am sekundären Geschlechtsorgan der Männchen, fehlt der äußere Ast oder ist vielmehr nur durch einen Wulst angedeutet. Beim Weibchen wiederum befinden sich auf dem letzten Segment der kahnförmigen Bauchplatte zwei kurze Scheidentaster. Die Flügel sind nicht gefärbt und am Ansatz sehr breit. Auch hier wurden einzelne Exemplare mit olivfarbenen, bräunlichen und auch gelblichen Flügeln entdeckt. Auf der Osterinsel treten Wanderlibellen sogar mit schwarzen Flügeln auf. Das Flügelmal oder Pterostigma ist wiederum gelblich, bei reifen Männchen auch rot. Am Flügelansatz und an der Flügelspitze kann bei den durchsichtigen Flügeln ein gelblicher Schatten auftreten. Die kastanienroten Facettenaugen nehmen, wie bei den Großlibellen (Anisoptera) üblich, einen großen Teil des Kopfes ein. Die erwähnten Farbabweichungen sind sicherlich mit eine Erklärung für die vielen wissenschaftlichen Beschreibungen unter verschiedenen Namen. Bau der Larven Die Larve hat eine Länge von 24 bis 26 mm. Sie ist hellgrün mit leichter, hellbrauner Sprenkelung. Die rundlichen Augen sind seitlich unten am Kopf angeordnet, und das Abdomen endet stumpf. Die paarigen Seitenplatten (Ventrolateralplatten) des elften Hinterleibssegmentes, der sogenannte Paraproct, sind von der Seite gesehen glatt. Die unpaare dorsale Platte des elften Hinterleibssegments, der sogenannte Epiproct, ist ungefähr gleich lang wie oder länger als der Paraproct. Dies unterscheidet sie von Larven der Gattung Tramea, bei denen der Epiproct kürzer als der Paraproct ist. Des Weiteren weist die Art am Palpus, einem Taster der Mundwerkzeuge, 12 bis 14 Borsten auf und somit weniger als P. hymenaea, welche hier zwischen 15 und 18 Borsten besitzt. Dimorphismen Die weiblichen zeigen gegenüber den männlichen Tieren einige Unterschiede (Dimorphismen). Noch dazu kann hier eine Unterscheidung zwischen auf Kontinenten und auf Inseln lebenden Tieren getroffen werden. Generell gilt, dass die Flügel des Männchens dunkler als die des Weibchens sind. Bei Festlandtieren variiert bei den Männchen die Länge des Femurs, des längsten Beinabschnitts, stärker. Sie haben außerdem längere Vorder- und kürzere Hinterflügel als die Weibchen. Bei den Inselvertretern hingegen sind die Vorder- und Hinterflügel länger als die des Weibchens, und das Femur zeigt bei beiden die gleichen Variationen. Weitere Unterschiede zwischen Festland- und Inseltieren betreffen insbesondere die Farbgebung. So sind Inselvertreter im Allgemeinen dunkler. Ähnliche Arten Neben der Schwesterart Pantala hymenaea, die allerdings einen auffallenden braunen Basalfleck im Hinterflügel aufweist und generell etwas dunkler gefärbt ist, ist die Wanderlibelle insbesondere mit einigen Vertretern der Gattung Tramea zu verwechseln. Diese haben üblicherweise jedoch einen markanten Streifen auf ihren Hinterflügeln. In Europa haben Heidelibellen (Sympetrum spp.) eine gewisse Ähnlichkeit. Lebensweise Fortpflanzung und Entwicklung Wie in der Familie der Segellibellen üblich, gibt es auch bei der Wanderlibelle keine ausgeprägten Balzrituale. Das Weibchen paart sich zwar viele Male, jedoch meist nur einmal am Tag. Nach der Paarung fliegen die Wanderlibellen im Tandem, wobei das Weibchen zur Eiablage an das Männchen angekoppelt bleibt. Hierfür wählt das Tier teilweise ungeeignete Plätze wie frisch gewaschene Autos. Ein Gelege besteht aus ungefähr 500 bis 2000 Eiern. Die Eier haben die Form eines Rotationsellipsoids, wobei die große Halbachse 0,5 mm und die kleine 0,4 mm misst. Die Larven entwickeln sich innerhalb von 38 bis 65 Tagen, was der Wanderlibelle ermöglicht, sich in nur temporären Gewässern oder auch in Swimmingpools zu vermehren. In einem Jahr entstehen so etwa drei bis vier Generationen. Die schnelle Entwicklungszeit und der Umstand, dass die Larven oft in nur saisonalen Gewässern reifen, gleicht die fehlende Tarnung gegenüber Fressfeinden aus. Allerdings scheinen die Larven sehr temperaturempfindlich zu sein. Die Lebenserwartung ist nicht bekannt, da eine Feststellung auf Grund der hohen Mobilität der Tiere nahezu unmöglich ist. Ernährung Wie alle Libellenlarven leben auch jene der Wanderlibelle räuberisch. Verglichen mit anderen Arten der Familie der Segellibellen ist die Larve allerdings bei der Futtersuche sehr aktiv und ernährt sich relativ wahllos von allen möglichen im Wasser lebenden Wirbellosen, wie aquatischen Insekten-Larven und Flohkrebsen. Aber auch Kaulquappen und kleine Fische werden in die Ernährung einbezogen. Die Imago ernährt sich überwiegend von kleinen Fluginsekten wie Mücken. Im Schwarm fressen sie auch fliegende Ameisen und Termiten. Flugverhalten Ihre Fluggeschwindigkeit beläuft sich auf 5 m/s. Besonders im Herbst fliegt die Wanderlibelle in großen Schwärmen, wobei sie sich die Thermik zu Nutze macht. Ein Bericht spricht hier sogar von einer „Wolke“, die 34 km² umfasste. Bevorzugt nutzt sie dabei feuchte Winde. Im normalen Flug halten sich Vertreter auf Inseln in Höhen von ein bis 2,5 m über dem Boden auf und unterbrechen ihren Flug bei aufziehenden Wolken. Die kontinentalen Vertreter hingegen wählen Flughöhen von drei bis vier Metern und unterbrechen ihren Flug auch bei schlechter Witterung nicht. Die Tiere auf der Osterinsel haben sich davon wegentwickelt, weit auf die offene See hinauszufliegen, da dies meist den sicheren Tod bedeutet. Bei der Landung strebt das Tier eine vertikale Haltung an. Die Flügel stehen dabei wie bei allen Großlibellen vom Körper ab, werden also nicht angelegt. Verbreitung und Flugzeit Die Wanderlibelle hat ein extrem weites Verbreitungsgebiet, das ungefähr bis zum 40. Breitengrad bzw. zu den 20-°C-Isothermen reicht. Dabei bezeichnen die 20-°C-Isothermen jenes Gebiet, in dem die Temperatur im Jahresmittel 20 °C beträgt. Damit tritt sie sowohl in den Tropen als auch in den gemäßigten Zonen Nordamerikas auf. Aus Europa gibt es nur vereinzelte Sichtungen der Art, wobei seriöse Nachweise bislang vor allem aus der Ägäis und dem angrenzenden Festland stammen. Wanderlibellen-Meldungen aus England oder Frankreich sind als äußerst zweifelhaft zu werten oder auf z. B. mit Bananenlieferungen importierte Tiere zurückzuführen. Als eine Erklärung für das Fehlen der sonst so verbreiteten Art in Europa wird die Barrierewirkung der Sahara angesehen. Diese macht mit ihren ungünstigen Winden, wie dem trockenen Scirocco, und ihrer ausgeprägten Trockenheit dem Tier die Überquerung nahezu unmöglich. Seit den 2010er-Jahren häufen sich allerdings doch Einzelsichtungen auch in den gemäßigten Zonen Europas, die nicht auf anthropogenen Verschleppungen beruhen. Dieser Umstand wird als eine Folge des fortschreitenden Klimawandels interpretiert. Als bislang nördlichster Fundpunkt gilt die Kurische Nehrung (Oblast Kaliningrad) im Jahr 2013, auch beispielsweise in Polen erfolgte 2016 eine Sichtung. In Deutschland gelang im Juli 2019 der erste Freiland-Nachweis eines Männchens in der südbrandenburgischen Bergbaufolgelandschaft. Im Folgemonat wurde am gleichen Ort zudem eine Exuvie der Art entdeckt, was auf eine erfolgreiche Reproduktion hinweist. Gleiches wurde 2019 auch in der Schweiz dokumentiert. Das Eintreffen in den Subtropen und Tropen fällt mit der tropischen Konvergenzzone zusammen. Hierin zeigt sich auch wieder ihre Vorliebe für feuchte Winde. So trifft die Wanderlibelle im südostindischen Tamil Nadu erst mit dem zweiten Monsun ein – denn erst dieser bringt in jener Region den Regen. Im restlichen Indien hingegen trifft sie bereits mit dem ersten, regenbringenden Monsun ein. Sie wurde als am höchsten fliegende bisher bekannte Libelle bei circa 6.200 m im Himalaya gesichtet. Auch war die Wanderlibelle eine der ersten Arten, die sich nach den Kernwaffentests wieder auf dem Bikini-Atoll ansiedelten. Zudem ist sie die einzige Libellenart, die auf der Osterinsel vorkommt. Die dort vertretenen Individuen scheinen sich durch ihren kleineren Genpool von den kontinentalen Individuen abzukoppeln, wodurch langsam eine neue Art entsteht (Gendrift). In kälteren Gebieten wie Südaustralien und Nordkanada kann die Wanderlibelle nicht überwintern und wird daher jedes Jahr aufs Neue durch Migranten ersetzt. Namensgebung Trivialnamen Der Trivialname Wanderlibelle erklärt sich aus ihrem ausgeprägten Migrationsverhalten, das sich aus ihrer Fähigkeit, mehrere Stunden ununterbrochen zu fliegen, ergibt. Auch der englische Trivialname Wandering Glider beziehungsweise Globe Skimmer deutet dies an. Der zum Beispiel in Hongkong gebräuchliche Name Typhoon Dragonfly resultiert aus dem Eintreffen der Libelle zusammen mit oder kurz vor dem Regen. Der japanische Name ist ウスバキトンボ, ausgesprochen „Usubaki-Tombo“, also Usubaki-Libelle. Der Name in Kanji 薄羽黄蜻蛉, der japanische Fachname, ausgesprochen „Usubaneki-Tombo“, heißt Kanji für Kanji: 薄 = Usu = zierlich, dünn 羽 = Ba(ne) = Flügel 黄 = Ki = gelb 蜻蛉 = Tombo = Libelle Dies lässt sich also übersetzen als „gelbe Libelle mit zierlichen Flügeln“. Wissenschaftlicher Name Der wissenschaftliche Name Pantala flavescens besteht zum einen aus dem Wort Pantala, das „alle Flügel“ bedeutet und auf die großen und langen Flügel anspielt, zum anderen aus dem lateinischen flavescens, das gold/gelb heißt und sich auf die ausgeprägte goldene Färbung bezieht. Die Art wurde erstmals 1798 als Libellula flavescens durch Fabricius folgendermaßen beschrieben: Der dieser Erstbeschreibung zugrunde liegende Holotyp wird im Zoologischen Museum der Universität Kopenhagen aufbewahrt und war ein Weibchen aus Indien. In den folgenden Jahren tauchten einige weitere Beschreibungen mit wechselnden Namen auf. 1805 bezeichnete Palisot de Beauvois ein Tier aus Nigeria als Libellula viridula. Etwa 1823 beschrieb der britische Entomologe Dale in einem unveröffentlichten Manuskript ein angeblich in Norfolk gefangenes Männchen als Libellula sparshalli, das sich heute im Hope Museum in Oxford befindet. Im Jahr 1839 betitelte Burmeister ein Männchen aus Madras, das sich heute in der Zoologischen Sammlung Halle befindet, als Libellula analis und ein weiteres Männchen aus Brasilien als Libellula terminalis. Letzteres befindet sich im Naturhistorischen Museum Wien. 1910 lichtete sich das Feld, als Muttkowski die Synonymität der Arten erkannte. Bis auf eine Beschreibung im Jahr 1955, als Sympetrum tandicola durch Singh anhand eines Männchens aus dem Himalaya, das sich heute im Zoology Survey India in Kalkutta befindet, folgten nun nur noch Publikationen, in denen die Art als Pantala flavescens bezeichnet wurde. Singhs Sympetrum tandicola wurde 1973 durch Mitra mit Pantala flavescens synonymisiert. Systematik Die Wanderlibelle bildet zusammen mit Pantala hymenaea die Gattung Pantala. Diese ist wiederum namensgebend für die Unterfamilie Pantalinae innerhalb der Familie der Segellibellen. Auch die Schwesterart Pantala hymenaea ist, wie der fehlende deutsche Trivialname bereits impliziert, weder in Deutschland noch in Europa heimisch. In der Kladistik wird die Gattung Pantala innerhalb der Pantalinae allen anderen Gattungen dieser Unterfamilie gegenübergestellt. Für die Unterfamilien der Segellibellen gibt es aktuell keine Untersuchung, die eine dichotome Darstellung der Phylogenie erlaubt, die Pantalinae lassen sich nach aktuellem Forschungsstand also nicht eindeutig einer anderen Unterfamilie als Schwestergruppe gegenüberstellen. Schutzstatus Die Wanderlibelle hat weltweit den Schutzstatus G5, womit sie als in hohen Zahlen vorkommende, sehr weit verbreitete und ungefährdete Art eingestuft wird. Diesen Status erhielt sie am 30. Dezember 1985. In den USA hat sie den national äquivalenten Schutzstatus N5. In Kanada hingegen ist sie mit N4 niedriger eingestuft. Dies bedeutet, dass der Bestand zwar momentan als gut eingeschätzt wird und die Art als ungefährdet gilt, aber auf lange Sicht Bedenken bestehen. Auch auf der Ebene vieler Bundesstaaten in den USA und Kanada wurde ein Schutzstatus vergeben. Diese sind in der Graphik rechts in ihrer Entwicklung dargestellt. Briefmarken Ihrer hohen Verbreitung verdankt die Wanderlibelle auch, dass sie auf einigen Briefmarken abgebildet ist. So veröffentlichte Wallis und Futuna am 29. Juli 1974 eine 45-Franc-Briefmarke, die eine Wanderlibelle über einer Wasserfläche mit etwas Gewächs zeigt. Sie hat die Michel-Nummer 257 und erschien in einer Reihe von Insekten-Motiven. Im Jahr 1975 führten die Pitcairninseln am 9. November eine Marke ein, die eine Wanderlibelle vor dunkelblauen Hintergrund zeigt und 15 Cent wert war. Ihre Michel-Nummer ist 154, sie erschien ebenfalls in einer Insekten-Kollektion. Tuvalu brachte am 25. Mai 1983 eine 10-Cent-Briefmarke heraus, die eine Wanderlibelle zeigt. Die lithographische Abbildung wurde von J. E. Cooter gestaltet. Ihre Michel-Nummer ist 190, und sie erschien in einer Reihe von Libellen. Die Darstellung beschränkt sich hier auf die Libelle mit Gräsern. Eine weitere Wanderlibellen-Briefmarke erschien am 25. Dezember 1983 in Botswana zu 6 Thebe. Sie zeigt die Libelle vor blauem Hintergrund auf einem Gewächs. Wiederum in Wallis und Futuna erschien am 4. August 1998 eine Briefmarke, die das Tier diesmal vor gelblichem Hintergrund im Fluge zeigt. Der Wert betrug 36 F und die Michel-Nummer ist 736. Auch sie erschien zusammen mit anderen Insekten-Motiven. Die bislang neueste Briefmarke stammt aus dem Jahre 2003 und erschien in Nordkorea. Ihr Wert beträgt 15 Won, und sie stellt eine auf einer Ähre sitzende Wanderlibelle dar. Literatur Erstbeschreibungen (Quelle unter) Sekundärliteratur Wissenschaftliche Sekundärliteratur und Artikel Weblinks [ Eintrag auf ITIS] Bilder des Tandemflugs Informationen bei nabu.de Einzelnachweise Segellibellen
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Isabella Beeton
Isabella Mary Beeton (* 14. März 1836 in London als Isabella Mayson; † 6. Februar 1865), allgemein bekannt als Mrs Beeton, war die Hauptautorin des Buches Mrs Beeton’s Book of Household Management, das schon kurz nach dem Erscheinen zum Bestseller wurde und bis heute in unzähligen Ausgaben nachgedruckt wird. Isabella Beeton starb im Alter von nur 28 Jahren im Kindbett. Sie gilt als berühmteste und bekannteste Kochbuchautorin Großbritanniens. Ihr Name wurde, losgelöst von ihrer Person, zum Markennamen, unter dem bis heute Bücher und Lebensmittel verkauft und beworben werden. Leben Kindheit und Ausbildung Isabella Mary Mayson wurde 1836 in Marylebone, London geboren. Kurz nach ihrer Geburt siedelte die Familie in das Handelshaus ihres Vaters, eines Tuchgroßhändlers am Clement’s Court in der Londoner City, über. Noch 1836 zog das prosperierende Handelsunternehmen samt Familie in die Milk Street um, wo Benjamin Mayson ein repräsentatives Gebäude erworben hatte. 1840 starb Benjamin Mayson im Alter von nur 39 Jahren. Seine Witwe, die erst 25 Jahre alte Elizabeth Mayson, fand sich plötzlich als Eigentümerin eines Tuchhandelsgeschäftes mit vier kleinen Kindern wieder. Isabella, die älteste der vier Geschwister, wurde zunächst zu ihrem Großvater, einem verwitweten Pfarrer in Great Orton (Cumbria), geschickt. Isabellas Mutter führte das Geschäft wohl mit wenig Erfolg weiter, wie ein Bittbrief an ihren Schwiegervater zeigt. 1843 heiratete Elizabeth Mayson den Drucker Henry Dorling, mit dessen Familie die Maysons schon lange befreundet waren. Henry Dorling war ebenfalls gerade Witwer geworden und hatte vier kleine Kinder. Henry Dorling war Inhaber einer Druckerei und hatte sich in den Jahren zuvor mehr und mehr auch für das Epsom Derby, ein äußerst populäres jährliches Pferderennen, engagiert, das mit der 1837 eingerichteten Bahnanbindung zunehmend die Londoner Massen anzog. Seit 1839 führte er als Clerk of the Course (Direktor der Rennbahn) die Geschäfte des Rennens. 1845 konnte er die Pacht des Grandstand, eines klassizistischen Tribünengebäudes mit Galerien, Balkonen, aber auch Festsälen, Salons und Hotelzimmern, das 5000 Zuschauern Platz bot, erwerben. Nachdem sich die neue Familie mit ihren acht Kindern – Isabella war inzwischen aus Great Orton zu ihrer Mutter zurückgekehrt – zunächst in dem Gebäude von Henry Dorlings Druckerei in Epsom eingerichtet hatte, zog die Großfamilie einige Jahre später in das Ormond House um. An das stolze, weiße, freistehende Haus waren in Form eines antiken Tempels Druckerei und Bücherei des Stiefvaters angebaut. Charles Dickens berichtet 1851: „A railway takes us, in less than an hour, from London Bridge to the capital of the racing world, close to the abode of the Great Man who is – need we add! – the Clerk of Epsom Course. It is necessarily, one of the best houses in the place, being – honour to literature – a flourishing bookseller’s shop“. (Eine Eisenbahn bringt uns in weniger als einer Stunde von London Bridge zur Hauptstadt der Welt der Pferderennen, direkt zum Wohnsitz des Großen Mannes, der – muss man das erwähnen? – der Direktor der Rennbahn in Epsom ist. Es ist natürlich eines der besten Häuser des Orts, und – Ehre der Literatur – eine blühende Buchhandlung.) Da das Haus für die zunehmend große Kinderzahl – bis 1859 wuchs sie auf insgesamt 21 Kinder an – zu eng war, wohnten einige der Kinder, darunter auch Isabella, zeitweise in dem außerhalb der Rennsaison weitgehend ungenutzten Grandstand. Von Isabella Maysons Schulbildung ist bekannt, dass sie zunächst ein kleines Internat in London besuchte, das wie viele solcher Institutionen der viktorianischen Zeit nur wenige Schülerinnen beherbergte und von zwei alleinstehenden älteren Damen geleitet wurde. Von 1851 bis 1854 lebte Isabella Mayson in Heidelberg in der Schule von Charlotte und Auguste Heidel, einem Internat, das sich auf englische Schülerinnen spezialisiert hatte. Der Stundenplan umfasste neben Deutsch und Französisch auch „logisches Denken“, Naturgeschichte und Mathematik sowie Geschichte und Geografie. Hinzu kamen Kalligrafie und Handarbeiten. Heirat mit Samuel Beeton Nach ihrer Rückkehr in das Haus ihres Stiefvaters in Epsom nahm Isabella Mayson, die nun gewissermaßen offiziell dem Heiratsmarkt zur Verfügung stand, Klavierunterricht bei Julius Benedict in London sowie – zum Erstaunen ihrer Familie – Backunterricht bei einem örtlichen Bäcker. Vermutlich wurde Isabella Mayson während eines Aufenthalts in London dem Verleger von Büchern und populären Magazinen Samuel Orchard Beeton vorgestellt. Die Familien Mayson, Beeton und Dorling hatten schon seit langem miteinander in Kontakt gestanden. Alle drei Familien sandten ihre Töchter in das Heidelsche Institut nach Heidelberg, weitere Kontakte ergaben sich durch die Pferderennen in Epsom. Dennoch ist nicht bekannt, wann und unter welchen Umständen sich Samuel Beeton und Isabella Mayson kennenlernten. Der formellen Verlobung im Sommer 1855 folgte bis zur Hochzeit ein Jahr intensiven Briefwechsels. Diese Briefe sind erhalten geblieben und lassen bereits die klare, direkte und willensstarke Sprache der späteren Autorin anklingen. Isabella Mayson und Samuel Beeton heirateten am 10. Juli 1856 in der St. Martin’s Parish Church in Epsom. Das anschließende Breakfast im Grandstand mit den Gästen kann man sich anhand der Bill of fare for a July wedding, ball, or christening, for 70 or 80 guests (Menüfolge für eine Hochzeit, einen Ball oder eine Taufe im Juli mit 70 oder 80 Gästen), die Isabella Beeton im Book of Household Management später auflistet, als opulentes Fest mit exquisiten Speisen vorstellen. Nach der Hochzeitsreise durch Frankreich und Deutschland bezog das Ehepaar Beeton im August 1856 die Chandos Villa Number 2, eine neuerbaute, großzügige Doppelhaushälfte in Pinner, einem nordwestlichen Vorort von London in der Grafschaft Middlesex (seit 1965 gehört Pinner zu Greater London). Das Haus umfasste fünf Schlafräume und war mit fließendem Wasser und einer Ölheizung ausgestattet. Wie damals üblich, hatte Samuel Beeton das Haus vor der Hochzeit bereits einrichten lassen. Aus Isabellas Briefen während der Verlobungszeit geht allerdings hervor, dass sie durchaus einigen Einfluss auf die Gestaltung der Räume nahm und genaue Vorstellungen von Materialien und Funktionen hatte, die sie ihrem Verlobten direkt und unmissverständlich übermittelte. Anders als Isabella Beeton dies in ihren Büchern propagierte, hatte sie selbst jedoch wohl nie mehr als zwei Hausangestellte. Journalistische Anfänge und das Book of Household Management Bereits kurz nach der Hochzeit wurde Isabella Beeton schwanger. Während dieser Zeit begann sie, für das im Verlag ihres Mannes erscheinende The Englishwoman’s Domestic Magazine Artikel über Mode, Kochen und Haushaltsführung zu verfassen. Ihre ersten Beiträge erschienen im März 1857, nur wenige Wochen vor der Geburt des ersten Kindes. Es ist unklar, was Isabella Beeton bewog, sich gerade zu dieser Zeit journalistisch zu betätigen. Sie hatte schon vorher einige fiktionale Texte aus dem Französischen und dem Deutschen für das Magazin übersetzt, und ihre erhaltenen Briefe aus der Verlobungszeit beweisen ihre sprachliche Gewandtheit. Vermutlich waren es jedoch eher ökonomische Gründe – das 1852 gegründete Magazin erlebte zu dieser Zeit seine erste Flaute und einige der Kolumnen wie Cooking, Pickling and Preserving (Kochen, Einlegen und Einmachen) oder Things Worth Knowing (Wissenswertes) waren seit Monaten verwaist, es fehlte wohl an kompetenten weiblichen Journalisten. Isabella Beetons erstes Kind Samuel Orchart starb im Alter von drei Monaten. Aus heutiger Sicht spricht viel dafür, dass das Kind an pränataler Syphilis litt, mit der Samuel Beeton seine Ehefrau vermutlich angesteckt hatte. Die Tatsache, dass sie bis zur Geburt des zweiten Kindes 1859 mehrere Fehlgeburten erlitt, unterstützt diese These. Isabella Beeton hatte begonnen, regelmäßig die Beiträge für die Rubrik Cooking, Pickling and Preserving zu verfassen. Schon bald darauf scheinen die Beetons die Zusammenstellung eines größeren Kochbuchs geplant zu haben, wie ein Brief aus dem Juli 1857 von Henrietta English, einer Freundin der Familie Dorling, nahelegt, die die Beetons in dieser Sache um Rat gefragt hatten. Henrietta English empfiehlt Therefore my advice would be compile a book from receipts from a Variety of the Best Books published on Cookery and Heaven knows there is a great variety for you to choose from (Mein Rat ist daher: Stellen Sie ein Buch zusammen mit Rezepten aus einer Auswahl der besten Bücher über das Kochen, es gibt, weiß der Himmel, eine große Zahl, aus der Sie wählen können). In der Tat scheint Isabella Beeton diesem Rat gefolgt zu sein: Vergleiche des Book of Household Management mit anderen, früheren Kochbüchern zeigen, dass ein Großteil der Beetonschen Rezepte, ja sogar ganze Textpassagen aus anderen Büchern stammen. Ihre Funktion war also eher die einer Herausgeberin. Der Inhalt entsprang nicht der reichen Erfahrung einer einzigen Köchin und Autorin, sondern der akribischen Recherche und geschickten Collage einer erst 23-jährigen Journalistin ohne nennenswerte Haushalts- oder Kocherfahrung. Das zu dieser Zeit in England nur vage ausgebildete Urheberrecht stand der Übernahme fremder Texte für ein neues Werk ebenfalls nicht im Wege. Das Buch sollte vermutlich in einer Reihe mit weiteren Überblickswerken und Lexika (wie zum Beispiel Beeton’s Dictionary of Universal Information oder Beeton’s Book of Birds) erscheinen, die Samuel Beeton gerade verlegte. Dennoch galt Mrs Beeton in England lange Zeit als innovative Originalautorin – eine Fehleinschätzung, die erst Ende des 20. Jahrhunderts als solche entlarvt wurde und das Bild der Isabella Beeton nachhaltig wandelte. Der erste Teil des Book of Household Management erschien im November 1859, fünf Monate nach der Geburt des zweiten Kindes (wiederum Samuel Orchart), und umfasste 48 Seiten. Samuel Beeton bewarb die Reihe heftig im Englishwoman’s Domestic Magazine, wo er zunächst 14 bis 18 Teillieferungen ankündigte. Die Entscheidung, 24 Teile zu veröffentlichen, scheint erst im Jahr 1861 gefallen zu sein – daraus ergibt sich, dass Isabella Beeton an den letzten Teilen noch recherchierte, während ein Großteil des Buches bereits erschienen war. Arbeit im Verlag S. O. Beeton Mit dem Relaunch des Englishwoman’s Domestic Magazine, das ab Mai 1860 in einem neuen Format und mit aufwändigerer Gestaltung erschien, firmierte Isabella Beeton neben ihrem Ehemann als Herausgeberin. Dabei handelte es sich nicht nur um einen klangvollen Titel, sondern um eine anspruchsvolle Berufstätigkeit, die Isabella Beeton entschlossen in Angriff nahm. Sie schrieb nun nicht mehr von zuhause aus, sondern begleitete Samuel Beeton täglich in das Londoner Büro des Verlages S. O. Beeton, der gerade mit dem Haushaltsbuch und dem Beeton’s Dictionary of Universal Information, der ebenfalls in Teillieferungen erschien, große Verkaufserfolge feierte. Beide im Verlag erscheinenden Magazine wurden zu dieser Zeit überarbeitet und für einen anspruchsvolleren Markt ausgerichtet. Isabella Beeton übernahm nun die Verantwortung für größere Teile des Frauenmagazins, das damals in einer Auflage von etwa 60.000 Exemplaren monatlich erschien. Ihre Hauptaufgabe bestand zunächst darin, die eher dröge Sektion Practical Dress Instructor in eine an neuste Pariser Mode angelehnte Modepräsentation zu verwandeln, die das neu anvisierte Publikum mit Stil und Luxus überzeugen sollte. Die Beetons nahmen deshalb mit den Herausgebern von Le Moniteur de la Mode in Paris Kontakt auf. Le Moniteur glänzte durch exquisite Farbtafeln mit der neuesten Mode und beigelegte Papierschnittmusterbögen. Im Frühjahr 1860 reisten die Beetons nach Paris und es gelang ihnen, den Import von Modezeichnungen und Schnittmustern des Moniteur für das Englishwoman’s Domestic Magazine auszuhandeln. Ein Tagebuch, das Isabella Beeton während der Parisreise führte, berichtet von minutiös geplanten und ausgefüllten Tagen, von Verhandlungen und Kalkulationen. Es wird deutlich, dass dies eine reine Geschäftsreise war, an der Isabella Beeton als gleichberechtigte Partnerin teilnahm. Anstelle der Kochkolumne erschienen nun nur noch gelegentlich Rezepte und Menüvorschläge, die die Beetons aus dem Haushaltsbuch übernahmen. Mit der neuen Sektion The Fashions – Expressly designed and prepared for the Englishwoman’s Domestic Magazine wandelte sich das Magazin zur Modezeitschrift, die in zwei Ausgaben, mit oder ohne Papierschnittmusterbogen als Beilage erschien. Neben den Pariser Farbtafeln berichtete Isabella nun ausführlich über die neuesten Pariser Modeerscheinungen und ihre kritischen Beobachtungen an Londoner Ladys. Die Papierschnittmuster waren zu dieser Zeit in England eine absolute Neuheit und fanden bei den Lesern großen Anklang. Wer sich für die billige Version ohne Schnittmuster entschied, konnte die Papierbögen auch einzeln bestellen, ein zusätzlicher Service bestand darin, die Schnitte auf die Maße der Leserin angepasst und bereits ausgeschnitten zu liefern. Dieser Versandhandel ging in den 1890er Jahren auf den Geschäftspartner der Beetons, Charles Weldon, über, unter dessen Namen die Schnittmuster noch bis in die 1950er Jahre angeboten wurden. Isabella Beetons letzte Jahre Im Herbst 1861 lancierten die Beetons ein weiteres Frauenmagazin namens Queen, das, später umbenannt in Harpers & Queen, seit 2005 als Harper’s Bazaar UK auch heute noch existiert. Zeitgleich erschien die gebundene Ausgabe des Haushaltungsbuches. Allerdings musste Samuel Beeton Queen nach nur sechs Monaten aus finanziellen Gründen verkaufen, Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit der Übergabe folgten. Etwa zur selben Zeit zogen die Beetons aus der Villa in Pinner zurück nach London, wo sie über den Büroräumen des Verlages wohnten – auch dies ein Indiz für ihre finanziell angespannte Situation. In den nächsten Jahren blieb Samuel Beeton in immer neue Rechtsstreitigkeiten verwickelt. Nach dem Umzug begann sich zudem der Zustand des zweiten Kindes, Samuel Orchart, zu verschlechtern, es starb schließlich im Alter von dreieinhalb Jahren am Silvesterabend des Jahres 1862. Auch hier finden sich in der Sterbeurkunde Hinweise auf eine Syphilisinfektion des Kindes. Schon kurz darauf war Isabella Beeton wieder schwanger, ihr drittes Kind, Orchart, wurde am 2. Dezember 1863 geboren. 1863 erschien eine gekürzte Version des Book of Household Management, die Isabella Beetons Werk für alle Schichten erschwinglich machte. Die Verkaufszahlen der Bücher stiegen an. Kurz nach der Geburt des dritten Kindes zogen die Beetons 1864 in den Londoner Vorort Greenhithe in Kent, wo sie ein Bauernhaus namens Mount Pleasant mieteten. 1863 und 1864 reisten die Beetons mehrfach nach Paris und auch nach Deutschland, wo sie in Berlin und Dresden neben lokalen Sehenswürdigkeiten auch Geschäftspartner des Verlages aufsuchten. Die enge Verbindung des Paares auch in der Arbeit für den Verlag zeigt sich in dem letzten erhaltenen Brief Samuel Beetons an seine Frau, in dem er über das neuste Zeitschriftenprojekt Young Englishwoman schreibt: „I have asked Sidney to get Young to write his notions on paper of what the Y E'woman shd be, irrespectively of mine, and if Y is there tomorrow, as I think he will be, ask Sidney to let you see him, and you can tell him what you think.“ (Ich habe Sidney gebeten, Young dazu zu bringen, seine Vorstellungen über das Young Englishwoman zu Papier zu bringen, und zwar völlig unbeeinflusst von meinen, und falls Young morgen da ist, wovon ich ausgehe, bitte Sidney darum, ihn zu treffen und dann kannst du ihm sagen, was du darüber denkst.) Young Englishwoman erschien kurz darauf 1864 und hielt sich auf dem Markt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Im selben Jahr erarbeitete Isabella Beeton, die erneut schwanger war, eine weitere gekürzte und formal überarbeitete Fassung ihres Haushaltungsbuches, die 1865 erschien. Der Legende nach redigierte sie noch in den Wehen die Druckfahnen dieses Kochbuches. Isabella Beetons viertes Kind, Mayson Moss, wurde am 29. Januar 1865 geboren. Isabella Beeton starb eine Woche nach der Geburt ihres vierten Kindes an Kindbettfieber. Sie liegt auf dem West Norwood Cemetery unter einem schlichten Grabstein begraben. Ihr Mann versuchte zunächst, das Bekanntwerden ihres Todes zu verhindern, um die Marke „Mrs Beeton“ aufrechtzuerhalten. Entsprechend erschienen auch nach ihrem Tode noch weitere Auflagen, deren Vorwort suggerierte, sie sei noch am Leben. Myra Browne Myra Browne, die mit ihrem Ehemann Charles ebenfalls in Greenhithe lebte, nahm nach Isabella Beetons Tod in erstaunlicher Weise deren Position ein – und zwar sowohl als Mutter der beiden überlebenden Kinder als auch als Journalistin im Verlag S.O.Beeton, wo sie Isabellas Funktion als Herausgeberin der Frauenmagazine übernahm, später auch weitere eigene Projekte realisierte. Gemeinsam mit ihrem Ehemann lebte Myra Browne schließlich im Haushalt von Samuel Beeton. Für die beiden Söhne war sie Mama, beide hielten sie lange für ihre leibliche Mutter. In relativ hohem Alter bekam sie auch noch ein eigenes Kind, Meredith Browne, wobei unklar ist, ob Samuel Beeton dessen leiblicher Vater war. Nach Samuel Beetons Tod 1877 übernahm sie die rechtliche Fürsorge für Orchart und Mayson Beeton. Die genaue Natur der Beziehung zwischen Myra Browne und Samuel Beeton bleibt jedoch auch im Rückblick unklar. Werke The Book of Household Management Entstehung des Buches Zwischen 1859 und 1861 verfasste Isabella Beeton 24 Teillieferungen eines Koch- und Haushaltungsbuches. Diese wurden später in einem Band unter dem Titel The Book of Household Management Comprising information for the Mistress, Housekeeper, Cook, Kitchen-Maid, Butler, Footman, Coachman, Valet, Upper and Under House-Maids, Lady’s-Maid, Maid-of-all-Work, Laundry-Maid, Nurse and Nurse-Maid, Monthly Wet and Sick Nurses, etc. etc. – also Sanitary, Medical, & Legal Memoranda: with a History of the Origin, Properties, and Uses of all Things Connected with Home Life and Comfort zusammengefasst, der im Oktober 1861 erschien. Dieses Buch, später bekannt unter dem Namen Mrs Beeton’s Book of Household Management, war eine umfassende Anleitung zur Führung eines viktorianischen Haushaltes. Das Vorwort beginnt mit: „I must frankly own, that if I had known, beforehand, that this book would have cost me the labour which it has, I should never have been courageous enough to commence it. What moved me, in the first instance, to attempt a work like this, was the discomfort and suffering which I had seen brought upon men and women by household mismanagement. I have always thought that there is no more fruitful source of family discontent than a housewife’s badly-cooked dinners and untidy ways.“ („Ich muss offen gestehen, dass, hätte ich geahnt, dass mich dieses Buch die Mühe kosten würde, die es dann tatsächlich erfordert hat, ich mich niemals getraut hätte, auch nur damit zu beginnen. Was mich vor allem antrieb, ein derartiges Werk in Angriff zu nehmen, waren die Unannehmlichkeiten und das Leiden, die, wie ich selbst erlebt habe, durch schlechte Haushaltsführung für Männer und Frauen verursacht werden. Ich war immer der Meinung, dass es keine fruchtbarere Quelle für Unzufriedenheit in der Familie gibt, als schlecht gekochte Dinner und mangelnde Reinlichkeit der Hausfrau.“) Das Buch richtete sich an die aufstrebende Mittelklasse, für die es eine verlässliche Informationsquelle und Ratgeber sein sollte. Das Buch avancierte mit 60.000 verkauften Exemplaren im Erscheinungsjahr sofort zum Bestseller und wurde innerhalb weniger Jahre millionenfach nachgedruckt (1868 zwei Millionen verkaufte Exemplare). Es darf als Vorbild für viele weitere Koch- und Haushaltungsbücher des 19. und 20. Jahrhunderts gelten. Isabella Beetons enzyklopädisches Konzept Das Inhaltsverzeichnis nennt 44 Kapitel, zunächst zur allgemeinen Haushaltsführung (The Mistress, The Housekeeper, Arrangement and Economy of the Kitchen, Introduction to Cookery), es folgt der ausführliche Rezeptteil, bei dem sich jeweils allgemeine Betrachtungen bestimmter Lebensmittelgruppen und passende Rezepte abwechseln (General Directions for Making Soups, Recipes, The Natural History of Fishes, Recipes,…). Nachdem auf diese Weise Suppen, Fisch, Soßen, sämtliche Arten von Fleisch, Gemüse, Pudding, Crèmes, Eingemachtes, Milch und Eier, Backwaren, Getränke und Krankenkost behandelt wurden, endet das Buch mit weiteren Ratschlägen für die Hausfrau (Dinners and Dining, Domestic Servants, The Rearing and Management of Children and Diseases of Infancy and Childhood, The Doctor, Legal Memoranda). Aus heutiger Sicht bietet das im Jahr 2000 als Faksimile wiedererschienene Buch einen charmanten und historisch bedeutsamen Einblick in die Haushaltsführung der viktorianischen Zeit. Mrs Beeton ist zu einer britischen Ikone geworden. Die ihr zugeschriebenen vielzitierten Bonmots wie „first catch your hare“ („Erlegen Sie zunächst den Hasen“), stammen zwar meist gar nicht von Isabella Beeton, sondern aus älteren Quellen, dennoch verbindet man mit ihrem Buch heute viktorianische Extravaganz und den ländlichen Lebensstil vergangener Zeiten. Tatsächlich war ihre Leserschaft weniger großbürgerlich oder adlig, sondern unter der neuen aufstrebenden Mittelschicht zu finden, die von Mrs Beeton mit Informationen über vorproduzierte Lebensmittel, internationale Rezepte und moderne Dekorationsideen versorgt wurde. Isabella Beetons geradezu enzyklopädische Vorgehensweise zeigt sich zum Beispiel am dritten Kapitel Arrangement and Economy of the Kitchen: Nach einer eher philosophischen Einleitung diskutiert die Autorin zunächst kurz die Küchen des Mittelalters, als deren Vorbild sie die Küchen der Römer identifiziert. Das nimmt sie dann zum Anlass, ausgehend vom goldenen Zeitalter der griechischen Mythologie, über Homer bis zu Funden aus Herculaneum die Herkunft von Funktion und Formgebung verschiedener Küchenutensilien darzustellen. Dieser historische Abriss nimmt vier von insgesamt 13 Seiten dieses Kapitels ein. Schlussfolgernd, dass die Küchengeräte ihrer funktionsbedingten Form wegen heute im Wesentlichen noch genauso aussähen wie bei den Römern, beschränkt sich Isabella Beeton im Weiteren auf die Beschreibung moderner Materialien und ihrer Pflege, sowie den Nachdruck einer Inventarliste eines Haushaltswarenhandels. Insgesamt kommt sie so mit drei Seiten für die modernen Küchengeräte und -geschirre aus. Weitere vier Seiten des Kapitels nimmt eine ausführliche Auflistung der verschiedenen Lebensmittel, nach ihrer saisonalen Verfügbarkeit sortiert, ein. Die übrigen beiden Seiten widmen sich geeigneten Lagerungsbedingungen für die verschiedenen Lebensmittel. Die Kombination praktischer Ratschläge mit geschichtlichen Hintergründen und Erörterungen naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, oftmals aufgehängt an einem Zitat aus einem literarischen oder philosophischen Werk, sind typisch für die Gestaltung des Buches. Darin drücken sich sowohl die Tendenz zur Verwissenschaftlichung der Haushaltsführung im 19. Jahrhundert als auch Isabella Beetons persönliche Bildung und ihr umfassender Anspruch, das vorhandene Wissen zu bündeln, aus. Das Konzept wurde auch explizit beworben: in einer Anzeige für das Buch im Englishwoman’s Domestic Magazine heißt es: "Thus if in an recipe for a Christmas plum-pudding, are named the various ingredients (…) BEETON’S BOOK OF HOUSEHOLD MANAGEMENT will give ample information on questions such as these: Where are Raisins grown, and how are they dried? (…) What enters into the manufacture of Brandy, and what are the names of the principal places it comes from? – do we distil any in this country?…"(Wenn in einem Rezept für Christmas Plum-Pudding verschiedene Zutaten genannt werden (…) wird BEETON’S BOOK OF HOUSEHOLD MANAGEMENT breite Informationen zu solchen Fragen liefern wie: Wo werden Rosinen angebaut und wie werden sie getrocknet? (…) Woraus wird Brandy gemacht und an welchen Orten wird er hauptsächlich hergestellt? Stellen wir in diesem Land Brandy her? …). Die 1112 Seiten des Buches enthalten 2751 Hinweise, darunter über 900 Rezepte. Die meisten Rezepte waren mit kolorierten Stichen illustriert. Es war Isabella Beetons Idee, die Zutaten am Anfang des Rezeptes aufzulisten. Sie dachte auch als erste daran, die Garzeiten systematisch anzugeben. Im Gegensatz zu früheren Kochbüchern definierte sie auch die Mengenangaben genau. Damit waren auch aufwendigere Rezepte für Laien nach dem Rezept nachkochbar. Es war eines der ersten englischen Kochbücher, das Rezepte in dem noch heute gebräuchlichen Format enthielt. Ein typisches Rezept aus dem Kapitel Vegetables: Quellen für das Book of Household Management "The case for the prosecution […] is that Mrs Beeton was a plagiarist who copied down other people’s recipes and passed them off as her own […]. Behind the authoritative, all-knowing voice was a simply frightened girl with scissors and paste" schreibt Kathryn Hughes in ihrer Biografie über Isabella Beeton. ("Im Sinne der Anklage (…) war Mrs Beeton eine Plagiatorin, die die Rezepte anderer Leute kopierte und als ihre eigenen verkaufte (…). Hinter der starken, allwissenden Stimme stand nur ein verängstigtes Mädchen mit Schere und Klebstoff".) Elizabeth David hatte in den 1960er Jahren als erste darauf hingewiesen, dass Isabella Beeton eher eine Journalistin als eine Köchin war, die sich laut David vor allem bei Eliza Actons Buch Modern Cookery for Private Families bedient hatte. Hughes hebt hervor, dass tatsächlich kaum ein Satz in Isabella Beetons Kochbuch eine eigene originäre Schöpfung der Autorin ist. Ihr Verdienst besteht eher darin, aus einer großen Zahl älterer Kochbücher Informationen zusammengetragen zu haben und im Sinne ihres enzyklopädischen Konzeptes zu strukturieren. Es lässt sich nachweisen, dass sie Rezepte, Hinweise und Hintergrundinformationen nicht nur aus Eliza Actons Buch, sondern auch aus den Büchern von Antoine Carême, Koch im Royal Pavilion in Brighton und im Haushalt des Prince of Wales, von Louis Eustache Ude, Koch des Duke of York, von Charles Elmé Francatelli, Maître d’hôtel bei Queen Victoria und aus dem Werk Simpson’s Cookery, verfasst vom Küchenchef des Marquis of Buckingham, häufig wortwörtlich, teilweise mit Referenzen an die ursprünglichen Autoren, teilweise unkommentiert übernommen hatte. Ganze Absätze stammen aus dem Panthropeon von Alexis Benoît Soyer, dem gefeierten Koch des Reform Clubs. Weitere Quellen waren die Kochbücher von Hannah Glasse, Elizabeth Raffald und Maria Rundell sowie The Cooks Oracle von William Kitchiner und Thomas Websters Enxyclopedia of Domestic Economy, von dem sie insbesondere das Kapitel Arrangement of the Kitchen fast unverändert übernahm, einschließlich der Zitate von Graf Rumford, der mit Webster befreundet war. The Englishwoman’s Cookery Book Nach dem Book of Household Management erschien 1863 The Englishwoman’s Cookery Book. Dieses Buch war als preiswerte Alternative zu dem umfangreichen Book of Household Management gedacht und enthielt im Wesentlichen nur dessen Rezeptteil. Es war weniger aufwendig ausgestattet, auf dem roten Einbanddeckel prangte deshalb in großen Lettern der Preis von 1 Shilling. Mrs. Beeton’s Dictionary of Every-Day Cookery 1865 erschien eine weitere gekürzte Fassung als Mrs. Beeton’s Dictionary of Every-Day Cookery, das sich auf eine Sammlung von Rezepten und Ratschlägen für Zubereitung und Lebensmittelverarbeitung beschränkte, zum Preis von 3 Shilling 6 Pence. Es stand damit in der Mitte zwischen der preisgünstigen 1-Shilling-Ausgabe und dem umfangreicheren, aufwendiger gestalteten und damit erheblich teureren Hauptwerk. Im Vorwort des Verlegers heißt es: „No pains have been thought too great to make little things clearly understood. Trifles constitute perfection. It is just the knowledge or ignorance of little things that usually makes the difference between the success of the careful and experienced housewife or servant, and the failure of her who is careless and inexperienced“ („Es wurden keine Mühen gescheut, auch die kleinen Dinge einfach verständlich darzustellen. Kleinigkeiten machen die Perfektion aus. Es sind gerade die Kenntnis oder das Ignorieren der kleinen Dinge, die gewöhnlich den Unterschied zwischen dem Erfolg der sorgfältigen und erfahrenen Hausfrau oder Bediensteten und dem Versagen derer, sie sorglos und unerfahren sind, ausmachen.“) Dieses letzte von Isabella Beeton selbst konzipierte Buch entstand in Mount Pleasant, dem Landhaus der Beetons in Greenhithe. Laut ihrer Großnichte und Biografin Nancy Spain soll sie noch während der Wehen vor der Geburt ihres letzten Kindes an Korrekturen für diesen Band gearbeitet haben. Das Buch sollte eine Marktlücke zu dem teureren Book of Householdmanagement und dem preisgünstigen Englishwoman’s Cookery-Buch besetzen. Das Dictionary, das als erstes Werk einer Reihe namens Beeton’s All About It aufgemacht war, zeichnet sich besonders durch ein nicht mehr thematisch, sondern alphabetisch aufgebautes Inhaltsverzeichnis aus, dass die einzelnen Gerichte leicht auffinden ließ und das Nachschlagen erleichterte. Beeton’s Book of Needlework 1870, also bereits nach ihrem Tode, erschien noch das Beeton’s Book of Needlework, eine umfangreiche Darstellung verschiedener Handarbeitstechniken wie Occhi, Stricken, Häkeln, Sticken. Das Vorwort von Samuel Butler weist ausdrücklich darauf hin, dass in dem Band auch die ganz neue „Point Lace“-Technik (Nadelspitze) beschrieben werde. Das Werk, das auf Plänen der late Mrs Beeton (verstorbenen Mrs Beeton) beruhe, sei von kundiger Hand fortgeführt und vollendet worden. Interessanterweise wurde hier Isabella Beetons Tod freimütig zugegeben, während spätere Auflagen des Book of Household Management diese Tatsache zu verbergen suchten. Das Buch erschien wie auch alle späteren Auflagen bei Ward, Lock and Tyler, die 1865 den Verlag S. O. Beeton aufgekauft hatten. Rezeption 1932 wurde Isabella Beetons Porträt, eine handkolorierte Fotografie, in die National Portrait Gallery in London aufgenommen. Dies war die erste Fotografie in der National Portrait Gallery, die erst nach kontroverser Diskussion dort zugelassen wurde, es handelt sich um eine von überhaupt nur zwei erhaltenen Fotografien der erwachsenen Isabella Beeton. Zu diesem Zeitpunkt gehörte das Book of Householdmanagement zwar zur Grundausstattung eines englischen Haushaltes – trotzdem hielt man Mrs Beeton damals allgemein für eine erfundene Figur. Durch die Markenschutzpolitik ihres Mannes war nach Isabella Beetons Tod nur wenig über ihr Leben bekannt geworden. Lytton Strachey, der eine Biografie geplant hatte, gab dieses Projekt mangels verwertbaren Materials schon bald auf. Das ausgestellte Porträt sorgte deshalb für erhebliches öffentliches Interesse, es wurde vielfach reproduziert und erreichte eine enorme Bekanntheit. Bis zu seinem Tod im Jahr 1947 versuchte Mayson Beeton, der Sohn, nach dessen Geburt Isabella Beeton verstorben war, das öffentliche Andenken an seine Eltern wachzuhalten und auch zu korrigieren: Seiner Meinung nach wurde die Rolle von Samuel Beeton als Verleger viel zu wenig gewürdigt. Zunächst plante er, selbst eine entsprechende Biografie zu schreiben, beauftragte den Juristen und Schriftsteller Harford Montgomery Hyde als Co-Autor mit Recherchen, übergab dann jedoch das gesammelte Material an Nancy Spain, eine Großnichte Isabella Beetons. Nancy Spains in vielen Details eher ungenaue Biografie erschien 1948 und zeichnete die Ehe der Beetons nicht unbedingt als modellhaft nach. 1951 folgte eine weitere Biografie, verfasst von dem inzwischen aus dem Krieg zurückgekehrten Montgomery Hyde, die, wie von Mayson Beeton beabsichtigt, die Rolle des Ehemannes betonte. Harford Montgomery Hydes Werk war ein 1936 verfasstes Vorwort von Mayson Beeton vorangestellt. Erst 1977 erschien eine weitere Biografie, geschrieben von der Journalistin Sarah Freeman, die allerdings von den um die Ehre des Familiennamens besorgten Erben des Nachlasses von Mayson Beeton in der Auswahl des benutzten Materials erheblich eingeschränkt wurde. Das Vorwort zu diesem Buch verfasste Montgomery Hyde. Nach dem Tod des letzten Nachfahren von Isabella Beeton, Rodney Levick, im Jahr 1999, war der Nachlass zwar durch Auktionsverkäufe verstreut, aber erstmals ohne den kontrollierenden Einfluss der Familie zugänglich, so dass die Autorin der vierten, 2005 erschienenen Biografie, Kathryn Hughes, nun die gesamten Briefe und Dokumente auswerten konnte. Seit den 1990er Jahren wird Isabella Beetons Leben auch als Stoff für Musicals, Hörspiele und Theaterstücke aufgegriffen. Sie wird dabei als Symbolfigur des viktorianischen Zeitalters verstanden. Im Februar 2007 strahlte die BBC einen Fernsehfilm über Isabella Beeton aus, der sich an der Biografie von Hughes orientiert. Ausgaben Erstausgaben The Englishwoman’s Domestic Magazine, 1852–77, hg. 1852–56 von Samuel Beeton, 1856–60 von Samuel and Isabella Beeton, 32 Seiten, monatlich erscheinend, Auflage 5.000 (1852)-50.000 (1857). Beeton’s Book of Household Management, 24 monatlich erscheinende Teile, London: S. O. Beeton, 1859–1861. Beeton’s Book of Household Management, gebundene Ausgabe, London: S. O. Beeton, 1861. The Englishwoman’s Cookery Book, London: S. O. Beeton, 1863. Mrs Beeton’s Dictionary of Every-Day Cookery, 1865. Faksimile-Editionen Mrs Beeton’s Book of Household Management. Facsimile edition of the 1861 original edition, Cassell&Co, 2000. ISBN 0-304-35726-X. Mrs Beeton’s Cookery Book – Diamond Jubilee Edition. Reprint der Ausgabe von 1897 anlässlich des 60. Thronjubiläums von Queen Victoria, Impala, 2006. Everyday Cookery and Housekeeping Book, Bracken Books, 1984. Beeton’s Book of Needlework. Facsimile edition, London: Chancellor Press, 1986. Gekürzte oder auszugsweise Nachdrucke Daneben existieren zahlreiche gekürzte Ausgaben, sowie auszugsweise Nachdrucke, die Rezepte zu bestimmten Themen aufgreifen, sowie völlig neu konzipierte Bücher, die nur am Rande auf Beetons Rezepte zurückgreifen, „Mrs Beeton“ jedoch, gewissermaßen als Gütesiegel oder aus Marketinggründen, in der Titelzeile nennen. Nach Isabella Beetons Tod und dem Ende des Verlages S. O. Beeton erschienen das Book of Household Management und die daraus abgeleiteten Ausgaben bei Ward, Lock and Cassell in London, zum Beispiel 1870 Beeton’s Book of Needlework, 1871 Beeton’s Book of the Laundry: or, The Art of Washing, Bleaching and Cleansing, 1873 Beeton’s Book of Cottage Management, 1881 Ward and Lock’s Home Book: A Domestic Cyclopedia, being a companion volume to “Mrs Beeton’s Book of Household Management”, 1908 Mrs Beeton’s Penny Cookery Book, 1910 Mrs Beeton’s Sixpenny Cookery, 1924 Mrs Beeton’s Jam-making (…), 1973 Mrs Beeton’s Favourite Party Dishes, 1991 A Gift from Mrs Beeton: Edible Delights, 1994 Mrs Beeton’s Healthy Eating und 2004 Essential Beeton: Recipes and Tips From The Original Domestic Goddess, um nur einen kleinen Bruchteil der bis heute erscheinenden Titel zu nennen. Literatur Susan Watkin: Know Your Onions or Mrs Beeton’s Hinterland. Lulu Press, 2006 (Rezepte und Haushaltsratschläge aus Quellen von 1820–1860, die für Mrs Beetons Werke Pate gestanden haben könnten). Kathryn Hughes: The Short Life and Long Times of Mrs Beeton, 2005, ISBN 1-84115-373-7 (Umfassende Biografie mit ausführlicher Bibliografie, Werkverzeichnis sowie Verzeichnis von Primärquellen). Margaret Beetham: A Magazine of Her Own? Domesticity and Desire in the Woman’s Magazine, 1800-1914. London 1996 (Teil II diskutiert ausführlich die von den Beetons herausgegebenen Zeitschriften). Michael Hurd: Mrs Beeton’s Book, a Music-Hall Guide to Victorian Living, London, 1984. Sarah Freeman: Isabella and Sam: The Story of Mrs Beeton. Victor Gollancz, London 1977 (Biografie). Elizabeth David: Isabella Beeton and Her Book. In: Wine and Food, Spring 1961. H. Montgomery Hyde: Mr. and Mrs. Beeton. George S. Harrap & Co, London 1951 (Zweite Biografie, mit einem Vorwort von Mayson Beeton). Nancy Spain: Mrs. Beeton and her husband by her grand niece. Collins, London 1948. Später: Beeton Story (1956). (Erste Biografie, verfasst von Isabella Beetons Großnichte). Dramatische Adaptionen The Secret Life of Mrs Beeton, BBC-Fernsehfilm, 2006. Tony Coult: Isabella – The Real Mrs Beeton, Radiohörspiel, London 2001. Ron Aldridge: Me and Mrs Beeton, Schauspiel, London 2000. Weblinks Book of Household Management, nach der Ausgabe 1861 Beeton’s Book of Needlework Google Books Scan des Book of Household Management, Ausgabe von 1861 Google Books Scan des Book of Household Management, Ausgabe von 1863 (Exemplar der Bodleian Library in Oxford, leider schlechte Scanqualität inklusive Fingernägeln der Googlemitarbeiterinnen) Guardian-Artikel zum Plagiarismusvorwurf Science in the 19th century periodical. Aufsatz über das Englishwoman’s Domestic Magazine (englisch) The Secret Life of Mrs Beeton. Fernsehfilm der BBC Victorian Britain: The Cookery Book as Source Material (englisch) Einzelnachweise Person (Essen und Trinken) Sachbuchautor (Essen und Trinken) Person (London) Brite Engländer Geboren 1836 Gestorben 1865 Frau
1772776
https://de.wikipedia.org/wiki/Franz%C3%B6sische%20Fu%C3%9Fballnationalmannschaft%20der%20Frauen
Französische Fußballnationalmannschaft der Frauen
Die französische Fußballnationalmannschaft der Frauen ( oder nur ) ist die repräsentative Auswahl französischer Fußballspielerinnen für internationale Spiele; sie wird in Anlehnung an die als Les Bleus bezeichnete Männernationalelf auch Les Bleues genannt. Ihr erstes offizielles Länderspiel bestritt sie am 17. April 1971 gegen die Niederlande; die Partie endete mit einem 4:0-Sieg der Französinnen und war das erste von der FIFA anerkannte Frauenländerspiel weltweit. Hingegen gelten die internationalen Begegnungen, die in den 1920er und 1930er Jahren ausgetragen wurden, heutzutage nicht mehr als offizielle Spiele. Insbesondere ab den 1990er Jahren hat sich die französische Auswahl – parallel zum Aufschwung des Frauenfußballs im Land – für etliche Europameisterschaftsendrunden qualifiziert, erstmals 1984 und zuletzt siebenmal in Folge (1997, 2001, 2005, 2009, 2013, 2017 und 2022). Dabei erreichte sie 2022 das Halbfinale. Ein Weltmeisterschafts-Endrundenturnier erreichten die Bleues zum ersten Mal 2003 und dann erneut 2011, als sie mit einem vierten Rang ihren bisher größten Erfolg einspielten und sich damit zudem erstmals für das olympische Fußballturnier 2012 qualifizierten. Ebenso qualifizierten sie sich für die WM 2015 und die Olympischen Spiele 2016. Bei der WM 2019 waren sie als Gastgeberinnen automatisch teilnahmeberechtigt, scheiterten aber erneut bereits im Viertelfinale. Auch bei der WM 2023 schied Frankreich om Viertelfinale aus.Bei mehreren internationalen Einladungsturnieren haben die Bleues auch schon den Sieg davongetragen, beginnend 2012 und 2014 beim Zypern-Cup, dazu den SheBelieves Cup 2017 in den USA sowie das heimische Tournoi de France 2020, 2022 und 2023. Seit sie im März 2005 den fünften Platz in der FIFA-Weltrangliste erreichten, gehören die Französinnen zu den weltweit besten Frauennationalmannschaften. Im Dezember 2014 stießen sie darin erstmals auf den dritten Rang vor, auf dem sie auch im Sommer 2022 wieder standen. Die öffentliche Wahrnehmung der Frauennationalmannschaft hat in Frankreich allerdings bis in die Gegenwart mit dieser sportlichen Aufwärtsentwicklung nicht Schritt gehalten. Von September 2017 bis März 2023 trainierte Corinne Diacre das französische Team; ihr Nachfolger ist Hervé Renard. Rekordnationalspielerin ist Sandrine Soubeyrand mit 198 Einsätzen, erfolgreichste Torschützin (92 Treffer) Eugénie Le Sommer. Geschichte Die inoffiziellen Länderspiele zwischen den Weltkriegen Bereits seit Ende des Ersten Weltkriegs hatte es in Frankreich einen Frauenfußballbetrieb gegeben, der sich aufgrund der Ablehnung des „Männerverbandes“ FFF beziehungsweise seines Vorgängers, des Comité Français Interfédéral (CFI), eigene Organisationen und Strukturen gegeben hatte. Dazu hatten interessierte Sportlerinnen schon 1917 die Fédération des Sociétés Féminines Sportives de France (FSFSF) gegründet. Diese führte auch internationale Frauenspiele durch, deren erstes eine Auswahl dreier Pariser Vereine anlässlich einer England-Tournee im Mai 1920 gegen eine Firmenmannschaft, die Dick Kerr’s Ladies, mit 0:2 verlor. Ende Oktober traten englische Fußballerinnen zu einem Gegenbesuch an, bei dem die beiden Spiele im Pariser Stade Pershing und im nordfranzösischen Roubaix jeweils rund 10.000 Zuschauer anzogen. Bei den „Ersten Olympischen Frauenspielen“ (März 1921 in Monte-Carlo) wurde ein Fußballturnier angekündigt, zu dem Spielerinnen des Frauenvereins Fémina Sport Paris eigens angereist waren, aber nicht ausgetragen; ebenso wenig stand diese Sportart bei den ab 1922 von der Fédération Sportive Féminine Internationale veranstalteten Frauen-Weltspielen auf dem Programm. Das erste echte Länderspiel jener „wilden Jahre“ gestalteten die Französinnen im Februar 1924 in Brüssel siegreich (2:1 gegen Belgien). Die Auswahl der nördlichen Nachbarinnen entwickelte sich zu Frankreichs häufigstem Gegner. Mit dem Niedergang des französischen Frauenfußballs Anfang der 1930er Jahre neigte sich die Frühgeschichte der Frauennationalelf dem Ende zu: im April 1932 trennte man sich, erneut in Brüssel, 0:0 von den Belgierinnen, gegen die Frankreich auch seine letzten Länderspiele 1933 und 1934 bestritt. Zu dieser Zeit beendete der Frauendachverband zudem seine fußballerische Zuständigkeit. Obwohl FFF-Präsident Jules Rimet bei dem England-Spiel von 1920 selbst als Zuschauer im Stade Pershing weilte, erkennt der Verband die Begegnungen der Zwischenkriegszeit bis heute nicht offiziell an. Zumindest damals entsprach diese Einstellung der verbreiteten Ablehnung der Ausübung zahlreicher Sportarten durch Frauen, wobei sich die Protagonisten wahlweise auf deren angebliche körperliche Nichteignung, auf den Widerspruch zum tradierten Frauenbild oder auf die „Zurschaustellung“ vor einem überwiegend männlichen Publikum bezogen: Legalisierung des Frauenfußballs und Anfangszeit bis Mitte der 1980er Erst ab Mitte der 1960er Jahre war es in Frankreich wieder zu vom Verband nicht legalisierten, aber durchaus gut besuchten und medienträchtigen Frauenfußballspielen gekommen, und es organisierten sich – anfangs schwerpunktmäßig in Nordfrankreich und dem Elsass – bei bestehenden oder in neu gegründeten Vereinen feste Frauenteams. Als der Bundesrat der FFF (Conseil fédéral), der sich zu 100 Prozent aus Männern zusammensetzte, am 29. März 1970 beschloss, den Frauenfußball zu legalisieren, gab es im Land bereits knapp 2.200 Vereinsspielerinnen. Der Verband begründete seinen Schritt im Rückblick damit, dass „das kämpferische Engagement der Frauenfußballbefürworter die Vorstellungswelt des ‚starken Geschlechts‘ dahingehend beeinflusst [habe], dass diese Sportart auch auf andere als die bisher übliche Weise ausgeübt werden“ könne. Die Sporthistorikerin Laurence Prudhomme-Poncet hingegen bewertete die Motivation für diesen Schritt eher mit dem Interesse der Funktionäre, die Kontrolle über den gesamten Fußball im Land zu behalten. Sie hätten befürchtet, dass die Frauen, wie schon 1917, einen autonomen Verband gründeten – ein Schritt, der im französischen 15er-Rugby wenige Wochen zuvor bereits Realität geworden war. Die FFF installierte eine Frauenfußballkommission, deren erster Vorsitzender, der Reimser „Frauenfußballpionier“ Pierre Geoffroy, zugleich die Nationalelf zusammenstellte und trainierte. Im Juli und September 1970 kam es zu zwei Spielen einer französischen gegen eine italienische Auswahl, zu denen der Verband zwar seine Erlaubnis erteilt hatte, es aber ablehnte, dass die Französinnen im Namen der FFF antraten. Auch im Februar 1971 tat der Verband sich noch schwer mit dem Gedanken, eine echte Nationalfrauschaft zu bilden. Anlässlich der Einladung der Fédération Internationale et Européenne de Football Féminin (FIEFF), im August des Jahres in Mexiko an der heute nur als inoffiziell geltenden zweiten Frauenfußballweltmeisterschaft teilzunehmen – bei der ersten, 1970 in Italien ausgetragen, fehlte Frankreich –, empfahl der Bundesrat, dort solle eine Vereinself Frankreich vertreten. Einen Monat später erteilte er dann doch seine Zustimmung zur Bildung einer Auswahlmannschaft, und diese wurde nach Mexiko außer von Geoffroy auch von einem weiteren FFF-Funktionär und einem Liga-Schiedsrichter begleitet. Das Verbands-Mitteilungsblatt France Football Officiel veröffentlichte am 11. August sogar ein Foto der Reisegruppe. Wie schwer der Verband sich dabei tat, verdeutlicht ein Schreiben seines Generalsekretärs Michel Cagnion vom Februar 1971: „Angesichts der mehrfach zum Ausdruck gebrachten Reserviertheit der europäischen Fußballunion gegenüber Wettbewerben, die nicht ihrer Kontrolle unterliegen, erteilt die FFF ihre Erlaubnis, dass eine private [sic!] Mannschaft an der ersten Frauenweltmeisterschaft teilnimmt.“ Um sich für Mexiko zu qualifizieren, musste diese erste sélection française am 17. April 1971 gegen die Niederlande antreten, wobei die Französinnen sich mit 4:0 durchsetzten. Sélectionneur Pierre Geoffroy hatte dabei 15 Spielerinnen eingesetzt, von denen die meisten von Stade Reims kamen. Diese Begegnung ist seit 2011 das erste von der FIFA anerkannte Frauenländerspiel überhaupt. Vier Monate später reiste ein Aufgebot von 17 Spielerinnen nach Mexiko, das Geoffroy aus neun Frauen von Stade Reims, drei von anderen nordfranzösischen Klubs sowie je einer aus Rouen, Strasbourg, Mâcon, Caluire und Marseille gebildet hatte. Frankreich unterlag dort gegen Dänemark vor rund 30.000 Zuschauern mit 0:3 und gegen Italien mit 0:1, setzte sich aber im abschließenden Platzierungsspiel gegen England mit 3:2 durch und kehrte als Weltmeisterschafts-Fünfter zurück. Die FFF erkannte diese vier Spiele bis in die Gegenwart nicht an, wenngleich sie sie in ihren Veröffentlichungen inzwischen häufiger erwähnt; für den Verband gilt auch 2017 noch die Begegnung vom 28. November 1971 gegen Italien (Endstand 2:2) als erstes offizielles Länderspiel der Bleues. Die Problematik des Umgangs mit der Anerkennung von frühen Länderspielen ist allerdings weder eine ausschließlich französische noch eine rein nationale; auch der europäische und der Weltverband taten sich lange schwer mit der Integration des Frauenfußballs, die anfangs nicht über seine „passive Duldung“ hinausging. Die UEFA beschloss erst im November 1971 eine „Übernahme von Kontrolle und Organisation durch die nationalen Mitgliedsverbände“ und erließ im April 1973 Rahmenrichtlinien dafür, während die FIFA erst ab 1987/88 den Frauenfußball finanziell zu fördern bereit war, nachdem sie ihn bis dahin „beinahe ignoriert“ hatte. Erst 1986, mit der Schaffung eines Frauenfußball-Ausschusses, begann sie gegen immer noch vorherrschende Widerstände im eigenen Haus, der nicht mehr aufzuhaltenden Realität zu folgen; an die planmäßige Aufarbeitung der frühen Geschichte des internationalen Frauenfußballs machte sie sich sogar erst im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2011. Für eine Standortbestimmung im internationalen Vergleich taugten Frankreichs Resultate des Jahres 1971 nicht. Platz fünf in Mexiko wurde in einem inoffiziellen Turnier – die FIFA richtete erst ab 1991 anerkannte Weltmeisterschaften aus – mit lediglich sechs teilnehmenden Nationen erreicht, und auch die ausgeglichene französische Bilanz konnte über einen langen Zeitraum nicht wiederholt werden. Die Nationalelf trug nur wenige Länderspiele aus – 1972 eins, 1973 und 1974 jeweils drei, 1975 zwei, 1976 eins, 1977 und 1978 wieder je drei –, und das sportliche Abschneiden war dabei negativ: elf Niederlagen und vier Unentschieden stand lediglich ein Sieg (1973 gegen Irland) gegenüber. Erst 1979 änderte sich dies, als Frankreich von seinen vier Spielen nur eines verlor, aber zwei gewann. Die 1980er Jahre begannen mit drei Niederlagen in fünf Begegnungen allerdings wieder so, wie die 1970er insgesamt verlaufen waren. Das öffentliche Interesse ließ schnell nach und der Frauenfußball besaß keine Lobby, genoss zudem keinerlei planmäßige Förderung durch den Verband; bis 1977 war ein einziges, dreitägiges Trainingslager mit 25 Spielerinnen abgehalten worden. Dies änderte sich erst unter Geoffroys Nachfolger Francis Coché, der alle zwei Jahre Lehrgänge für Nationalspielerinnen einführte, die aber gleichfalls noch keine nennenswerten Erfolge zeitigten. Dabei war Coché keineswegs ein uneingeschränkter Befürworter des Frauenfußballs; vielmehr hatte er sich noch Ende der 1970er erhofft, dass „die Mädchen, die diesen Sport betreiben, später als Ehefrauen und Mütter die Fußballbegeisterung ihrer Söhne [sic!] verständnisvoll fördern“. Andererseits erkannte der „sehr autoritäre, strenge und fordernde Trainer“ frühzeitig, dass es schon in den Klubs einer besseren körperlichen und taktischen Schulung als bis dahin üblich bedurfte. Von 1980 bis einschließlich 1986 verloren die Bleues im Mittel jedes zweite Spiel (6 Siege, 7 Remis, 13 Niederlagen). Beim ersten Turnier um die Europameisterschaft, die sich von 1982 bis 1984 hinzog, waren sie bereits in der ersten Runde ausgeschieden. In Frankreich besaßen in dieser Zeit auch erst rund 2.500 Fußballerinnen einen Spielerpass. Zu dieser Stagnation der Frauennationalelf trugen zudem mangelnde Strukturen im Vereinsfußball bei. Zwar führte die FFF mit der Saison 1974/75 eine jährliche Meisterschaftsendrunde ein, die bis 1982 von Stade Reims und der AS Étrœungt und ab dann von VGA Saint-Maur und ASJ Soyaux dominiert wurde; aber eine einheitliche, landesweite Liga, in der die Spielerinnen viel regelmäßiger als nur anlässlich einer Handvoll Endrundenspiele gefordert worden wären, wurde erst 1992 geschaffen. Dies hatte bereits in den 1970ern zur Folge gehabt, dass ein gutes halbes Dutzend Französinnen – darunter Internationale wie Nicole Mangas, Nadine Juillard oder Ghislaine Royer-Souef – bei einem der Klubs aus der italienischen Liga anheuerten, wo sie außerdem für ihr sportliches Engagement bezahlt wurden. Angesichts der geringen Frequenz internationaler Begegnungen dauerte es zudem lange, bis eine Nationalspielerin die Zahl von 20 Länderspielen erreichen konnte. Dies gelang im November 1980 – unter Einbeziehung des Niederlande-Spiels von 1971 – als erster der Torfrau Marie-Louise Butzig aus Reims, gefolgt von den Feldspielerinnen Michèle Wolf (FC Lyon, Mai 1981), die 1984 als erste Französin auch noch die 30er-Marke überschritt und für den Journalisten Pascal Grégoire-Boutreau der „erste Star der 1970er Jahre“ war, sowie Sylvie Bailly aus Soyaux (Februar 1983). In diese Zeit fällt zudem ein symbolträchtiges Ereignis innerhalb der FFF: 1985 wurde mit Marilou Duringer erstmals eine Frau in den Bundesrat des Fußballverbandes gewählt. Sie hatte seit 1965 im elsässischen Schwindratzheim Fußball gespielt, war eine der ersten Französinnen mit einer offiziellen Spielerinnenlizenz und arbeitete danach über Jahrzehnte als ehrenamtliche Funktionärin beim FC Vendenheim. Gleich nach ihrer Wahl wurde sie zur Delegationsleiterin der Nationalfrauschaft ernannt, und diese Funktion hatte sie auch bei der Weltmeisterschaft 2011 noch inne. Die „Ära Mignot“ (1987–1997) 1987 ernannte die FFF mit Aimé Mignot erstmals einen Nationaltrainer, der zuvor als Spieler und Trainer Erfolge im Profispielbetrieb der Männer vorzuweisen hatte. Diese Tatsache empfand manche gestandene Nationalspielerin wie Bernadette Constantin als ein „Zeichen der gestiegenen Anerkennung“; außerdem veränderten sich die Trainingsmethoden grundlegend: Waren bis dahin nie mehr als fünf Länderspiele pro Jahr ausgetragen worden, sorgte Mignot gleich zu Beginn seiner Amtszeit dafür, diese Zahl zu steigern. Damit verfolgte er das Ziel, den Spielerinnen mehr internationale Praxis zu ermöglichen und durch mehr gemeinsame Trainingslehrgänge unmittelbar vor den Begegnungen Abstimmung, Spielverständnis und taktisches Verhalten zu verbessern. Nachdem die Bleues sich im Vorfeld nicht für die Europameisterschaft hatten qualifizieren können, schlossen sie das Jahr dennoch mit fünf Siegen in sechs Spielen positiv ab. 1988 bestritten Frankreichs Frauen zum ersten Mal eine zweistellige Zahl von Länderspielen; allerdings fielen ihre jährlichen Bilanzen bis einschließlich 1991 wieder negativ aus, so dass sie weder bei den Endrundenturnieren der folgenden Europameisterschaften noch bei der ersten offiziellen Weltmeisterschaft in China vertreten waren. Ab 1992 begannen Mignots Maßnahmen Früchte zu tragen, wozu in den folgenden Jahren langsam auch die Konzentration der Kräfte im Vereinsfußball dank der Einführung einer landesweiten ersten Liga beitrug. Zwar verpassten die Französinnen bis 1996 weiterhin die Qualifikation zu sämtlichen großen Turnieren von UEFA und FIFA, und das erste olympische Frauenfußballturnier fand 1996 ebenfalls ohne sie statt. Aber die Nationalelf wuchs in der Ära Mignot nicht nur aufgrund der quantitativ größeren Erfahrung besser zusammen, sondern sie setzte sich auch zunehmend mit international besonders starken Gegnerinnen auseinander. So kam es in dieser Zeit vor allem zu Länderspieldebüts gegen die USA, auf die die Bleues bis 1997 gleich elfmal trafen, Deutschland (vier Spiele) und China (zwei Partien). Und selbst wenn Frankreich gegen diese zunächst meist das Nachsehen hatte, wirkte sich die wachsende Erfahrung doch zählbar aus; in allen fünf Jahren war die Länderspielbilanz positiv, und für die acht Teilnehmerinnen umfassende Europameisterschaftsendrunde 1997 in Norwegen und Schweden qualifizierte sich die Nationalfrauschaft ebenfalls. Dort verhinderte sogar nur das schlechtere Torverhältnis gegenüber Spanien, dass Frankreich in die Runde der vier Besten einzog. Im unmittelbaren Vorfeld dieser EM durften die Frauen auch das nationale Trainingszentrum in Clairefontaine nutzen – ein Privileg, das bis dahin nur männlichen Fußballern vorbehalten war. Als Aimé Mignot im Herbst 1997 seine Tätigkeit als Nationaltrainer beendete, konnte er auf eine durchaus erfolgreiche Bilanz verweisen: In 85 Länderspielen unter seiner Verantwortung hatten die französischen Frauen 38 Siege eingefahren, 18-mal unentschieden gespielt und 29 Niederlagen hinnehmen müssen. In seine Amtszeit fielen auch die Nationalelfdebüts von Frankreichs Rekordspielerin Sandrine Soubeyrand und der bis weit ins 21. Jahrhundert erfolgreichsten Torschützin der Bleues, Marinette Pichon. Zu den tragenden Säulen in der „Ära Mignot“ zählten Bernadette Constantin, Hélène Hillion-Guillemin, Françoise Jézéquel, Isabelle Musset, Sandrine Roux und Sophie Ryckeboer-Charrier.Zudem verstetigte der Fußballverband im Verlauf der späteren 1990er Jahre die perspektivisch wesentliche Nachwuchsarbeit mit den A- und B-Mädchen-Nationalteams (heutzutage als U-19 beziehungsweise U-17 bezeichnet) und schuf mit der sogenannten U-21 auch eine Auswahl, mit der junge erwachsene Spielerinnen an die Bleues herangeführt werden sollen. Die U-17 stand 1996 erstmals in einem Endspiel der (noch nicht offiziellen) Jahrgangs-Europameisterschaften, der U-19 gelang dies zwei Jahre später. Langfristig positive Effekte erhofft die FFF sich von den im Rahmen des Deutsch-Französischen Jugendwerks regelmäßig abgehaltenen, gemeinsamen Trainingslagern ihrer U-16-Mädchen mit deren deutschen Altersgenossinnen. Nachhaltiger Aufschwung unter der ersten Trainerin Nach der Europameisterschaft 1997 löste Élisabeth Loisel, zuvor als Spielerin und Vereinstrainerin sehr erfolgreich und seit 1989 Trainerassistentin der Bleues, Mignot ab. Sie setzte 1998, insbesondere mithilfe der aktiven Unterstützung durch den neuen Vorsitzenden der Direction Technique Nationale, den Männer-„Weltmeistermacher“ Aimé Jacquet, durch, dass auch die Frauen- und Mädchennationalmannschaften die Möglichkeiten der französischen „Kaderschmiede“ Centre technique national Fernand-Sastre in Clairefontaine systematisch nutzen konnten. Denn ihrer Überzeugung nach müsse man im Sport zwar die „psychische und physiologische Andersartigkeit berücksichtigen, aber in technischer und taktischer Hinsicht gibt es beim Training keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern“. Des Weiteren forderte Loisel schon um die Jahrtausendwende eine Professionalisierung im Vereinsfußball, deren Umsetzung aber an der „etwas ängstlichen Verbandspolitik“ scheiterte, sowie eine mädchen- und frauenspezifische Trainerausbildung in Clairefontaine. Zudem ermutigte sie Nationalspielerinnen zu einem Vereinswechsel in die starken ausländischen Ligen, den beispielsweise Marinette Pichon und Stéphanie Mugneret-Béghé (beide gingen in die US-amerikanische Profiliga) oder Élodie Woock (in die deutsche Bundesliga) dann vollzogen. 2001 führte Loisel die Bleues erneut zu einer Europa- und 2003 erstmals zu einer Weltmeisterschafts-Endrunde, und auch wenn Frankreich bei beiden Turnieren erneut nicht über die Gruppenspiele hinauskam, ist mit ihrer Amtsführung der Aufstieg der Französinnen in die Weltspitze untrennbar verbunden. Als die FIFA 2003 eine Weltrangliste für Frauennationalmannschaften einführte, rangierte die französische Elf zunächst auf Platz neun und war damit hinter Norwegen, Deutschland, Schweden und Dänemark die fünftbeste in Europa. 2005 – in diesem Jahr hatte Frankreich sich wiederum für die Europameisterschaftsendrunde qualifiziert, in der es, wie schon 1997, nur aufgrund des schlechteren Torverhältnisses nach den Gruppenspielen ausschied – kletterte sie auf den fünften Rang und hatte innerhalb der UEFA nur noch die Deutschen und die Norwegerinnen vor sich, ehe sie am Ende von Loisels Amtszeit weltweit auf den siebten Platz zurückfiel. Die Trainerin setzte den von Aimé Mignot begonnenen Weg konsequent fort und erhöhte die jährliche Anzahl von Lehrgängen und Länderspielen weiter; in den sechs Jahren von 2001 bis 2006 bestritt die Nationalelf im Mittel 13 Begegnungen. Dies führte dazu, dass während Loisels Tätigkeit fünf Frauen Aufnahme in den internationalen „100er-Klub“ fanden: Corinne Diacre, Marinette Pichon, Stéphanie Mugneret-Béghé, Hoda Lattaf und Sandrine Soubeyrand. Außerdem wirkte sich der verbesserte „Unterbau“ und die intensivierte Zusammenarbeit mit den für die Jugendnationalmannschaften zuständigen Kollegen positiv aus, indem Élisabeth Loisel zahlreiche Nachwuchsspielerinnen aus der besonders spielstarken U-18/U-19 (Jahrgangs-Europameister 2003 sowie jeweils Vize-Europameister 2002, 2005 und 2006) zu A-Nationalspielerinnen machte. Mit Australien, Brasilien, Südkorea und, neben anderen, Österreich erweiterte sich zudem der Kreis gegnerischer Frauennationalmannschaften. Unter Loisel gelang Frankreich auch der erste Sieg gegen die deutschen Frauen (2003), außerdem der bis in die Gegenwart höchste Erfolg seiner Länderspielgeschichte (14:0 gegen Algerien, 1998). Am Ende ihrer neun Jahre an der Spitze der Bleues wiesen die Französinnen eine bis dahin unerreichte Bilanz von 59 Siegen und 21 Unentschieden bei nur 30 Niederlagen auf. 2007 bis 2013: Konsolidierung an der Weltspitze Wie unter seiner Vorgängerin war die französische Nationalelf auch unter dem Anfang 2007 zum Trainer berufenen Bruno Bini bei den ersten beiden großen Turnieren nur Zuschauer. 2009 allerdings qualifizierte sie sich für die Europameisterschaft und überstand dabei nicht nur zum ersten Mal in ihrer Länderspielgeschichte die Gruppenspiele, sondern scheiterte im Viertelfinalspiel gegen die Niederlande denkbar knapp, weil im entscheidenden Elfmeterschießen zwei Französinnen lediglich den Torpfosten getroffen hatten. Es folgte ein Jahr, in dem die Französinnen von ihren elf Länderspielen zehn gewannen und einmal unentschieden spielten, wodurch sie sich souverän für die Weltmeisterschaft 2011 qualifizierten – ohne Punktverlust, mit 50:0 Toren – und in deren Vorfeld sogar zum erweiterten Favoritenkreis gerechnet wurden. Diese WM schlossen die Bleues als Vierter ab, und auch wenn es gegen Deutschland, die USA sowie – im Spiel um den dritten Platz – Schweden Niederlagen gegeben hatte, hatte ihr Auftreten insbesondere „in Frankreich etwas für den Frauenfußball bewegt“. Außerdem bedeutete dieses Abschneiden, dass die Französinnen sich als eines von nur zwei europäischen Teams einen Platz im Teilnehmerfeld des olympischen Fußballturniers 2012 sichern konnten, das sie gleichfalls als Vierte abschlossen. Mehr noch als bei Élisabeth Loisel stand für Bini der Teamgedanke an vorderster Stelle, wie er 2011 anlässlich der Bekanntgabe des französischen WM-Aufgebots pointiert formulierte: „Das sind nicht die 21 besten Spielerinnen Frankreichs, aber die besten, die als Gruppe im Wettbewerb weit kommen können“. Zu Hilfe kam ihm dabei die Möglichkeit zur „Blockbildung“, weil in der französischen Liga die Konzentration auf nur noch vier Spitzenvereine – und unter diesen vorrangig auf den Champions-League-Sieger von 2011 und 2012, Olympique Lyon – vorangeschritten war. Von den 14 Frauen, die in der Saison 2012/13 den Kern der Mannschaft bildeten (siehe Abbildung rechts), spielten lediglich fünf nicht bei Lyon, nämlich Soubeyrand, Thiney (beide aus Juvisy), Boulleau (Paris Saint-Germain), Delie und Meilleroux (Montpellier). Bini, der die ehemalige Nationalspielerin Corinne Diacre als Co-Trainerin in seinen Stab geholt hatte, hat das Kombinationsspiel verbessert und die Offensivstärke erhöht. Die taktische Formation entsprach schließlich eher einem 4-3-3- als einem 4-5-1-System. Dabei vertraute er weiter auf viele derjenigen Spielerinnen, die sich schon unter seiner Vorgängerin zu Stützen der Nationalelf entwickelt hatten; so überquerten mit Sonia Bompastor, Laura Georges, Élise Bussaglia, Camille Abily und Louisa Nécib fünf weitere Französinnen die Marke von 100 Länderspielen. Zudem verhalf der zuvor mit der französischen U-18/U-19-Auswahl sehr erfolgreiche Trainer (Juniorinnen-Europameister 2003) aber auch zahlreichen jungen Fußballerinnen zu ihrem Debüt, darunter vier U-19-Europameisterinnen von 2010. Eine Premiere anderer Art gab es im Dezember 2011, als die Französinnen zwei „Heimspiele“ in ihren karibischen Übersee-Départements Guadeloupe beziehungsweise Martinique austrugen. Im Januar 2012 wurde Bruno Bini im Rahmen der FIFA-Ballon-d’Or-Gala als weltweit drittbester Frauentrainer des Jahres 2011 ausgezeichnet. Allerdings schied Frankreich bei der Europameisterschaft 2013, nach verlustpunktfrei überstandener Vorrunde von zahlreichen Medien zum Titelaspiranten erklärt, erneut bereits im Viertelfinale aus. Anschließend formulierte Le Monde angesichts der Tatsache, dass die Französinnen zum vierten Mal in Folge seit 2009 bei einem Kontinentalturnier einen Podiumsplatz verpasst hatten, sie seien „erneut in einem entscheidenden Moment gescheitert“, was den Trainer – „dessen Anteil an der Entwicklung des französischen Frauenfußballs unbestreitbar“ sei – nach diesem „relativ schlechten Abschneiden“ vor die Frage nach seiner eigenen Zukunft stellen müsse. In insgesamt 99 Begegnungen unter Bruno Bini verzeichnete die französische Bilanz 69 Siege, 16 Unentschieden und 14 Niederlagen; die Französinnen rückten in der Weltrangliste zwischenzeitlich wieder auf Platz Fünf vor und waren damit Europas zweitbeste Frauschaft. Dennoch beendete das Exekutivkomitee der FFF am 30. Juli 2013 einseitig Binis bis 2015 laufenden Vertrag. 2013–2017: Bruno Binis schweres Erbe Die Ernennung von Philippe Bergeroo als Bini-Nachfolger hatte die Medien überrascht, die eher jemanden favorisierten, der bereits über praktische Erfahrungen mit dem Frauenfußball verfügte – wie Binis Assistentin Corinne Diacre, den U-17-Frauen-Nationaltrainer Guy Ferrier, den ehemaligen U-21-Coach Gérard Prêcheur oder den Erfolgstrainer der Olympique-Lyon-Frauen, Patrice Lair. Bergeroos erste große Aufgabe bestand darin, die Bleues für die WM-Endrunde 2015 in Kanada zu qualifizieren. Dafür sicherte er sich zunächst die Dienste von Frankreichs seinerzeitiger Rekordtorfrau Sandrine Roux, die sich in seinem Stab um das Training der Torhüterinnen kümmerte. Erfolgreiche Nachwuchsspielerinnen standen gleichfalls bereit: Die französische U-19-Frauschaft gewann im August 2013 den Europameistertitel in ihrer Altersgruppe. Um neue Spielerinnen an die A-Elf heranzuführen, hatte der Trainer eine B-Mannschaft (des öfteren auch als U-23 bezeichnet) eingerichtet, die mehrmals im Jahr gegen A-Teams „aus der zweiten europäischen Reihe“ antritt, seit 2016 am Istrien-Cup teilnimmt und bis 2020 von Jean-François Niemezcki trainiert wurde, der zudem 2015 die französische Studentinnennationalauswahl zum Gewinn der Goldmedaille bei der Universiade geführt hatte. Bergeroos erste A-Kader im Herbst 2013 stützten sich allerdings ganz überwiegend auf Fußballerinnen, die auch schon unter Bruno Bini zum „inneren Kreis“ gezählt hatten; dabei setzt er in der Abwehrreihe, anders als sein Vorgänger, auf eine „Pariser Achse“ (Houara, Delannoy, Georges, Boulleau), zu der als einzige Lyonerin Renard hinzukam. Mit Marine Dafeur, Griedge Mbock Bathy und Sandie Toletti berief der Trainer zudem drei 18-Jährige sowie mit Kenza Dali, Inès Jaurena und Amel Majri weitere Neulinge. In Nachfolge der zurückgetretenen Sandrine Soubeyrand hat Bergeroo Wendie Renard zur neuen Spielführerin der Bleues bestimmt. Élodie Thomis kam im Februar, Gaëtane Thiney im März 2014, Eugénie Le Sommer im März 2015, Sarah Bouhaddi im Januar und Marie-Laure Delie im März 2016 zu ihrem 100. Länderspiel. Einen ersten Erfolg errangen die Französinnen im Frühjahr 2014 mit dem Gewinn des Zypern-Cups. Die erste Niederlage unter dem neuen Coach musste Frankreich im Juni 2014 bei dessen 16. Begegnung hinnehmen. Dennoch war seine Bilanz der 17 Saisonspiele – darunter Top-Gegnerinnen wie die USA, Brasilien und Schweden – mit 13 Siegen und nur einer Niederlage sehr erfolgreich. Auch die WM-Qualifikation meisterten seine Frauen mit Bravour; sie setzten sich in der Europa-Gruppe 7 ohne Punktverlust bei einem Torverhältnis von 54:3 durch. Darunter war ein 10:0-Sieg in Bulgarien, der zweithöchste Auswärtserfolg in Frankreichs Länderspielgeschichte, dem sie fünf Tage darauf im Rückspiel ein 14:0 folgen ließen. Mit diesem erst vierten zweistelligen Sieg – der dritte in einem Pflichtspiel – reihte Philippe Bergeroo sich auf einer Höhe mit Élisabeth Loisel (14:0-Heimsieg 1998 gegen Algerien) und Bruno Bini (12:0 in Estland 2009) ein. Mittlerweile ist unter Corinne Diacre im Herbst 2020 noch ein 11:0 vor eigenem Publikum gegen Nordmazedonien dazugekommen, auch dies ein Pflichtspiel. Auf die WM-Endrunde in Kanada hatten die Bleues sich ab Oktober 2014 gezielt durch Testspiele gegen besonders starke Gegner vorbereitet, wobei sie diese allesamt bezwangen: Deutschland auswärts, Brasilien, die USA und Kanada vor heimischem Publikum, den amtierenden Weltmeister Japan beim Algarve-Cup 2015, in dem Frankreich den zweiten Platz belegte. In der FIFA-Weltrangliste haben sich die Bleues unter Bergeroo im Laufe des Jahres 2014 bis auf den dritten Rang vorgearbeitet, den sie auch während der WM innehatten. Als Ziel für Kanada gab die FFF denn auch das Erreichen eines Podiumsplatzes aus. Aber obwohl die Französinnen – abgesehen von einer Niederlage gegen Kolumbien in den Gruppenspielen – Fachmedien und Gegner zu überzeugen wussten, schieden sie im Viertelfinale nach Elfmeterschießen gegen ihre deutschen Kontrahentinnen aus. Diese Begegnung war zugleich die 49. in Folge ohne Niederlage gegen ein europäisches Team (42 Siege und sieben Unentschieden, letzte Niederlage beim Spiel um den dritten Platz bei der WM 2011 gegen Schweden). Zudem hatten sie sich durch ihr Abschneiden als einer von drei UEFA-Vertretern für die Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro qualifiziert. Gleich nach der Rückkehr aus Kanada verlängerte die FFF Bergeroos Vertrag bis zum Sommer 2017. Im Heimmatch gegen Griechenland im Juni 2016, einer bedeutungslos gewordenen EM-Qualifikationspartie – Frankreichs Endrundenteilnahme war bereits gesichert –, gewannen die Französinnen das 40. EM-/WM-Qualifikationsspiel in ununterbrochener Folge; ihr letzter Punktverlust in dieser Art von Pflichtspielen datiert auf den Juni 2007 (0:1-Niederlage auf Island anlässlich der Qualifikation für die EM 2009). Bergeroo hatte bereits seit 2015 auch die „Heim“-Weltmeisterschaft 2019 fest im Blick gehabt, wenn der größte Teil des gegenwärtigen Spielerstammes die 30 deutlich überschritten haben wird, und führte immer wieder talentierten Nachwuchs an die erste Elf der Bleues heran, so zuletzt Amandine Guérin, Clarisse Le Bihan, Valérie Gauvin oder Marie-Charlotte Léger. Prominenteste Leidtragende dieser Maßnahme war Gaëtane Thiney, die schon während der 2015er WM nicht mehr in allen Partien zur Startformation zählte und 2015/16 keinerlei Berücksichtigung mehr fand. Unmittelbar nach dem olympischen Turnier 2016 hatte außerdem Spielmacherin Louisa Nécib aus persönlichen Gründen ihre Karriere beendet. Bei den Olympischen Spielen in Brasilien traf Frankreich in der Gruppenphase auf Kolumbien, die USA und Neuseeland. Kolumbien war bereits bei der Olympiade 2012 (sowie bei der WM-Endrunde 2015) Gruppengegner gewesen, und auch mit den Neuseeländerinnen haben die Bleues sich schon dreimal gemessen. Zur Vorbereitung auf dieses Turnier besiegten die Bleues China, dessen Trainer Bergeroos Vorgänger Bini ist, sowie Kanada, das sich vier Jahre zuvor im Spiel um Platz drei gegen Frankreich durchgesetzt hatte; gegen Letztere mussten die Französinnen in diesem olympischen Viertelfinale erneut antreten, und erneut durchkreuzten die Nordamerikanerinnen die französischen Hoffnungen auf einen Medaillengewinn. Für das wiederum frühzeitige Scheitern bei diesem Turnier machte Bergeroo anschließend „mentale Probleme bei den Spielerinnen“ verantwortlich. Und obwohl er bis dato der Nationaltrainer war, unter dessen Führung die Französinnen den besten Punktedurchschnitt pro Spiel erzielt haben, löste die Verbandsspitze wenige Wochen später den Vertrag mit Bergeroo auf. Nachdem Corinne Diacre abgesagt hatte, weil sie ihren Verein nicht mitten in der Saison verlassen wollte, bestimmte die FFF als seinen Nachfolger Olivier Echouafni, einen Mittvierziger, der bis dahin lediglich zwei Vereinsmannschaften (SC Amiens, FC Sochaux) im Männerbereich trainiert hatte. Er reaktivierte in seinen ersten Aufgeboten unter anderem Gaëtane Thiney, Camille Catala und Julie Soyer und lud zudem mehrere neue, junge Spielerinnen ein. Echouafni hatte frühzeitig konstatiert, dass zahlreiche Fußballerinnen überspielt und angeschlagen seien; deswegen sagte er eine für November vereinbarte Länderspielreise nach China ab und verzichtete auch darauf, bis Jahresende ein weiteres Freundschaftsspiel in Europa auszutragen. Für die Europameisterschaftsvorbereitung seien die Begegnungen im März 2017 beim SheBelieves Cup sinnvoller. Außerdem holte er mit Frédéric Née einen ehemaligen Stürmer in seinen Stab, der versuchen soll, die zuletzt relativ schwache Chancenverwertung – für den Trainer ein weiteres zentrales Problem der Bleues – wieder zu verbessern. Schließlich ist er sich mit FFF-Präsident Le Graët darüber einig, dass eine größere Konkurrenz in der französischen Liga, die seit vielen Jahren von nur drei oder vier Teams dominiert wird, dazu beitragen würde, das individuelle Niveau der Nationalspielerinnen noch weiter zu erhöhen. Das hochkarätig besetzte Einladungsturnier in den USA gewannen die Französinnen; sie blieben dabei gegen England (Weltranglisten-Fünfte, 2:1), Deutschland (Zweite, 0:0) und die Gastgeberinnen (Erste, 3:0) ungeschlagen und bewiesen Ansätze zu einer besseren Chancenausnutzung gegen die Engländerinnen, als sie das Spiel in der Schlussphase noch drehten, und insbesondere gegen die USA. Bei der Europameisterschaft 2017 verfehlte das Team die hochgesteckten Erwartungen deutlich, wurde lediglich Gruppenzweiter und musste nach der Viertelfinalniederlage gegen England erneut vorzeitig die Heimreise antreten. Und obwohl FFF-Präsident Le Graët unmittelbar anschließend Echouafni noch sein Vertrauen ausgesprochen und dessen Weiterbeschäftigung bis zur Weltmeisterschaft 2019 im eigenen Land garantiert hatte, stellte er der Öffentlichkeit vier Wochen später Corinne Diacre als neue Nationaltrainerin vor. 2017–2023: Auch unter Corinne Diacre kein Titel Nachdem die Französinnen bei den internationalen Pflichtturnieren viermal in Folge bereits im Viertelfinale gescheitert waren, hoffte die FFF, mit der 43-jährigen Corinne Diacre endlich wenigstens einen Podiumsplatz zu erreichen, tatsächlich aber möglichst sogar den ersten großen Titel im Frauenbereich zu gewinnen. Die Voraussetzungen, dieses anspruchsvolle Ziel zu verwirklichen, schienen günstig – nicht nur, weil Frankreich Gastgeber der Weltmeisterschaftsendrunde 2019 war, sondern auch aufgrund Diacres sportlicher Vita. Sie war mit 121 Einsätzen lange Zeit die französische Rekordnationalspielerin, 2003 WM-Teilnehmerin, assistierte Bruno Bini für drei Jahre bei den Bleues, hat anschließend ein Frauen-Vereinsteam und ab 2014 eine Männer-Profimannschaft in der Ligue 2 trainiert. Aber erneut kamen die Bleues über das Viertelfinale nicht hinaus. Dessen ungeachtet formulierte sie für die Europameisterschaft 2022 wiederum einen hohen Anspruch an sich und ihre Spielerinnen: Und auch wenn dies einmal mehr nicht gelang – im Halbfinale kam das Aus –, verlängerte der Verband Diacres Vertrag bis August 2024, also einschließlich des olympischen Turniers in Paris. Die Arbeit der erst zweiten weiblichen Nationaltrainerin begann im September 2017 mit zwei Freundschaftspartien gegen Chile – Frankreichs 52. Länderspielgegner – und Spanien, wobei die Bleues bis zur Weltmeisterschaft im eigenen Land überhaupt keine Pflichtspiele bestreiten konnten. Diacre musste gerade mit Blick auf diese WM den Umbau und die Verjüngung des Kreises der Nationalspielerinnen weiter vorantreiben, nicht nur, weil Camille Abily und Élodie Thomis nach der EM ihren Rücktritt aus der Nationalelf verkündet hatten; auch Bouhaddi, Georges, Houara, Bussaglia und Thiney hatten Mitte 2019 die Dreißig deutlich überschritten. Manche von ihnen, so Diacre, die auch den bisherigen Trainerstab komplett ausgewechselt hat, „befinden sich am Ende ihrer Karriere“. Entsprechend nominierte sie für ihr erstes 23er-Aufgebot gleich acht Spielerinnen, die bis dahin noch kein einziges A-Länderspiel absolviert hatten; fünf von ihnen – Torrent, Greboval, Sarr, Le Garrec und Cissoko – gaben dann tatsächlich ihr Debüt, die ersten drei sogar in der Startformation. Damit stellte sie einen „einsamen Rekord“ in der Geschichte der Nationalfrauschaft auf, denn keiner ihrer Vorgänger seit 1997 hatte bei seinem Debüt mehr als zwei Frauen ohne jegliche Erfahrung in der A-Elf in sein Aufgebot berufen. Vier Wochen später testete sie vier weitere Neulinge, und am Jahresende war die Zahl der Debütantinnen auf elf angewachsen. Das frühzeitige Heranführen junger Talente an das internationale Niveau ist bei ihr ein Grundprinzip, das sich in den 2020er Jahren ebenso fortsetzt wie das Zurückholen von jahrelang nicht mehr berücksichtigten Spielerinnen. Für die erstgenannte Gruppe stehen Namen wie Palis, Bussy, Malard oder Feller, für Letztere beispielsweise Toletti, Hamraoui und Diallo. Zudem bestimmte Diacre im Wechsel Laura Georges, Amandine Henry und Eugénie Le Sommer anstelle von Wendie Renard zur Spielführerin, und sie ließ das Team bei den ersten Begegnungen jeweils im 4-3-3 antreten. Das offizielle Ziel, bei der Weltmeisterschaft unter die letzten vier zu gelangen, hatte die Trainerin knapp anderthalb Jahre vor dem Eröffnungsspiel auf den Gewinn des Titels zugespitzt, womit sie den Druck auch auf sich selbst stark erhöhte.Eine Besonderheit bestand zudem darin, dass Diacre in den Anfangsmonaten auffällig viele Spielerinnen aus „kleinen“ Erstligavereinen in ihre Aufgebote berief. Dies diente einerseits dazu, Talente auch jenseits der dominierenden Klubs aus Lyon, Montpellier und Paris ausfindig zu machen; andererseits sollte dies den Frauenfußball im gesamten Land stärken und in Hinblick auf die WM 2019 das „Wir-Gefühl“ weiter entwickeln. Bis Ende des Kalenderjahres folgten noch weitere Partien gegen England, Schweden und Ghana (dies eine Premiere) sowie in Deutschland. In der Weltrangliste rutschte Frankreich mit 2019 Punkten vorübergehend auf den sechsten Platz ab, wenngleich es lediglich 14 Punkte weniger als die drittplatzierten Engländerinnen aufwies. Mit dafür verantwortlich war die Tatsache, dass die Bleues ausschließlich schwächer gewichtete Freundschaftsspiele austragen konnten. Anfang März 2018 zeichnete sich beim SheBelieves Cup dann erstmals ein festeres Gerüst der Elf ab, als die Trainerin gegen Gastgeber USA (1:1) und Deutschland (3:0) jeweils eine identische Startformation aufbot – mit Torrent als einziger Neuer, aber auch mit Tounkara, Gauvin und der bei diesem Turnier erstmals wieder berücksichtigten, routinierten Gaëtane Thiney. Einen Monat später fand Wendie Renard gegen Nigeria als 16. Französin Aufnahme in den „Hunderter-Club“. Nach dem Kanada-Spiel Anfang April 2018 hatte Frankreich keine weiteren Länderspiele ausgetragen, damit die Spielerinnen – so Diacre – ab Juni eine etwas längere Erholungsphase bekommen, die sie im Sommer 2019 nicht haben werden. Dennoch kletterten die Bleues im Juni 2018 wieder auf den dritten Rang in der Weltrangliste. Im Herbst und Winter 2018/19 setzte sich die Elf mit fünf außereuropäischen Gegnern auseinander; darunter waren mit Australien, Brasilien und den USA drei Frauschaften, die ebenfalls zu den FIFA-Top-10 gehören. In Frankreich hatte die Vorfreude auf die WM stark zugenommen, je näher deren Beginn rückte; gegen die Amerikanerinnen blieben die Kartenschalter des Stade Océane in Le Havre geschlossen, weil dessen Kapazität von 22.870 Zuschauern bereits im Vorverkauf ausgeschöpft war. Es folgten Partien gegen Deutschland, Uruguay, Japan und Dänemark. In der letzten Maiwoche maß sich das französische WM-Aufgebot noch mit zwei asiatischen WM-Teilnehmern, nämlich Thailand – Frankreichs 55. Gegner in seiner Länderspielgeschichte – und China, sozusagen als letzte Tests für den „WM-Ernstfall“ gegen Südkorea. Das Abschneiden bei dem WM-Turnier entschied zugleich darüber, ob Frankreich zu den lediglich drei Teams aus dem Bereich der UEFA gehört, die am olympischen Fußballturnier 2020 in Tokio teilnehmen dürfen. Einmal mehr war es den im Viertelfinale ausgeschiedenen Französinnen nicht gelungen, „das vorhandene Potential zur Abwechslung einmal in zählbare Erfolge um[zu]münzen“. FFF-Präsident Le Graët bekräftigte anschließend, dass Diacre auch weiterhin Cheftrainerin der Bleues sein wird. Ab dem Herbst 2019 begann die Qualifikation für die Europameisterschaftsendrunde in England, die ursprünglich im Sommer 2021 stattfinden sollte und dann um ein Jahr verschoben wurde. Hauptkonkurrenten der Bleues war Österreich; mit Nordmazedonien nahm in dieser Gruppe zudem ein Team teil, gegen das die Französinnen zuvor noch nie gespielt hatten. Diacres erstes Aufgebot nach der WM beinhaltete eine punktuelle Verjüngung, indem sie für die Positionen im Tor, der Abwehr und dem Mittelfeld jeweils einen absoluten Neuling berücksichtigte. Gleichzeitig wollte die Trainerin aber auf ihre routiniertesten Kräfte (Bouhaddi, Thiney, Le Sommer, Henry) einstweilen noch nicht verzichten; aus der Altersgruppe der 30-Jährigen nominierte sie lediglich Bussaglia nicht mehr.Insbesondere ab 2020 kam es gerade von diesen Frauen und Wendie Renard allerdings zu auch öffentlich vorgetragener Kritik am „Kommunikationsstil“ Diacres, etwa hinsichtlich einer dauerhaften oder gelegentlichen Nichtberücksichtigung in deren Länderspiel-Aufgeboten, so dass sich sogar der Verbandspräsident genötigt sah, einzugreifen und die Wogen zu glätten. Die FFF richtete Anfang März 2020 ein eigenes Vier-Nationen-Turnier (Tournoi de France) aus, das jährlich stattfinden soll, womit der Verband die Begeisterung für den Frauenfußball, die sich bei der WM 2019 in eindrucksvollen Zuschauerzahlen manifestiert hatte, perpetuieren möchte. Die Veranstaltung konkurrierte allerdings mit gleichzeitigen Turnieren in den USA, Portugal und Zypern. Insbesondere der SheBelieves Cup schränkte die Auswahl hochklassiger Gegnerinnen ein, weil dort die USA, England und Japan vertraglich zur Teilnahme verpflichtet waren. An der ersten Austragung mit Spielen in Valenciennes (Stade du Hainaut) und in Calais (Stade de l’Épopée) nahmen Brasilien, Kanada und der amtierende Europameister Niederlande teil. Durch ihren Gewinn des Wettbewerbs verbesserten die Bleues sich wieder auf Platz 3 der Weltrangliste. Gleich anschließend sagte die UEFA den gesamten internationalen Spielbetrieb aufgrund der weltweiten Coronavirus-Pandemie bis zum Sommer 2020 ab, so dass auch vier EM-Qualifikationsbegegnungen Frankreichs verschoben werden mussten und erst im Herbst ausgetragen werden konnten. Aus demselben Grund verschob die UEFA die EM-Endrunde um ein Jahr auf den Juli 2022. Im Oktober 2020 rangen die Österreicherinnen Frankreich ein Unentschieden ab und beendeten damit eine Serie von 46 französischen Siegen in EM- und WM-Qualifikationsspielen, die 2007 begonnen hatte. Vor dem Rückspiel vier Wochen später – zugleich das „Endspiel“ um den Gruppensieg – musste Corinne Diacre eine ganze Serie von Absagen kompensieren: Gauvin, Le Sommer, Torrent und Asseyi fehlten verletzungsbedingt, Tounkara begab sich aufgrund eines positiven COVID-19-Tests in Quarantäne. Ihre EM-Qualifikationsgruppe schlossen die Bleues mit sieben Siegen und einem Torverhältnis von 44:0 dennoch als unangefochtene Gruppenerste ab. Die Auslosung der Vorrundengruppen im Oktober 2021 ergab als französische Gegnerinnen Italien, Belgien und Island. Anlässlich der zweiten Austragung des Tournoi de France im Februar 2021 sollten die Bleues mit Norwegen, Island und der Schweiz auf die innerhalb der UEFA sechst-, zehnt- und zwölftplatzierten Kontrahentinnen treffen. Das Turnier wurde allerdings kurzfristig abgesagt und durch zwei Freundschaftsspiele gegen die Eidgenossinnen ersetzt. Dafür konnte der Verband für den April aber mit dem Weltranglisten-6. England und den USA (Nr. 1) zwei sehr starke Gegner dafür gewinnen, nach Frankreich zu kommen. Der 3:1-Erfolg gegen die Engländerinnen gelang einem Team, das zum ersten Mal seit vielen Jahren ohne Beteiligung einer einzigen Spielerin aus Lyon auskommen musste. Bei dem letzten Spiel der Saison im Stade de la Meinau gegen Deutschland waren zum ersten Mal seit 15 Monaten wieder Zuschauer zugelassen, wenn auch mit 5.000 freigegebenen Plätzen in stark eingeschränkter Zahl. Bei der Auslosung der Qualifikationsgruppen zur Weltmeisterschaft 2023 in Australien und Neuseeland bekamen die Französinnen – zu diesem Zeitpunkt Vierte der Weltrangliste – folgende Gegner in der Gruppe I zugelost: Wales (Rang 32), Slowenien (Rang 50), Griechenland (Rang 64), Kasachstan (Rang 81) und Estland (Rang 106). Die Bleues haben in der Vergangenheit gegen sie alle schon Spiele ausgetragen (insgesamt 19) und dabei lediglich einmal nicht gewonnen, nämlich 1978 bei einem 1:1 gegen die Waliserinnen. Der Zeitraum für diese Begegnungen begann im September 2021 und war zwölf Monate später abgeschlossen. Die Spiele der Saison 2021/22, eingesetzte Spielerinnen und Torschützen  Einsätze e = eingewechselt Tor: Pauline Peyraud-Magnin (11), Solène Durand (1), Mylène Chavas (1) Abwehr: Aïssatou Tounkara (10), Ève Périsset (9+1e), Marion Torrent (5+3e), Sakina Karchaoui (6+1e), Griedge Mbock Bathy (5+2e), Wendie Renard (6), Selma Bacha (3+3e), Élisa De Almeida (4), Hawa Cissoko (2+2e), Perle Morroni (2+1e) Mittelfeld: Sandie Toletti (10+3e), Charlotte Bilbault (11+1e), Kenza Dali (4+6e), Onema Grace Geyoro (7+2e), Melvine Malard (3+6e), Ella Palis (1+3e), Kheira Hamraoui (1+2e), Amel Majri (2), Léa Khelifi (1e) Angriff: Marie-Antoinette Katoto (13), Delphine Cascarino (9+2e), Sandy Baltimore (3+7e), Kadidiatou Diani (8), Clara Matéo (5+2e), Viviane Asseyi (1+5e), Ouleymata Sarr (4e), Kessya Bussy (2e), Naomie Feller (1e), Valérie Gauvin (1e) erzielte TrefferKatoto (15), Renard, Diani (je 5), Geyoro, Malard, Cascarino (je 4), Dali, Tounkara (je 3), Majri, Asseyi, Périsset, Sarr, Toletti (je 2), Gauvin, Bacha, Mbock Bathy, Matéo (je 1); dazu kamen Eigentore der Griechin Maria Palama, der beiden Estninnen Maria Orav und Heleri Saar sowie von Anna Westerlund (Finnland). Mittlerweile haben die Französinnen in Marie-Antoinette Katoto eine echte Torgarantin; in ihren 19 letzten Länderspielen zwischen November 2020 und Juli 2022 war sie 21-mal erfolgreich, wobei ihr sechs „Doppelpacks“ und ein Hattrick gelangen. Selbst die mit individuellem Lob normalerweise sparsame Nationaltrainerin nannte Katoto ohne jede Einschränkung „unverzichtbar“. Anstelle einer Sommerpause wartete im Juli 2022 die Europameisterschaft in England auf die Bleues, wo endlich der seit 2009 andauernde „Viertelfinal-Fluch“ überwunden werden konnte. Nachdem sie anschließend auch ihre beiden letzten WM-Qualifikationsbegegnungen deutlich gewonnen hatten, verloren sie zwei Testspiele in Deutschland und Schweden – für Diacre eine Premiere der unerfreulichen Art, denn zwei aufeinanderfolgende Niederlagen hatten Frankreichs Frauen zuletzt sechseinhalb Jahre zuvor beim SheBelieves Cup hinnehmen müssen. Diese beiden Partien gegen den Dritten beziehungsweise Zweiten der Weltrangliste, bei denen die Trainerin eine identische Startelf aufgeboten hatte – ohne die verletzten Stammkräfte Katoto, Mbock Bathy, Karchaoui und Toletti −, nahm Footoféminin zum Anlass für eine gründliche Defizitanalyse. Bei der Abwehr, in der lediglich die Torfrau Peyraud-Magnin eine gute Note erhielt, konstatierte der Autor große Probleme durch Eckbälle und Freistöße, individuelle Schwächen im Eins-gegen-eins und einer zu linear positionierten Viererkette. Die Mittelfeldreihe wirkte offensiv unbefriedigend, fand zu wenige Anspielstationen und ließ eine kreative Spieleröffnung vermissen. Dazu trug auch bei, dass der Abstand zwischen den drei Ketten mit Ausnahme der ersten halben Stunde gegen die Deutschen selten stimmte und die Stürmerinnen beim Pressing wenig koordiniert auftraten. Bei Letzteren fehlten ungeachtet ihrer individuellen Stärken im Zusammenspiel das „blinde Verständnis“, und in der Arbeit nach hinten ließen sie ihre Mannschaftskameradinnen zu oft alleine. Dynamik, Tempo und Zielstrebigkeit kamen eher durch die eingewechselten Angreiferinnen. Schließlich fehlte vor allem gegen die Skandinavierinnen eine Führungspersönlichkeit, die die Frauschaft nach dem sehr schnellen Rückstand wieder aufrichtete. Die Spiele der Saison 2022/23 einschließlich der Europameisterschaft, eingesetzte Spielerinnen und Torschützen  Einsätze e = eingewechselt Tor: Pauline Peyraud-Magnin (13), Constance Picaud (2) Abwehr: Wendie Renard (13), Ève Périsset (11), Sakina Karchaoui (7+2e), Selma Bacha (4+5e), Aïssatou Tounkara (5+1e), Marion Torrent (3+2e), Griedge Mbock Bathy (4), Estelle Cascarino (4), Élisa De Almeida (4), Hawa Cissoko (3), Julie Thibaud (1+2e), Maëlle Lakrar (2), Grace Kazadi (1e) Mittelfeld: Onema Grace Geyoro (10+5e), Charlotte Bilbault (11), Sandie Toletti (9+2e), Kenza Dali (7+3e), Melvine Malard (4+4e), Ella Palis (2+6e), Viviane Asseyi (2+4e), Kheira Hamraoui (1+1e), Oriane Jean-François (1+1e), Laurina Fazer (2e), Amel Majri (1), Léa Le Garrec (1) Angriff: Delphine Cascarino (11+3e), Kadidiatou Diani (11), Ouleymata Sarr (3+8e), Clara Matéo (5+4e), Sandy Baltimore (5+3e), Lindsey Thomas (1+5e), Kessya Bussy (1+2e), Marie-Antoinette Katoto (2), Eugénie Le Sommer (2), Naomie Feller (2e) erzielte Treffer Frankreichs 40 Tore schossen Geyoro (7), Sarr, Diani, D. Cascarino (je 4), Matéo, Malard, Asseyi, Dali, Le Sommer (je 2), Katoto, Mbock Bathy, Périsset, Baltimore, Bilbault, Bussy, Renard, Toletti, Feller, Le Garrec (je 1). Dazu kam ein Eigentor von Merle Frohms (Deutschland). Kurz nach dem französischen Sieg im Tournoi de France (Februar 2023) verkündete Wendie Renard überraschend ihren Rückzug aus dem Nationalteam. Sie könne das derzeitige System nicht länger unterstützen, weil es „von den Anforderungen auf höchstem Niveau weit entfernt sei“. Mit der Formulierung, an der in fünf Monaten beginnenden Weltmeisterschaft „bedauerlicherweise“ und „unter diesen Bedingungen“ nicht teilnehmen zu wollen, hielt sie sich allerdings eine Hintertür für den „Rücktritt vom Rücktritt“ offen. Diesem Schritt schlossen sich am selben Tag auch Kadidiatou Diani und Marie-Antoinette Katoto an; die französischen Medien wiesen einhellig darauf hin, dass keine der drei Frauen den Namen der Trainerin genannt habe, es sich aber offensichtlich um eine Kritik an dieser handle. Diani hat dies später bestätigt: „Wir sind an einem Punkt angelangt, wo es kein Zurück gibt […,] würde es einen Bruch nennen.“ Anfang März 2023 hat sich das Exekutivkomitee der FFF mit dem Vorgang befasst, wobei die Problematik auftrat, dass solche Vertragsangelegenheiten ausschließlich Sache des Präsidenten sind, und der war am 28. Februar zurückgetreten. Unter Führung des Interimspräsidenten Philippe Diallo entließ der Verband Diacre, die mit 57 Siegen, sieben Unentschieden und acht Niederlagen die bis dahin beste Bilanz aller französischen Trainer aufzuweisen hat, wenige Tage danach, kritisierte aber auch das Vorgehen der drei Spielerinnen. Zudem beauftragte Diallo eine Findungskommission – bestehend aus Laura Georges, Aline Riera, Jean-Michel Aulas und Marc Keller –, schnellstmöglich Nachfolgekandidaten vorzuschlagen. Neuer Anlauf ab 2023 Kommission und Verbandsspitze entschieden sich noch im März 2023 für den Männer-Nationaltrainer Saudi-Arabiens, Hervé Renard, der über große internationale Erfahrung verfügt, aber noch nie Frauen trainiert hat. Sein Vertrag besitzt zunächst Gültigkeit bis einschließlich der Olympischen Spiele 2024. Ihm bleiben vor der Weltmeisterschaft auch nur wenig Zeit und lediglich vier Testspiele, um sich und die Nationalelf darauf einzustellen. Bereits am Tag seiner offiziellen Vorstellung veröffentlichte er sein Aufgebot für zwei dieser Freundschaftspartien; dabei stützte er sich auf das Gerüst seiner Vorgängerin, das er mit einigen Talenten, aber auch mit zwei nicht unbedingt erwarteten Rückkehrerinnen (Eugénie Le Sommer, die Renard auch zu einer von zwei stellvertretenden Spielführerinnen beförderte, und Léa Le Garrec) ergänzte. Bei seinem ersten Trainingslager führte der Vater von vier Töchtern eine Neuerung ein, die Bestand haben soll: Amel Majri brachte ihr neun Monate altes Kind mit nach Clairefontaine, das während der Übungseinheiten von einer Tagesmutter betreut wird. Zudem hat der Verband ihm einen deutlich erweiterten Stab zur Seite gestellt, der unter anderem drei Trainerassistenten umfasst. Éric Blahic und der für die Torhüterinnen zuständige Gilles Fouache waren auch schon unter Diacre dabei; mit Sabrina Viguier ist eine ehemalige Nationalspielerin für das Athletiktraining verantwortlich. Im Anschluss an die ersten beiden Testspiele legte Renard als sein Mindestziel bei der WM das Erreichen des Halbfinals fest. Die Spiele der Saison 2023/24 einschließlich der Weltmeisterschaft, eingesetzte Spielerinnen und Torschützen  Einsätze e = eingewechselt Tor: Pauline Peyraud-Magnin (7), Solène Durand (1e) Abwehr: Maëlle Lakrar (6), Wendie Renard (6), Sakina Karchaoui (6), Selma Bacha (6), Élisa De Almeida (4+1e), Estelle Cascarino (3+2e), Ève Périsset (3+2e), Aïssatou Tounkara (1e) Mittelfeld: Onema Grace Geyoro (7), Sandie Toletti (6), Kenza Dali (5+1e), Amel Majri (1+2e), Léa Le Garrec (1+2e), Viviane Asseyi (3e), Laurina Fazer (1e) Angriff: Kadidiatou Diani (7), Eugénie Le Sommer (6), Vicki Becho (1+5e), Clara Matéo (2+2e), Naomie Feller (3e) erzielte Treffer Frankreichs 15 Tore schossen Diani, Le Sommer (je 4), Lakrar (3), Renard, Le Garrec, Becho, Dali (je 1). Im Herbst 2023 werden die Gruppenspiele der neu geschaffenen Nations League ausgetragen. Frankreich tritt in der höchsten Liga (Gruppe A2) an. Für die drei Heimpartien hat die FFF frühzeitig die Spielorte festgelegt: Gegen Portugal am 22. September in Valenciennes, gegen Norwegen am 31. Oktober in Reims und gegen Österreich am 30. November in Rennes. Spielerinnen Sämtliche Spielerinnen, die seit 1971 in Frankreichs A-Nationalelf der Frauen berücksichtigt wurden, finden sich in der Liste der französischen Fußballnationalspielerinnen. Aktueller Kader Hierunter berücksichtigt sind alle in der Vor- oder der laufenden Saison mindestens einmal eingesetzten sowie sämtliche Spielerinnen, die in der aktuellen Saison (2023/24) vom Nationaltrainer in ein A-Elf-Aufgebot berufen, aber nicht eingesetzt worden sind. Diejenigen Spielerinnen, die im Laufe der Vorsaison (2022/23) ihren endgültigen Rückzug von den Bleues erklärt haben, fehlen hierunter hingegen. Rangfolge der Einsätze und Torschützinnen Insgesamt Stand: 12. August 2023; berücksichtigt sind alle Spielerinnen mit mindestens 60 Einsätzen beziehungsweise 10 Treffern. International noch aktive Spielerinnen sind in Fettschrift hervorgehoben. Die Reihenfolge bei Spielerinnen mit gleicher Anzahl erfolgt bei den Einsätzen chronologisch, bei den Treffern nach der Effizienz (Tore je Spiel). Die Torhüterin mit den meisten „Caps“ ist Sarah Bouhaddi, nachdem sie im September 2013 die langjährige Rekordhalterin Sandrine Roux überholte. Corinne Diacre war im Mai 2003 die erste Französin, die es auf 100 Länderspiele brachte. Inzwischen haben mit Sandrine Soubeyrand, Sonia Bompastor, Laura Georges, Camille Abily, Élise Bussaglia, Eugénie Le Sommer, Gaëtane Thiney, Sarah Bouhaddi und Wendie Renard neun Frauen sogar den französischen Rekordinternationalen bei den Männern, Hugo Lloris (145 Partien), hinter sich gelassen. Die erste Torschützin der offiziellen Länderspielgeschichte war Jocelyne Ratignier, die 1971 mit einem Hattrick beim 4:0 gegen die Niederlande erfolgreich war. Den eintausendsten Treffer der Bleues, mit dem sie zugleich gegen Estland den Endstand von 11:0 herstellte, schoss im Oktober 2021 Kenza Dali. Bei den großen Turnier-Endrunden Weltmeisterschaften In den fünf Weltmeisterschaftsturnieren mit französischer Teilnahme (2003, 2011, 2015, 2019, 2023) kam Eugénie Le Sommer (20 Spiele) am häufigsten zum Einsatz, vor Wendie Renard (17), Gaëtane Thiney (16), Laura Georges (14) und Élise Bussaglia (13). Dahinter folgen Camille Abily und Kadidiatou Diani (11), Sarah Bouhaddi, Amandine Henry, Louisa Nécib und Élodie Thomis (je 10), Marie-Laure Delie, Sandrine Soubeyrand, Amel Majri (9), Sonia Bompastor (8), Onema Grace Geyoro, Ève Périsset (7), Laure Boulleau und Kenza Dali (6), Jessica Houara, Laure Lepailleur, Bérangère Sapowicz, Griedge Mbock Bathy, Valérie Gauvin, Delphine Cascarino, Pauline Peyraud-Magnin, Sakina Karchaoui, Viviane Asseyi und Vicki Becho (je 5). Auf vier WM-Endrundenteilnahmen haben es bisher zwei Französinnen gebracht, nämlich Renard und Le Sommer; Georges, Bussaglia und Thiney waren dreimal dabei.Die erfolgreichsten französischen Torschützinnen hierbei sind Le Sommer (8), Delie und Renard (je 5), Diani (4), Thomis, Henry (je 3) vor Pichon, Thiney und Gauvin, denen dort jeweils 2 Treffer gelangen. Je einmal trafen Georges, Bompastor, Abily, Bussaglia, Nécib, Lakrar, Le Garrec, Dali sowie Becho. Europameisterschaften An Europameisterschafts-Endrunden haben die Bleues von 1997 bis 2022 siebenmal in Folge teilgenommen. Rekordhalterin bezüglich der Einsätze auf kontinentaler Ebene ist Sandrine Soubeyrand, die an fünf dieser Turniere teilgenommen hat und dabei in 17 Spielen eingesetzt wurde. Dahinter folgen Camille Abily (14 Einsätze), Sarah Bouhaddi, Laura Georges, Élodie Thomis, Eugénie Le Sommer, Wendie Renard (je 12), Élise Bussaglia (11), Sonia Bompastor, Gaëtane Thiney (beide 10), Stéphanie Mugneret-Béghé, Candie Herbert, Marinette Pichon, Louisa Nécib, Kadidiatou Diani (je 9) sowie Corinne Diacre, Onema Grace Geyoro und Sakina Karchaoui (alle 8). Die meisten EM-Treffer gelangen Pichon und Angélique Roujas (je 4), Abily, Nécib, Le Sommer, Geyoro (je 3), Mugneret-Béghé, Renard und Delie (je 2). Weitere 13 Frauen waren einmal erfolgreich. Olympische Spiele 2012 und 2016 spielten die Französinnen auch um olympische Medaillen. An sämtlichen dabei absolvierten zehn Begegnungen teilgenommen hatten Sarah Bouhaddi, Wendie Renard, Camille Abily, Élise Bussaglia, Louisa Nécib und Élodie Thomis. Es folgen Marie-Laure Delie (9), Eugénie Le Sommer (8), Sonia Bompastor, Corine Franco, Laura Georges, Sandrine Soubeyrand und Gaëtane Thiney mit je sechs Einsätzen. Die Torschützinnen waren Le Sommer (3), Georges, Renard, Nécib, Delie, Thomis (je 2), Abily, Camille Catala, Thiney und Majri (je 1). Austragungsorte und Gegner Über ein festes Heimstadion verfügte die Frauennationalmannschaft, anders als ihr Pendant bei den Männern, in den vergangenen Jahrzehnten nicht; vielmehr wurden und werden die Heimspiele der Frauen wechselnd im gesamten Land ausgetragen. Dabei besteht insbesondere seit Beginn des 21. Jahrhunderts und parallel mit den wachsenden Erfolgen der Bleues ein Trend zu Stadien in Großstädten, die über ein höheres Fassungsvermögen verfügen. Es gibt überhaupt nur 24 französische Städte, die Schauplatz von mehr als zwei Heimspielen waren: Paris – in drei unterschiedlichen Stadien –, Le Havre und Le Mans (jeweils 8), Angers (7), Valence, Lyon, Rennes, Strasbourg, Valenciennes (je 5), Pauillac, Troyes, Besançon, Reims, Calais, Caen, Orléans (je 4), Angoulême, Blois, Guingamp, Laval, Marseille, Montpellier, Nîmes, Nizza und Quimper (je 3). Ähnlich sieht es hinsichtlich der Spielorte im Ausland aus. Dort sind die häufigsten Austragungsorte diejenigen, in denen die Französinnen mehrfach an Freundschaftsturnieren teilgenommen haben: Nikosia (10), Warna (8, anfangs der 1990er Jahre), Faro/Loulé (7, beim Algarve-Cup) sowie Larnaka (5, wie Nikosia beim Zypern-Cup).Bezüglich der Heimspiele deutet sich in jüngerer Zeit ein vorsichtiges Umdenken bei der FFF an. Nachdem das WM-Qualifikationsspiel gegen Bulgarien Ende November 2013 deutlich über 13.000 Interessierte in die MMArena von Le Mans gezogen hatte, war dieses Stadion bereits gut vier Monate später erneut zum Austragungsort (WM-Qualifikation gegen Österreich) bestimmt worden, zu dem sich dann allerdings nur gut 8.000 Besucher einfanden.Im Januar 2017 traten die Französinnen auf La Réunion zu ihrer vierten Heimbegegnung in einer ihrer überseeischen Besitzungen an; zuvor hatten sie 2011 auf Guadeloupe und Martinique sowie 2014 in Französisch-Guayana jeweils ein offizielles Länderspiel absolviert. Insgesamt haben Frankreichs Frauen bisher 492 Länderspiele ausgetragen, wobei die vier strittigen Begegnungen von 1971 ebenso wie einzelne Spiele, die nur der französische Verband als offiziell angibt, mit eingerechnet sind; so nennt die FFF darin unter anderem auch eine Partie gegen die italienische B- und die US-amerikanische U-21-Auswahl. Andererseits gab es vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten einzelne Spiele, die nur vom Verband der jeweiligen Gegnerinnen gezählt werden, etwa im Mai 1972 in Basel gegen die Schweiz (siehe die Liste der Länderspiele der französischen Fußballnationalmannschaft der Frauen). Die französischen Kontrahentinnen kamen aus 59 Ländern aller sieben FIFA-Kontinentalverbände, wobei im Sommer 2023 als bisher letzte Jamaika und Panama dazugekommen sind. Erste nichteuropäische Mannschaft waren 1988 die USA, gefolgt von China, Japan und der Elfenbeinküste. Am häufigsten trafen die Bleues auf die Niederlande (31 Mal), die USA (28), England, Italien (je 26), Norwegen (23), Deutschland (22), die Schweiz und Schweden (je 21), Dänemark (19), Schottland, Kanada (je 16), Belgien (15), UdSSR/Russland, Spanien, Finnland (je 13), Island, Brasilien (je 12), China, Irland (je 11) sowie Polen (10). (Stand: 12. August 2023) Die höchste Zuschauerzahl bei einem Spiel Frankreichs war am 6. August 2012 im Londoner Wembley-Stadion anlässlich des Halbfinals gegen Japan im olympischen Frauenturnier zu verzeichnen, dem 61.482 Zuschauer beiwohnten. Im eigenen Land wurde am 28. Juni 2019 beim WM-Viertelfinale gegen die USA mit 45.595 Besuchern im Pariser Parc des Princes eine neue Bestmarke aufgestellt. Die Rekordmarke bei einem Freundschaftsspiel der Bleues steht seit dem 14. Juli 2023 auf 50.629, die im unmittelbaren Vorfeld der Weltmeisterschaftsendrunde ihre Australierinnen in Melbourne unterstützten. Länderspiele gegen Nationalmannschaften aus dem deutschsprachigen Raum   (Ergebnisse stets aus französischer Sicht) Gegen Deutschland Gegen Österreich Gegen die Schweiz Öffentliche Wahrnehmung in Frankreich Laurence Prudhomme-Poncet bezeichnet die Rezeption des modernen Frauenfußballs in Frankreich und dabei auch diejenige des Nationalteams bis 2003 mit der Überschrift „Zwischen Neugier und Indifferenz“. Diese knapp vier Jahrzehnte lassen sich für sie in drei Abschnitte gliedern, die sie mit „Objekt der Neugier“, „Kaum wahrgenommenes Schauspiel“ und „Von den Medien ‚vergessene‘ Sportart“ charakterisiert. Dabei weist sie auf die Interdependenz zwischen den Zuschauerzahlen in den Stadien und dem Ausmaß der Berichterstattung hin. In Stadien und Medien Dem 1972er Länderspiel gegen die Schweiz wohnten 2.000 zahlende Besucher bei, dem gegen die Niederlande im November 1975 1.200; bis in die 1990er Jahre lag die Höchstmarke bei einem Heimspiel bei 3.000 Zuschauern (Mai 1988 in Thonon-les-Bains gegen die Tschechoslowakei), und nur ein weiteres Mal wurde die 2.000er-Grenze überschritten. Dagegen gab es etliche Begegnungen mit einer bloß dreistelligen Zuschauerzahl, so etwa 600 Besucher gegen Belgien in Reims (Mai 1976). Das Publikumsinteresse wuchs erst nach der Jahrtausendwende, wobei Zahlen wie die folgenden aber noch die Ausnahme blieben und sich auf ganz wenige Qualifikationsspiele zu den großen internationalen Turnieren beschränkten: 6.787 (Juni 2000 in Nîmes) gegen Schweden, 8.500 (April 2002 in Straßburg) gegen die Tschechinnen und gar 23.685 (November 2002 in Saint-Étienne bei allerdings freiem Eintritt) gegen England. Erst nach dem erfolgreichen Abschneiden bei der WM 2011 spielten die Französinnen im eigenen Land wieder vor einer fünfstelligen Kulisse: 18.305 Besucher im August 2011 gegen Polen in Lens – einer Region mit sehr vielen polnischstämmigen Bewohnern –, jeweils rund 10.000 im Oktober 2011 und Februar 2012 gegen Israel in Troyes und die Niederlande in Nîmes. Ende März 2012 gegen Schottland fanden sich hingegen nur gut 9.000 Besucher ein, aber vier Tage später gegen Wales in Caen waren es 16.700. Auch das erste Freundschaftsspiel nach dem wiederum eher enttäuschenden Abschneiden bei der WM 2015 sahen in Le Havre gegen Brasilien 22.053 Zuschauer, was Rekordbesuch auf französischem Boden für ein Match mit Ticketpflicht war, ehe im Juni 2016 in Rennes sogar 24.835 Zahlende der EM-Qualifikationspartie gegen Griechenland beiwohnten. Die FFF fördert die direkte Zuschauerunterstützung der Bleues durch moderate Eintrittspreise; der teuerste Platz im Pariser Stade Charléty für das Spiel gegen die japanischen Weltmeisterinnen im Juli 2012 kostete beispielsweise nur 20 Euro. Generell führen die von FIFA beziehungsweise UEFA festgesetzten Rahmentermine für Welt- und Europameisterschafts-Qualifikationsspiele zu einer zeitlichen Kollision mit den Spieltagen der nationalen Männer-Profiligen, was sich gleichfalls – allerdings nicht nur in Frankreich – auf den Zuschauerzuspruch auswirkt. Von den nationalen Printmedien wurden die Fußballerinnen – mit Ausnahme der PCF-nahen Sportzeitungen Miroir Sprint und Miroir du Football – nach kurzem, anfänglichem Interesse durchweg stiefmütterlich behandelt. So hat beispielsweise L’Équipe Magazine zwischen Februar 1980 und August 2001 insgesamt lediglich 23 Artikel zu Spielerinnen, ihren Vereinen und den Bleues veröffentlicht, bei Onze Mondial waren es von 1991 bis 2001 elf, knapp die Hälfte davon im letzten Jahr dieses Zeitraums. Auf die Titelseite von L’Équipe, der auflagenstärksten Sportzeitung des Landes, brachte es die Frauennationalelf erstmals im November 2002, nachdem sie sich durch einen Sieg gegen England für die Weltmeisterschaft qualifiziert hatte (Schlagzeile: „Sie haben es geschafft“). Dies hat sich in jüngster Zeit nur in Nuancen verändert; zwar drucken L’Équipe und France Football seit 2010 die Erstligaergebnisse nebst Tabelle und bei Länderspielen die Mannschaftsaufstellungen ab, aber – mit Ausnahme des vierwöchigen WM-Parcours’ 2011, bei dem etwa France Football nach dem Viertelfinalsieg mit „Wir lieben euch!“ aufmachte – kaum einmal eine weitergehende Meldung oder gar einen längeren Spielbericht. Ähnliches gilt für die großen französischen Tageszeitungen. Das von der FFF herausgegebene, über den Zeitschriftenhandel vertriebene Foot Mag erschien im April 2012 mit seiner 41. Ausgabe erstmals ausschließlich zu Themen des Frauenfußballs. Anlässlich der Eröffnung des Tournoi de France 2020 und rechtzeitig vor dem Internationalen Frauentag widmete auch France Football dem Frauenfußball seine komplette Ausgabe.Versuche, eine unabhängige Frauenfußballzeitschrift herauszubringen, sind jeweils nach wenigen Ausgaben gescheitert (Le football au féminin 1983, Femme foot 1988, Football Féminin Anfang der 1990er und foot-féminin.fr, le Magazine von 2001 bis 2003). Auch im Internet gab es mehrere Anläufe zu einer reinen Frauenfußballseite, von denen die inzwischen allerdings kostenpflichtige footofeminin.fr aktuell das neben der Verbandswebseite fff.fr breiteste Angebot zum Thema Frauennationalelf aufweist. In den 2010ern ist noch footdelles.fr (tatsächlicher Name: Foot d’Elles) hinzugekommen. Nicht viel anders sieht es auf dem französischen Büchermarkt aus. 1981 veröffentlichten zwei Autoren in einem kleinen Verlag erstmals einen französischen Titel zum Frauenfußball. Ende der 1980er Jahre erschien ein Handbuch der Trainingslehre speziell für den Frauenbereich; erst 2003, nach Frankreichs erster WM-Teilnahme, folgten eine stärker sportsoziologisch ausgerichtete, wissenschaftliche Untersuchung von Laurence Prudhomme-Poncet und die erste Gesamtdarstellung des französischen Frauenfußballs von Pascal Grégoire-Boutreau (beide Titel siehe unten unter Literatur). In den Standardwerken über den französischen Fußball hingegen findet sich wenig zu den Bleues oder den Frauenmeisterschaften: Jean-Philippe Rethacker und Jacques Thibert (La fabuleuse histoire du football, seit 1984 mehrfach überarbeitet und zuletzt 2003 aktualisiert) ignorieren den Frauenfußball auf über 1.000 Seiten völlig, und Pierre Delaunay, Jacques de Ryswick und Jean Cornu (100 ans de football en France, 1982 erschienen) widmen dem Thema drei Sätze zu den weiblichen Pionieren der 1920er Jahre sowie zwei über die Bleues von 1980, jeweils mit einem Foto. Der Historiker Alfred Wahl (Les archives du football. Sport et société en France (1880–1980), von 1989) befasst sich über zwei Seiten mit dem Frauenfußball der Zwischenkriegszeit, und auch im Larousse du football von 1998 existiert nur eine kurze Andeutung über die erste Fraueneuropameisterschaft von 1982/1984. Noch 2011 sind selbst der FFF unter den 100 bedeutendsten Ereignissen der französischen Fußballgeschichte lediglich dreieinhalb mit Frauenbezug – und damit weniger als über die männlichen Jugendfußballer – erwähnenswert, nämlich die Gründung der Bleues 1970/71, deren erste WM-Teilnahme 2003, die Tatsache, dass eine Frau 2009 den Rekordnationalspieler der französischen Männer überholt hat, und die „Doppeleuropameisterschaft“ der männlichen und der weiblichen U-19-Auswahl 2010. Ähnliches galt sehr lange für die audiovisuellen Medien. 1970 wurde eine Fernsehzusammenfassung eines nichtoffiziellen Spiels zwischen Französinnen und Italienerinnen ausgestrahlt, aber bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts „gingen die Sender das Risiko von Direktübertragungen nicht ein“. Bezeichnend auch die Episode, als das staatliche TF1 bei der Europameisterschaft 2001 ursprünglich das letzte Gruppenspiel Frankreichs gegen Italien live übertragen wollte; nachdem die Bleues aber durch eine Niederlage drei Tage vorher keine Chance mehr auf ein Weiterkommen besaßen, übertrug der Sender statt des Fußballspiels eine Folge von Walker, Texas Ranger. 2005 nahm Eurosport in seinen beiden französischsprachigen Programmen die Übertragung von Frauenspielen auf, und auch Canal+, ein Bezahlsender, übertrug vereinzelt Länderspiele. Ab 2009 besaß Direct 8 die Fernsehrechte, wobei der bis 2014 laufende Vertrag den Free-TV-Sender aber auch nur zur Ausstrahlung von mindestens drei Begegnungen pro Jahr verpflichtete. Dabei erreichte die Liveübertragung vom 25. August 2010 bei dem Weltmeisterschafts-Qualifikationsspiel gegen Serbien immerhin 670.000 und in der Spitze sogar 975.000 Zuschauer. Diese Marke wurde beim Weltmeisterschaftsviertelfinale 2011 mit 3,2 Mio. deutlich übertroffen, und selbst das Endspiel um den Zypern-Cup an einem Dienstagnachmittag im März 2012 verfolgten 368.000 Zuschauer. Bei der WM 2015 – hauptsächlicher Fernsehrechteinhaber war inzwischen W9 – erreichte die Live-Übertragung des entscheidenden Gruppenspiels gegen Mexiko im Mittel 2,2, in der Spitze 2,7 Mio. Franzosen, dazu weitere maximal 150.000 bei Eurosport. Im weiteren Turnierverlauf erhöhte sich dieser Mittelwert im Achtelfinale auf 2,8 Mio. (in der Spitze 3,8 Mio.) und im Viertelfinale auf 4,2 mit einem Peak von sogar 5,3 Millionen. Bei der Europameisterschaft 2017 schließlich haben sich die Zuschauerzahlen (verschiedene Kanäle von France Télévisions sowie Eurosport übertrugen sämtliche Begegnungen live) gegenüber 2013 mehr als verdoppelt.Immerhin werden Qualifikations- und Freundschaftsspiele live neuerdings meist zur Prime Time ausgestrahlt, also nur noch selten an Nachmittagen angesetzt. Auch Frankreichs drei Begegnungen bei einem hochkarätig besetzten Freundschaftsturnier in den USA (SheBelieves Cup im März 2016) wurden auf D17 live übertragen. Die Übertragungsrechte für die WM-Endrunde 2019 hat sich TF1 mit der Begründung gesichert, dieser Rechteerwerb passe sich in die Senderstrategie ein, den Zuschauern „die größten und populärsten Sportveranstaltungen anzubieten“. Für den Zeitraum 2018 bis 2023 hat die Gruppe M6 die Übertragungsrechte mit Ausnahme der Spiele der Europameisterschaftsendrunde 2022 ersteigert; Letztere übertragen Canal+ und die Gruppe TF1 vollständig. Es ist freilich bei dieser jüngsten Aufwärtsentwicklung der medialen Wahrnehmung nicht zu übersehen, dass sie nahezu zeitgleich mit dem massiven Ansehensverlust der Männernationalmannschaft einsetzte, der seit deren negativem Auftritt bei der WM in Südafrika in der französischen Öffentlichkeit lange vorherrschte, spätestens seit dem zweiten Platz bei der EM 2016 und dem Titelgewinn bei der WM 2018 aber wieder breiter Unterstützung gewichen ist. Dennoch gelten die Frauen inzwischen als „Inbegriff der besten Werte des Fußballs wie der Spiel- und Lebensfreude, des Genusses der Anstrengung und der Einfachheit, … gesund und ohne Betrügerei“. Die von France Football seit 1986 vergebene Auszeichnung als „Fußballspiel des Jahres“ gewann 2011 zum ersten Mal ein Frauenmatch – die Viertelfinalbegegnung der Bleues gegen England bei der WM in Deutschland. Diese positivere Einstellung äußerte sich schon im unmittelbaren Vorfeld der Weltmeisterschaft 2019 im eigenen Land auch bei den Printmedien: Sonderhefte und Extrabeilagen sowie Artikelserien über den Frauenfußball fanden sich nicht nur in der Fachpresse (France Football, L’Équipe, So Foot, Sport Femmes) und in den Fernsehprogrammzeitschriften, sondern auch in zahlreichen Tageszeitungen und Illustrierten von Ouest-France bis Paris Match. Innerhalb der FFF Die FFF – und darin insbesondere der jeweilige Verbandspräsident, der als unmittelbarer Vorgesetzter gegenüber dem Nationaltrainer in nicht-sportlichen Angelegenheiten die alleinige Entscheidungsbefugnis besitzt – unternimmt seit Beginn der 2010er Jahre vermehrt Anstrengungen, das Interesse am Frauenfußball zu erhöhen. So hatte sie 2009 ein nicht unumstrittenes Plakat veröffentlicht, auf dem vier Nationalspielerinnen – unbekleidet, aber mit dezent verdeckten Blößen – die Frage stellen: „Muss es erst so weit kommen, damit ihr uns spielen sehen wollt?“. 2010 hatte der Verband zudem Adriana Karembeu, ein Mannequin und Ehefrau des Fußballers Christian Karembeu, zur „Botschafterin des Frauenfußballs“ ernannt, die auch dafür warb, dass mehr Frauen und Mädchen in Vereinen Fußball spielen. Eine der ersten Amtshandlungen des 2011 neu gewählten Verbandspräsidenten Noël Le Graët bestand zudem darin, sämtliche Männer-Profiklubs dazu zu verpflichten, spätestens 2014 eine Frauenmannschaft – und dazu einen „Unterbau“ im Jugendbereich – einzurichten, wie es Élisabeth Loisel schon zehn Jahre zuvor gefordert hatte. Le Graëts zunächst auf vier Jahre angelegter und seither fortgesetzter „Plan für die Feminisierung“ sollte eine tiefgreifende Strukturreform in Landes- und Regionalverbänden ebenso wie in den Vereinen bewirken. Diese und andere Aktionen haben in der Tat dazu geführt, dass es seit 2011 zu einem massiven Anstieg von Frauen mit einer FFF-Spielberechtigung gekommen ist, deren Zahl sich bis Januar 2016 von rund 86.000 auf 100.000 erhöht hatte und seither weiterhin ein starkes Wachstum verzeichnet: im März 2019 sind es knapp 139.000 Vereinsspielerinnen, 1.000 Schiedsrichterinnen sowie 3.035 Klubs – doppelt so viele wie 2012 –, die über mindestens ein Frauen- oder Mädchenteam verfügen. Ab der zweiten Jahreshälfte 2019 beabsichtigt die FFF, 15 Millionen Euro für die Förderung des Frauenfußballs zu investieren, hauptsächlich im Amateurbereich. 2012 hat der Verband zudem in Kooperation mit dem Erziehungsministerium die Position einer hauptamtlichen Beauftragten für die Implantierung des Mädchenfußballs an allen französischen Schulen geschaffen, deren erste Amtsinhaberin die Nationalspielerin Gaëtane Thiney ist. Zu den eher symbolischen Maßnahmen gehört die Kreation eines speziellen Logos für das Frauen-A-Team (siehe oben in der Box). Die Bleues verfügen zudem über einen eigenen Pool von sieben Mannschaftssponsoren, die 2012 zusammen 387.500 Euro bezahlen – weniger als ein Prozent der Sponsoreneinnahmen der Männernationalelf. Die FFF bewirbt Frauenländerspiele neuerdings ähnlich intensiv wie die der Männermannschaft, und Präsident Le Graët würdigte Ende Juni 2013 anlässlich eines Freundschaftsspiels der Nationalfrauschaft in Reims die Bedeutung insbesondere der dortigen Fußballpioniere: Andererseits wäre dem Verband ein Gewinn des Weltmeistertitels 2011 lediglich 15.000 Euro Prämie pro Spielerin wert gewesen; mit den französischen Männern hingegen waren ein Jahr zuvor 300.000 Euro vereinbart worden. Bei Vergleichen mit dem Männerfußball ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Frauen in Frankreich ihren Sport selbst auf hohem Niveau noch immer unter Amateurbedingungen ausüben. An der Tatsache, dass sogar von den Spitzenspielerinnen nur die wenigsten davon leben können, haben auch Ausnahmen wie der „Frauenfußballkrösus“ Olympique Lyon bisher nichts geändert; die Spielerinnen des Juvisy FCF beispielsweise erhielten 2011/12 in der Division 1 Féminine eine Siegprämie von 150 Euro. Außerdem sehen manche Beteiligte in einer zunehmenden Medialisierung und Professionalisierung sogar Gefahren. Juvisys ehemalige Trainerin Sandrine Mathivet etwa befürchtete eine Reduzierung der Wahrnehmung der Sportlerinnen auf ihr Geschlecht sowie die Vernachlässigung der Nachwuchsarbeit; und der damals 93-jährige Marcel Le Gal, der sich selbst als den „letzten Dinosaurier des Frauenfußballs“ bezeichnete, warnte schon 2003 vor einer Angleichung an negative Erscheinungen im Männerfußball: In den entscheidenden Verbandsgremien sind die Frauen, gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtmitgliederzahl (2011 etwa 3 %), zwar überproportional vertreten, allerdings weiterhin deutlich in der Minderheit: FFF-Generalsekretärin Brigitte Henriques, unter ihrem Geburtsnamen Brigitte Olive selbst 31-fache Nationalspielerin, im 12-köpfigen Exekutivkomitee und zwei von 20 Mitgliedern der Hohen Behörde des Fußballs sind dort die einzigen Frauen. Grundlegend hat sich dies also nicht verändert, seit Marilou Duringer 1985 in den Bundesrat gewählt wurde. Duringer hatte 2003 geäußert, dass noch bis weit in die 1990er Jahre innerhalb des Verbands ein „absolutes Desinteresse an Themen des Frauenfußballs“ vorherrschte – „und auch heute noch müssen wir ständig Überzeugungsarbeit leisten. Wir finden nicht die gleiche Beachtung wie die Männer. […] Der Kampf geht weiter“. Als sie dies formulierte, konnte sie noch nicht wissen, dass 2014 mit Corinne Diacre eine erste Französin als Cheftrainerin eines professionellen Männerteams (bei Zweitligist Clermont Foot) verpflichtet werden würde. Am Jahresende 2020 befinden sich mit Brigitte Henriques als stellvertretender Präsidentin und Laura Georges als Generalsekretärin zwei Frauen in der Führungsetage der FFF. Andere Nationalauswahlteams Im 21. Jahrhundert existiert neben der A-Elf im Erwachsenenbereich eine als France B oder U-23 bezeichnete zweite Frauenmannschaft; sie dient vor allem der Sichtung eines erweiterten Spielerinnenkreises – in Frankreich „Vorzimmer“ (antichambre) genannt – und trägt insbesondere vor größeren Turnieren Freundschaftsspiele aus. Im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2023 waren das beispielsweise 2022 sechs Partien, dazu zwei weitere im Folgejahr. Zeitweise nahm dieses Team auch an zweitrangigen Einladungsturnieren wie dem Istrien- oder dem Alanya Cup teil. Ein Sonderfall ist die französische Militärnationalmannschaft der Frauen, die 2016 und 2022 zweimal den Weltmeistertitel gewann. Schließlich gibt es für gerade erst dem Jugendalter entwachsene Fußballerinnen die U-20 (zeitweise U-21); in dieser Altersgruppe war Frankreich 2016 Vizeweltmeister geworden. Im Mädchenbereich treten zudem die üblichen Jahrgangs-Auswahlen der A-, B- und C-Jugend an. Besonders erfolgreich sind die U-19-Frauen, die bereits fünfmal Europameisterinnen (2003, 2010, 2013, 2016 und 2019) und ebenso häufig Zweite wurden. Auch die U-17-Juniorinnen haben bereits Titel bei einem großen Turnier gewonnen, nämlich bei der Weltmeisterschaft 2012 und der Europameisterschaft 2023. In Anlehnung an die Bezeichnung für die Nationalfrauschaft Frankreichs werden all diese Teams von den Medien, aber auch vom Landesverband FFF Les Bleuettes („Die Bläuchen“) genannt, was die Verkleinerungsform von Les Bleues ist. Literatur Christiane Eisenberg/Pierre Lanfranchi/Tony Mason/Alfred Wahl: FIFA 1904–2004. 100 Jahre Weltfußball. Die Werkstatt, Göttingen 2004, ISBN 3-89533-442-1. Fédération Française de Football (Hrsg.): 100 dates, histoires, objets du football français. Tana, o. O. 2011, ISBN 978-2-84567-701-2. Claire Gaillard: La grande histoire des Bleues. Dans les coulisses de l’équipe de France féminine. Hachette, Paris 2019, ISBN 978-2-01-704705-6. Pascal Grégoire-Boutreau: Au bonheur des filles. Cahiers intempestifs, Saint-Étienne 2003, ISBN 2-911698-25-8 (mit Vorworten von Claude Simonet und Aimé Jacquet) Audrey Keysers, Maguy Nestoret Ontanon: Football féminin. La femme est l’avenir du foot. Le bord de l’eau, Lormont 2012, ISBN 978-2-35687-185-5. Laurence Prudhomme-Poncet: Histoire du football féminin au XXe siècle. L’Harmattan, Paris 2003, ISBN 2-7475-4730-2. Olaf Wuttke: Frankreich, Fußball, Frauen. In: Zeitspiel (Magazin für Fußball-Zeitgeschichte), Heft 14, März 2019, ISSN 2365-3175, S. 44–47. Weblinks Offizielle Verbandsseite „Équipe de france féminine: Ce rêve bleu“, ein historischer Abriss vom 8. März 2012 bei chronofoot.com Fotostrecke zum 50. Geburtstag der Bleues vom 17. April 2021 bei fff.fr Frankreich auf der FIFA-Homepage Sämtliche Länderspiele Frankreichs mit Aufstellungen (bis 2004) bei rsssf.com Anmerkungen und Nachweise Frankreich Fussball Frauen Fussballnationalmannschaft
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https://de.wikipedia.org/wiki/Lustschloss%20Favorite%20%28Mainz%29
Lustschloss Favorite (Mainz)
Das Lustschloss Favorite (oft auch kurz nur die Favorite genannt) am Mainzer Rheinufer war eine bedeutende barocke Anlage im kurfürstlichen Mainz mit aufwändigen Gartenanlagen und Wasserspielen. Erbaut wurde die Favorite in mehreren Abschnitten, beginnend mit dem Jahr 1700. Fertiggestellt wurde sie im Wesentlichen um das Jahr 1722. Ihr Bauherr, Lothar Franz von Schönborn Kurfürst von Mainz, entstammte einer der bedeutendsten fränkisch-mittelrheinischen Adelsfamilien der damaligen Zeit und war Bauherr vieler barocker Gärten und Paläste. Das Lustschloss Favorite wurde während der Belagerung von Mainz 1793 in den Koalitionskriegen vollständig zerstört. Vorbild der Anlage war das französische Lustschloss Marly-le-Roi von Ludwig XIV. Das Lustschloss Favorite gilt mit seiner Weiterentwicklung der formalistisch-frühbarocken Gartengestaltung im Stile von Versailles als Vorbild für viele weitere, später entstandene Gartenanlagen der nachfolgenden spätbarocken Epoche der Gartenkunst. Vorgeschichte Das Gelände der Favorite liegt direkt am Rheinufer gegenüber der Mainmündung und südlich des mittelalterlichen Festungsrings vor den Toren von Mainz. Bereits im Mittelalter wurde es für Gartenanlagen genutzt. Dort befand sich der ältere Abts- sowie der Stiftsgarten des späteren Stiftes St. Alban vor Mainz. St. Alban wurde am Abend des 28. August 1552 im Zweiten Markgrafenkrieg durch die Truppen des Markgrafs Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach ausgeplündert und vollständig zerstört. 1672 erwarb Christoph Rudolf Reichsfreiherr von Stadion den Stiftsgarten. Nachdem er 1692 den angrenzenden Abtsgarten erwerben konnte, vereinigte er beide Gärten. Stadion war Ende des 17. Jahrhunderts eine bedeutende Persönlichkeit im kurfürstlichen Mainz: Er war Hofratspräsident, Dompropst, Propst von St. Alban und selbst mehrfacher Kandidat für das Kurfürstenamt. Auch er wollte sich im Rahmen der damals aufkommenden Mode einen standesgemäßen barocken Lustgarten bauen. Aus den zusammengelegten älteren Gartenanlagen entstand ein fünf Hektar großer Nutz- und Lustgarten im Stil des Hochbarocks mit eingeschossigem Rheinschlösschen, Wirtschaftsgebäuden, Weinbergen sowie Obst- und Zierbäumen, der so genannte Stadionsche Garten. Nach dem Tod Stadions im Jahr 1700 erwarb der erst sechs Jahre zuvor gewählte Kurfürst von Mainz, Lothar Franz von Schönborn, das Anwesen von den Erben für 16.500 Reichstaler. Die ca. 400 m lange und 140 m breite Gartenanlage sollte das Kernstück des von ihm geplanten Lustschlosses Favorite werden. Baugeschichte Als 1694 Lothar Franz von Schönborn zum Kurfürsten von Mainz gewählt wurde, begann für die Stadt Mainz nicht nur in städtebaulicher Hinsicht eine barocke Blütezeit. Schönborn, aus bedeutendem mittelrheinisch-fränkischem Adelsgeschlecht, entsprach dem Idealtypus eines absolutistisch regierenden und Prunk liebenden Barockfürsten. Zugleich war er, wie er in gewisser Selbsterkenntnis feststellte, wie viele andere Mitglieder der Schönborn-Familie „vom Bauwurmb“ besessen. In seiner in größerem Umfang erhalten gebliebenen Privatkorrespondenz ist dazu folgender Ausspruch von ihm überliefert: „Das Bauen ist eine Lust und kost viel Geld, einem jeden Narren seine eigene Kapp gefällt.“ Als Kurfürst von Mainz plante er für seine Residenzstadt einen repräsentativen barocken Lustgarten. Vorbild für die Namensgebung war die habsburgische Favorita bei Wien, eine Reverenz des Kurfürsten und Erzkanzlers an das ihm politisch nahestehende Herrscherhaus der Habsburger. Aus baulicher Sicht diente das 1680 bis 1686 erbaute Marly-le-Roi als Vorbild, so nannte Schönborn sein Lustschloss Favorite gerne le petit Marly (das kleine Marly). Aufgrund seiner umfangreichen Bautätigkeit und den oft parallel laufenden großen Bauprojekten in seinen geistlichen Fürstentümern konnte Schönborn beim Bau der Favorite auf eine Vielzahl von fähigen Baumeistern zurückgreifen. Diese nannte er scherzhaft-respektvoll „meine klugen Bau-Dirigierungsgötter.“ Die Architekten und Festungsbauer Nikolaus Person und Maximilian von Welsch standen ihm zur Verfügung. Diese überließen die gärtnerischen Arbeiten dem leitenden Obergärtner Johann Kaspar Dietmann, dessen gärtnerische Sachkenntnis auch der Kurfürst sehr schätzte und auch anderen Ortes einsetzte. In künstlerisch-gestalterischen Fragen arbeiteten sie eng mit dem „Hofkavalier-Architekten“ Philipp Christoph von und zu Erthal, dem Erbauer des gleichnamigen Erthaler Hofes, zusammen. Ein vierter beteiligter Architekt war Freiherr von Rotenhan, als Obrist-Stallmeister ebenfalls in kurfürstlichen Diensten. In der späteren Bau- und Umbauphase (ab 1725) kamen bei der Ausgestaltung der Favorite noch Einflüsse des als „Kavaliersarchitekt“ bezeichneten Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn und – durch dessen Vermittlung – des Pariser Hofarchitekten Germain Boffrand hinzu. Für die komplizierten Wasserarbeiten gewann Schönborn 1724 den bekannten Baumeister Abraham Huber aus Salzburg, den er respekt- wie humorvoll „neptunum abrahamum“ nannte. Erste Bauphase (1700 bis 1722) Nach dem Erwerb des Stadionschen Gartens im Jahr 1700 begann Schönborn sofort mit dem Ausbau der Anlage. Seine Architekten folgten zuerst der Ausrichtung der Vorgängeranlage und orientierten sich längs des Rheins in Richtung Mainz. Die erste Anlage bestand aus einem Hauptgebäude, einem zweiflügeligen eingeschossigen Rheinschlösschen. Dieses lag mit seiner Schmalseite, wo sich auch der Haupteingang befand, direkt am Rhein, nur durch einen Fahrweg von ihm getrennt. Genutzt wurde dieses Gebäude als Konzert- und Speisesaal. Daran schloss sich eine schmale Gartenanlage mit Skulpturenschmuck des Vorgängergartens an, deren Hauptachse ebenfalls in Richtung Mainz wies. Die Anlage, die im Wesentlichen Form und Umfang des Stadionschen Gartens übernahm, bestand in dieser Form bis etwa 1705. Ab ca. 1708 (sicher nachgewiesen ab 1710) wurde der Kurfürstliche Festungsbaumeister Maximilian von Welsch dauerhaft zu dem Bauprojekt hinzugezogen. Bis 1714 gingen die weiteren Bauarbeiten nur schleppend voran. Der Spanische Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714 sorgte, wenn auch indirekt, für eine Bedrohung des kurfürstlichen Mainz durch die Franzosen, zumal die Anlage außerhalb des Festungsgürtels lag. Andererseits belastete diese Auseinandersetzung auch in nicht unwesentlichem Maße die Ressourcen des Kurfürstentums, so dass Lothar Franz von Schönborn sein wichtigstes Mainzer Bauprojekt teilweise zurückstellen musste. Allerdings ist aus noch vorhandenen Rechnungen auch bekannt, dass die Arbeiten an der Favorite Schönborn bis 1710 bereits 93.641 Gulden und 58 Kreuzer gekostet haben. Für die ersten Jahre wird auch von größeren Pflanzeneinkäufen berichtet. So weist die Jahresabrechnung von 1702 6000 Hainbuchen aus dem Spessart, Taxusbüsche und Kastanienbäume auf. Diese wurden für die Gestaltung des Boulingrin im nördlichsten Gartenteil verwendet, der damit zu den ältesten, unter Schönborn entstandenen Gartenteilen zählt. Trotzdem konnten 1711/1712 die großen Wasserterrassen des unteren Parterres sowie des darüber liegenden Hauptparterres fertiggestellt werden. Ab 1717 folgte der Bau der eigentlichen Schlossanlage am oberen Ende des Hauptparterres, vom Rheinufer aus gesehen. Ursprünglich als zentrales Bauobjekt in der Anlage geplant, übernahm die Schlossanlage nun die Funktion einer prunkvollen Orangerie. Ebenfalls 1717/1718 baute Welsch das Hauptparterre mit seinen sechs halbkreisförmig angeordneten Kavaliershäusern aus. Mit der figürlichen Ausgestaltung der einzelnen Anlagen beauftragte der Kurfürst seinen Hofbildhauer Franz Matthias Hiernle. Die sich rechts des Hauptparterres anschließenden beiden großen Gartenanlagen wurden bis 1722 angelegt. Um 1722 war das Lustschloss Favorite mit seinen Gebäuden, Wasserspielen und verschiedenen Gärten als zusammenhängende Anlage vorläufig fertiggestellt. Kurfürst Lothar Franz von Schönborn und seine Nachfolger nutzten die Favorite von da an für Repräsentationszwecke und für Feste des kurfürstlichen Hofstaates. Eine von 1723 bis 1726 von Salomon Kleiner, einem kurfürstlichen Hofingenieur und begabten Kupferstecher, angefertigte Serie von 14 Kupferstichen der Favorite (heute teilweise im Besitz des Landesmuseums Mainz) zeigt detailreich aber auch häufig perspektivisch übertreibend die Anlage mit ihren verschiedenen Aspekten nach ihrer Fertigstellung. Ein anonymer zeitgenössischer Bericht beschreibt die beeindruckende Wirkung der festlichen Anlage auf den Betrachter: Zweite Bauphase (1722 bis 1735) In der Regierungszeit des Kurfürsten Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1729–1732) kam es zum letzten größeren Ausbau der Favorite. Der Nordteil, das so genannte Boulingrin mit seinen ausgedehnten Rosskastanien-Promenaden, wurde umgestaltet. Es entstand dort ein zum Rhein ausgerichtetes Gartenhaus, das so genannte Porzellanhaus. Da zum Kurfürstentum Mainz ab 1746 auch die Porzellanmanufaktur in Höchst bei Frankfurt am Main gehörte, wurden das Porzellanhaus und andere Gebäude der Favorite in der Spätzeit der Anlage mit Erzeugnissen der Manufaktur ausgestattet. Auch sollen die Innenräume des Gebäudes selbst weiß-blau gekachelt gewesen sein. Der Baumeister war der in Paris ausgebildete Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn (auch: zu Gruenstein). Höchstwahrscheinlich hatte aber bereits Lothar Franz von Schönborn diese Erweiterung geplant und vor seinem Tod 1729 bereits mit dem Bau beginnen lassen. Weitere Aus- und Umbauten bis 1790 Nach der Umgestaltung des Nordteils der Favorite kam es zu keinen größeren bzw. bedeutenden Bauprojekten mehr. Aus praktischen Gründen wurden im westlichen rheinabgewandten Teil der Anlage weitere Stallungen und Wirtschaftsgebäude angebaut, die aber den künstlerischen Aspekt der Anlage nicht beeinflussten. Von größerer Bedeutung für die Außendarstellung der Favorite war allerdings der Ersatz zahlreicher Wasserbecken und -anlagen durch rein gärtnerische Anlagen. Wahrscheinlich waren die für die Wasseranlagen der Favorite angelegten Brunnen auf Dauer nicht in der Lage, die erforderliche Wassermenge zu liefern. 1746 arbeitete Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn nochmals an der Orangerie. Die letzten gartengestalterischen Arbeiten an der Favorite nahm etwa 1788–1790 der bekannte Gartenarchitekt Friedrich Ludwig von Sckell mit Änderungen der nun erweiterten Anlage im neuen „englischen Stil“ vor. Sckell erhielt ursprünglich den Auftrag, „die Umgebung der Mainzer Favorite im natürlichen Geschmack auszugestalten.“ Sckell respektierte aber weitgehend den alten Gartenbestand. Nach seinen Veränderungen, die de facto zu zwei stilistisch unterschiedlich geprägten, beieinanderliegenden Gartenanlagen führten, zog er ein Resümee: „…so dass nun beide in der folge sich ihre Verdienste nicht werden streitig machen; ein jeder wird für sich alleine bestehen und bewundert werden ohne des anderen zuthun.“ Die Arbeiten an den Gartenanlagen der Favorite kamen aber über ein frühes Anfangsstadium nicht hinaus. Sckells Pläne zur Umgestaltung beeinflussten allerdings in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts die Planungen der Neuen Anlage. Weiterreichende Pläne nach 1790, wie zum Beispiel der Ausbau des Rheinschlösschens oder die Erweiterung der Favorite nach dem Ankauf des Geländes der benachbarten Kartause (dort plante man einen 70 m langen Gartensaal), wurden begonnen, aber aufgrund der politischen Lage nicht mehr beendet. Gestaltung der Anlage Parkanlagen In den Gartenanlagen des Lustschlosses Favorite fanden sich viele der zur damaligen Zeit verwendeten gartenarchitektonischen Gestaltungsmittel wieder. Bereits der Vorgängergarten wurde Ende des 17. Jahrhunderts in dem zu dieser Zeit vorherrschenden formalen Stil eines französischen Barockgartens gestaltet. So stammt das durch ein vertieftes Wasserbecken unterteilte Broderieparterre vor dem Rheinschlösschen wahrscheinlich aus dem Vorgängergarten der Favorite. Das parterre de broderie ahmte mit der Verwendung von Buchs als Gestaltungspflanze sowie verschiedenfarbigen Kies- und Steinmaterialien eine Stickerei () nach. Ihre Längsausrichtung hin zum Gebäude ließ noch die Sichtachsenplanung des Vorgängergartens erkennen. Laubengänge zwischen den Kavalierpavillons und an der Orangerie rundeten die pflanzliche Gestaltung im oberen Gebäudebereich ab. In der mittleren Anlage befanden sich kunstvoll geformte Heckenwände, die für eine Unterteilung der Parkelemente sorgten. Wiederum durch ein rheinseitiges Wasserbecken getrennt, wurden zwei Boulingrins im unteren Parterrebereich angeordnet. Dem schlossen sich nach oben, rheinabgewandt, zwei Bosquets mit Cabinets (dichte, durch Schnitt geformte Hecken oder Wäldchen mit freigelassenen Zwischenräumen) an, die ein Rasenparterre mit Kübelbäumchen umrahmten. Die dritte und nördlichste Gartenanlage lag der Stadt Mainz am nächsten. Kleinere Springbrunnen und zahlreiche Teppichbeete lockerten den gesamten dritten Gartenteil auf. Dort wurden vornehmlich Rosskastanien als Gestaltungselemente eingesetzt, eine zur damaligen Zeit neuartige Pflanzenentdeckung, die als „Maronirn“ bezeichnet, gerne und oft verwendet wurde. Großflächige Bosquets aus Rosskastanienbäumen und Hecken aus Hainbuchen umgaben wiederum ein eingetieftes Boulingrin mit Wasserbecken, eine so genannte Salle de verdure. Dort befand sich auch der Haupteingang der Anlage. Gepflegte Rasenwege, von Kleiner als „Communications-Stiegen“ bezeichnet, führten nach oben zu weiteren Bosqueträumen und anschließend zu einem der markantesten Parkelemente der gesamten Anlage, der „Großen Promenade“. Diese bestand aus einer Rosskastanienallee, die ihr Vorbild in der von Ludwig XIV. in Versailles angelegten Salle aux Marronniers hatte. Sie stellte einen lang gezogenen, auf der Höhe der Favorite parallel zum Rhein verlaufenden, Wandelgang dar. Aufwändiger Figurenschmuck und Brunnenschalen, sowie wiederum kleinere Hainbuchenbosquets mit kleinen intimen Cabinets, vervollständigten die große Promenade. Wasserspiele und Grotten In den drei parallel angeordneten Gartenanlagen waren gleichmäßig Wasserspiele und -becken sowie Themengrotten verteilt. Schönborn scheint großen Wert auf die Wasserspiele gelegt zu haben, die in großer Zahl als gestalterisches Element eingesetzt wurden. Für ihren Betrieb gab es aufwändige Brunnenbohrungen und -anlagen am Hechtsheimer Berg. In der südlichen Gartenanlage befand sich in dem unteren Broderieparterre ein großes vertieftes Wasserbecken mit verschiedenen Wasserspielen und Fontänen. Daran schloss sich, am Übergang zum Hauptparterre, die so genannte Thetis-Grotte an. Hinter einem Becken mit besonders hohen Fontänen war in einer Stützmauer eine halbkreisförmige Grotte eingebaut, deren Hauptbestandteil eine Statue der Thetis war, die auf einer Muschel sitzend von Delphinen gezogen wurde. Zwei Atlanten flankierten die Figurengruppe. Im Hauptparterre der ersten Anlage, flankiert von den sechs Pavillons, befand sich wiederum ein dreistufiges Wasserbecken mit reichem Figurenschmuck, Fontänen und kaskadierenden Wasserspielen. Laut Kleiner stellte diese als „große und Wasserreiche Cascade“ bezeichnete Anlage eine Allegorie von „beyde Fluß, den Rhein und Mayn vorstellend“ dar. Dahinter erhob sich, durch einen schmalen Vorplatz getrennt, die Orangerie als abschließendes Element der Gestaltung. In diesem ersten Teilstück der Anlage bildete der Rhein bewusst den querliegenden natürlichen Abschluss der aus den Wasserelementen gebildeten Hauptsichtachse. In der mittleren Gartenanlage, die als prächtigste der gesamten Favorite galt, waren über die gesamte Länge Wasserspiele und Grotten als zentrale Mittelachse angeordnet. Am rheinnahen Gartenende begann der „perspektivische Auffzug unterschiedlicher Cascaden und Fontainen“ mit einer vom Rhein abgewandten Grotte, ausgestattet mit vielfältigem Figurenschmuck und Wasserfällen. Die Grotte war von den oberen Terrassen als Abschluss der durch die Wasserspiele gebildeten Sichtachse einsehbar. Es schloss sich ein großes Wasserbecken an, das von der – eine Terrassenstufe weiter oben gelegenen – so genannten Neptunskaskade gespeist wurde. Diese korrespondierte mit einer – wiederum weiter oben liegenden – Ringkaskade. Im Mittelparterre dieser Anlage befand sich erneut ein Wasserbecken mit Fontäne, weiter ansteigend folgten wieder über Stufen kaskadierende Wasserfälle. Den prunkvollen Abschluss der mittleren Gartenanlage bildete die halbkreisförmige Fontäne des Pluto und der Proserpina mit der so genannten Proserpina-Grotte, oft auch als chateau d’eau (Schloss des Wassers) bezeichnet. In einer antikisierenden Nische mit Stutzgiebeln stand die Figurengruppe auf einem inselartigen Podest im Wasserbassin, das auf beiden Seiten wasserführende Treppen flankierten. In der nördlichsten und letzten Gartenanlage wurden die Wasserspiele zugunsten der pflanzlichen Gestaltungselemente reduziert. So schloss am unteren Ende eine Hecke am Rhein ein Boulingrin ab. Dort befand sich ein vertiefter, mit Rosskastanien bestandener Platz mit einem Wasserbassin als zentralem Gestaltungselement. Bei der am oberen Ende gelegenen großen Promenade aus querlaufenden Rosskastanienalleen kamen ebenfalls wieder Wasserspiele zum Einsatz. Figurenschmuck Bereits im Stadionschen Garten befand sich ein umfangreiches Figuren- und Skulpturenprogramm. Auf der erhalten gebliebenen, akribisch geführten Inventarliste bei der Übergabe des Gartens an Schönborn sind folgende Posten aufgelistet: Der erwähnte „Frölicher“ war der Schweizer Architekt und Bildhauer Johann Wolfgang Fröhlicher, der ab 1692, aus Frankfurt kommend (dort schuf er unter anderem zwischen 1680 und 1686 den Hochaltar der Katharinenkirche), für Stadion arbeitete. Ihm wird auch die in der Favorite verwendete Figurengruppe der Neptunskaskade mit der großen Zentralfigur des Meeresgottes Neptun inmitten von drei Seepferden zugeschrieben. Die weiter unten erwähnte, erhalten gebliebene Statue eines Flussgottes wird in älteren Literaturquellen als Flussgott „Rhenus“ (Rhein) und ebenfalls von Fröhlicher stammend bezeichnet, der sie vor 1700 geschaffen haben müsste. Weitaus größeren Anteil an der figürlichen Ausgestaltung der Favorite hatte aber Franz Matthias Hiernle. Ursprünglich aus Landshut in Bayern kommend, war er seit 1705 in kurfürstlichen Diensten und bekleidete das Hofamt des Hofbildhauers. Ihm werden die Statuen des Bacchus, des Faunus, des Jupiter, der Juno, der Ceres und der Flora sowie aller Nymphen und Genien aus der griechisch-römischen Mythologie zugeschrieben. Eine besonders aufwändige Arbeit von Hiernle war die Figurengruppe der Themenfontäne Plutos Raub der Proserpina, welche die mittlere Gartenanlage krönte. Wie bei allen großen Wasseranlagen arbeitete Hiernle auch hier nach den Entwürfen Welschs und setzte diese entsprechend den bautechnischen Vorgaben künstlerisch um. Auch Hiernles Söhne, Sebastian und Kaspar Hiernle, haben wahrscheinlich als Bildhauer bei der Figurengestaltung der Favorite mitgearbeitet. Ebenfalls als Bildhauer mit der Favorite in Verbindung gebracht werden der kurfürstliche Bildhauer Burkhard Zamels, Paul Curé, der zu seiner Zeit als „Meister der Gartenplastik“ gerühmt wurde, sowie Paul von Strudel. Die beiden Letztgenannten standen ebenfalls in Diensten von Schönborn. Gebäude Das Rheinschlösschen Das zuerst errichtete Gebäude der Favorite war ein bereits im Stadionschen Lustgarten vorhandenes, direkt am Rheinufer stehendes Rheinschlösschen. Schönborn nutzte dieses weiter, ließ es aber später (wahrscheinlich nach 1705) aufwändig umgestalten. Auch ein weiteres Stockwerk wurde aufgesetzt. Architekt und Baumeister dieses Umbaus war sehr wahrscheinlich der Bamberger Hofbaumeister Johann Leonhard Dientzenhofer, auf dessen Dienste Schönborn als Fürstbischof des Bistums Bamberg ebenfalls zurückgreifen konnte. Das Gebäude wies durch seine rechtwinklige Bauweise eine Rheinfront mit großem Einfahrtstor sowie eine Gartenfront mit Freitreppe auf. Die Gartenfront, als abschließender Teil der Längsachse der ersten Gartenanlage, war reich dekoriert. Zahlreiche, teils überlebensgroße Figuren schmückten Aufgang und Eingangsportal. Die Treppenfront zeigte das Schönbornsche Wappen, flankiert von Musikemblemen. Zwei tanzende weibliche Figuren, ein immer wiederkehrendes Motiv auch an anderen Gebäuden der Anlage, bekrönten abschließend das Frontpodest. An den Ecken beider Gebäudefronten befanden sich vorspringende Risalite. An der Westseite schloss sich ein kleinerer Flügel an. Im Plan von 1779 befinden sich dort eine schlichte Kapelle sowie offensichtlich Wohnräume. Für die erst spät (gegen 1721) angebrachte Fassadenverzierung in Form gemalter Scheinarchitektur in Freskotechnik wurden Entwürfe des Italieners Giovanni Francesco Marchini verwendet. Marchini, aus Como in Italien stammend, wohnte damals in der Favorite und wurde später, am 16. Juni 1727, Mainzer Bürger. Zentraler und in der Gesamtanlage größter Innenraum des Gebäudes war ein prunkvoller, reich stuckierter Gartensaal oder eine Galerie, ebenfalls mit gemalter Scheinarchitektur von Marchini im Stil des Frühbarock geschmückt. Wahrscheinlich wurde deshalb das Schlösschen bereits bei Kleiners Stichen 1726 als „Garten-Gebäude“ bezeichnet. Die Wandflächen des Gartensaals waren durch gemalte Säulen untergliedert. Nur eine Seite des Gartensaals wies Fenster auf, die gegenüberliegende Seite wurde von den Künstlern Marchini, Luca Antonio Colomba und möglicherweise auch Johann Rudolf Byss mit Scheinfenstern bemalt. Alle Wände trugen eine reiche Scheinbossierung, das heißt, Wandelemente waren durch visuelle Effekte der Malerei scheinbar plastisch hervorgehoben. Die bereits vorher bemalte Freskodecke hatte in der Hallenmitte eine von Säulen getragene Kuppel und wurde von Melchior Seidl gestaltet. Zentrales Motiv war der Artemistempel in Ephesus als eines der sieben Weltwunder. Die Darstellung der anderen Weltwunder schloss sich rechts und links an. Ein weiteres, in der damaligen Zeit beliebtes Motiv für Gartengebäude scheint auf Kleiners Stichen die Toilette der Diana gewesen zu sein. Zur Beleuchtung befanden sich schwere Kronleuchter an der Galeriedecke. Die Orangerie Die ab 1717 von Maximilian von Welsch erbaute Orangerie war das zentrale Gebäude der Anlage. Das Hauptgebäude, ursprünglich wie das französische Vorbild als kleines aber dennoch prunkvolles Lustschloss geplant, wurde in dieser Form nie baulich verwirklicht, sondern in eine Orangerie mit Festsaal umgewandelt. Es ist anzunehmen, dass die Orangerie gemäß der in der Barockzeit üblichen Nutzung die Sammlung exotischer Kübelpflanzen, insbesondere Zitruspflanzen, des Kurfürsten aufnahm. Diese dürften dem Festsaal ein exotisches und repräsentatives Ambiente gegeben haben. Der Vorplatz der Orangerie vor der oberen Wasserkaskade, das so genannte Orangerie-Parterre, diente dazu, die Kübelpflanzen im Sommer im Freien aufzustellen. Bei der Übernahme der Anlage im Jahr 1700 durch Schönborn wurden in der Inventarliste einige dieser Orangeriepflanzen aufgelistet: Die Orangerie war ein zweigeschossiges Bauwerk mit Souterrain, Hochparterre, Mezzanin und Mansardwalmdach, das Rundfenster hatte. Die Fassade war mit Scheinarchitektur reich bemalt. Obwohl sie auch zentraler Blickpunkt einer der am aufwändigsten gestalteten Sichtachsen der gesamten Anlage war, hebt sich das Gebäude auf den zeitgenössischen Ansichten baulich nur wenig von den sie umgebenden sechs gestuften Pavillons ab. Die Gründe für die vergleichsweise bescheidene Ausführung des zentralen Gebäudes sind nicht bekannt. Schönborn ließ sich, wie beispielsweise bei der Anlage der Wasserspiele, auch bei der Orangerie während der Bauphasen über alle Details unterrichten. In einem Brief des Dompropstes Johann Philipp Franz an Schönborn vom 27. August 1718, berichtete dieser seinem kurfürstlichen Herrn: „Sonsten kann E. chfl. Gn. ich nicht verhalten, daß bei Besichtigung der neuen Orangerie in der Favorite mir die Haupttür allzu klein erschienen, allermaßen ich versichern kann, daß kaum meine größte bäume ohn Verletzung der cron dadurch würden gebracht werden können…“ Die Orangerie stand am westlichen Ende auf dem oberen Hauptparterre und oberhalb der zweistufigen großen Wasseranlage, deren oberer Teil von Kleiner als „Prospect der großen und Wasserreichen Cascade, beyde Fluß, den Rhein und Mayn vorstellend“ bezeichnet wird. Darunter befand sich die so genannte Thetis-Grotte. Die Kavaliershäuser (Pavillons) 1717/1718 baute Welsch auf dem Hauptparterre sechs halbkreisförmig und terrassiert angeordnete Pavillons, die so genannten Kavaliershäuser. Bei diesem Gestaltungselement hielt sich der Baumeister streng an das Lieblingsvorbild des Kurfürsten, Marly-le-Roi. Anscheinend legte der Kurfürst mehr Wert auf das künstlerische Gesamtensemble der Parkanlage als auf den Luxus der Baulichkeiten. Eines der Kavaliershäuser ließ er sich nach Fertigstellung kurzerhand als Schlafgemach umbauen und berichtete darüber auch seinem Neffen, dem Reichsvizekanzler Friedrich Carl von Schönborn nach Wien. Ansonsten wurden die Gebäude für die Unterbringung von Gästen genutzt. Die sechs Pavillons wurden in Holz und nicht in Stein ausgeführt und hatten jeweils vier Zimmer. Wie bei dem Vorbild Marly, der Orangerie und dem Rheinschlösschen der Favorite, waren auch hier die Fassaden mit einer Scheinarchitektur bemalt. Das Porzellanhaus Das so genannte Porzellanhaus war der letzte größere Neubau in der Favorite, gleichzeitig die erste der in den nächsten Jahrzehnten folgenden Umbaumaßnahmen. Begonnen wurde der Bau höchstwahrscheinlich noch zu Zeiten Schönborns, dessen Wappen das dem Bau vorgelagerte Wasserbecken zierte. Die Fertigstellung des Porzellanhauses fiel in die kurze Regierungszeit des auf Schönborn folgenden Kurfürsten Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg. Für die Planung und Ausführung war Anselm Franz Freiherr von Ritter zu Groenesteyn zuständig. Er folgte Welsch als führender Architekt nach und wurde 1730 zum kurfürstlichen Oberbaudirektor ernannt. Groenesteyn, der die Pariser Architektenschule durchlaufen hatte, löste im Mainz des Hochbarock mit dem französisch geprägten klassizistischen Stil den aus den Zeiten Welschs vorherrschenden italienisch-österreichisch sowie mainfränkisch-mittelrheinisch geprägten Barockstil ab. Eines der ersten Bauwerke in diesem neuen Stil wurde das Porzellanhaus. Das Porzellanhaus orientierte sich wieder an dem Vorbild Marly, diesmal an dem Trianon de Porcelaine de Marly. Es lag im dritten und nördlichsten Gartenteil, am Übergang vom unteren, rheinnahen, zum oberen Alleen-Parterre. Dem rechteckigen Gebäude mit konvex geformter Dachzone an den Frontseiten wurden Anbauten auf ovalem Grundriss mit Walmdach angegliedert. Eine Laterne mit halb konvex, halb konkav geschwungenem Mansardwalmdach bekrönte die Mitte der Dachfläche. Zum Rhein und zur großen Rosskastanienallee öffneten sich je drei Fenstertüren, die durch paarweise angeordnete Pilaster voneinander getrennt waren. Die mittlere Tür wurde durch ein Tympanon betont. Zu einer Terrasse führte rheinwärts eine doppelläufige Freitreppe mit schmiedeeisernem Gitter oder Säulenbaluster (erhaltene Pläne zeigen beide Varianten), die ein ovales figurengeschmücktes Wasserbassin mit Wasserspielen umschloss. Putten und Vasen zierten das Gesims über den Fenstertüren und die Laterne. Im Inneren dominierte ein rechteckiger Saal entlang der Längsachse mit einem zentralen Wasserbassin. Das Gebäudeinnere war möglicherweise mit einer dekorativen Porzellantäfelung und Porzellanfiguren geschmückt. Detailangaben zur Innenausstattung sind nicht erhalten geblieben. Wirtschaftsgebäude Diese dürften naturgemäß eher zweckmäßiger Natur gewesen sein und gehörten nicht zum repräsentativen Teil der Anlage. In der Inventurliste des Stadionschen Gartens werden Stallungen und Scheunen für acht Pferde und zwanzig Stück Rindvieh erwähnt. Auch die Gebäude für das Dienstpersonal befanden sich im oberen Gartenteil. In Kleiners Plan von 1726 sind keinerlei Wirtschaftsgebäude wie Stallungen, Gerätehäuser, Treibhäuser, Anzuchtflächen, Wohnhäuser der Dienerschaft usw. dargestellt, wohl aus künstlerischen Gründen. In einem Stich von Le Rouge von 1779 sind diese Gebäude allerdings aufgeführt. Sie befanden sich hinter der Orangerie und nahmen einen relativ großen Raum ein. Die Favorite und die Politik: Der Fürstentag im Juli 1792 Am 14. Juli 1792 fand in Frankfurt am Main die Kaiserkrönung von Franz Joseph Karl von Habsburg, Erzherzog von Österreich als Franz II. statt. Der neue Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation reiste kurz nach seiner Krönung nach Mainz weiter. Dort wurde im Lustschloss Favorite vom 19. bis 21. Juli 1792 ein prunkvoller Fürstentag abgehalten, zu dem neben den politischen Hauptakteuren Franz II. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen zahlreiche weitere deutsche Fürsten und Diplomaten gehörten. Gastgeber war der Kurfürst von Mainz, Friedrich Karl Joseph von Erthal. In politischer Hinsicht wurde bei diesem Fürstentag, bei dem es um die Absprache der weiteren Vorgehensweise der anwesenden Fürsten gegen das revolutionäre Frankreich ging, Zeitgeschichte geschrieben. Der ebenfalls anwesende Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig hatte zu diesem Anlass ein gegenrevolutionäres Manifest ausgearbeitet, das in der kurfürstlichen Buchdruckerei in Mainz gedruckt wurde. In diesem Manifest wurde zur Wiederherstellung der alten (monarchischen) Ordnung in Frankreich aufgerufen und andernfalls direkte militärische Maßnahmen angedroht. Wie sich zeigen sollte, führte der Fürstentag in der Favorite zu Mainz tatsächlich direkt zum ersten Koalitionskrieg und letztendlich zum Untergang des Kurfürstentums Mainz. Der dreitägige Fürstentag war die letzte und prachtvollste Inszenierung, die im kurfürstlichen Lustschloss Favorite stattfand. Bereits vorher gab der Kurfürst Immigranten des französischen Hochadels, unter anderem dem Grafen von Artois (dem späteren Karl X. von Frankreich) und dem Prinzen Condé, Feste und Hofbälle. Für den Fürstentag jedoch betrieb der Gastgeber, entsprechend den hochrangigen Gästen, einen wesentlich höheren Aufwand. Die Favorite und auf dem Rhein kreuzende Schiffe wurden illuminiert und Feuerwerke abgebrannt. Während Franz II. im Kurfürstlichen Schloss logierte, brachte man Friedrich Wilhelm II. und sein Gefolge in den Gebäuden der Favorite unter. Die anwesenden Gäste wurden an einer festlichen Tafel im Freien bewirtet. Zu dem Fürstentag 1792 gibt es verschiedene Augenzeugenberichte, unter anderem von Georg Forster, Naturforscher und kurfürstlicher Oberbibliothekar der Universität Mainz. Genauer schildern allerdings zwei Beiträge dieses Ereignis: die entsprechende Passage aus den Lebenserinnerungen des Weimarer Bibliotheksdieners Christoph Sachse von 1822 und der Brief eines anonymen Zeitzeugen der Festlichkeiten. Anonymer Bericht über den Fürstentag, Brief vom 8. August 1792: Georg Forster in: Darstellung der Revolution in Mainz, 1793 in Paris: Die Zerstörung Fast genau ein Jahr nach dem Fürstentag im Juli 1792 waren das Lustschloss Favorite – Orangerie und Pavillons, die Rabatten mit ihrem reichhaltigen Figurenschmuck, die Wasserspiele, das Gartenhaus sowie die Rosskastanienalleen – völlig zerstört. Ironischerweise war dieser Fürstentag die Ursache für die Zerstörung der Favorite. Die in Mainz zwischen Kaiser Franz II. und König Friedrich Wilhelm II. abgesprochene Vorgehensweise der Koalitionstruppen, denen auch der letzte Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal angehörte, führte zum Ersten Koalitionskrieg. Nach dem Vordringen der preußischen und österreichischen Truppen unter Führung des Herzogs von Braunschweig kam es am 20. September 1792 zu der Kanonade von Valmy. Diese endete mit einer Niederlage der Koalitionstruppen. Die französische Revolutionsarmee ging zum Gegenangriff über, drang unter General Custine Ende September in die Pfalz ein und besetzte am 21. Oktober 1792 Mainz. Mitte April 1793 wurde die mittlerweile französische Stadt und Festung Mainz bei dem Gegenvorstoß der preußischen und österreichischen Koalitionstruppen eingeschlossen. Durch die kriegsbedingte Planierung des Vorfeldes der Festungsmauern kam es zu ersten Zerstörungen der Favorite; so wurden unter anderem die hölzernen Kavalierpavillons abgerissen und Bäume gefällt. Nach gescheiterten Übergabeverhandlungen begann in der Nacht zum 17. Juni 1793 das Bombardement auf die belagerte Stadt, die der Augenzeuge Johann Wolfgang von Goethe in seinem Werk Die Belagerung von Mainz literarisch festhielt. Bei der knapp vierwöchigen Dauer des Bombardements wurde die gesamte Anlage, die direkt in der Frontlinie lag, vollständig zerstört. Aber nicht nur die Favorite, sondern auch die Mainzer Liebfrauen- und die Jesuitenkirche, die Dompropstei und viele Bürgerhäuser und Adelspaläste gingen für immer verloren. Bereits am 25. Juni 1793 schrieb der Mainzer Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal in einem Brief: Goethe besuchte nach der Einnahme von Mainz am 23. Juli 1793 die zerstörte Favorite und schrieb über seine Eindrücke: Nach der Favorite: „Wüstenei“, Richtplatz und die „Neue Anlage“ Das Gelände des Lustschlosses Favorite war für die nächsten 26 Jahre verwüstet. Nach dem Frieden von Campo Formio 1797 gehörte Mainz-Mayence wieder zu Frankreich. Baumaterial, welches von der verwüsteten Favorite wieder verwendet werden konnte, wurde für den von den Franzosen betriebenen Festungsbau in Kastel benutzt. 1797 bezeichnete ein lokaler Geschichtsschreiber die Gegend als „Wüstenei“, es bot sich dort „ein Bild fürchterlicher Verwüstung“. 1798 feierte die französische Administration ein „Fest des Ackerbaus“ auf dem Gelände der zerstörten Favorite; ein Ort, der mit ziemlicher Sicherheit auch politisch-ideologisch motiviert ausgewählt wurde. Dieses Fest war ein Teil der verschiedenen „Nationalfeste“, die im französischen Mayence der nachrevolutionären Zeit zelebriert wurden. Außerdem wurde das Gelände von der französischen Justiz als Richtplatz verwendet. Prominentester Delinquent war 1803 Johannes Bückler alias Schinderhannes, der dort mit seinen Bandenmitgliedern auf dem Gelände der ehemaligen Favorite mit der Guillotine hingerichtet wurde. Erst nach dem Ende der französischen Herrschaft 1814 und dem Anschluss von Mainz an das Großherzogtum Hessen-Darmstadt am 30. Juni 1816 wurde dem Gelände der ehemaligen kurfürstlichen Favorite wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt. 1816 wurde es der Stadt Mainz übergeben mit der Auflage, dort einen „Volksgarten“ einzurichten. Der in Versailles ausgebildete Mainzer Landschaftsarchitekt Peter Wolf entwarf für das Gelände eine so genannte Neue Anlage im Stil eines englischen Landschaftsparks. Diese wurde zwischen 1820 und 1825 gebaut. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts verwilderte allerdings die Anlage. Die Gebrüder Siesmayer, bekannte Frankfurter Gartenarchitekten, wurden deshalb 1888 mit der Neugestaltung beauftragt. Der heutige Stadtpark trägt im Wesentlichen ihre gestalterische Handschrift. Heute sichtbare Überreste Von der ganzen Anlage des Lustschlosses Favorite sind lediglich zwei Statuen erhalten. Die gut erhaltene rote Sandsteinfigur eines Herkules wurde 1861 bei Bauarbeiten zur Hessischen Ludwigsbahn gefunden und von den Gebrüdern Siesmayer im späteren Stadtpark aufgestellt. Dort befindet sich auch der unter gleichen Umständen gefundene Torso eines Flussgottes (Rhenus?), der vielleicht figürlicher Bestandteil der großen Wasserkaskade vor der Orangerie war. Bei Grabungsarbeiten Ende 2009 am Winterhafen wurden Reste der Einfriedungs- und Stützmauer des Rheinschlösschens sowie des mit Kieseln gepflasterten Promenadenwegs, der entlang des Rheins verlief, entdeckt. Sprachliche Anklänge an das ehemalige Lustschloss sind die Straßenbezeichnung An der Favorite und ein gleichnamiges Hotel im Stadtpark. Am stadtnahen nördlichen Eingang des Stadtparks weist eine großformatige Hinweistafel der Stadt Mainz auf die ehemalige Anlage hin. Lustschloss oder Barockgarten? In der Literatur wird in der Regel der Begriff Lustschloss Favorite als Bezeichnung für die Gesamtanlage verwendet. Lustschlösser entstanden aus der mittelalterlichen Hofhaltung heraus und sollten den Fürsten des Barock und Rokoko als intime und luxuriöse Rückzugsrefugien abseits des aufwändigen Hofzeremoniells dienen. Ein wichtiges Merkmal der Lustschlösser war insbesondere der das Schloss umgebende Gartenpark. Vergleicht man die Gewichtung von Gebäude und Parkanlagen bei der Anlage des Lustschlosses Favorite, so fällt die im Gegensatz zur prachtvollen Gartengestaltung vergleichsweise bescheidene Gebäudegröße und -ausführung auf. Das kleine Rheinschlösschen bestand im Wesentlichen bereits vor dem Baubeginn der Favorite, das als eigentliches Lustschlösschen geplante zentrale Gebäude wurde in eine Orangerie umgewidmet, die kaum dem eigentlichen Bauziel entsprochen haben dürfte. Die Gebäudedekoration mittels Scheinarchitektur und Freskenmalerei steht ebenfalls im Gegensatz zu Schönborns Bauverständnis. Diese Diskrepanz fiel auch immer wieder Besuchern der Favorite auf, die, wie beispielsweise 1705 der englische Reisende Blainville, von eher „mittelmäßigen Gebäuden“ sprachen, die Gartenanlagen allerdings sehr lobten. Deshalb müsste man bei den fehlenden beziehungsweise eher unzulänglichen Baulichkeiten eigentlich von einem Barockgarten Favorite sprechen, dessen Gebäude eher nachgeordnet und weniger bedeutend waren. Für die Beibehaltung der Einordnung der Anlage als Lustschloss mit dem Schwerpunkt der umgebenden Gartenanlagen sprechen allerdings zwei Fakten: Lothar Franz von Schönborn konnte während seiner Zeit als Kurfürst auf das Kurfürstliche Schloss als Hauptresidenz und als repräsentativen Ort für Hofzeremonielle und Staatsgeschäfte zurückgreifen. Dies war ein Bauwerk im Stil der Deutschen Renaissance, an dem seit 1627 immer wieder gebaut wurde und das auch zu Schönborns Zeit nicht komplett fertiggestellt war. Es ist zwar bekannt, dass Schönborn das Kurfürstliche Schloss als zu altmodisch für sein Kunstempfinden ablehnte, benutzt haben dürfte er es jedoch auf jeden Fall. Somit kam dem Lustschloss Favorite vor den Toren der Stadt die klassische Rolle des intimen Rückzugsortes und der Sommerresidenz mit deutlichem Schwerpunkt der Gartenanlagen und Wasserspiele zu. Nach Hennebo und Hoffmann ist die Stellung des dominierenden Hauptgebäudes in den Anlagen des Hochbarocks gerade in Deutschland höchst uneinheitlich. Unter anderem wird die Unterordnung des Hauptgebäudes im Gesamtplan, die Delegierung gewisser Funktionen an Orangerie-, Fest- oder Gartengebäude genannt; etwas, was in genau dieser Form bei der Favorite ebenfalls zu finden war. Auch in der Residenz Ansbach übernahm eine (dort allerdings schlossähnlich ausgebaute) Orangerie die Funktion des zentralen Gebäudes. Auch ein „Ersatz“ von aufwändigen Gebäudemassen durch zierlichere Heckenbosquets aufgrund beengter Platzverhältnisse wird genannt und ist neben Mainz auch zum Beispiel im Großen Garten in Hannover-Herrenhausen oder im Belvederegarten in Wien zu finden. Einordnung der Favorite in die zeitgenössische Gartenarchitektur Das Lustschloss Favorite gilt neben seinem Vorbild Marly-le-Roi als erstes und richtungweisendes Beispiel für den Übergang vom formalen, französisch geprägten Barockgarten zu aufgelockerten Gestaltungsstrukturen mit parallel angelegten Einzelgartenanlagen. Ihre Weiterentwicklung und Vollendung fand diese Entwicklungsrichtung der Gartenarchitektur im Sanssouci Friedrichs des Großen. Somit war die Favorite, welche die aus Frankreich, Wien und Italien kommenden Impulse der neuen Gartengestaltung aufgenommen und mit deutschen Gestaltungselementen des Barock belebt hatte, Vorbild für weitere, später einzuordnende Barock- und Rokokogärten. Obwohl man sich bei der Planung des Lustschlosses samt Anlagen an dem französischen Vorbild orientierte, zeichneten die Favorite doch einige Besonderheiten aus, die teilweise die zukünftige Gestaltungsmode in der Gartenarchitektur prägten. So war die Einteilung der Gesamtanlage in drei parallel nebeneinander und zum Rhein hin ausgerichteten Gartenanlagen fast revolutionär in der damaligen Gartenarchitektur. Jede der Anlagen wies andere gestalterische Schwerpunkte auf, die trotzdem mit der Gesamtanlage harmonierten. Hennebo und Hoffmann sprechen folgerichtig von einer „…zunehmend stärkeren Tendenz nach Auflösung der zwingenden, einheitlichen Achsenstruktur des Barockgartens, nach Durchbrechung seines Subordinations- und Einheitsgedankens …“. Auch die Sichtachsenführung, teils parallel zum Rhein, teils zum Rhein hinweisend, war zu damaliger Zeit neu. Marie Luise Gothein nennt dies eine dreifache Achsenentfaltung und bezeichnet die Favorite als den bedeutendsten der zahlreichen Gärten von Lothar Franz von Schönborn. Ebenfalls außergewöhnlich war die Einbindung der Flüsse Rhein und Main (und somit der umgebenden Natur) in das gestalterische Gesamtkonzept. Oben wurde ja schon von der Vorliebe Schönborns für aufwändige Wasserspiele berichtet. Seine Architekten konzipierten die erste und zweite Gartenanlage deshalb so, dass die Sichtachsen, geführt von kaskadierenden Wasserspielen hin zum Rhein und zu der direkt gegenüberliegenden Mainmündung wiesen. Dem Rhein kam somit die Funktion eines abschließenden natürlichen Wasserkanals direkt am unteren Ende der Parterres zu während der Main eine, wenn auch indirekte, Weiterführung der durch die Wasserläufe in der Anlage gebildeten Achse bedeutete. Die gelungene Inszenierung des Lustschlosses Favorite in Kombination mit der es umgebenden Naturlandschaft, vor allem mit den beiden Flüssen und den typischen Weinbergsanlagen an den Hängen, wurde von vielen namhaften Besuchern gewürdigt, so z. B. auch von den Dichtern Goethe und Schiller. Man sieht hier bereits die ersten Anzeichen der am Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts aufkommenden Rheinromantik, die sich erstmals in Beschreibungen der Favorite nachweisen lassen. So schrieb bereits 1785 Hirschfeld in seiner Theorie der Gartenkunst: „Die herrliche Lage der Favorite bei Mayntz erhält diesen vormals so berühmten Garten noch in einigem Ruf. Fast unter den Fenstern des Schlosses verbindet sich der Mayn mit dem Rhein, und beyde strömen in dem Gesichte des Gartens dahin, hinter welchem sich anmutige Weinberge erheben.“ Literatur Hedwig Brüchert (Hrsg.): Vom kurfürstlichen Barockgarten zum Stadtpark. Die Mainzer Favorite im Wandel der Zeit. Förderverein Stadthistorisches Museum Mainz e. V., Mainz 2009. Rudolf Busch: Das Kurmainzer Lustschloss Favorite. Sonderdruck: Rheinisches Kulturinstitut, 1951. Aus: Mainzer Zeitschrift, 44/45, 1949/50. Eduard Coudenhove-Erthal: Die Kunst am Hofe des letzten Kurfürsten von Mainz: Friedrich Carl Joseph Freiherr v. Erthal, 1774–1802. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte, Band 10. Rohrer, Baden bei Wien, 1935, S. 57–86. Paul-Georg Custodis (Bearb.): Das kurfürstliche Mainzer Lustschloss Favorite: Sonderausstellung Stadthistorisches Museum Mainz, 1. August bis 12. September 2004. Mainz, 2004 Franz Dumont, Ferdinand Scherf, Friedrich Schütz (Hrsg.): Mainz – Die Geschichte der Stadt. von Zabern, Mainz 1999 (2. Aufl.). ISBN 3-8053-2000-0. Marie Luise Gothein: Geschichte der Gartenkunst, Zweiter Band Von der Renaissance in Frankreich bis zur Gegenwart. Verlag Eugen Diederichs, Jena 1926; Nachdruck Verlag Georg Olms Hildesheim 1988, ISBN 3-487-09091-0. Uta Hasekamp: Die Schlösser und Gärten des Lothar Franz von Schönborn: das Stichwerk nach Salomon Kleiner (Grüne Reihe, 24). Wernersche Verlagsanstalt, Worms 2005, ISBN 3-88462-192-0. Ulrich Hellmann: Der Hofgarten in Mainz und die Gärtner am kurfürstlichen Hof. Wernersche Verlagsgesellschaft, Mainz 2017, ISBN 978-3-88462-378-7. Dieter Hennebo, Alfred Hoffmann: Geschichte der deutschen Gartenkunst, Band II: Der architektonische Garten – Renaissance und Barock. Broschek Verlag, Hamburg 1965 Karl Lohmeyer: Südwestdeutsche Gärten des Barock und der Romantik im ihren in- und ausländischen Vorbildern: Nach dem Arbeitsmaterial der saarländischen und pfälzischen Hofgärtnerfamilie der Koellner. Saarbrücker Abhandlungen zur südwestdeutschen Kunst und Kultur, Band 1. Saarbrücken: Buchgewerbehaus Aktiengesellschaft, 1937. Norbert Schindler: Die Favorite zu Mainz und die neue Anlage. In: Das Gartenamt. 9/1962, S. 240–245. Werner Wentzel: Die Gärten des Lothar Franz von Schönborn, 1655–1729. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1970, ISBN 3-7861-4033-2. Heinrich Wohte (Hrsg.): Mainz – Ein Heimatbuch. Verlag Johann Falk III. Söhne, Mainz 1928 Weblinks regionalgeschichte.net – Die Favorite in Mainz Festung Mainz – Das kurfürstliche Mainzer Lustschloss Favorite Einzelnachweise und Anmerkungen Mainz Favorite Erbaut in den 1720er Jahren Zerstört in den 1790er Jahren Abgegangenes Bauwerk in Mainz Zerstört in den Koalitionskriegen
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https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig%20M%C3%BCnchmeyer
Ludwig Münchmeyer
Ludwig Johannes Herbert Martin Münchmeyer (* 2. Juni 1885 in Hoyel bei Melle; † 24. Juli 1947 in Böblingen) war ein evangelischer Pastor auf der ostfriesischen Nordseeinsel Borkum, der sich durch besonders aggressive antisemitische Hetzreden hervortat. Reichsweites Aufsehen erregte er 1926 im sogenannten Münchmeyer-Prozess, in dessen Verlauf er sich gezwungen sah, sein Amt als Pastor aufzugeben. Danach wurde er Reichsredner der NSDAP. Mit deren erstem größeren Wahlerfolg bei der Reichstagswahl 1930 zog Münchmeyer als Abgeordneter des Wahlkreises 33 (Hessen-Darmstadt) in den Reichstag ein. Familie, Ausbildung, erste Pfarrstellen Ludwig Münchmeyer entstammte einer alten, ursprünglich niedersächsischen Pastorenfamilie, deren direkte Stammreihe mit Heinrich Münchmeyer (um 1654–1728), Lizenzbeamter (Steuerbeamter) und Bürger zu Einbeck, begann. Er wurde als Sohn des Carl Hans Wilhelm Ludwig Münchmeyer und der Henriette Friederike Adelgunde Münchmeyer, geb. Brakebusch, geboren. Sein Großvater war der Theologe August Friedrich Otto Münchmeyer. In Rinteln besuchte er das humanistische Gymnasium. In Erlangen, Leipzig und Göttingen studierte er evangelische Theologie und legte im März 1911 seine Zweite theologische Prüfung ab. Am 17. Juni desselben Jahres wurde er ordiniert. Von 1911 bis zum Kriegsausbruch 1914 zunächst Pfarrer der evangelisch-lutherischen Seemannsseelsorge in Cardiff (Großbritannien), dann erster Auslandspfarrer der beiden deutschen Gemeinden in Cardiff und Swansea (Südwales). Im März 1915 wurde er Felddivisionsprediger. Nach dem Krieg wurde er als Lazarettpfarrer in Hannover angestellt. Er war mit Agnes Marie Margerete Maseberg, Tochter des Großkaufmanns Wilhelm Maseberg und dessen Ehefrau Marie Winkelmann, verheiratet und hatte mit ihr vier Kinder. Münchmeyer auf Borkum 1920 wurde Münchmeyer Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde auf Borkum. Dort hatte der sogenannte Bäder-Antisemitismus – die Ausgrenzung jüdischer Gäste – lange vor 1933 besonders starke Tradition. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren antisemitische Zwischenfälle zu verzeichnen. Im Borkumlied, das die Kurkapelle mit Billigung des Gemeinderates öffentlich intonierte, hieß es: Borkum, der Nordsee schönste Zier, bleib du von Juden rein, laß Rosenthal und Levinsohn in Norderney allein. Damit setzte Borkum antisemitische Rassenhetze im Konkurrenzkampf gegen das Seebad Norderney ein, um völkisch-nationale Gäste zu gewinnen. Münchmeyer heizte die rechtsradikale und antisemitische Stimmung auf Borkum mit zahlreichen Vorträgen an. Diese trugen Titel wie „Seid unverzagt, bald der Morgen tagt“, „Gott – Freiheit – Ehre – Vaterland“ oder „Borkum, der Nordsee schönste Zier, bleib du von Juden rein“. Dabei unterstützte ihn der 1920 für antisemitische Kurgäste gegründete „Bund zur Wahrung deutscher Interessen auf Borkum“. Dieser wachte über die „Judenfreiheit auf der Insel“. In den Folgejahren trat Münchmeyer energisch für „deutsche Bezeichnungen“ auf den Speisekarten sowie „deutsche Ausdrücke“ an den Inschriften von Häusern ein und kontrollierte gelegentlich die Personalien von Borkumer Kurgästen, an deren „arischer“ Abstammung er zweifelte. 1922 wies der hannoversche Oberpräsident und ehemalige Reichswehrminister Gustav Noske (SPD) den Regierungspräsidenten Jann Berghaus (DDP) in Aurich mündlich an, dem „hetzerischen Treiben“ auf Borkum ein Ende zu machen. Er gab seinem „lebhaften Befremden darüber Ausdruck, dass dem Skandal auf Borkum nicht energisch entgegengetreten worden ist“. Im Wiederholungsfall drohte er die Herabsetzung der polizeilichen Sperrstunde auf 22 Uhr an. Daraufhin wurde das Borkumlied 1922/23 nicht mehr abgespielt. 1924 erneuerte der Landrat des Landkreises Emden, Walter Bubert (SPD), das Verbot. Dagegen organisierten der „Borkumpastor“ Münchmeyer und der völkische Badedirektor Hempelmann Protestkundgebungen, auf denen sie Bubert, Berghaus und Noske beschimpften und dazu aufriefen, das Spielverbot zu ignorieren. Die Protestversammlungen wurden jeweils mit demonstrativem Absingen des Borkumliedes beendet. Auf Anweisung des Badedirektors begann die Kurkapelle bald darauf, das Lied wieder zu spielen. Landrat Bubert ging dagegen mit eigens verstärkter Borkumer Lokalpolizei vor, ließ einige Musiker noch während eines Konzerts in polizeilichen Gewahrsam nehmen und beschlagnahmte deren Instrumente. Er entließ zudem den Badedirektor mit sofortiger Wirkung. Dieser klagte dagegen vor dem Amtsgericht Emden und erhielt Recht: Das Urteil bezeichnete das Spielverbot als „vollendete Rechtsbeugung“ und damit als nichtig. Im Wiederholungsfalle drohte das Gericht dem preußischen Staat eine Geldbuße von 100.000 Goldmark an. Die nächste Instanz, das Preußische Oberverwaltungsgericht in Berlin, bestätigte das Urteil. Münchmeyer feierte diesen Beschluss zum Borkumlied als persönlichen Erfolg. 1924 ließ er sich als Kandidat der Deutschnationalen Volkspartei in den Gemeindeausschuss wählen und wurde Mitglied der Badedirektion. 1925 trat er der NSDAP (Mitgliedsnummer 80.984) bei. Nun fing er an, neben Juden auch Katholiken anzugreifen, wodurch sich viele rheinländische Badegäste verprellt fühlten. Die Rheinische Presse berichtete über die „Katholikenhetze auf Borkum“ und die Borkumer Badezeitung schrieb darüber 1924: „Alte Badegäste haben sich, durch diese Treibereien angewidert, mit den Worten verabschiedet: Auf Nimmerwiedersehen“. Daraufhin wuchs auf Borkum, das sich in seinen wirtschaftlichen Interessen bedroht sah, allmählich die Opposition gegen Münchmeyer. Die Badedirektion setzte sich vorsichtig von ihm ab. Auch die Leitung der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, die seinen Antisemitismus nie öffentlich kritisiert hatte, begann sich nun von Münchmeyer zu distanzieren, bot ihm aber eine Superintendentur an. Nach weiteren Vorfällen entschloss sich der Deutsche Bäderverband, Fahrten nach Borkum nicht mehr zu empfehlen. Im Herbst 1925 eröffnete schließlich das Landeskirchenamt der Hannoverschen Landeskirche ein Disziplinarverfahren gegen Münchmeyer. Der Münchmeyer-Prozess Etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte der Borkumer Albrecht Völklein unter dem Pseudonym Doktor Sprachlos eine satirische Streitschrift gegen Münchmeyer mit dem Titel „Der falsche Priester oder der Kannibalenhäuptling der Nordsee-Insulaner“. Unterstützt wurde er dabei von Julius Charig vom Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) und dem jüdischen Kaufmann Lazarus Pels. In der Schrift wurde Münchmeyer, ohne namentlich genannt zu werden, als „falscher Priester“ attackiert, der mit Gesinnungsgenossen in „heidnischer und kannibalischer Absicht“ die Insel terrorisiere. Weiterhin wurden ihm Erpressung, Falschaussage, Vorspiegelung falscher Tatsachen, Amtsanmaßung und sexuelle Verfehlungen vorgeworfen. Der Evangelischen Landeskirche hielt Völklein in der Schrift vor, „den falschen Priester als den ihren anzuerkennen“ und möglicherweise selbst von „falschen Priestern“ durchsetzt zu sein. Damit wollte der C.V. eine Beleidigungsklage erzwingen, um vor Gericht die antisemitische Hetze Münchmeyers zu verhandeln. Tatsächlich strengte die Evangelische Landeskirche einen Prozess an und zwang Münchmeyer, als Nebenkläger aufzutreten. Das Verfahren gegen Völklein, Charig und Pels wegen Beleidigung fand im Mai 1926 vor dem Großen Schöffengericht in Emden statt. Zur Verteidigung schickte der Centralverein den angesehenen Rechtsanwalt Bruno Weil. Durch dessen Verteidigungsstrategie wurde aus der Beleidigungsklage vor einem Provinzgericht ein reichsweit als Münchmeyer-Prozess beachteter politischer Prozess, in dessen Verlauf Weil mit großem Aufwand die Richtigkeit der gegen Münchmeyer erhobenen Vorwürfe nachzuweisen versuchte. In der Urteilsverkündung am 18. Mai gab das Gericht der Verteidigung in fast allen Punkten Recht. Die Streitschrift wurde zwar als „formale Beleidigung“ eingestuft und die Angeklagten zu 1500 Reichsmark Strafe verurteilt, Münchmeyers Verhalten in der Urteilsbegründung aber wörtlich als „eines Geistlichen nicht würdig“ beschrieben, weshalb es legitim sei, dass dieser „als nicht richtiger Priester, als falscher Priester bezeichnet werden kann“ und sich weiterhin „ein falscher Priester nennen lassen muss“. Im Einzelnen wurde im Urteil aufgeführt, dass Münchmeyer sich „wiederholt an Frauen herangemacht habe“ und sie sich „teils unter Ausübung eines unzulässigen Druckes, teils indem er sich als reicher Kaufmann ausgab“, gefügig machen wollte. Ein solcher Geistlicher verdiene den Namen eines Geistlichen nicht, sondern müsse sich gefallen lassen, wenn er als falscher Priester bezeichnet werde. sich wiederholt als Arzt und medizinischer Sachverständiger ausgegeben habe, ebenso als Jurist – ohne jemals Medizin oder Jura studiert zu haben. Die Behauptungen, die „wiederholt von Münchmeyer abgegeben wurden, waren wissenschaftlich falsch und eine Lüge, und eines Geistlichen unwürdig“. unter der lächerlichen Ausrede, eine Narbe am Körper eines jungen Mädchens kontrollieren zu wollen, unsittliche Berührungen vorgenommen habe. die Gewohnheit habe, „nach Art alter Klatschweiber Gerüchte in die Welt zu setzen, um einwandfreie Menschen in Mißkredit zu bringen“. Damit war Münchmeyer ruiniert. Die Ausführungen der Verteidigung in der Frage der sexuellen Übergriffe Münchmeyers gegenüber Mädchen seiner Gemeinde führten dazu, dass Münchmeyer seinen Dienst als Pfarrer quittierte, um sich dem immer noch gegen ihn laufenden Disziplinarverfahren des Landeskirchenamtes zu entziehen. Dieses verbot ihm dennoch einige Monate nach dem Prozess, den Titel Pfarrer a. D. zu führen. Dessen ungeachtet taucht Münchmeyer in Cuno Horkenbachs 1931 erschienenem Handbuch „Das deutsche Reich von 1918 bis heute“ immer noch als „Pastor a. D.“ auf. Das Ende seiner Tätigkeit in der evangelisch-lutherischen Kirche wird dort, ohne Erwähnung des Prozesses, lakonisch wie folgt wiedergegeben: „Legte 1926 Pfarramt nieder, widmet sich ausschließlich der Politik.“ Am 26. Februar 1929 gab das evangelisch-lutherische Landeskirchenamt in Hannover eine Mitteilung heraus, dass Münchmeyer den Titel als Pastor, die Anstellungsfähigkeit im Kirchendienst, die Pensionsansprüche und die Fähigkeit zur Vornahme geistlicher Amtshandlungen endgültig verloren habe. Weiterer Lebensweg 1928 verließ Münchmeyer Borkum, um fortan als Agitator und Reichsredner für die NSDAP zu wirken. Dabei handelte es sich um eine parteiamtliche Funktion für rhetorisch bzw. propagandistisch als besonders befähigt beurteilte Parteifunktionäre, die z. B. im Wahlkampf auf Massenveranstaltungen auftreten sollten. Die NS-Propaganda setzte gezielt nationalsozialistisch gesinnte evangelische Pfarrer oder Theologiestudenten als Werberedner ein, die unermüdlich auf die Verankerung des Christentums in der NSDAP hinwiesen. Münchmeyer war einer der aktivsten NS-Redner im nordwestdeutschen Raum. Dabei hielt er auch auf Borkum Veranstaltungen ab. Mit dem ersten größeren Wahlerfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen am 14. September 1930 zog er als Abgeordneter des Wahlkreises 33 (Hessen-Darmstadt) in den Reichstag ein. Im Dezember 1930 war Münchmeyer an den Tumulten bei der dritten Vorführung des Filmes Im Westen nichts Neues beteiligt. Kurz nach Beginn der Aufführung im Berliner Mozartsaal begannen einige hundert Nationalsozialisten mit nationalistischen und antisemitischen Zwischenrufen, später warfen sie Stinkbomben und setzten weiße Mäuse aus. Dazu schrieb der Filmkurier am 6. Dezember 1930: „Es waren mehrere nationalsozialistische Reichstagsabgeordnete anwesend, so Dr. Goebbels und Pfarrer Münchmeyer, die ihre Anhänger durch Zurufe aufmunterten und den Skandal dirigierten. Die Vorführung musste schließlich unterbrochen werden. Es kam zu Schlägereien mit Besuchern, die sich gegen den Terror wandten. Die inzwischen herbeigerufene Polizei musste den Saal gewaltsam räumen. Die Demonstranten hatten dann noch die Unverfrorenheit, ihr Eintrittsgeld wegen Abbruch der Vorstellung zurückzufordern, sie zerschlugen eine Scheibe der Kasse und bedrohten die Kassiererin. Auf dem Nollendorfplatz nahmen die Demonstrationen ihren Fortgang. Die Direktion des Mozartsaals sah sich genötigt, die 9-Uhr-Vorstellung ausfallen zu lassen.“ Nach mehrfachen gewaltsamen Störaktionen durch SA-Schlägertrupps wurde der Film abgesetzt und bald darauf wegen „Gefährdung des deutschen Ansehens“ verboten. Die NSDAP verbuchte dies als ihren Sieg. Im August 1933 trat Münchmeyer nochmals auf Norderney auf. Er forderte von den Bewohnern, aus ihrer Insel unverzüglich eine „judenfreie“ zu machen. Vor 1.200 Zuhörern sagte er: „Die Juden sind immer das störende Element der ganzen Welt zu allen Zeiten.“ 1934 veröffentlichte er sein Werk Kampf um deutsches Erwachen. 1936 erschien Deutschland bleibe wach – 10 Jahre Redner der Partei, das er 1938 nochmals unter dem Titel Deutschland bleibe wach – 12 Jahre Redner der Partei veröffentlichte. Reichsredner der NSDAP zu sein, sah Münchmeyer weiterhin als seine Hauptaufgabe. Im Lebenslauf in seinen Parteiakten heißt es: „Auch nach der Machtübernahme hat Pg. Münchmeyer wohl als einer der wenigen Kämpfer der alten Garde und der alten Reichsredner fast an jedem Abend weiter in irgend einer Großkundgebung einer Parteiformation im Reichsgebiet gesprochen, ganz sonders im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Alle Kundgebungen mit Pg. Münchmeyer sind auch heute noch durchschlagende Erfolge, sowohl was die Besucherzahl als auch was die Zustimmung und Begeisterung der Bevölkerung anbetrifft.“ Mehrfach musste sich Münchmeyer auch parteiinternen Kritikern stellen. So leitete das Oberste Parteigericht der NSDAP auf Antrag des NSDAP-Kreisleiters von Hameln, Erich Teich am 7. Februar 1934 eine Untersuchung gegen Münchmeyer ein. Teich beschwerte sich darüber, dass Münchmeyer die Ortsgruppe der NSDAP bei einer öffentlichen Kundgebung kritisiert habe. In der dazugehörigen Akte finden sich auch mehrere Zeitungsartikel, in denen die 1926 gegen Münchmeyer ergangene Urteilsbegründung zitiert wird. Das Gericht stellte das Verfahren bald darauf ein. Im Jahre 1935 war sein Wohnsitz in Düsseldorf, Humboldtstr. 51. Bis Mai 1945 war Münchmeyer Reichstagsmitglied, zuletzt als Abgeordneter des Wahlkreises 31 (Württemberg), trat jedoch öffentlich nicht mehr in Erscheinung, sodass über sein weiteres Wirken keine Akten vorliegen. Von 1945 bis 1947 war Münchmeyer im Internierungslager. Bis zu seinem Tod am 24. Juli 1947 in Böblingen blieb er Nationalsozialist. Schriften An die deutsche Jugend, Was kann Deutschlands Jugend schon jetzt tun, um eine bessere Zukunft vorbereiten zu helfen? Borkum nach 1920. Weiherede. gehalten bei der Errichtung eines Denkmals für die Gefallenen der evangelisch-lutherischen Christus-Gemeinde auf Borkum. Ein Dankes- und Totenopfer, Borkum nach 1920. Gedächtnisrede für Deutschlands unvergeßliche Landesmutter. Borkum 1921. Eine Seepredigt. gehalten an den Gestaden der deutschen Nordsee über den Psalm 93,1–4. Ein Loblied Gottes aus der Natur, Borkum um 1921. Bismarcks Vermächtnis an das deutsche Volk. Der einzige Weg zur Erkenntnis und zur Heilung unserer Krankheit. Borkum 1923. Der Sieg in der Sache des Borkum-Liedes. Borkum 1924. Sage mir, mit wem Du gehst, und ich will Dir sagen, wer Du bist! Borkum um 1924. Krieg. Borkum um 1924. Borkum die deutsche Insel. Borkum um 1925. Das Sturmjahr 1925/26 oder: Unser Glaube ist doch der Sieg! Borkum 1926. Der Grund, warum ich mein Amt niederlegte. Borkum 1926. Auf Urkunden gestütztes Beweismaterial für den organisierten Landesverrat und den Dolchstoß der Marxisten aller Schattierungen, den Zerstörer deutscher Ehr und Wehr. München 1930. Meine Antwort an den C.V., zugleich eine Antwort auf die Fragen: Wann ruft der Jude „Alarm“? und Was versteht der Jude unter „Wahrheiten“? München 1930. Kampf um deutsches Erwachen. Dortmund 1934. Deutschland bleibe wach! – 10 Jahre Redner der Partei. Dortmund 1936. Deutschland bleibe wach! – 12 Jahre Redner der Partei. Dortmund 1938. Literatur Bücher Udo Beer: Der falsche Priester. In: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden. 66, 1986, S. 152–163. Herbert Reyer (Bearb.): Das Ende der Juden in Ostfriesland. Katalog zur Ausstellung der Ostfriesischen Landschaft aus Anlaß des 50. Jahrestages der Kristallnacht. Verlag Ostfriesische Landschaft, Aurich 1988, ISBN 3-925365-41-9. Frank Bajohr: Unser Hotel ist judenfrei. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2003, ISBN 3-596-15796-X. Gerhard Lindemann: Typisch jüdisch. Die Stellung der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers zu Antijudaismus, Judenfeindschaft und Antisemitismus 1919–1949. Duncker und Humblot, Berlin 1998, ISBN 3-428-09312-7. Artikel in Zeitschriften Borkum, Artikel zum Münchmeyerprozeß- erschienen im Borkumer Beobachter. Borkum 1926. Alfred Hirschberg: Disziplinarverfahren gegen Münchmeyer? In: Central-Verein-Zeitung. 14. Mai 1926. Alfred Hirschberg: Münchmeyer-Prozess auf Borkum. In: Central-Verein-Zeitung. 21. Mai 1926. Bruno Weil: Borkum. In: Central-Verein-Zeitung. 28. Mai 1926. A.W.: Nachklänge zum 'Münchmeyer-Prozess. In: Central-Verein-Zeitung. 1. September 1926. Weblinks Eintrag im Biographischen Lexikon für Ostfriesland (PDF; 55 kB) Einzelnachweise Lutherischer Geistlicher (20. Jahrhundert) Reichstagsabgeordneter (Weimarer Republik) Reichstagsabgeordneter (Deutsches Reich, 1933–1945) NSDAP-Mitglied Reichsredner Person des Antisemitismus Person (Sexueller Missbrauch in den evangelischen Kirchen) Geschichte (Ostfriesland) Person (Ostfriesland) Person (Borkum) Deutscher Geboren 1885 Gestorben 1947 Mann
1938465
https://de.wikipedia.org/wiki/Winterstein%20%28S%C3%A4chsische%20Schweiz%29
Winterstein (Sächsische Schweiz)
Der Winterstein, auch als Hinteres Raubschloss oder als Raubstein bezeichnet, ist ein einzeln stehendes, langgestrecktes Felsmassiv in der Hinteren Sächsischen Schweiz im Freistaat Sachsen. Auf dem 389 Meter hohen Gipfel befand sich einst die mittelalterliche Felsenburg Winterstein, von der noch Reste wie Balkenfalze, ausgehauene Treppenstufen und die Zisterne erkennbar sind. Erstmals erwähnt wurde die wahrscheinlich im 13. Jahrhundert errichtete Burg im Jahr 1379 als böhmischer Pfandbesitz. Sie ging 1404 in sächsischen Besitz über, war aber bereits um 1450 verfallen. Das Felsmassiv des Wintersteins ist ein beliebtes Ziel für Wanderungen, das Gipfelplateau kann über Stiegen und Leitern erreicht werden. Lage und Geologie Der freistehende und seine Umgebung um etwa 90 bis 100 Meter überragende, etwa 120 × 50 Meter große Winterstein befindet sich in der nahezu siedlungsleeren und dicht bewaldeten Hinteren Sächsischen Schweiz oberhalb des Großen Zschandes in der Gemarkung Ostrau. Den etwa 30 Meter höheren Bärfangwänden südlich des Wintersteins ist der Fels als verbliebener Sandsteinhärtling etwa 150 Meter vorgelagert. Er liegt innerhalb des Nationalparks Sächsische Schweiz, knapp außerhalb der Kernzone des östlichen Nationalparkbereichs. Wenige Kilometer östlich liegt im Großen Zschand das Zeughaus. Westlich des Wintersteins erstreckt sich der Kleine Zschand, überragt vom Großen und Kleinen Winterberg. Zum Felskomplex des Wintersteins gehört der südlich vorgelagerte und nur durch eine schmale Kluft getrennte Klettergipfel Wintersteinwächter. Wie das gesamte Elbsandsteingebirge entstand der Winterstein aus Ablagerungen eines kreidezeitlichen Meeres, das im Turonium und Coniacium bis zu 400 Meter mächtige klastische Sedimente ablagerte. Der Winterstein gehört wie die benachbarten Bärfangwände nach der ursprünglichen petrographisch-morphologischen Gliederung von Friedrich Lamprecht zu den beiden Horizonten der Sandsteinstufen c3 und d des Elbsandsteingebirges. Während der Horizont c3 noch zu der sogenannten Postelwitz-Formation zählt und eher hangbildend ist, bildet der wandbildende Horizont d den mit 50 bis 80 Metern mächtigsten Teil der Schrammstein-Formation. Am Winterstein erreichen die senkrechten Felswände aus beiden Horizonten eine Höhe von bis zu 40 Metern, durch den untenliegenden hangbildenden Horizont c3 ragt der gesamte Felsstock gut 100 Meter über die Waldgebiete nördlich davon auf. Zwischen den beiden Horizonten bildet der an vielen Stellen des Elbsandsteingebirges deutlich in Form von Felsterrassen und Überhängen sichtbare, sogenannte Untere Höhlenhorizont am Winterstein eine teilweise mehrere Meter breite Felsterrasse auf der Süd- und Ostseite des Felsens. Auf der Nord- und Westseite ist diese Trennschicht nur als dünnes, nicht begehbares Band erkennbar. Der untere Horizont c3 ist als schmales Felsband um den gesamten Winterstein gegen die im Hangenden folgenden Schichten abgegrenzt. Zugang zum Winterstein Der Winterstein ist aus verschiedenen Richtungen gut zu Fuß erreichbar. Vom Kirnitzschtal herauf durch den Kleinen Zschand führt ein Wanderweg am Fuß des Felsmassivs vorbei, der auch über die untere Affensteinpromenade erreicht werden kann. Ein weiterer Ausgangspunkt für den Besuch des Wintersteins ist die Neumannmühle im Kirnitzschtal. Von dort führt der Weg durch den Großen Zschand und dann steil durch die Raubsteinschlüchte hinauf zur Scharte zwischen den Bärfangwänden und dem Winterstein. Von Schmilka verläuft der Weg über den Großen Winterberg zum Winterstein. Ein Abzweig führt von der Scharte über Treppen und Leitern auf die breite Felsenterrasse an der Südseite des Felsmassivs zur großen Klufthöhle an der Trennschicht der Sandsteinstufen. Von dort erreichen trittsichere und schwindelfreie Wanderer das Gipfelplateau des Wintersteins über eine freistehende, etwa zehn Meter hohe Leiter in der Höhle und mit Stufen ausgebaute schmale Felsspalten. Am Sockel kann der Winterstein auf schmalen Felsbändern umrundet werden, dort befinden sich verschiedene Felshöhlen und Überhänge, die von Bergsteigern als Boofen zur Übernachtung genutzt werden dürfen. Auf dem Gipfel existiert kein Geländer. Geschichte Die Burganlage auf dem Winterstein gilt als die größte und älteste Anlage dieser Art der Hinteren Sächsischen Schweiz. Allerdings liegen nur wenige schriftliche Quellen zu ihrer Entstehung und Geschichte vor. Beides ist daher immer wieder Gegenstand historischer Kontroversen. Entstehung der Burg Errichtet wurde die Burg wie auch weitere Felsenburgen im Elbsandsteingebirge vermutlich durch das böhmische Adelsgeschlecht der Berken von der Duba im Zuge des Ausbaus ihrer Herrschaft im 13. Jahrhundert, in dessen Mitte früheste Keramikfunde datieren. Die Annahme, dass die Berken mit der Burg eine Handelsstraße durch ihr Gebiet von Schandau bzw. Postelwitz nach Zittau schützten, wird in der neueren Literatur bestritten, die Existenz dieser Straße wird sogar in Frage gestellt. Anstelle der Berken kommen als Bauherren aufgrund von Vergleichen mit der Felsenburg Neurathen auch das böhmische Adelsgeschlecht der Markwartitze in Frage. Eine andere Theorie ist, dass der Winterstein wie andere Felsenburgen des damals böhmischen Grenzgebiets Sächsische Schweiz zum systematischen Ausbau von Befestigungen im Zuge des Mongolensturms und des Rückzugs des böhmischen Königs Wenzel I. nach der Niederlage des schlesischen Herzogs Heinrich II. in der Schlacht bei Liegnitz 1241 gehörte. Als unmittelbare Konsequenz des Mongolensturms im Gebiet der heutigen Sächsischen Schweiz gibt es lediglich die Oberlausitzer Grenzurkunde von 1241 zwischen dem König und dem Bischof von Meißen als Quelle, in der der Winterstein aber nicht genannt wird. Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Winterstein im Jahre 1379, als der böhmische König Wenzel IV. ihn als Zubehör des Burgbezirkes Pirna, jedoch als selbständigen Pfandbesitz, seinem Kämmerer Thimo von Colditz, Besitzer der Herrschaft Graupen, verpfändete. Der Winterstein ist damit die am frühesten erwähnte Felsenburg der Hinteren Sächsischen Schweiz. Die Pfandschaft wurde 1381 bestätigt, 1391 löste sie Wenzel IV. wieder ein. Immer noch zu Pirna gehörend, erfolgte 1396 eine neuerliche Verpfändung des Wintersteins an König Wenzels Kammermeister Burkhard Strnad von Janowitz. Der König forderte 1397 die Bewohner der verpfändeten Gebietsteile auf, die Steuern an Strnad abzuführen. Daraus folgt, dass zum Winterstein Dörfer gehörten, die Einnahmen brachten. Es fehlen genauere schriftliche Angaben, um welche Gemeinwesen es sich handelte, anzunehmen sind umliegende Städte und Dörfer wie Bad Schandau, Altendorf und Lichtenhain, eventuell noch Saupsdorf und Hinterhermsdorf. Unklare Besitzverhältnisse der Burg Zu weiteren Besitzerwechseln gibt es teilweise nur Vermutungen. Burkhard Strnad von Janowitz wurde bereits 1397 im Auftrag Herzog Johanns II. von Troppau-Ratibor ermordet. Danach scheint Johann von Wartenberg, der Herr von Blankenstein bei Tetschen, Inhaber der Pfandschaft gewesen zu sein. Der Winterstein ging 1404 zusammen mit der bis dahin zur böhmischen Krone gehörenden Pflege Pirna an den meißnischen Markgrafen Wilhelm I. Dieser Besitzerwechsel steht in Zusammenhang mit der Dohnaischen Fehde, in der der Markgraf bestrebt war, das gesamte Gebiet der heutigen Sächsischen Schweiz in seinen Besitz zu bringen. In den markgräflichen Rechnungsbüchern und den Dresdner Kämmereirechnungen ist vermerkt, dass zwischen 1406 und 1408 auf dem Winterstein eine markgräflich-meißnische Besatzung unter dem Hauptmann von Techerwitz lag. Angegeben wurden aber keine Einnahmen, sondern nur Ausgaben. Unsicher ist der weitere Besitz des Wintersteins. Georg Pilk und mit ihm die meisten Forscher nehmen an, dass der Winterstein um 1440 erneut in böhmischen Besitz überging. In den Quellen ist ab 1441 ein „Recke zcum Wintersteine“ erwähnt, der sich auf Seiten der Wartenberger an der „Wartenberger Fehde“ beteiligte. Im selben Jahr forderte Kurfürst Friedrich der Sanftmütige von den Berken von der Duba als Herren der Herrschaften Wildenstein und Hohnstein sowie von Johann von Wartenberg auf Blankenstein, dem Recken und weiteren namentlich genannten böhmischen Burgrittern keine Unterstützung mehr zu leisten, sondern vielmehr ihm, dem Kurfürsten, und dem Bischof von Meißen bei deren Bekämpfung zu helfen. Aufgrund der Zusage der Berken und der Wartenberger scheint dem Recken von Winterstein noch im selben Jahr seine Burg abgenommen worden zu sein. Sie kam danach in den Besitz Johanns von Wartenberg, der sie am 24. Juli 1441 an „Land und Städte“ der Oberlausitz verkaufte. Die Zuordnung des Recken von Winterstein und des anschließenden Verkaufs seiner Burg an die Oberlausitzer zur Felsenburg auf dem heutigen Winterstein in der Sächsischen Schweiz ist jedoch umstritten, zumal die Existenz einer Handelsstraße – eine wesentliche Voraussetzung für das Raubrittertum – in der Nähe des Wintersteins ebenfalls bezweifelt wird. Eine Handelsstraße vom urkundlich nachgewiesenen Ausschiffungsplatz in Postelwitz am Fuße von Falkenstein und Affensteinen vorbei und dann nördlich am Winterstein vorbei zum Großen Zschand und weiter nach Sebnitz ist urkundlich nicht fassbar und wird lediglich in Werken von Heimatforschern des 19. Jahrhunderts benannt. Spätere Forscher hegten bereits um 1950 größere Zweifel an der Existenz der Straße. Die Bedeutung des Postelwitzer Umschlagsplatzes war zudem, soweit urkundlich greifbar, gegenüber dem Schandauer Elbhafen nur nachrangig. Der von Sebnitz über den Großen Zschand und südlich des Großen Winterbergs zur Elbe bei Herrnskretschen führende „Reitsteig“ ist wiederum erst um 1450, also nach Ende der Nutzung des Wintersteins, nachweisbar. Bereits im 19. Jahrhundert vermuteten einzelne Forscher, dass es sich bei der Burg des Recken von Winterstein um eine Burg Winterstein in der Umgebung von Lückendorf im Zittauer Gebirge handelte, die gemeinsam mit der Jahrhunderte später Karlsfried genannten Burg Neuhaus erworben wurde. Möglicherweise bildete sie zusammen mit Neuhaus eine Doppelburg, wofür allerdings keine archäologischen Befunde vorliegen. Die Kaufurkunde ist wahrscheinlich 1757 in Zittau verbrannt. Es existieren lediglich noch eine Eintragung in den Görlitzer Ratsrechnungen und in den Gubenschen Jahrbüchern sowie ein Regest bei Carpzov. Abrissarbeiten fanden nach den Eintragungen in den Rechnungsbüchern Görlitz' und Löbaus nur am Neuhaus statt. Ein Abbruch des Wintersteins ist nicht schriftlich bezeugt. Auch der Name des Raubritters führt eher zur Annahme, dass eine andere Burg gemeint ist. „Recke“ ist eine eingedeutschte Schreibweise des tschechischen Namens „Racek“, der Recke zum Winterstein ist daher urkundlich auch als „Racek von oder zum Wintersteine“ benannt. Für einen böhmischen Ritter und wahrscheinlichen Vasall Johanns von Wartenberg sei der Besitz einer seit 1406 sächsischen Burg, deren früher zugehörige Einkünfte ihm nicht mehr zur Verfügung standen, als kaum möglich anzunehmen. Andererseits ist „Racek“ ausschließlich in den Friedensverhandlungen der Wettiner genannt – explizit bezweifelt der Wartenberger, dass es ihm gelingen würde, seinen Gefolgsmann zum Frieden mit diesen zu überreden –, während er in der Oberlausitzer Quellenüberlieferung nicht auftaucht. Georg Pilk und mit ihm die meisten Autoren gingen davon aus, dass der Winterstein nach dem Kauf im Jahr 1442 durch den Städtebund abgerissen wurde, er beurteilte die frühere Zuordnung zu einer nicht genauer lokalisierten Burg im Zittauer Gebirge als Irrtum. Die neuere Forschung zieht diese Zuordnung in Zweifel und lokalisiert die Burg des Recken von Winterstein mit größerer Wahrscheinlichkeit im Zittauer Gebirge. Verfall nach 1400 Nach Abzug der markgräflichen Besatzung wurde der Winterstein der neueren Hypothese gemäß nicht mehr dauerhaft genutzt und verfiel. Die Berken von der Duba nahmen zwar das von ihrem Herrschaftsmittelpunkt auf dem Neuen Wildenstein nicht weit entfernte Gebiet rund um den Winterstein wieder in Besitz, nutzten die Burg jedoch nicht mehr. Mit Verkauf der Herrschaft Wildenstein durch die Berken gelangte der einstmals bebaute Winterstein 1451 endgültig an Sachsen und wurde 1452 Teil des Amts Hohnstein. Bereits 1456 gehörte der Winterstein im sogenannten Burgenverzeichnis nur mehr zu den Burgen, die . In der von Matthias Oeder erstellten Karte zur Landesaufnahme des Kurfürstentums Sachsen von 1592 wird der Winterstein nochmals genannt, danach ist der Name in den historischen Quellen mehr als 300 Jahre lang nicht mehr schriftlich dokumentiert. Die Bevölkerung bezeichnete den Fels in Erinnerung an die angeblich dort wohnenden Raubritter nur noch als „Hinteres“ oder „Großes Raubschloss“. Wilhelm Leberecht Götzinger war der Name noch unbekannt, er bezeichnete den Fels 1804 in seinem Hauptwerk Schandau und seine Umgebungen oder Beschreibung der sogenannten Sächsischen Schweiz, mit dem er eine erste umfassende Beschreibung der Sächsischen Schweiz vorlegte, als Raubstein. Verschiedene Forscher vermuteten bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts aufgrund des Burgenverzeichnisses einen Winterstein im Bereich der Hinteren Sächsischen Schweiz, neben dem Hinteren Raubschloss wurden aber auch der Neue Wildenstein und die Lorenzsteine etwa einen Kilometer nördlich des Wintersteins als Standort vermutet. Erst mit Veröffentlichung der Oederschen Karte 1889 kam der Name wieder in Gebrauch und konnte eindeutig dem Hinteren Raubschloss zugeordnet werden. Touristische und klettersportliche Erschließung seit 1800 Bereits Ende des 18. Jahrhunderts gab es eine Steiganlage auf den Winterstein. Adrian Zingg bildete sie auf einem um 1790 entstandenen Kupferstich des von ihm noch als „Raubstein“ bezeichneten Wintersteins ab. Das Datum ihrer Errichtung ist unbekannt, schriftlich wurde sie erstmals 1804 von Götzinger erwähnt. Für 1812 ist eine erste Instandsetzung belegt. Die ältesten Fotografien vom Winterstein fertigte Hermann Krone bereits um 1855. Krone fotografierte am Winterstein auch in späteren Jahren, eine Aufnahme um 1885 zeigt unter anderem die damalige Holzleiter in der Klufthöhle. Krone benutzte bei seinen Fototouren den hinteren Teil der Klufthöhle und den Keller des Wohnturms auf der Oberburg als Dunkelkammer. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Stiege baufällig. Anstelle einer Sanierung wurde sie am 23. Mai 1948 durch Mitglieder des Kletterclubs Wanderlust 1896 mit der Begründung der Unfallgefahr und Felsverschandelung abgerissen. Aufgrund der fehlenden Aufstiegsmöglichkeit für Wanderer und Spaziergänger entsprach der Winterstein der Klettergipfeldefinition im Klettergebiet Sächsische Schweiz und konnte als Kletterfelsen benutzt werden. Da Mitglieder des Clubs in der Folgezeit zahlreiche Erstbegehungen am Winterstein durchführten, wird vermutet, dass sie zuvor beim Verfall der Stiege entsprechend „nachgeholfen“ hatten. Insgesamt gab es damals am Winterstein 19 Kletterwege und einige Varianten. Die Naturfreunde Bad Schandau bauten 1952 eine neue Stiege an der alten Stelle, womit die kurze Zeit des Klettergipfels Winterstein wieder beendet war. Seither ist das Gipfelplateau wieder für schwindelfreie Wanderer erreichbar. Lediglich der vorgelagerte Klettergipfel Wintersteinwächter (klettersportliche Erstbesteigung 1921) dient weiterhin dem Klettersport, da er vom Gipfelplateau – anders als zu Zeiten der Felsenburg – nicht mehr fußläufig erreichbar ist. Ende der 1990er Jahre wurde die Steiganlage erneuert und saniert. Die Burganlage Wie bei den übrigen Felsenburgen der Umgebung bestanden die Bauten des Wintersteins weitgehend aus Holz und Fachwerk. Daher sind nur noch wenige bauliche Reste vorhanden, im Wesentlichen Balkenfalze und Verankerungen für Bohlen und Holzstreben sowie Fundamentreste. Die Burg bestand zum einen aus der Unter- und der Oberburg direkt am und auf dem Felsen, zum anderen aus vorgelagerten Bauten, über die der Zugang überwacht wurde. Von der Unterburg aus, die sich auf dem breiten, von der schmalen Schicht des „Unteren Höhlenhorizonts“ zwischen den Sandsteinschichten c3 und d gebildeten Felsband auf der Südseite etwa in einem Drittel der Gesamthöhe des Felsens befindet, war über die große Klufthöhle und darin angebrachte Leitern die Oberburg auf dem Gipfelplateau zu erreichen. Anhand der Spuren vor allem in der Unterburg deutlich zu unterscheiden sind mindestens zwei unterschiedliche Bauphasen. Diese lassen sich allerdings mangels genauerer Spuren und schriftlicher Überlieferung nicht weiter datieren. Verglichen mit anderen Felsenburgen wurde der Winterstein relativ aufwändig ausgebaut, vermutlich durch Thimo von Colditz, der als königlicher Kämmerer und Landeshauptmann von Breslau einer der wichtigsten Männer am Hof von Wenzel IV. war. Auf dem Burgplateau, in der Klufthöhle und vor allem am sandigen Südhang wurden diverse Bodenfunde gemacht. Im Heimatmuseum von Bad Schandau werden verschiedene Fundstücke wie etwa Kachelreste und Tonscherben, eiserne Nägel, Sporne und Pfeilspitzen sowie eine kurze Klinge aufbewahrt. Die ersten Funde machte Hermann Krone im Rahmen seiner fotografischen Arbeiten, gelegentlich werden immer noch Scherben und Keramikreste entdeckt. Zugang und Unterburg mit Klufthöhle Der heutige Zustieg zum Winterstein in einem Winkel in der Südwestecke des Felsens entspricht dem früheren Burgzugang ab der zweiten Bauphase. Am Einstieg zu der heutigen ersten Stahlleiter sind Balkenlager eines hölzernen Tores an einer schmalen und damit gut zu verteidigenden Felsspalte erkennbar. Die anschließenden, in einem Durchschlupf unter einem schräg stehenden Felsen als eine Art Wendelstein angelegten Stufen im Sandstein stammen ebenfalls von den Erbauern der Burg. Über sie erreicht man ein zweites, ebenfalls anhand von Falzen identifizierbares Tor und die Felsenterrasse am Beginn der Unterburg direkt am Fuß der Wände des Wintersteins. Sichtbar sind von den Bauten der Unterburg in diesem Bereich noch verschiedene Balkenfalze sowie aus dem Fels geschlägelte Nischen. Aufgrund der bis in eine Höhe von sieben Metern reichenden Falze ist anzunehmen, dass die dortigen Wirtschaftsgebäude zweigeschossig waren. Rechts von den Gebäuden begann der überdachte Wehrgang, der sich auf der gesamten Terrasse an der Südseite über mehr als 100 Meter entlang zog. Im Boden und in der Felswand sind noch Spuren von Balkenlagern und Falze zur Aufnahme der Dachsparren sichtbar. Gut zu erkennen ist vor allem ein in die Südwand geschlagener, etwa mannshoher und 90 Zentimeter tiefer Postenstand. Am Knick von der Südwand zur Ostwand sind auf dem äußersten Felsplateau Lager eines ehemaligen Wachturms erhalten. Der Wehrgang verlief weiter entlang der vom „Wintersteinwächter“ gebildeten Ostwand und endete an der Nordostecke in einem kleinen, über noch erkennbare Sandsteinstufen erreichbaren Postenstand. Auf der Nord- und Westseite des Felsens geht die Terrasse in die schmale, nicht begehbare Trennschicht zwischen den Sandsteinhorizonten über, dort waren keine zusätzlichen Wehranlagen nötig. Im Einschnitt der Ostwand befanden sich oberhalb des Wehrgangs auf der Felsterrasse und einem etwas zurückgesetzten höheren Plateau weitere Einbauten. Vermutlich stand dort eine Wehrplattform zum Schutz der für Angreifer etwas leichter zugänglichen Ostseite. In der ersten Bauphase der Burg lag der Zugang zum Winterstein etwa 70 Meter weiter östlich als heute, etwa in der Mitte des erst in der zweiten Phase errichteten Wehrgangs. Erkennbar sind dort ausgehauene Felsstufen, über die die Terrasse des Wehrgangs erreicht werden konnte. Der eigentliche Bereich der Unterburg begann erst in Höhe des Postenstands in der Südwand, die dort noch vorhandenen Balkenfalze lassen auf eine entsprechende Sperre schließen. Der Bereich des heutigen Zugangs wurde erst später in die Unterburg einbezogen. An den Wehrgang schloss sich in der Nordostecke des Wintersteins eine Reihe von Palisaden, Unterständen und schmalen Bauten an. Da dort zwischen den Sockelfelsen ein etwa sieben Meter breiter steiler Hang Zugangsmöglichkeiten bot, war dieser Bereich der Burg besonders gesichert. Auch dieser Bereich wurde erst in der zweiten Bauphase errichtet. Die gut 15 Meter tiefe und bis zu knapp fünf Meter breite Klufthöhle bildete den Mittelpunkt der Unterburg und war teilweise künstlich erweitert worden. Erreichbar ist die Höhle von der Felsterrasse des Wehrgangs über einen schmalen Spalt mit 24 Sandsteinstufen. Balkenfalze zeigen, dass dieser Zustieg wahrscheinlich überbaut und mit je einem weiteren hölzernen Tor zu Beginn und am Ende der Stufen gesichert war. Eine Nutzung als Pferdestall, wie sie Götzinger 1804 vermutete, kann angesichts des für Pferde kaum passierbaren Zustiegs wohl verworfen werden. Die Klufthöhle war – sichtbar an Falzreihen in Wand und Decke – in drei Teile unterteilt. Der vordere Teil war von einer an ihren Balkenlagern erkennbaren hölzernen Wehrplattform überdeckt, die zur Verteidigung von Burgtor und Hof der Unterburg diente. Im mittleren Teil wurden Bankreihen aus dem Felsen geschlagen, was die Nutzung für Wohn- und Schlafzwecke vermuten lässt; anhand der Falze in den Wänden ist auch dort eine mehrstöckige Konstruktion anzunehmen, über die auch der Aufstieg zur Oberburg erfolgte. Am hinteren Ende der Höhle befindet sich eine aus dem Fels geschlägelte, zum mittleren Teil wahrscheinlich mit Brettern oder einer Steinwand abgetrennte Zisterne, die durch hölzerne Zuleitungen von oben und entlang der Höhlenwände gespeist wurde. Die Falze für diese Zuleitungen sind von der zur Oberburg führenden Leiter aus zu erkennen. Oberburg Über an Stelle der heutigen Stahlleiter befindliche Holzleitern und die damals eingezogenen Holzplattformen bestand der einzige Zugang zur Oberburg, die vom Ende der Leiter durch ansteigende Felskamine mit Sandsteinstufen erreichbar war. Teilweise sind diese Stufen noch heute Teil des Zugangs, teilweise sind sie durch spätere Einbauten überdeckt. Das Gipfelplateau wurde für verschiedene Wohn- und Wehrbauten genutzt. Auf einem etwas erhöhten Felssockel im östlichen Teil des Plateaus ist noch ein Gebäudefundament aus Sandsteinquadern mit einer Grundfläche von etwa 6,1 × 7,4 Meter und bis zu 1,1 Meter dicken Mauern erhalten. Es handelt sich dabei um eines der ganz wenigen noch durch Mauerreste nachweisbaren Gebäude in den Felsenburgen der Sächsischen Schweiz. Über die Nutzung und bauliche Gestaltung gibt es unterschiedliche Annahmen. Ursprünglich wurde dort nur eine Wachstube vermutet. Durchgesetzt hat sich aber die Theorie, dass es sich um den zentralen, durch den Burgherrn genutzten Wohnturm handelte. Ob über dem Sockelgeschoss aus Sandstein die weiteren Stockwerke aus Stein oder aus Fachwerk errichtet wurden, ist nicht eindeutig geklärt. In den Felssockel war der Keller des Turms geschlagen worden, der noch heute erhalten und zugänglich ist. Er diente sehr wahrscheinlich nicht, wie früher vermutet, als Verlies. Einen echten Bergfried stellte der Turm offenbar nicht dar, da über den in den Fels gehauenen Zugang zum Keller und dessen Öffnung zum Sockelgeschoss keine dauerhafte Abriegelung der oberen Stockwerke möglich war. Eine ursprünglich vermutete nachträgliche Anlage des Kellerzugangs ist angesichts der gegenüber dem auf dem Felssockel stehenden Turm leicht versetzten, an der Außenwand orientierten Lage des Kellers unwahrscheinlich. Östlich des Turms befanden sich weitere Gebäude, ebenso auf dem Wintersteinwächter. Hierzu überbrückten Bohlen die Kluften zwischen dem Winterstein und dem Wintersteinwächter. Am Sockel des Wohnturms und auf dem Wintersteinwächter sind zudem noch ausgeschlägelte Rillen erkennbar, mit denen Regenwasser aufgefangen und Fässern sowie der Zisterne in der Klufthöhle zugeleitet wurde. Die Standorte von Fässern sind anhand von aus dem Fels geschlägelten Nischen und Löchern am Sockel sowie auf dem Wintersteinwächter noch sichtbar. Vor der Fassnische im Felssockel des Wohnturms ist zudem auf dem Boden eine in den Fels geritzte Armbrust zu erkennen. Auf dem Wintersteinwächter befand sich zudem ein Wachturm, der auf dessen östlichstem Felskopf stand. Eine weitere Warte sowie verschiedene Gebäude waren am Westende des Felsmassivs errichtet worden. Deren Nutzung ist nicht eindeutig bekannt. Aufgrund der großen Entfernung zum Wohnturm und der isolierten Lage wird teilweise vermutet, dass sich hier das Verlies der Burg befand. Dafür sprechen auch einige der dort noch vorhandenen Balkenfalze, die wahrscheinlich eine Abriegelung der dortigen, etwas unterhalb des Gipfelplateaus befindlichen Felsbänder gegenüber dem eigentlichen Plateau aufnahmen. Außerdem war hier ein Postenstand mit Signalfeuerstelle und Sichtverbindung zur vorgelagerten Burgwarte auf der Wartburg untergebracht. Bis vor wenigen Jahren war im Boden eines dort anhand von Pfostenlöchern nachweisbaren Wachturms ein eingemeißeltes Brettspiel zu erkennen. Leider zerstörten Unbekannte das Spielfeld in den Jahren 2000 bis 2001 mit eigenen Einkratzungen. Der Versorgung der Burg dienten verschiedene Lastenaufzüge, sowohl zur Unterburg als auch zur Oberburg. Auf dem Gipfelplateau haben sich die aus dem Fels geschlagenen Widerlager und Balkenfalze erhalten. Unklar ist der Zweck einer erst durch Aerophotogrammetrie entdeckten, A-förmigen Bodenstruktur aus Längs- und Stempelfalzen auf der Nordseite der Oberburg. Eine Vermutung ist, dass es sich dabei um ein weiteres Kranfundament handelt, mit dem unter anderem die Bauholzversorgung erfolgte. Als weitere Möglichkeit kann dies der Standort einer Blide sein. Burgwarte und Wachturm Zur Burganlage gehörte auch noch eine Burgwarte auf dem etwa 200 Meter westlich des Wintersteins liegenden, etwa 15 Meter hohen heutigen Klettergipfel Wartburg. Auch an diesem Felsen sind in den Sandstein gehauene Stufen und Balkenfalze sichtbar. Im Wesentlichen bestand die Burgwarte aus einem Fachwerkgebäude auf dem östlichen Plateau der Wartburg, dessen Balkenfalze noch deutlich auf dem Gipfel erkennbar sind. Als Zugang diente eine schmale, aus einem Felsgrat herausgemeißelte Treppe auf der Nordseite. Der Versorgung diente ein Lastenaufzug neben dem Gebäude. Etwa 400 Meter nordwestlich des Wintersteins talwärts in Richtung Kleiner Zschand liegt der sogenannte „Bärenfang“, der ebenfalls zur Felsenburg gehörte. Dabei handelt es sich um eine etwa zwei Meter tiefe, rechteckige und über 35 Quadratmeter große, aus dem Sandstein ausgehauene Grube oder ein Becken. Ausgemeißelte Stufen führen aus der Grube zum Standort eines hölzernen Wachturms, erkennbar an den noch vorhandenen Pfostenlöchern. Entgegen der volkstümlichen Bezeichnung diente der Bärenfang nie zum Fang von Bären, sondern war vermutlich ein Wach- und Kontrollposten im Zugang zur Burg sowie am alten, in den Großen Zschand führenden Straßenzug, etwa entlang der heutigen Zeughausstraße. Vermutet wird auch eine Funktion als Wasserreservoir, wofür das Bodengefälle und ein als Überlauf deutbarer Einschnitt in der Umrandung sprechen. Die tatsächliche Funktion dieser Grube ist allerdings unsicher. Literatur Hermann Lemme, Gerhard Engelmann: Christian Maaz: Winterstein – eine kritische Analyse historischer Quellen. In: Burgenforschung aus Sachsen. Heft 20 (2007), Deutsche Burgenvereinigung e. V., Landesgruppe Sachsen, S. 57–72, ISBN 978-3-937517-75-9. Matthias Mau: Die Felsenburg Winterstein. Stiegenbuchverlag Mothes, Halle (Saale) 2008, . Anne Müller, Matthias Weinhold: Die Felsenburg Winterstein. Rekonstruktionsversuch anhand des Geländebefundes. In: Burgenforschung aus Sachsen. Heft 13 (2000), Deutsche Burgenvereinigung e. V., Landesgruppe Sachsen, S. 16–39, ISBN 3-930036-46-0. Anne Müller, Matthias Weinhold: Felsenburgen der Sächsischen Schweiz. Neurathen – Winterstein – Arnstein. Reihe Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa, Band 23, Verlag Schnell und Steiner, Regensburg 2010, S. 28–36, ISBN 978-3-7954-2303-2. Alfred Neugebauer: Die Felsenburg des Recken vom Winterstein. In: Peter Rölke (Hrsg.): Wander- & Naturführer Sächsische Schweiz. Band 1, Rölke, Dresden 1999, ISBN 3-934514-08-1, S. 127–129. Alfred Neugebauer: Die Felsenburgen der sächsischen und böhmischen Schweiz. In: Burgenforschung aus Sachsen. Heft 1 (1999), Deutsche Burgenvereinigung e. V., Landesgruppe Sachsen, S. 9–17, ISBN 3-928492-42-X. Weblinks Der Winterstein auf historisches-sachsen.net Wehranlagen in der Sächsischen Schweiz, Textskizze des Heimatforschers Erich Pilz Fotos vom Winterstein Nationalpark Sächsische Schweiz: Wegekarte mit erlaubten Zustiegen zum Winterstein Geschichte des Wintersteins als Klettergipfel Einzelnachweise Ehemalige Burganlage in Sachsen Felsenburg Berg in der Sächsischen Schweiz Berg in Europa Felsen in Sachsen Burg in der Sächsischen Schweiz Ostrau (Bad Schandau) Burg im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Ersterwähnung 1379 Bauwerk in Bad Schandau Geographie (Bad Schandau) Burg in Europa Bodendenkmal im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge
2005974
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe%20Nordw%C3%A4nde%20der%20Alpen
Große Nordwände der Alpen
Die großen Nordwände der Alpen (auch Klassische Nordwände oder Letzte Probleme der Alpen) sind eine Gruppe von drei oder sechs Nordwänden alpiner Berge, die sich durch ihre besondere Größe, Schwierigkeit oder Gefährlichkeit für Bergsteiger auszeichnen. Dabei handelt es sich um die Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses und Matterhorn; in der erweiterten Gruppe der „sechs großen Nordwände der Alpen“ sind dies zusätzlich die Nordwände von Petit Dru, Piz Badile und der Großen Zinne. Fritz Kasparek, einer der vier Erstdurchsteiger der Eiger-Nordwand, verwendete im Jahr 1938 als erster den Begriff der „drei großen Wandprobleme“. Sein damaliger Gefährte Anderl Heckmair griff diese Terminologie elf Jahre später auf, indem er sein 1949 erschienenes Buch mit „Die drei letzten Probleme der Alpen“ betitelte. Zum Konzept der „großen Nordwände“ Begriffsbedeutung „Nordwand“ Der Begriff „Nordwand“ wird unter Alpinisten mit besonderen alpinistischen Schwierigkeiten und Gefahren verbunden. Die Nordwände hoher Berge auf der Nordhalbkugel weisen durch ihre schattige Lage in der Regel eine stärkere Vereisung und damit größere Schwierigkeiten auf als andere Wände. Teils wird zusätzlich auch die ostseitige Ausrichtung einer Felswand betont, etwa aufgrund ihrer Eigenschaft, dass Kletterer in einer Ostwand von Westen heranziehende Schlechtwetterfronten nicht frühzeitig erkennen; Westwände spielen ebenfalls eine Rolle wegen ihrer Wetterausgesetztheit. Das Konzept Nordwand steht im alpinistischen Sinne für die wirklich großen und herausfordernden Routen, aber auch für Kälte und Gefahr. Daher wurde beispielhaft die Eiger-Nordwand aufgrund der zahlreichen tödlich endenden Besteigungsversuche auch Mordwand genannt, wodurch der eindeutige Bezug zur Lebensgefahr hergestellt wird. Grund der Zurechnung zu den großen Nordwänden In erster Linie führen alpinistische und historische Gründe zu der Zurechnung einer Nordwand zu den „großen Nordwänden“ der Alpen, die absolute Wandhöhe ist weniger entscheidend. Der Begriff „große Nordwand“ ist also nicht gleichbedeutend mit „hohe Nordwand“. Während in den Alpen viele hohe Nordwände aufzufinden sind, werden nur drei bis sechs Nordwände zu den „großen Nordwänden“ gezählt. So ist beispielsweise die Nordwand des Triglav in den Julischen Alpen mit einer Wandhöhe von 1500 m eine der höchsten Alpenwände überhaupt. Wegen ihrer vergleichsweise geringen Schwierigkeit wird sie aber nicht als „große Nordwand“ bezeichnet. Bei einigen der „großen Nordwände“ handelt es sich, genau genommen, um keine Nordwände, sondern um Nordwest- (zum Beispiel Eiger) oder Nordostwände (Piz Badile). Diese Wände werden als Nordwände bezeichnet, weil dies sprachlich griffiger ist und eine einheitliche Gruppenbezeichnung besser ermöglicht. Gefährlichkeit und Todesfälle Die bekannteste und wegen Steinschlags und häufiger Wetterstürze gefährlichste der großen Nordwände ist die Eiger-Nordwand. Dort kamen bereits mehr als 50 Bergsteiger zu Tode. An anderen Alpenwänden, wie zum Beispiel der Watzmann-Ostwand, sind zwar noch erheblich mehr Bergsteiger tödlich verunglückt (dort bis Juli 2010 100 Todesfälle); Ursachen dafür sind allerdings weniger die großen Schwierigkeiten und Gefahren der Wand, sondern eher der im Vergleich höhere Andrang von oft nicht genügend vorbereiteten Kletterern. Da die immensen Anforderungen der großen Nordwände allgemein bekannt sind, versuchen ungeübte Bergsteiger sich vergleichsweise selten an ihnen. Daher ist die absolute Zahl der Unglücksfälle im Vergleich zu frequentierteren Zielen niedriger. Die klettertechnisch schwierigste und steilste ist die Große-Zinne-Nordwand, allerdings handelt es sich hierbei um reine Felskletterei. Des Weiteren ist sie die einzige, bei der der Gipfel unterhalb von 3000 m Höhe liegt und bei der – auch bedingt durch ihre Lage in Südtirol – die Gefahr von Wetter- und Temperaturstürzen sowie ein allgemein ernster, hochalpiner Charakter weniger vorhanden sind als bei den anderen großen Wänden. Historischer Überblick Vor 1930 Als im Jahr 1865 das Matterhorn zum ersten Mal bestiegen wurde, ging die erste große Ära des modernen Alpinismus zu Ende. Der für unbesteigbar gehaltene Berg war erklommen worden, und obwohl mehrere der Erstbesteiger beim Abstieg ums Leben kamen, verbreitete sich die Erkenntnis: Das Unmögliche war möglich geworden, und es galt nur als eine Frage der Zeit, bis noch schwierigere und „unmöglichere“ Unternehmungen folgen würden. Um 1870 waren fast alle bekannten und nennenswerten Gipfel der Alpen bestiegen, lediglich bei einigen untergeordneten, unzugänglichen oder besonders schwierigen Felszacken dauerte es noch bis zur Jahrhundertwende, bis sie zum ersten Mal betreten wurden. Die führenden Bergsteiger der damaligen Zeit suchten sich nun neue Herausforderungen: Nach den Gipfeln richtete sich das Augenmerk bald auf die großen Wandfluchten der Alpen, die bis dahin sämtlich unbestiegen waren. Als erste große Wände wurden 1872 die Monte-Rosa-Ostwand und 1881 die Watzmann-Ostwand durchstiegen. Dabei handelte es sich um zwei der größten Alpenwände, die aber klettertechnisch verhältnismäßig moderat zu bewältigen waren. Die Durchsteigung der meisten weiteren großen Wände der Alpen erfolgte in den nächsten Jahrzehnten. Die Bezwingung der „großen Nordwände“ war jedoch zunächst noch unmöglich. Als in den 1920er Jahren im Fels- und zum Teil auch im Eisklettern mittlerweile hohe Schwierigkeitsgrade erreicht und gewaltige Wände wie die Laliderer-Nordwand und die Civetta-Nordwestwand durchstiegen waren, wandte sich die Aufmerksamkeit der Szene zunehmend denjenigen wenigen Wänden der Alpen zu, denen noch keine Durchsteigung abgerungen worden war. Nur eine Handvoll dieser undurchstiegenen Wandfluchten, an denen die Schwierigkeiten größer zu sein schienen als anderswo, war Anfang der 1930er Jahre noch übriggeblieben. Meist handelte es sich dabei um Nordwände. Die Erstdurchsteigung der Wände Vor allem die noch undurchstiegenen Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses und Matterhorn standen wegen ihrer Dimension und Bekanntheit im Mittelpunkt des Interesses. Durch den Nimbus von Gefahr und Todesmut, der sich nun durch zahlreiche erfolglose Versuche um die Erstdurchsteigung entwickelte, wurde die Bezwingung dieser Wände zu einer Angelegenheit herausragenden Prestiges. Im Erfolgsfall konnte ein Bergsteiger internationales Ansehen gewinnen und als Spitzenbergsteiger gelten. Die Besteigung nur einer dieser Wände, vor allem ihre Erstdurchsteigung, stellte ein fieberhaft verfolgtes Ziel dar, dem einige Bergsteiger aufgrund verschiedener Ursachen wie mangelhafter Ausrüstung oder Wetterstürzen zum Opfer fielen. 1931 konnte als erstes der „letzten drei Probleme der Alpen“ schließlich die Nordwand des Matterhorns erstmals durchstiegen werden. Den Gebrüdern Schmid wurde im Jahr 1932 für diese Leistung die olympische Goldmedaille, der Prix olympique d’alpinisme, verliehen. Zu der Besteigung waren die Brüder von München aus mit dem Fahrrad angereist. Toni Schmid erlebte die Auszeichnung allerdings nicht mehr, da er kurz zuvor in der Nordwand des Wiesbachhorns tödlich verunglückt war. 1935 folgte die Grandes-Jorasses-Nordwand, die klettertechnisch anspruchsvollste kombinierte (Eis- und Fels-)Wand der großen Nordwände. Die Erstbesteigung erfolgte über den Crozpfeiler; später etablierte sich die Route über den Walkerpfeiler, die im Jahr 1938 eröffnet wurde, als die klassische Route durch diese Wand. Es blieb nur noch die Eigerwand übrig, die folgerichtig als das „letzte Problem der Alpen“ bezeichnet wurde. Sie wurde nach einigen gescheiterten Versuchen und tödlichen Unfällen erst 1938 von einer deutsch-österreichischen Viererseilschaft (Anderl Heckmair, Heinrich Harrer, Fritz Kasparek und Ludwig Vörg) erfolgreich durchstiegen. Die Besteigungsversuche der 1930er Jahre wurden als „Schicksalsunternehmungen nationaler Tragweite“ angesehen und von einem großen Publikum mitverfolgt. Sie erlangten schließlich auch eine politische Dimension, indem das NS-Regime den bergsteigerischen Erfolg am Eiger propagandistisch vereinnahmte: Adolf Hitler feierte die Pioniertat seiner Landsleute „als Zeugnis des unbeugsamen Siegeswillens der deutschen Jugend“ und begrüßte die vier Bergsteiger persönlich mit den Worten „Kinder, was habt ihr geleistet!“. Bis heute ist umstritten, inwieweit Heinrich Harrers geschriebene Aussage „Wir haben die Eiger-Nordwand durchklettert über den Gipfel hinaus bis zu unserem Führer!“, seine Mitgliedschaft bei NSDAP und SS und das bereitwillige Auftreten Anderl Heckmairs (der jedoch nie NSDAP-Mitglied war) zusammen mit Hitler eine überzeugte Gesinnung oder nur politischen Opportunismus und Mitläufertum widerspiegelten. 1940er Jahre bis 1960er Jahre Gerade im zeitlichen Rahmen zwischen den 1930er Jahren und den 1960er Jahren stellt die Ersteigungsgeschichte der großen Nordwände ein Spiegelbild der Geschichte des Alpinismus selbst dar: Auf dem Normalweg waren alle Gipfel bereits bestiegen; das Klettern war jedoch noch nicht so weit entwickelt, dass allein Wände und Schwierigkeitsgrade ohne Gipfel gesucht worden wären. Der Gipfel in Kombination mit einer großen, furchterregenden Wand war das bergsteigerische Ideal jener Zeit, und dementsprechend finden sich in den Begehungslisten der großen Nordwände bis in die 1960er Jahre hinein fast alle Spitzenbergsteiger der damaligen Zeit wieder (Gaston Rébuffat, Hermann Buhl, Kurt Diemberger und viele andere). Yvette Vaucher gelang 1965 die erste Frauenbesteigung der Matterhorn-Nordwand. Nachdem mit der Eiger-Nordwand seit dem Jahr 1938 alle großen Nordwände durchstiegen waren, gingen Bergsteiger nun zu Versuchen über, die ersten Winterdurchsteigungen durchzuführen oder alle großen Nordwände zu klettern. Gaston Rébuffat erreichte 1952 das Ziel, alle sechs großen Nordwände der Alpen zu durchsteigen. Seit den 1960er Jahren nahmen sich einige weitere Extrembergsteiger zum Ziel, die Durchsteigung mehrerer großer Nordwände, meist der „großen Drei“, innerhalb nur einer Saison durchzuführen. Als seit dieser Zeit das Niveau des Spitzenalpinismus immer weiter stieg und eine bessere Ausrüstung sowie fortschrittlichere Trainingsmethoden die Erfolgschancen erhöhten, wurden nun immer schwierigere, oft möglichst direkte Linien („Direttissime“) durch die großen Wände gelegt. Auch diese wurden bald im Winter geklettert. Seit 1970 Schließlich lockten in den 1970er und 1980er Jahren Einzelbegehungen auf Zeit vor allem in der Eiger-Nordwand Spitzenbergsteiger an. Danach sank allmählich das Interesse an Einzeldurchsteigungen der großen Nordwände auf ihren Normalwegen; anstelle dessen erklärten einzelne herausragende Alpinisten die Aneinanderreihung (enchaînement) von Nordwand-Durchsteigungen zu ihrem Ziel. Eine herausragende Leistung gelang der schottischen Bergsteigerin Alison Hargreaves, die alle sechs großen Nordwände der Alpen innerhalb einer Saison, immer allein kletternd und zusammengerechnet in weniger als 24 Stunden durchstieg. Sie durchstieg zudem im Jahr 1988 die Eiger-Nordwand, als sie mit ihrem Sohn im sechsten Monat schwanger war. In jüngster Vergangenheit machte der Schweizer Extrembergsteiger Ueli Steck von sich reden, indem er von Februar 2008 bis Januar 2009 die Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses und Matterhorn allesamt solo und in bis dato nicht für möglich gehaltenen Zeiten durchstieg. Für alle drei Wände benötigte er zusammengerechnet nur 7 Stunden und 5 Minuten. Heute schmückt sich kein Spitzenbergsteiger mehr mit der Durchsteigung einer großen Nordwand auf dem Normalweg, außer er bewältigt sie in außergewöhnlich kurzer Zeit. Selbst die Eiger-Nordwand hat ihren Nimbus von einst in Bergsteigerkreisen mittlerweile verloren. Wenn überhaupt, sind die großen Nordwände für Ausnahme-Alpinisten heute in erster Linie als Vorbereitungstouren für schwierigere Unternehmungen, etwa im Himalaya, zur Erstbegehung neuer, noch extremerer Sportkletter- oder Mixed-Routen, oder wie bei Ueli Steck fürs Klettern auf Zeit interessant. Die großen Nordwände im Einzelnen Die „großen Drei“ Erweiterte Gruppe Besondere alpinistische Leistungen Abgesehen von den Erstbegehungen, die aus den obigen Tabellen abzulesen sind, erregten vor allem Besteigungen auf Zeit oder Aneinanderreihungen von Begehungen der großen Nordwände Aufsehen: Einzelbesteigungen auf Zeit Die „großen Nordwände“ wurden sowohl in Seilschaften als auch solo (also von allein kletternden Bergsteigern) mit dem Ziel durchstiegen, in so kurzer Zeit wie möglich die Durchsteigung zu vollenden. Während in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der jeweiligen Erstdurchsteigung überwiegend Seilschaftsdurchsteigungen auf Zeit die besten Bergsteiger reizten, rückten im Zuge der Weiterentwicklung des Alpinismus und der gesteigerten Kletterfähigkeiten zunehmend Solobegehungen auf Zeit in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei sind die Begehungszeiten im Vergleich zu den Seilschaftsbegehungen deutlich kürzer, weil Solokletterer auf eine Sicherung und auf Seilmanöver weitgehend oder vollständig verzichten können und daher – zum Preis des meist höheren Absturzrisikos – viel rascher vorwärtskommen. Am 26. Juli 1950 durchstiegen die Österreicher Erich Waschak und Leo Forstenlechner die Eiger-Nordwand erstmals ohne Biwak und in nur 18 Stunden. Dieser Rekord sollte bis 1974 halten. 1959 durchstieg Dieter Marchart solo in nur fünf Stunden die Matterhorn-Nordwand. 1974 durchstiegen Reinhold Messner und Peter Habeler die Eiger-Nordwand in nur zehn Stunden, was über 30 Jahre lang als schnellste Seilschafts-Durchsteigung galt. 1982 durchstieg Thomas Bubendorfer die Grandes Jorasses-Nordwand und den Petit Dru-Nordpfeiler in jeweils sieben Stunden seilfrei und solo. 1983 durchstiegen unabhängig voneinander Thomas Bubendorfer und Reinhard Patscheider die Eiger-Nordwand jeweils solo in unter fünf Stunden. 1983 kletterten Thomas Bubendorfer und Peter Rohrmoser in 3:50 Stunden durch die Matterhorn-Nordwand. 1997 durchstieg Christoph Hainz die „Superdirettissima“ der Große-Zinne-Nordwand solo, im Winter und in nur acht Stunden. 2003 durchstieg Christoph Hainz die Eiger-Nordwand in nur 4½ Stunden. 2007 durchstieg der Schweizer Ueli Steck am 21. Februar die Eiger-Nordwand in 3:54 Stunden. 2008 durchstiegen Roger Schäli und Simon Anthamatten die Eiger-Nordwand als Seilschaft in 6:50 Stunden und unterboten damit die seit 1974 als schnellste Seilschaftsbegehung geltenden zehn Stunden von Reinhold Messner und Peter Habeler. Schon wenig später, am 23. Februar, wurde dieser Rekord von Dani Arnold und Stephan Ruoss unterboten, die für ihre Seilschaftsbegehung nur 6:10 Std. benötigten. 2008 verbesserte Ueli Steck seinen eigenen Rekord der Solo-Durchsteigung der Eiger-Nordwand auf 2:47:33 Stunden. 2008 durchstieg Ueli Steck die Grand-Jorasses-Nordwand auf der Colton-McIntyre-Route solo in einer neuen Rekordzeit von 2:21 Std. 2009 durchstieg Ueli Steck die Matterhorn-Nordwand auf der klassischen Schmid-Route solo in einer neuen Rekordzeit von 1:56 Std. und hält damit die Rekordzeiten aller drei großen Nordwände. 2011 verbesserte Dani Arnold den Rekord der Solo-Durchsteigung der Eiger-Nordwand auf 2:28 Stunden. 2015 verkürzte Ueli Steck seine Zeit auf der Heckmair-Route in der Eiger-Nordwand erneut auf 2:22:50, solo. Mehrfachbesteigungen Gaston Rébuffat war der erste Bergsteiger, dem die Mehrfachbesteigung aller sechs großen Nordwände gelang (bis 1952). Von 1961 bis 1962 durchstieg Leo Schlömmer als erster die großen drei Nordwände innerhalb eines Jahres. Von 1964 bis 1975 erkletterte Yvette Vaucher als erste Frau alle sechs großen Nordwände. Von 1977 bis 1978 durchstieg Ivano Ghirardini als erster die großen drei Nordwände solo in einem Winter. Bis 1979 durchstieg Norbert Joos die großen drei Nordwände im Alter von nur 19 Jahren. Bis 1983 durchstieg Thomas Bubendorfer die großen drei Nordwände sowie die Nordwände von Droites und Civetta im Alter von nur 21 Jahren solo, teilweise seilfrei und in Rekordzeit. 1991 durchstieg Robert Jasper die großen drei Nordwände solo innerhalb eines Jahres. 1992 und 1993 stieg Catherine Destivelle als erste Frau solo und im Winter durch die großen drei Nordwände. 1993 durchstieg Alison Hargreaves als erste Frau alle sechs großen Nordwände solo innerhalb eines Jahres und zusammengerechnet in weniger als 24 Stunden. 2008 durchstieg Roger Schäli die sechs großen Nordwände der Alpen im Winter innerhalb von 45 Tagen, was den bislang kürzesten Zeitraum darstellt, der zur Besteigung aller sechs Wände benötigt wurde. Im Winter 2014/2015 durchstieg der britische Alpinist Tom Ballard als erster die sechs großen Nordwände solo im Winter (und ohne Unterstützung durch Dritte). Serienbesteigungen („enchaînements“) Der aus dem Französischen stammende Begriff „enchaînement“ (wörtlich Verkettung, Aneinanderreihung) steht für Mehrfachbesteigungen oder Marathontouren, bei denen die Bergsteiger zwischen den einzelnen Etappen nicht zu einem Basislager zurückkehren, sondern mehrere eigenständige Touren am Stück durchführen. Dies trifft im engeren Sinne bei den nachfolgend genannten Unternehmungen zwar nur auf Christophe Profit zu; er konnte die Besteigungen in dieser Form nur mit Unterstützung von Hubschraubern durchführen. Im weiteren Sinne ist der Charakter eines Enchaînement jedoch zudem bei den Touren von Tomo Cesen, Erhard Loretan und Jean-Christophe Lafaille gegeben. 1985 durchstieg Christophe Profit die großen drei Nordwände solo in nur 22½ Stunden. 1986 durchstieg Tomo Česen die großen drei Nordwände solo im Winter innerhalb einer Woche. 1987 durchstieg Christophe Profit die großen drei Nordwände solo im Winter innerhalb von 42 Stunden. 1989 durchstieg Erhard Loretan 13 Nordwände in den Berner Alpen (darunter die des Eiger) innerhalb von 13 Wintertagen. 1995 durchstieg Jean-Christophe Lafaille innerhalb von 16 Tagen zehn alpine Nordwände solo, darunter die des Eiger und die des Matterhorns. Andere große Nordwände der Alpen Neben den sechs oben genannten Nordwänden weist eine Reihe weiterer Alpen-Nordwände ebenfalls einen hohen Schwierigkeits- und/oder Bekanntheitsgrad auf. Diese Wände werden oft als „große Wände“, „große Felswände“ oder „große Eiswände der Alpen“ bezeichnet, jedoch nicht stets mit dem Hinweis auf ihre nordseitige Lage. Sie werden fast nie unmittelbar in eine Reihe mit Eiger-, Matterhorn- und Grandes-Jorasses-Nordwand gestellt. Es handelt sich hier also eher um eine deskriptive als um eine kanonische Klassifizierung. Zu diesen anderen großen Nordwänden zählen vor allem: Kombinierte Wände oder Eiswände Les-Droites-Nordwand (R. Messner: „[Gilt] als die wildeste unter den Alpenwänden.“ Wollte man den Kreis der „großen Nordwände“ von sechs auf sieben erweitern, so müsste man dabei am ehesten die Droites-Nordwand berücksichtigen.) Grands-Charmoz-Nordwand („Einer der härtesten Aufstiege der Alpen“) Courtes-Nordwand Triolet-Nordwand Dent-d’Hérens-Nordwand Ortler-Nordwand Königspitze-Nordwand Fiescherhorn-Nordwand Felswände Die großen reinen Fels-Nordwände der Alpen befinden sich in den Ostalpen: Laliderer-Nordwand Triglav-Nordwand Westliche-Zinne-Nordwand Civetta-Nordwestwand Agnér-Nordwand Hochwanner-Nordwand Galerie Literatur Catherine Destivelle: Solo durch große Wände. AS Verlag, Zürich 2003, ISBN 3-909111-13-0 Alison Hargreaves: A Hard Day’s Summer: Six Classic North Faces Solo. Hodder & Stoughton, London 1995, ISBN 0-340-60602-9 Reinhold Messner: Die großen Wände. Von der Eiger-Nordwand bis zur Dhaulagiri-Südwand. BLG Buchverlag, 2000, ISBN 3-405-15981-4 Gaston Rébuffat: Sterne und Stürme. Die großen Nordwände der Alpen. GeraNova Bruckmann 1986, ISBN 3-7654-2058-1 Marco Volken: Badile. Kathedrale aus Granit. AS Verlag, 2006, ISBN 3-909111-21-1. Zu allen sechs Nordwänden vor allem S. 101 und 134. Die Geschichte der Geschwindigkeitsrekorde in der Eiger-Nordwand. In: ALPIN, Heft 6/07, S. 16 Uli Auffermann: Im Schatten der Nordwand: Triumph und Tragödie an Matterhorn, Eiger und Grandes Jorasses. Bruckmann Verlag, Oktober 2011, ISBN 978-3-7654-5626-8 Weblinks Anmerkungen und Einzelnachweise Weitere Daten sind diversen Internetseiten wie zum Beispiel den Homepages der jeweiligen Bergsteiger entnommen oder entstammen den oben genannten Buchpublikationen. Bergsteigen Alpinismus Geographie (Alpen)
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https://de.wikipedia.org/wiki/Zwergklapperschlangen
Zwergklapperschlangen
Die Zwergklapperschlangen (Sistrurus) sind eine Gattung innerhalb der Grubenottern (Crotalinae) und damit auch innerhalb der Vipern (Viperidae). Je nach Quelle handelt es sich um zwei oder drei nur in Nordamerika verbreitete Arten mit Körperlängen um 50 Zentimeter. Mit den Klapperschlangen (Crotalus) teilen sie das kennzeichnende Merkmal der Schwanzrassel, einer aus Hornringen bestehenden Struktur am Schwanzende, mit der rasselnde Geräusche als Warnlaut produziert werden können. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zu den Klapperschlangen besteht in der Beschuppung des Kopfes, die bei den Zwergklapperschlangen aus großen Schilden und bei den Klapperschlangen aus vielen Einzelschuppen besteht. Merkmale Äußere Merkmale Die Arten der Zwergklapperschlangen unterscheiden sich im Körperbau nur unwesentlich von den Klapperschlangen, bleiben jedoch deutlich kleiner als die meisten Angehörigen dieser Gattung. Zwergklapperschlangen erreichen im Normalfall eine Körperlänge von etwa 50 Zentimetern, die Massassauga (S. catenatus) kann maximal einen Meter, die beiden anderen Arten können maximal etwa 75 Zentimeter lang werden. Die Männchen werden dabei meist länger als die Weibchen, während letztere häufig massiver gebaut und damit schwerer sind. Stark gekielte Rücken- und Flankenschuppen umgeben die Körpermitte. Die Grundfärbung ist bei allen Zwergklapperschlangen dem Lebensraum angepasst und meistens grau bis braun, manchmal bläulich oder rötlich. Auf dem Rücken tragen sie häufig dunkle, rechteckige Flecken, die bei der gemeinen Zwergklapperschlange (S. miliaris) ein rötlich-braunes bis orangefarbenes Rückenband unterbrechen. Weitere Flecken können im Nackenbereich oder auf dem Kopf vorkommen. Die Bauchseite besteht wie bei den meisten Schlangen aus einer Reihe von ungekielten Bauchschuppen (Ventralia) und ist meist einfarbig hell. Ein Sexualdimorphismus neben der Größe existiert nicht, bei den nördlichen Populationen der Massassauga gibt es jedoch einen hohen Anteil melanistischer Tiere. Der eher flache Kopf setzt sich deutlich vom schlanken Hals ab. Er ist meistens dreieckig und hat seine breiteste Stelle hinter den Augen, in dieser Form aber nicht so ausgeprägt wie bei den Klapperschlangen. An dieser breitesten Stelle liegen die sehr großen Giftdrüsen. Die Schnauze ist meistens mehr oder weniger abgerundet. Die Beschuppung des Oberkopfes besteht im Unterschied zu den Klapperschlangen aus neun großen Kopfschilden. Bei Klapperschlangen ist der Oberkopf mit Ausnahme der Supraocularia (Überaugenschilde) mit kleinen Schuppen bedeckt und nur im Bereich der vorderen Schnauze haben sie weitere Schilde wie das unpaare Rostrale direkt über der Mundöffnung sowie die beiden Nasale (Schuppen um die Nasenöffnung), die die Nasenöffnungen überdecken. Die Schuppen und Schilde der Zwergklapperschlangen sind weitestgehend gleichförmig ohne hornähnliche Auswüchse. Der Kopf ist entsprechend der Körperfärbung meist einförmig dunkel, wobei sich nur bei der Zwergklapperschlange ein deutlich abgesetztes Schläfenband über die Augen zum Mundwinkel zieht. Der Schwanz ist im Vergleich zu anderen Schlangen sehr kurz. Da Zwergklapperschlangen bodenlebend sind, brauchen sie keinen langen Schwanz, der beim Klettern eingesetzt werden kann. Außerdem kann ein kurzer Schwanz einfacher zum Vibrieren gebracht werden, um die Schwanzrassel einzusetzen. Der Schwanz wird zur Spitze hin meist heller, eine Verdunklung davor gibt es nicht. Das Schwanzende wird durch die Rassel gebildet, die deutlich kleiner als die der Klapperschlangen ist und nur einen relativ leisen Ton hervorbringt, ähnlich dem Brummen eines großen Insekts. Es handelt sich dabei um die ehemaligen Schuppen der Schwanzspitze, die als einzige bei der Häutung nicht abgeworfen wird. Entsprechend wird die Rassel bei jeder Häutung verlängert. In freier Wildbahn brechen die Endglieder der Rassel gelegentlich ab, sodass die Anzahl nur bei jungen Schlangen der bisherigen Anzahl der Häutungen entspricht. Sinnesorgane Die Sinnesorgane der Klapperschlangen konzentrieren sich, wie bei allen Schlangen, auf den Kopf. Dabei spielen vor allem die Augen, das Jacobsonsche Organ sowie die Grubenorgane eine wichtige Rolle. Die Augen sind speziell an die Nachtsicht angepasst, die senkrechten Pupillen sind daher tagsüber schlitzförmig verengt. Die Iris entspricht in ihrer Färbung meistens der Farbe des Kopfes oder des Farbstreifens, der über das Auge führt, und ist entsprechend bei der Zwergklapperschlange und der Massassauga dunkelbraun bis schwarz und bei der Mexikanischen Zwergklapperschlange (S. ravus) hell. Das Jacobsonsche Organ entspricht dem anderer Schuppenkriechtiere. Es liegt im Oberkiefer und analysiert die Moleküle, die durch die beiden Zungenspitzen an sie herangeführt werden. Im Sinnesorgan enden Nervenfasern, die über den Riechnerv mit dem Gehirn verbunden sind. Eine Besonderheit der Grubenottern und damit auch der Zwergklapperschlangen ist das beidseitig zwischen den Nasenlöchern und den Augen gelegene Grubenorgan, mit dessen Hilfe Wärmestrahlung wahrgenommen wird. Mit Hilfe der Grubenorgane können Zwergklapperschlangen wie Klapperschlangen Temperaturdifferenzen von 0,2 bis 0,4 °C ausmachen und auf diese Weise die meist warmblütigen Beutetiere sehr gut erkennen. Auch Eidechsen können erkannt werden, da diese meist etwas wärmer als die Umgebung sind. Giftapparat Der Giftapparat der Zwergklapperschlangen besteht wie bei den Klapperschlangen aus den langen Giftzähnen und den Giftdrüsen, die im Kopf hinter den Augen lokalisiert sind. Die Giftzähne sitzen bei allen Vipern am Vorderende des stark verkürzten Oberkieferknochens und liegen im Ruhezustand nach hinten in den Mundraum eingeklappt, sie werden beim Öffnen des Mauls ausgeklappt. Sie liegen in einer fleischigen Scheide, die sich beim Ausklappen zurückzieht und die Zähne freigibt. Die Zähne enthalten einen Giftkanal, der bis zur Giftdrüse führt, mit einer Austrittsöffnung nahe der Zahnspitze (Röhrenzahn, solenoglypher Zahn). Die Giftdrüsen sind von Muskulatur umgeben, die beim Biss das Gift aus den Drüsen drückt. Trockenbisse, also Bisse ohne Giftabgabe, sind bei Klapperschlangen eher selten. Verbreitung und Lebensraum Verbreitungsgebiet Das Verbreitungsgebiet der Massassauga zieht sich diagonal durch die USA und reicht dabei im Süden bis hinter den östlichen Bereich der Grenze Mexikos und im Norden, im Bereich der Großen Seen, auch nach Süd-Ontario, Kanada, hinein. Südöstlich schließt sich das Verbreitungsgebiet der Zwergklapperschlange an, das bis zu den südlichen und östlichen Küsten der USA reicht. Die Mexikanische Zwergklapperschlange findet sich dagegen nur in einem isolierten Gebiet im Hochland Südmexikos. Lebensraum Alle drei Arten sind Bodenbewohner, man findet sie nur selten in Bäumen oder Büschen oder in Gewässern, obwohl vor allem die Massassauga gut schwimmen kann. Die östliche Unterart der Massassauga (S. catenatus catenatus) lebt dabei vor allem im Osten ihres Verbreitungsgebietes in Wald- und Sumpfgebieten, die anderen beiden Unterarten sowie die anderen Arten der Zwergklapperschlangen bevorzugen dagegen trockenere Gebiete und sind in Steppen- bis Wüstengebieten zu finden. Die Zwergklapperschlange kommt in Teilen ihres Verbreitungsgebietes zwar ebenfalls in Feuchtgebieten vor, bevorzugt hier jedoch gewöhnlich trockene Mikrohabitate. Die Mexikanische Zwergklapperschlange ist eine ausgesprochene Hochlandart. Lebensweise Aktivität Die Aktivität der Zwergklapperschlangen ist, wie bei allen wechselwarmen Wirbeltieren, sehr stark abhängig von der Temperatur und entspricht der der Klapperschlangen. Entsprechend ändern sich die Aktivitätszeiten vor allem in Gebieten mit ausgeprägten Jahreszeiten. Die Massassauga ist in ihrem nördlichen Verbreitungsgebiet entsprechend während der wärmsten Jahreszeit vor allem nacht- und dämmerungsaktiv. Im Herbst und Frühjahr verschiebt sich diese Aktivität in die frühen Morgenstunden oder sogar in die Tagesstunden, in denen die Sonnenstrahlung zur Erwärmung benötigt wird. Während des Winters halten sie dagegen eine Winterruhe und ziehen sich in ein geeignetes Versteck zurück. Im Frühjahr ist bei allen Arten eine erhöhte Gesamtaktivität feststellbar, da in dieser Zeit die Paarungszeit liegt und die Männchen nach potentiellen Geschlechtspartnerinnen suchen. Ernährung Zwergklapperschlangen ernähren sich im Gegensatz zu den meist größeren Klapperschlangen vor allem von Eidechsen und Amphibien, nur sehr selten dagegen von nestjungen Vögeln oder kleinen Säugetieren. Ihre Beute jagen die Zwergklapperschlangen wie die Klapperschlangen als Lauerjäger. Dabei warten sie an geeigneten Stellen so lange, bis ein Beutetier mit der richtigen Größe vorbeikommt. Die Beute wird durch die Sinnesorgane des Kopfes wahrgenommen und lokalisiert, wobei die Erkennung von wechselwarmen Tieren deutlich schwieriger ist als die der im Vergleich zur Umwelt sehr warmen Säugetiere. Beim Angriff stößt die Schlange den Vorderkörper nach vorn und öffnet dabei das Maul, wobei die Giftzähne ausgeklappt und dann in die Beute geschlagen werden. Die Beute wird danach meistens festgehalten, da Eidechsen keine Wärmespur hinterlassen und entsprechend nicht verfolgt werden können. Fortbewegung Die Fortbewegung erfolgt bei Klapperschlangen wie bei anderen Schlangen auch, vor allem durch Schlängeln, wobei sich die Tiere mit Teilen ihres Körpers von Unebenheiten des Untergrundes seitlich abstoßen, oder durch Kriechen auf den Bauchschuppen, wobei immer erst der Vorderkörper vorgeschoben und dann der Hinterkörper nachgezogen wird. Fortpflanzung und Entwicklung Alle Zwergklapperschlangen sind lebendgebärend (ovovivipar). Unterschiede bestehen bei den Arten vor allem in der Größe des Wurfes und der Paarungs- und Geburtszeiten. Die Paarungszeit fällt in das Frühjahr. Die Jungschlangen kommen dann im Sommer zur Welt, eine zweite Generation kann nach der Überwinterung im Frühjahr folgen. Sowohl die Männchen als auch die Weibchen verpaaren sich in der Paarungszeit mit möglichst vielen Partnern. Wie bei den Klapperschlangen kann es zwischen Männchen zu ritualisierten Konkurrenzkämpfen kommen, um einzelne Weibchen zu begatten. Sie finden die Weibchen über eine Duftspur von Pheromonen, der sie folgen. Bei den Paarungskämpfen umschlingen sich die konkurrierenden Männchen mit den Vorderkörpern und versuchen dabei, den Gegner zu Boden zu drücken. Die Paarung erfolgt wie bei anderen Schlangen dadurch, dass das Männchen seinen Hemipenis in die Kloake des Weibchens einführt und sein Sperma abgibt. Die Ovulation erfolgt erst nach der Begattung. Bei den Arten, die sich im Sommer oder Herbst verpaaren, kann zwischen den beiden Ereignissen eine relativ lange Zeit liegen, in der die Spermien im weiblichen Geschlechtstrakt in einer speziellen Kammer gelagert werden. Nach der Ovulation kommt es zur Befruchtung der Eier, womit die Entwicklung der Jungschlangen beginnt. Die trächtigen Weibchen verbringen deutlich mehr Zeit damit, sich zu sonnen und damit den Körper aufzuwärmen und sammeln sich bei einigen Arten an besonders geeigneten Stellen. Bei der Geburt sind die Jungschlangen nur vor einer dünnen Eihülle eingeschlossen, aus der sie nach wenigen Minuten ausbrechen und sich von der Geburtsstelle entfernen. Brutpflege ist bei Zwergklapperschlangen unbekannt. Wie bei allen anderen Schlangen, kommt es auch bei den Zwergklapperschlangen zu regelmäßigen Häutungen, um ein Wachstum zu ermöglichen. Die erste Häutung erfolgt dabei im Alter von wenigen Tagen, danach häuten sich die Jungschlangen mehrmals im Jahr. Nach Erreichen des Erwachsenenalters nimmt die Anzahl der Häutungen auf durchschnittlich zwei bis drei pro Jahr ab, wobei die erste Häutung meistens im Frühjahr nach der Winterruhe stattfindet. Anders als alle anderen Schlangen werden bei Klapperschlangen und Zwergklapperschlangen die Schuppen der Schwanzspitze nicht gehäutet, und diese bilden die mit jeder Häutung länger werdende Schwanzrassel. Dabei kommt es in der Phase vor der Häutung erst zu einer Verdickung der Hornschicht der Schwanzschuppe, darunter bildet sich die neue Schuppe aus. Die ältere verhakt sich in der neuen Schuppe und kann deshalb nicht abgeworfen werden. Fressfeinde, Droh- und Abwehrverhalten Zwergklapperschlangen haben wie Klapperschlangen trotz ihrer effektiven Verteidigungsmöglichkeiten durch ihr hochpotentes Gift eine Reihe von Feinden, die sie töten und auch fressen. Dazu gehören fleischfressende Säugetiere wie Füchse, Kojoten und auch Haushunde und Hauskatzen, verschiedene Vögel wie etwa Falken und der Wegekuckuck (Geococcyx californianus) sowie verschiedene Schlangenarten. Zu Letzteren gehören vor allem die ungiftige Königsnatter (Lampropeltis getula), die gegen das Gift der Zwergklapperschlangen immun ist und diese durch Umschlingen tötet, sowie größere Klapperschlangenarten. Die Hauptverteidigungsstrategie der Klapperschlangen ist ihre Tarnung, die sie durch ihre Färbung sowie ihr Verhalten erhalten. Außerdem verstecken sie sich häufig unter Steinen oder in Gebüschen. Wenn diese passive Verteidigung nicht funktioniert, kommt es zu einer aktiven und aggressiven Verteidigung, die vor allem gegenüber großen Säugetieren eingesetzt wird. Sie rollen sich dann am Boden zusammen und benutzen ihre Schwanzrassel, um einen deutlichen Warnlaut zu produzieren, dabei fixieren sie den potenziellen Gegner und beißen im Extremfall auch zu. Die Warnung durch die sehr laute Rassel ist vor allem bei Huftieren sehr effektiv, die eher zufällig auf Zwergklapperschlangen treffen und diese zertreten könnten. Systematik Externe Systematik Die nächsten Verwandten der Zwergklapperschlangen stellen wahrscheinlich die Klapperschlangen dar, die als einzige andere Schlangengattung eine Schwanzrassel ausgebildet haben. Sie teilen weitere Merkmale, darunter beispielsweise die sehr stark an trockene und warme Habitate angepasste Lebensweise. Als Hauptunterscheidungsmerkmal haben sie eine andere Beschilderung des Kopfes, die bei den Zwergklapperschlangen aus mehreren großen Schilden besteht und bei den Klapperschlangen in zahlreiche Einzelschuppen aufgelöst ist. Ebenfalls in die nähere Verwandtschaft der Klapperschlangen und Zwergklapperschlangen werden die Dreieckskopfottern (Agkistrodon) sowie die Amerikanischen Lanzenottern (Bothrops) gestellt. Ein mögliches Kladogramm der näheren Verwandten der Klapperschlangen ist entsprechend: *: Crotalinae; nur angegebene Gattungen Neben diesen Untersuchungen gibt es auch einige Arbeitsgruppen, die die Monophylie der Klapperschlangen in Frage stellen und die Zwergklapperschlangen als Teil der Gruppe ansehen. Begründet wird dies dadurch, dass der einzige wesentliche Unterschied in der Beschuppung des Kopfes liegt und diese bereits bei den Vorfahren beider Gruppen in der Form großer Schuppen ausgebildet und daher bei den Zwergklapperschlangen als plesiomorph betrachtet werden muss. Diese Annahme wird durch molekulargenetische Studien teilweise bestätigt, teilweise jedoch auch widerlegt. Arten Innerhalb der Zwergklapperschlangen sind nur drei Arten mit einigen Unterarten bekannt:: Massassauga (Sistrurus catenatus (, 1818)) Zwergklapperschlange (Sistrurus miliarius (, 1766)) Prärie-Massasauga (Sistrurus tergeminus (, 1823)) Nach neueren Untersuchungen wird die Mexikanische Zwergklapperschlange (Sistrurus ravus (, 1865)) als Schwestergruppe aller Klapperschlangen betrachtet und entsprechend als Crotalus ravus eingeordnet. Schlangengift Das Gift der Zwergklapperschlangen entspricht in seiner Grundzusammensetzung dem der Klapperschlangen und ist wie die meisten Viperngifte hämotoxisch, es zerstört also Blutzellen und die Wände der Blutgefäße. Es unterscheidet sich damit von den lähmenden Neurotoxinen, die vor allem bei Giftnattern zu finden sind. Hämotoxine führen vor allem zu Gewebszerstörungen, inneren Blutungen und Schwellungen und sind sehr schmerzhaft, im Vergleich zu den meisten Neurotoxinen töten sie allerdings weniger schnell. Unter den Zwergklapperschlangen gibt es, anders als bei den Klapperschlangen, keine Arten, die auch neurotoxische Komponenten produzieren. Die genaue Zusammensetzung des Giftes ist bis heute nicht bekannt und variiert zwischen den Arten. Im Gegensatz zu den Giften der Klapperschlangen sind die der Zwergklapperschlangen weit weniger gut erforscht. Menschen und Klapperschlangen Giftwirkung beim Menschen Das Gift der Zwergklapperschlangen ähnelt dem der meisten Klapperschlangen. Aufgrund der eher kleinen Giftmengen, die von den Tieren injiziert werden, ist es allerdings vergleichsweise harmlos. Hinzu kommen die kurzen Giftzähne, die ein tiefes Eindringen in das Gewebe nicht ermöglichen. Durch die oft schnelle Verfügbarkeit ärztlicher Hilfe und verschiedener Gegengifte kommt es meistens nur zu einer stark schmerzenden Schwellung der Bissstelle mit lokaler Blutzellen- und Gewebezerstörung. Todesfälle durch den Biss von Zwergklapperschlangen sind unbekannt. Bedrohung und Schutz Zwergklapperschlangen werden in Teilen ihres Lebensraumes vor allem in den USA ebenso wie die Klapperschlangen stark verfolgt. Hinzu kommen Wildfänge für die Terrarienhaltung. Neben der aktiven Bejagung spielt vor allem eine Zerstörung des Lebensraumes eine große Rolle, durch die diese Arten zurückgedrängt werden. In der Roten Liste bedrohter Tierarten der IUCN ist allerdings keine der Arten enthalten. Forschungsgeschichte 1758 beschrieb Carl von Linné in seiner Systema naturae die Klapperschlangen sowie die Wald- und die Schauer-Klapperschlange, die bereits vorher in verschiedenen Veröffentlichungen Erwähnung fanden. Die Zwergklapperschlange wurde erst 1766 als Crotalus miliarius beschrieben. Die Massassauga erkannte 1818 Constantine Samuel Rafinesque als eigene Art, die Mexikanische Zwergklapperschlange wurde 1865 durch Edward Drinker Cope entdeckt. Erst 1884 beschrieb Samuel Garman die Zwergklapperschlangen als eigene Gattung Sistrurus. Mythologie und Kulturgeschichte In der Mythologie und Kulturgeschichte gibt es in der Regel keine Trennung zwischen Klapperschlangen und Zwergklapperschlangen, letztere finden zudem als sehr kleine Arten sehr viel weniger Beachtung als die besonders großen oder besonders giftigen Klapperschlangenarten. Die auf beide Gattungen zutreffenden Aspekte der Kulturgeschichte werden entsprechend bei der Mythologie und Kulturgeschichte der Klapperschlangen behandelt. Quellen und weiterführende Informationen Zitierte Quellen Die Informationen dieses Artikels entstammen zum größten Teil den unter Literatur angegebenen Quellen, darüber hinaus werden folgende Quellen zitiert: Literatur Chris Mattison: Rattler! – A natural history of Rattlesnakes. Blandford, London 1996, ISBN 0-7137-2534-6. Dieter Schmidt: Schlangen. Biologie, Arten, Terraristik. bede-Verlag, Ruhmannsfelden 2006, ISBN 3-89860-115-3. Jonathan A. Campbell, Edmund D. Brodie (Hrsg.): The Biology of the Pit Vipers. Selva, Tyler, Texas 1992. Weblinks Rattlesnake pit (Klapperschlangen.de) – Umfassende Informationsseite zu Klapperschlangen, Schwerpunkt Terraristik Grubenottern
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https://de.wikipedia.org/wiki/Henry%20Timrod
Henry Timrod
Henry Timrod (geboren 8. Dezember 1828 in Charleston, South Carolina; gestorben 7. Oktober 1867 in Columbia, South Carolina) war ein amerikanischer Dichter und Journalist. Er ist insbesondere für seine während des Amerikanischen Bürgerkriegs geschriebenen Gedichte bekannt, in denen er die abtrünnigen Südstaaten glorifizierte. Leben Kindheit und Jugend Henry Timrod wurde als drittes von vier Kindern des deutschstämmigen Buchbinders William Henry Timrod, eines Veteranen der Seminolenkriege, und seiner Frau Thyrza Prince geboren. Schon sein Vater William war ein Gelegenheitsdichter und veröffentlichte 1814 einen Lyrikband. Seine Werkstatt war in den 1820er und 1830er Jahren ein bevorzugter Treffpunkt der Literaten in Charleston. Diese Stadt, in der Timrod aufwuchs und in der er den Großteil seines Lebens verbringen sollte, war vor allem im 19. Jahrhundert eines der kulturellen Zentren der Südstaaten und eine der wenigen, in denen sich überhaupt eine erwähnenswerte literarische Kultur entwickelte. William Henry Timrod starb schon 1838, doch öffnete sein hohes Ansehen in Charleston seinem Sohn Henry auch in späteren Jahren viele Türen, die ihm sonst angesichts der recht begrenzten finanziellen Mittel seiner Familie wohl verschlossen geblieben wären. So besuchte Henry ab 1840 die Classical School des englischen Einwanderers Christopher Cotes, die zu dieser Zeit die bevorzugte Privatschule für den Nachwuchs der Oberschicht Charlestons war. Hier erhielt Timrod eine umfassende klassische Bildung und wurde mit der lateinischen und griechischen Dichtung vertraut. In seiner Schulzeit begann auch Timrods Freundschaft mit Paul Hamilton Hayne, der ihn zu Lebzeiten stets in seinen dichterischen Ambitionen unterstützen sollte und der nach Timrods Tod maßgeblich dazu beitrug, dass sein Werk einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Ein weiterer Schulkamerad war Basil Lanneau Gildersleeve, der später der bedeutendste amerikanische Altphilologe seiner Zeit werden sollte. 1845 begann Timrod ein Studium an der University of Georgia in Athens, brach es aber nach kaum einem Jahr aus unbekannten Gründen ab und kehrte 1847 nach Charleston zurück. Dort begann er in der Kanzlei des renommierten Anwalts James L. Petigru eine juristische Ausbildung; da der Bundesstaat South Carolina zu dieser Zeit über keine Rechtshochschule verfügte, studierten angehende Juristen bei einem approbierten Anwalt. Die 1850er Jahre: Leben als Landschullehrer Auch die Ausbildung zum Anwalt brach Timrod schließlich 1849 ab, da er zu der Erkenntnis gelangt war, dass die Juristerei eine „geschmacklose Beschäftigung“ sei. Obgleich er keinen Universitätsabschluss vorzuweisen hatte, spielte er mit dem Gedanken, eine akademische Laufbahn, vorzugsweise als klassischer Philologe, einzuschlagen, und arbeitete offenbar an einer Neuübersetzung der Gedichte Catulls. Stattdessen zwang ihn die Mittellosigkeit zu einer bescheideneren Laufbahn als Lehrer. In den 1850er Jahren verdingte er sich als Lehrer an verschiedenen Landschulen, aber auch als Privatlehrer für die Kinder von Plantagenbesitzern in North und South Carolina, kehrte aber nach Charleston zurück, wann immer es ihm möglich war. Hier wurde er ein führendes Mitglied des Literaten- und Akademikerzirkels, der sich um den Buchladen John Russells scharte und zu dem neben Timrod und Hayne unter anderem William Gilmore Simms zählte. Timrod wurde zu einem der produktivsten Beiträger der Literaturzeitschrift Russell’s Magazine, die der Zirkel 1857 ins Leben gerufen hatte. Daneben veröffentlichte er vor allem in The Southern Literary Messenger. 1859 ging sein erster und einziger Gedichtband beim Bostoner Verlagshaus Ticknor and Fields in Druck. In den 1850er Jahren, die von der Zuspitzung des Konflikts zwischen Nord- und Südstaaten geprägt waren, zeigte sich Timrod zunächst kaum am politischen Zeitgeschehen interessiert und interessierte sich eher für das Dichten, die Natur und schöne Frauen, als für die Sklaverei- und Sezessionsdebatte. Bürgerkrieg und Tod Dies änderte sich, als der Konflikt zum Jahresende 1860 eskalierte. Timrods Heimatstaat South Carolina erklärte seinen Austritt aus der Union, ein Schritt, dem sich 1861 die weitaus meisten Südstaaten anschlossen. Anlässlich der Gründung der Konföderierten Staaten von Amerika am 4. Februar 1861 in Montgomery schrieb Timrod, beeindruckt vom patriotischen Überschwang dieser Tage, eine Ode auf die strahlende Zukunft der neuen Nation. Dieses Gedicht wurde unter dem Titel Ethnogenesis („Ethnogenese“) in vielen Südstaatenzeitungen nachgedruckt, vielerorts als Flugblatt verteilt und erwies sich so als wirkungsvolle Propaganda. Mit weiteren Gedichten, insbesondere The Cotton Boll („Die Baumwollkapsel“, September 1861) und Carolina (März 1862), in denen er die Sezession der Südstaaten rechtfertigte und ihre moralische Überlegenheit unterstrich, etablierte sich Timrod als Lobredner der Sache des Südens und wurde landesweit bekannt. Diese und die folgenden Gedichte brachten Timrod zwar Ruhm, aber kaum Geld ein, zumal die Wirtschaft der Südstaaten mit der Dauer des Krieges dem Zusammenbruch entgegensteuerte. Am 12. April begann mit der Beschießung von Fort Sumter vor der Hafeneinfahrt von Timrods Heimatstadt Charleston der Amerikanische Bürgerkrieg. Im Zuge der allgemeinen Mobilmachung schloss sich Timrod zunächst im April 1861 der Miliz von Hardeeville an, wohin ihn eine Anstellung als Lehrer verschlagen hatte; im Dezember des Jahres trat er als Gefreiter des 20. South Carolina Infanterieregiments in die Konföderiertenarmee ein. Da Timrod jedoch gesundheitlich geschwächt war – wohl schon um 1858 wurde bei ihm Tuberkulose diagnostiziert –, wurde er vom Regimentskommandeur, Timrods Freund Laurence M. Keitt, zunächst mit einer Stabsstelle bedacht, schließlich aber freigestellt. Im Frühjahr 1862 nahm Timrod eine Anstellung als Kriegsberichterstatter für die Charlestoner Zeitung Mercury an und machte sich auf den Weg auf die Schlachtfelder des Westens. Im April des Jahres erreichte er Corinth, Mississippi, wohin sich nach der Niederlage in der Schlacht von Shiloh die Truppen General Beauregards zurückgezogen hatten. Unter dem Decknamen Kappa berichtete er in seinen Depeschen nach Charleston von den katastrophalen Zuständen im Lager, doch war sein zartes Gemüt für die Aufgaben eines Kriegskorrespondenten nicht geschaffen. Mit dem Rückzug der Truppen Beauregards in der Schlacht um Corinth floh auch Timrod vor dem Vormarsch der Unionstruppen und kehrte über Mobile, Alabama nach Charleston zurück. Die letzten Kriegsjahre brachten Timrod zunächst persönliches Glück und beruflichen Erfolg, doch trafen ihn der Krieg und seine Folgen schließlich auch selbst. Im Januar 1864 wurde Timrod Herausgeber der neu gegründeten Zeitung The South Carolinian in Columbia, doch blieben die Gehaltszahlungen aus, und als die Truppen Shermans im Februar 1865 die Stadt besetzten, musste Timrod fliehen; die Redaktionsräume wurden zerstört. Im Februar 1864 heiratete Timrod seine ehemalige Schülerin und langjährige Verlobte Katie Godwin. Am Weihnachtstag kam sein Sohn Willie zur Welt, doch schon im Oktober 1865, einige Monate nach der Kapitulation der Südstaaten, starb der Säugling; Timrod hielt seine Trauer im Gedicht Our Willie fest. Ihm selbst setzte zunehmend die Tuberkulose zu. 1867 starb er verarmt in Columbia. Werk Liebes- und Naturgedichte Timrods Anfänge als Dichter fallen in seine Schul- und Studienzeit. Aus diesem Frühwerk sind rund 80 Gedichte im Manuskript erhalten, zumeist recht hölzerne Imitationen gediegen-höflicher Liebesdichtung, wie sie in der englischen Dichtung seit der Zeit der cavalier poets verbreitet war, deren Motive und Konventionen aber schon bald zum Klischee erstarrt waren. Gerade in den amerikanischen Südstaaten, die sich in ihrem Selbstverständnis als Ständegesellschaft nach europäischem Muster gefielen und entsprechend eine gewisse aristokratische Kultiviertheit gerade in Liebesdingen als erstrebenswert erachteten, war diese Art von Poetasterei ein gesellschaftlich sanktionierter Zeitvertreib für den angehenden Südstaaten-Gentleman. Manche der Gedichte sind neoklassizistisch getönte Oden an die Liebe (oder an Cupido, den Liebesgott), die weitaus meisten sind jedoch an junge Damen gerichtet und belobigen deren Schönheit, Reinheit und Raffinesse. An den Namen, die sich durch die Widmungen und Gedichte ziehen – Marie, Rose, Isabel, Anne, Genevieve usw. – lässt sich ablesen, dass Timrods Liebeleien ebenso zahlreich wie flüchtig waren. Viele dieser Gedichte waren offenbar für die Poesiealben junger Damen in Athens und Charleston bestimmt, und nur für wenige dieser Fingerübungen bemühte sich Timrod später um eine Publikation. Das erste veröffentlichte Gedicht Timrods, ein Sonett, signiert mit T. H. (also seinen umgekehrten Initialen), erschien am 8. September 1846 in der Charlestoner Tageszeitung Evening News. Ab 1849 erschienen Timrods Gedichte regelmäßig unter dem Pseudonym Aglaus im Southern Literary Messenger; erst 1856 gab sich Timrod als der Autor hinter dem Pseudonym zu erkennen und veröffentlichte fortan unter seinem Klarnamen. Unter dem Einfluss der Lektüre britischer Dichter, insbesondere William Wordsworth, Robert Browning und Tennyson, wandte sich Timrod zunehmend einer romantischen Weltsicht und einem dementsprechenden Dichtungsbegriff zu. So haben viele seiner Gedichte der 1850er Jahre die Einsamkeit des Dichter-Genies zum Thema, das sich in die Natur begibt, um dort Inspiration zu schöpfen. Der optimistischen Wordsworthschen Vorstellung von der poetischen Subjektivität, die als Mittler zwischen Geist und Natur zum privilegierten Erkenntnismodus aufgewertet wird, gesellt sich jedoch in einigen Gedichten Timrods ein merklicher Zweifel zu. Besonders in The Summer Bower und The Stream Is Flowing from the West vermag der Dichter es nicht, dem genius loci einen Moment der Erhabenheit abzugewinnen; der Hain und der Strom erscheinen hier nicht als Ort des Trostes und der Welterkenntnis, sondern vielmehr als stumme, geist- wie sinnlose Objekte, die dem Dichter gegenüber gleichgültig sind und ihm allenfalls die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit aufzeigen können: The Summer Bower No adequate excuse, nor cause, nor end, I, with these thoughts, and on this summer day, Entered the accustomed haunt, and found for once No medicinal virtue. Not a leaf Stirred with the whispering welcome which I sought, But in a close and humid atmosphere, Every fair plant and implicated bough Hung lax and lifeless. Something in the place, Its utter stillness, the unusual heat, And some more secret influence, I thought, Weighed on the sense like sin. The Stream Is Flowing from the West The stream is flowing from the west; As if it poured from yonder skies, It wears upon its rippling breast The sunset’s golden dyes; […] Alas! I leave no trace behind — As little on the senseless stream As on thy heart, or on thy mind Timrods Zweifel an seiner eigenen dichterischen Berufung drücken sich auch in seinem längsten Gedicht, A Vision of Poesy (1858/59), aus. Der Dichter, beschwert von jahrelangem Hadern mit der Muse, wird hier erst auf dem Sterbebett von Poesy, der personifizierten Dichtkunst, erhört. Am deutlichsten formulierte Timrod seine Poetologie jedoch in einem theoretischen Aufsatz, der 1857 in Russell’s Magazine als Replik auf eine Polemik William J. Graysons gegen die englischen Romantiker erschien. Während Grayson, ein Verfechter neoklassizistischer Stilideale und der common-sense-Philosophie, der berühmten Definition in Johnsons Dictionary of the English Language folgend einen Dichter schlicht einen jeden Menschen nannte, der seine Schriften in Versen zu verfassen beliebt, bekräftigte Timrod seinen Glauben an eine poetische „Essenz“. Ein Dichter, so Timrod, müsse über eine außerordentliche Empfindsamkeit verfügen, um wie Wordsworth in Momenten „ekstatischer Kontemplation“ in seiner Seele „die Gegenwart des Rätselhaften und Universellen“ zu verspüren. Nur der Dichter als „Medium starker Empfindungen“ kann diese mystischen Momente in bildhafter, konkreter, sinnlicher und bündiger Sprache darstellen und so den Leser an diesen Momenten des Erhabenen teilhaben lassen. Letztlich erweist sich Timrods Dichtungsliteratur in diesem Aufsatz als ethisch motiviert: Timrod verwirft Poes reinen Ästhetizismus, da die Schönheit zwar eine, aber nicht die einzige Quelle der Dichtkunst sei; Kraft und Wahrheit seien ebenfalls unabdingbar. Als vorbildhaft beschreibt Timrod daher die Dichtung Tennysons, der sich nicht scheue, seine Kunst zum „Vehikel großer moralischer und philosophischer Lehren zu machen.“ Kriegsgedichte Charakter und Funktion der Dichtung Timrods änderten sich grundlegend mit der Sezession seines Heimatstaats South Carolina, der Gründung der Südstaatenkonföderation und dem Ausbruch des Bürgerkriegs. Die romantische Innerlichkeit wich nun einem politischen Sendungsbewusstsein. Die Sezessionsfrage war seit Jahrzehnten ein auch emotional außerordentlich aufgeladenes Thema. Schon Timrods Vater ließ sich 1828 angesichts der ersten Nullifikationskrise zum Verfassen einer Ode hinreißen, in der er allerdings an den Unionsgedanken seiner Mitbürger appellierte. Mit der neuerlichen Eskalation der Frage 1860/1861 erschien wiederum eine Vielzahl von Gelegenheitsgedichten, die die Sache der Union (so etwa Julia Ward Howes Battle Hymn of the Republic) oder der Sezession (wie James Ryder Randalls Maryland, my Maryland) beschworen. In diesem Klima des patriotischen Überschwangs verfasste Timrod 1861 anlässlich der Gründung der Konföderierten Staaten von Amerika eine Ode, die unter dem Titel Ethnogenesis bald weite Verbreitung fand. Darin beschreibt er in einer an Milton gemahnenden apokalyptisch anmutenden Bildsprache die „Geburt“ einer eigenen Nation der amerikanischen Südstaaten, die nun ihren gebührenden Platz unter den anderen Nationen der Welt einnehmen werde. Timrod erhöht den Konflikt zu einem ethisch-religiösen Konflikt: Der Norden herrsche von einem „bösen Thron“, habe mit Gott gebrochen und predige einen ebenso hemmungslosen wie unchristlichen Materialismus: Die Gesellschaft des Südens habe hingegen die organische Einheit mit der Schöpfung gewahrt, sei mit sich und ihrer Scholle im Reinen: But every stock and stone Shall help us; but the very soil, And all the generous wealth it gives to toil, And all for which we love our noble land, Shall fight beside, and through us; sea and strand, Sollte der Norden es wagen, über dieses „glückliche Land“ herzufallen, so werde der Süden mit Gottes Hilfe den Konflikt zweifelsohne für sich entscheiden und könne fortan die ganze Welt mit seinem Geist erfüllen, so wie der Golfstrom arktische Ländereien mit seiner Wärme erfülle. In Ethnogenesis verwendet Timrod auch erstmals die Baumwolle, die Haupterwerbsquelle des Südens, als Symbol der Südstaaten. So wie der russische Schnee die Truppen Napoleons besiegt habe, so werde die Baumwolle, der „Schnee des südlichen Winters“, den Süden vor Unbill bewahren. Zum zentralen Symbol wird die Baumwolle in The Cotton Boll („Die Baumwollkapsel“), Timrods zweiter „pindarischer Ode“, wie er sie selbst bezeichnete. Darin erhebt er die blütenweiße Baumwolle zum Sinnbild für die unbefleckte Kultur der Südstaaten schlechthin. Die Sklaverei, auf der der Baumwollanbau im Süden aufbaute, wird dabei im gesamten Werk Timrods niemals explizit angesprochen; der einzige Verweis auf die Sklaven der Baumwollfelder ist bezeichnenderweise eine synekdochische Reduktion auf die „dunklen Finger“, die die Baumwollkapseln pflücken: Small sphere! (By dusky fingers brought this morning here And shown with boastful smiles) Pikant ist in diesem Zusammenhang, dass in den 1930er Jahren eine Recherche der Genealogie seiner Familie zu dem Ergebnis kam, dass Timrod wohl selbst mindestens zu einem Sechzehntel afrikanischer Abstammung war; ein Gerichtsdokument aus dem 18. Jahrhundert sprach seiner Urgroßmutter als Schwarzer das Recht ab, vor Gericht auszusagen, und ihre Tochter Sarah Faesch, Timrods Großmutter mütterlicherseits, wird im 1790 durchgeführten Zensus als freie Schwarze geführt. Mit der zunehmenden Dauer und Härte des Krieges gesellte sich in Timrods Gedichten zum Hurrapatriotismus auch ein besinnlicherer Ton; so ist etwa in Charleston (1863) die Friedenssehnsucht der ausgezehrten Stadt das zentrale Motiv, in Christmas (1863), einem Gedicht, das auch Longfellow und Alfred Tennyson bewunderten, überschattet das Massensterben auf den Schlachtfeldern die gesegnete Weihnachtszeit. Eines der letzten Gedichte Timrods, die „Ode, gesungen anlässlich des Schmückens der Gräber der Toten der Konföderation auf dem Magnolia-Friedhof“ (1867), erklärt die Gefallenen zwar zu „Märtyrern“, doch überwiegt die Trauer um die Gefallenen die ideologische Verklärung. Editionsgeschichte Zu Timrods Lebzeiten erschienen seine Gedichte zumeist in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, deren Verbreitung sich meist auf den Verlagsort beschränkte. 1859 ging sein erster und einziger Gedichtband, schlicht Poems betitelt, beim Bostoner Verlagshaus Ticknor and Fields in Druck. Zwar trägt das Titelblatt dieser Ausgabe die Jahreszahl 1860, im Copyright ist jedoch das Jahr 1859 vermerkt. Es ist gesichert, dass der Band spätestens zu Weihnachten 1859 erhältlich war. Offenbar war der Band ausschließlich im Abonnement erhältlich und wurde daher nicht im regulären Buchhandel vertrieben; so blieb die verkaufte Auflage gering. Zwar waren die wenigen Rezensionen durchaus positiv, doch letztlich blieb Timrod von der breiteren Öffentlichkeit unbeachtet. Nach 1861, als Timrod mit seiner überaus öffentlichkeitswirksamen Kriegsdichtung berühmt geworden war, verunmöglichte die desolate wirtschaftliche Situation, die das Verlagswesen und den Buchhandel der Südstaaten empfindlich traf, weitere Veröffentlichungen in Buchform. Pläne zu einer englischen Ausgabe von Timrods Gedichten – gegen Ende 1863 hatte Timrod die Reinschriften vollendet, als Illustrator war der als Kriegsberichterstatter in den Südstaaten weilende Frank Vizetelli vorgesehen – machte die Realität des Krieges zunichte. Nach Timrods Tod kam es zu einem regelrechten Zwist zwischen zwei Freunden Timrods um die Ehre, seine gesammelten Werke herausgeben zu dürfen. Während William A. Courtenay sich auf ein persönliches Versprechen berief, das er Timrod gegeben habe, berief sich Paul Hamilton Hayne, der schon zu dessen Lebzeiten eine kaum zu überschätzende Rolle in Timrods Laufbahn gespielt hatte, auf die Unterstützung der Familie Timrods, insbesondere seiner Witwe Katie und seiner Schwester Emily Timrod Goodwin. Schließlich war es Hayne, der gegen Ende des Jahres 1872 als Herausgeber der gesammelten Werke unter dem Titel The Poems of Henry Timrod firmierte und sie mit einem sehr persönlich gehaltenen biografischen Essay einleitete. Diese Ausgabe erwies sich als ausnehmend erfolgreich. Die Rezensionen waren auch in den Nordstaaten durchweg positiv, und die erste Auflage verkaufte sich innert weniger Monate, so dass der Verlag, das in New York ansässige Haus E. J. Hale & Son, noch 1873 eine zweite, um einige Gedichte erweiterte Auflage herausbrachte. Erst Jahre nach Haynes Tod setzte dann Courtenay seine Pläne zu einer Ausgabe von Timrods Gedichten in die Tat um. 1899 gründete er die Timrod Memorial Association, deren Ziel es war, Timrod mit einer neuen Ausgabe seiner Gedichte wieder zugänglich zu machen und mit den Erlösen sowie durch Privatspenden ein Denkmal zu Ehren Timrods zu errichten. Die Poems of Henry Timrod waren zwar editorisch von zweifelhafter Qualität – alle Gedichte der Hayne-Ausgabe wurden unverändert übernommen, um einige wenige Gedichte aus den Poems von 1859 erweitert und in offenbar recht zufälliger Manier neu arrangiert –, doch erreichte Courtenay beide seiner Ziele. Der Band verkaufte sich ausnehmend gut, und 1901 wurde schließlich in einer feierlichen Zeremonie eine überlebensgroße Büste Timrods im Charlestoner Washington Park enthüllt. 1942 erschienen dann die bis zu dieser Zeit nur im Manuskript bekannten Gedichte Timrods (Uncollected Poems) sowie, herausgegeben von Edd Winfield Parks, auch Timrods Essays und journalistische Arbeiten in Buchform. Nachwirkung Die Gründung von Courtenays Timrod Memorial Association löste ein „Timrod Revival“, ein bis heute anhaltendes Interesse an Timrods Leben und Werk aus. Timrod wurde – mindestens ebenso sehr wegen seiner Gedichte wie wegen der Symbolträchtigkeit seiner persönlichen Tragödie – zum Dichter des Lost Cause schlechthin verklärt und in den Südstaaten weithin verehrt. So beschloss 1911 die Generalversammlung von South Carolina auf Vorschlag der Daughters of the American Revolution, Timrods Carolina zum offiziellen Staatslied (state song) zu erheben. Allen Tate, eine der führenden Gestalten der Renaissance der Südstaatenliteratur der 1920er und 1930er Jahre, erwies Timrod die Ehre, indem er seine berühmte Ode an die Gefallenen der Konföderation (Ode to the Confederate Dead, 1928) an Timrods Ode Sung on the Occasion of Decorating the Graves of the Confederate Dead at Magnolia Cemetery, Charleston, South Carolina 1866 anlehnte. In jüngster Zeit lehnte sich Bob Dylan bei einigen Texten seines im Herbst 2006 erschienenen Albums Modern Times an Timrods Verse an, allerdings ohne darauf explizit hinzuweisen. Vor allem auf den Seiten der New York Times entspann sich daraufhin eine Kontroverse, ob sich Dylan des Plagiats schuldig gemacht habe oder sich nur habe „inspirieren“ lassen. Hier eine der inkriminierten Passagen im Vergleich zu Timrods Versen: Auch wurde darauf hingewiesen, dass der Titel des Dylan-Albums sämtliche Buchstaben von Timrods Nachnamen enthält und so eine chiffrierte Referenz darstellen könnte. Im Kanon der amerikanischen Literatur kommt Timrod jedoch nur eine nachrangige Stellung zu. Der Literaturgeschichtsschreibung, die sich gerade in der Amerikanistik zumeist als die Geschichte ästhetischer Innovationen hin zur Moderne darstellt, erscheinen Timrods Gedichte allzu konventionell; sein Festhalten am Kunstverständnis der englischen Romantiker wie Wordsworth lässt seine Dichtung besonders im internationalen Vergleich nicht nur wenig originell, sondern auch unzeitgemäß erscheinen. Aber auch im Vergleich zu Timrods New Yorker und neuenglischen Zeitgenossen wie Herman Melville, Walt Whitman und Emily Dickinson, deren Konventionsbrüche als wegweisend für die Dichtung des 20. Jahrhunderts erachtet werden, erscheint Timrods dichterisches Werk allzu sehr Ort und Zeit seiner Entstehung verhaftet. Allenfalls in der häufig gesondert behandelten Literaturgeschichte des amerikanischen Südens wird er neben Poe und Lanier als einer der bedeutenderen Lyriker des 19. Jahrhunderts geführt, ein Umstand, der wiederum häufig weniger auf Timrods literarische Qualitäten, sondern auf die „rechte Gesinnung“ seiner frühen Kriegsgedichte und ihre Verwertbarkeit für den Mythos von der „guten alten Zeit“ vor dem Krieg und der Ehrbarkeit der Südstaatenkonföderation zurückzuführen ist. Kaum eine Literaturgeschichte kommt umhin, ihn nach dem Titel einer Timrod-Biografie aus dem Jahr 1928 als „Poet Laureate der Konföderation“ zu titulieren. Noch der 2004 erschienenen Timrod-Biografie von Brian Walter Cisco ist der Südstaatenbias deutlich anzumerken. Ein ebenso unparteiisches wie wohlwollendes Urteil sprach Daniel Aaron, Autor eines Standardwerks zur Literatur während des Amerikanischen Bürgerkriegs, 1973 aus: Timrod sei unter den Südstaatendichtern das „einzige authentische Talent“ gewesen: „Man wendet sich mit Erleichterung von den pathetischen, groben und diffusen Versen der Überpatrioten ab und zu Timrods gedankenvollen und düsteren Gedichten.“ Werkausgaben Poems. Ticknor and Fields, Boston 1860; . The Poems of Henry Timrod. Hrsg. von Paul Hamilton Hayne. E.J. Hale and Son, New York 1873; . Poems of Henry Timrod; With Memoir and Portrait. („Memorial Edition“). Houghton, Mifflin & Co., Boston 1899; . The Uncollected Poems of Henry Timrod. Hrsg. von Guy A. Cardwell, Jr. The University of Georgia Press, Athens 1942; . The Essays of Henry Timrod. Hrsg. von Edd Winfield Parks. The University of Georgia Press, Athens 1942; . Literatur Daniel Aaron: The Unwritten War. American Writers and the Civil War. Knopf, New York 1973. Brian Walter Cisco: Henry Timrod: A Biography. Fairleigh Dickinson UP, Madison NJ 2004, ISBN 0-8386-4041-9. Jack De Bellis: Sidney Lanier, Henry Timrod and Paul Hamilton Hayne: A Reference Guide. G. K. Hall, Boston 1978. Jay B. Hubbell: The Last Days of Henry Timrod, 1864–1867. Duke UP, Durham NC 1941. Edd Winfield Parks: Henry Timrod. Twayne, New York 1964. Carl Plasa: ‚Tangled Skeins‘: Henry Timrod’s ‚The Cotton Boll‘ and the Slave Narratives. In: Southern Literary Journal 45:1, 2012, S. 1–20. James Reitter: The Legacy of Three Southern Civil War Poets: Henry Timrod, Paul Hamilton Hayne, and Sydney Lanier. In: South Carolina Review 41:1, 2008, S. 69–79. Louis Decimus Rubin, Jr.: The Edge of the Swamp: A Study of the Literature and Society of the Old South. Louisiana State UP, Baton Rouge 1989. Weblinks The Poems of Henry Timrod. beim Project Gutenberg (US) Einzelnachweise und Anmerkungen Autor Lyrik Person im Sezessionskrieg Journalist (Vereinigte Staaten) Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigte Staaten) US-Amerikaner Geboren 1828 Gestorben 1867 Mann
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https://de.wikipedia.org/wiki/Prometheus
Prometheus
Prometheus (; Betonung lateinisch und deutsch Prométheus, [] ) ist eine Gestalt der griechischen Mythologie. Die Prometheussage gehört zu den bekanntesten literarischen Stoffen. Prometheus gehört dem Göttergeschlecht der Titanen an. Wie alle Wesen ist er der Herrschaft des Göttervaters Zeus unterworfen. Bei einem Tieropfer greift er zu einer List, um Zeus zu täuschen; er überlässt ihm nur die wertlosen Teile des Opfertiers und behält das genießbare Fleisch für die Menschen, da sie seine Schützlinge sind. Zur Strafe dafür verweigert der erzürnte Zeus den Sterblichen den Besitz des Feuers. Darauf entwendet Prometheus den Göttern das Feuer und bringt es den Menschen. Deswegen wird er auf Befehl des Göttervaters gefesselt und in der Einöde des Kaukasusgebirges festgeschmiedet. Dort sucht ihn regelmäßig ein Adler auf und frisst von seiner Leber, die sich danach stets erneuert. Erst nach langer Zeit erlöst der Held Herakles den Titanen von dieser Qual, indem er den Adler mit einem Pfeil erlegt. Schließlich wird Prometheus von Zeus begnadigt und erlangt seine Freiheit zurück. Als Feuerbringer und Lehrmeister ist Prometheus der Urheber der menschlichen Zivilisation. Einer Variante des Mythos zufolge hat er als Demiurg die ersten Menschen aus Lehm gestaltet und mit Eigenschaften ausgestattet. Dabei kam es allerdings zu Fehlern, deren Folgen Unzulänglichkeiten sind, unter denen die Menschheit seither leidet. Für diese Mängel wird in der mythischen Überlieferung auch ein am Schöpfungswerk beteiligter Bruder des Prometheus, der unkluge „Nachherbedenker“ Epimetheus, verantwortlich gemacht. Großes Unheil verursacht Epimetheus, indem er sich gegen den Rat seines voraussichtigen Bruders auf die von Zeus entsandte Verführerin Pandora einlässt. In der ältesten antiken Überlieferung bei Hesiod ist Prometheus ein listiger und hochmütiger Betrüger, der zu Recht für seinen Frevel bestraft wird. Ein sehr vorteilhaftes Bild des Titanen zeichnet hingegen die dem Dichter Aischylos zugeschriebene Tragödie Der gefesselte Prometheus. Der Dramatiker verherrlicht Prometheus als Wohltäter der Menschheit und Gegenspieler des tyrannischen Zeus. Schon in der Antike war das Schicksal des Prometheus ein eindrückliches literarisches Sujet und ein beliebtes Motiv der bildenden Kunst. Seit der Renaissance haben zahlreiche Dichter, Schriftsteller, Maler, Bildhauer und Komponisten den Stoff bearbeitet. Auch zu philosophischer Reflexion hat der Mythos vielfach Anstoß gegeben. Aus religionskritischer Sicht ist Prometheus das Urbild des mutigen Rebellen, der die Befreiung von Unwissenheit und religiös fundierter Unterdrückung einleitet. In der Moderne steht er als Symbolfigur für den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt und die zunehmende Herrschaft des Menschen über die Natur. Daher wird er je nach geschichtsphilosophischem Standort unterschiedlich beurteilt: Für Fortschrittsoptimisten stellt er eine Allegorie der sich emanzipierenden Menschheit dar; Zivilisationskritiker hingegen halten den „prometheischen“ Impuls für zwiespältig oder fragwürdig und problematisieren den Drang des Menschen zu möglichst schrankenloser, gottähnlicher Macht. Antike In der Götterwelt Homers kommt Prometheus nicht vor. Die älteste überlieferte Version des Mythos findet sich in den Werken des Epikers Hesiod, die im späten 8. Jahrhundert v. Chr. entstanden sind. Auf Hesiods Angaben fußt die freie literarische Gestaltung des Stoffs in der athenischen Bühnendichtung des 5. Jahrhunderts v. Chr. Diese frühesten schriftlich fixierten Fassungen der Sage wurden für die Folgezeit wegweisend. Die älteste überlieferte Gestalt des Mythos bei Hesiod Hesiod behandelte den Mythos ausführlich in seiner Theogonie und in dem Gedicht Werke und Tage. Dabei hielt er sich aber nicht durchgängig an den chronologischen Ablauf und deutete manches nur an. Er konzentrierte sich auf die wirkungsvolle Ausmalung einzelner Szenen, denn die Grundzüge der mythischen Handlung waren seinem Publikum bereits vertraut. Nach Hesiods Darstellung ist Prometheus einer der vier Söhne des Titanen Iapetos und der Okeanide Klymene. Seine Mutter ist eine der dreitausend Töchter des Gewässergottes Okeanos, den Hesiod ebenfalls zu den Titanen zählt, und der Tethys, der Schwester und Gattin des Okeanos. Die Brüder des Prometheus sind der trotzige Atlas, der gewalttätige und ruhmbegierige Menoitios sowie Epimetheus, der „Nachherbedenkende“, dessen sprechender Name seine Torheit anzeigt: Epimetheus handelt, bevor er nachdenkt. Damit ist er das Gegenteil des umsichtigen „Vorherbedenkers“ Prometheus, den Hesiod als gewandten, listigen Planer charakterisiert. Als Meister der schlauen Überlegung und Voraussicht kontrastiert Prometheus mit seinem unvernünftigen Bruder. Der Göttervater Zeus beherrscht die ganze Welt, seit er zusammen mit seinen Brüdern Poseidon und Hades in einem gigantischen Kampf, der „Titanomachie“, eine Gruppe von Titanen besiegt hat. Von den Menschen fordert er die regelmäßige Opferung von Nutztieren. Prometheus als Beschützer der Menschheit möchte ihr die Belastung durch die Opferpflicht ersparen. Auf einer Versammlung in der Stadt Mekone (Sikyon) schließt Zeus mit den Sterblichen eine Vereinbarung über die Opferpflicht. Von jedem geschlachteten Tier soll ein Teil den Göttern dargebracht werden. Stellvertretend für die Menschheit vollzieht Prometheus in Mekone das erste Opfer als maßgebliches Muster für die Zukunft. Um seinen Schützlingen zu helfen, greift er zu einer List. Er schlachtet ein Rind und verteilt es auf zwei Haufen, einen größeren aus den Knochen, die er kunstvoll aufschichtet, und einen kleineren aus dem Fleisch. Den kleinen Haufen bedeckt er mit der Haut, den großen überzieht er mit einer Fettschicht. Dann bittet er Zeus arglistig, den Haufen zu wählen, der ihm besser gefalle. Der Göttervater merkt, dass er überlistet werden soll, gibt aber vor, sich täuschen zu lassen. Nach seinem Willen soll die Hinterlist erst ausgeführt werden und dann die gebührende Strafe finden. Daher wählt er den großen Haufen und entfernt die Bedeckung. Beim Anblick der Knochen ergrimmt er. Nun gilt für alle künftigen Zeiten als vereinbart, dass nur die ungenießbaren Teile der Opfertiere den Göttern dargebracht werden müssen und das Fleisch dem menschlichen Verzehr dienen soll. Aus Zorn über das Täuschungsmanöver versagt der Göttervater den Menschen den Gebrauch des Feuers. Damit ist ihnen die Verwendung von Brennholz unmöglich gemacht und der Weg zu einem zivilisierten Leben versperrt, und sie können sich ihres Anteils am Rind nicht erfreuen. Nun greift Prometheus wiederum ein. Um den Menschen dennoch das Feuer zu verschaffen, stiehlt er im Himmel etwas Glut, verbirgt sie im hohlen, trockenen Stängel des Riesenfenchels und bringt sie zur Erde. Darauf leuchtet dort ein weithin sichtbares Feuer auf. Damit wird Zeus vor vollendete Tatsachen gestellt, das Geschehene lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Beim Anblick der Flammen wird der Göttervater von heftigem Zorn erfasst. Der überlistete Himmelsherrscher beschließt, sich sowohl an der Menschheit als auch an dem trotzigen Titanen zu rächen. Von seinem eigenen Racheplan ergötzt bricht er in Gelächter aus. Zunächst befiehlt er dem technisch und künstlerisch hochbegabten Schmiedegott Hephaistos, aus Erde die Gestalt einer überaus schönen Jungfrau zu schaffen und ihr Leben zu verleihen. Anschließend wird das neue Geschöpf reich geschmückt, jede der olympischen Gottheiten stattet es mit einer besonderen Gabe oder Fertigkeit aus. Die Jungfrau erhält alles, was zu vollendeter Schönheit und Anmut gehört, aber auch Verschlagenheit und einen betrügerischen Charakter. Sie wird Pandora – „die über alle Gaben Verfügende“ – genannt. Im Auftrag des Zeus führt der Götterbote Hermes Pandora dem törichten Epimetheus zu, der sie aufnimmt, obwohl Prometheus ihn gewarnt hat, niemals ein Geschenk von Zeus anzunehmen. Die Unheilbringerin öffnet die sprichwörtliche „Büchse der Pandora“, ein verschlossenes Gefäß, das alle Übel, von denen die Menschen bisher verschont waren, sowie enthält. Es handelt sich um einen Krug oder ein Fass mit Deckel. Sowie Pandora den Deckel hebt, schweben die Übel hinaus. Nur elpís bleibt im Gefäß zurück, das wieder verschlossen wird. Seither wird die Menschheit von unzähligen Plagen – insbesondere Krankheiten – heimgesucht. Zu den neuen Übeln zählt auch, dass die Männer viel Kummer von schlechten Frauen erleiden müssen, die mit ihrer Selbstsucht und Faulheit ihren Gatten zur Last fallen. Eine noch härtere Strafe trifft Prometheus. Zeus lässt ihn an einem Pfosten oder einer Säule anketten und sendet ihm einen Adler, der jeden Tag seine Leber frisst, die sich nachts wiederum erneuert, da der Titan unsterblich ist. Später setzt jedoch der Held Herakles, ein Sohn des Zeus, der Folter ein Ende, indem er den Adler tötet. Dabei handelt er mit Billigung seines göttlichen Vaters, denn Zeus gönnt seinem berühmten Sohn den zusätzlichen Ruhm dieser Tat, und das ist ihm wichtiger als sein Groll gegen den widerspenstigen Titanen. Allerdings wird Prometheus bei Hesiod nicht von den Fesseln befreit; die Strafe der Ankettung bleibt bestehen, sie ist offenbar ewig. Laut Fragmenten eines heute großenteils verlorenen, traditionell Hesiod zugeschriebenen Frauenkatalogs ist Deukalion, der Held der griechischen Sintflutsage, ein Sohn des Prometheus. Den Hintergrund von Hesiods Verständnis des Mythos bildet die Sonderstellung des Menschen im Kosmos. Aus der Sicht des Dichters ist die Menschheit aus einer engen Bindung an die Götterwelt und aus einem paradiesischen Urzustand herausgetreten und in eine Daseinsform gelangt, die von den Mühseligkeiten der Arbeit bestimmt ist. Die List des Prometheus steht für die Entfernung von den Göttern. Das Ergebnis ist eine Verselbständigung des Menschen, die Entstehung einer eigenen menschlichen Lebenswelt, die freilich in eine übergreifende kosmische Gesetzlichkeit eingeordnet bleibt. Umgestaltung in den Dramen des 5. Jahrhunderts v. Chr. Aischylos, einer der erfolgreichsten Dramatiker der kulturellen Blütezeit Athens, brachte den Sagenstoff mehrmals auf die Bühne. Zuerst schrieb er ein Satyrspiel, ein heiteres Stück über den Feuerraub mit dem Titel Prometheus der Feueranzünder, das heute verloren ist. Es bildete den Abschluss einer Tetralogie, einer aus drei Tragödien und dem Satyrspiel bestehenden Vierergruppe von Dramen, mit der Aischylos 472 v. Chr. im alljährlichen Dichterwettkampf siegte. Später entstand Der befreite Prometheus, ein ernstes Stück über die Befreiungstat des Herakles. Von diesem Bühnenwerk des Aischylos sind nur Fragmente erhalten geblieben, die immerhin eine Teilrekonstruktion des Handlungsablaufs ermöglichen. Außerdem ist der Werktitel Prometheus der Feuerträger überliefert; in der Forschung ist umstritten, ob er sich auf das Satyrspiel bezieht oder auf ein weiteres, unbekanntes Drama des Aischylos. Vollständig erhalten ist die Tragödie Der gefesselte Prometheus (Promētheús desmṓtēs), in der die Bestrafung des Titanen dargestellt wird. Sie wird traditionell Aischylos zugeschrieben, doch in der Altertumswissenschaft wird die Frage ihrer Echtheit seit langem kontrovers diskutiert und ist weiterhin ungeklärt. Einer Hypothese zufolge hat Aischylos’ Sohn Euphorion das Drama verfasst, vielleicht auf der Basis eines von seinem Vater hinterlassenen Entwurfs, und es als dessen Werk ausgegeben. Der befreite Prometheus In diesem heute verlorenen Schauspiel des Aischylos wird nach dem rekonstruierten Ablauf der angekettete Prometheus von der Erdgöttin Gaia besucht. Sie will ihm zur Begnadigung verhelfen. Vergeblich wünscht sich der Gequälte den Tod, als Gott ist er unsterblich. Erst nachdem er lange unter der Peinigung durch den Adler gelitten hat, erscheint Herakles und erlegt den Raubvogel, doch wagt er es nicht, ohne Erlaubnis des Göttervaters die Fesseln des Gefangenen zu lösen. Die Befreiung wird durch eine weitere Entwicklung ermöglicht: Prometheus hat erfahren, dass Zeus eine Gefahr droht. Der Göttervater beabsichtigt die Nymphe Thetis zu heiraten, da er von ihrer Schönheit ergriffen ist. Eine Weissagung, die Prometheus zu Ohren gekommen ist, besagt jedoch, Thetis werde einen Sohn gebären, der seinen Vater übertreffe. Ein solcher Sohn könnte den Weltherrscher Zeus stürzen, so wie dieser einst seinen Vater Kronos entmachtet hat. Prometheus warnt Zeus, worauf dieser auf die geplante Vermählung verzichtet und den Sträfling aus Dankbarkeit begnadigt. Es kommt zur Versöhnung, der Titan wird von seinen Fesseln befreit und in seinen früheren Stand zurückversetzt. Der gefesselte Prometheus Die Handlung spielt sich in einer öden Gegend des Skythenlandes ab. Dorthin wird Prometheus als Gefangener gebracht. Hephaistos ist beauftragt, ihn an einen Felsen zu schmieden. Er äußert sein Mitgefühl für den Sträfling, kann sich aber dem Befehl des Zeus nicht widersetzen. Seine Gehilfen sind Kratos und Bia, deren sprechende Namen „Macht“ und „Gewalt“ bedeuten. Bei der brutalen Fesselung, die drastisch beschrieben wird, treibt der unbarmherzige Kratos den zögernden Hephaistos an. Der allein zurückgelassene Prometheus bricht in bittere Klagen über sein Schicksal aus, das er wegen seiner Menschenliebe erleiden müsse. Bald treffen die Okeaniden ein, die geflügelten Töchter des Okeanos, die den grausam Gequälten bemitleiden und die Hartherzigkeit des Zeus beklagen. Ihnen schildert Prometheus die Vorgeschichte. Sie begann mit dem Konflikt zwischen Zeus und den Titanen, die sich seinem Machtanspruch nicht beugen wollten. Die Titanen vertrauten auf ihre gewaltige Kampfkraft und missachteten den Rat des Prometheus, der ihre Niederlage voraussah und ein listiges Vorgehen empfahl. Um nicht mit ihnen zu unterliegen, wechselte Prometheus die Seite. Er schloss sich Zeus an, beriet ihn klug und trug wesentlich zur Sicherung seiner Herrschaft bei. Doch sobald der Sieger unangefochten im alleinigen Besitz der Macht war, erwies er sich als undankbar und wandte sich gegen die Schützlinge seines Helfers: Er plante die Vernichtung der Menschheit. Prometheus konnte jedoch die Verwirklichung dieses Vorhabens verhindern und brachte überdies den Sterblichen das Feuer. Dafür muss er nun die grausame Rache des Machthabers erleiden. Doch Prometheus weiß von einem künftig drohenden Anschlag, der den Untergang des Tyrannen herbeiführen wird, wenn dieser nicht rechtzeitig gewarnt wird. Verraten will er sein Geheimnis nur als Gegenleistung für seine Freilassung, und überdies fordert er Entschädigung für das erlittene Unrecht. Nun erscheint der hilfsbereite Okeanos, der mit Prometheus befreundet ist. Er rät zu Nachgiebigkeit und bietet sich als Vermittler an, stößt damit aber bei Prometheus auf Ablehnung. Darauf macht er sich auf den Heimweg. Erneut setzt die Klage der Okeaniden ein. Der gefesselte Titan schildert ihnen das Ausmaß seiner Wohltaten für die Menschheit, die erst dank seiner Belehrung die Grundlagen der Zivilisation erhalten habe. Er habe den Menschen alle Kenntnisse und Fertigkeiten beigebracht, darunter das Rechnen und Schreiben, die Zähmung der Nutztiere, die Seefahrt, den Bergbau und die Heilkunst. Nun vertraut er auf die „Notwendigkeit“, auf die Macht der Schicksalsgöttinnen, der Moiren, der sogar Zeus unterworfen ist. Sie wird nach seinen Worten eine Wende herbeiführen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. In der nächsten Szene erscheint Io, eine Königstochter, die von Zeus begehrt wurde und daher schwer unter der Eifersucht von dessen Gattin Hera zu leiden hat. Sie ist auf der Flucht. Ausführlich schildert sie ihr trauriges Geschick. Mit Prometheus hat sie gemeinsam, dass sie ebenfalls ein unschuldiges Opfer göttlicher Willkür und Grausamkeit ist. Prometheus sagt ihr voraus, welche Irrfahrten und Nöte ihr noch bevorstehen, macht ihr aber auch Hoffnung auf eine künftige Schicksalswende. Er spricht von seinem Geheimnis, dem drohenden Umsturz, den niemand außer ihm verhindern kann. Dieses Wissen verleiht ihm, dem äußerlich Hilflosen, eine verborgene Überlegenheit über den Herrscher der Welt. Die letzte Szene beginnt mit dem Auftritt des Götterboten Hermes. Zeus hat erfahren, dass sein Gefangener ein wichtiges Geheimnis hütet, und will ihn zwingen, es zu verraten. Vergeblich versucht der Bote, den trotzigen Titanen zum Nachgeben zu bewegen. Prometheus besteht darauf, dass er zuvor freigelassen werden muss, und versichert, dass kein Schlag und keine Folter ihn beugen kann. Darauf droht ihm Hermes eine Steigerung der Qualen an: Prometheus soll, wenn er weiterhin schweigt, erst lange unter einem Felsen lebendig begraben sein; dann soll er hervorgeholt und von dem Adler gequält werden, der ihm jeden Tag gierig einen Fetzen aus dem Leib reißen wird. Doch selbst diese Drohung kann den Gefangenen nicht umstimmen, und der Chor der Okeaniden erklärt sich mit ihm solidarisch. Da schwankt die Erde, Blitz und Donner kündigen den Beginn der neuen göttlichen Strafe an. Bevor Prometheus versinkt, ruft er Aither, den Himmel, zum Zeugen dafür an, dass er ungerecht leidet. Mit diesem Ausruf endet die Tragödie. Interpretation Die beiden Dramen unterscheiden sich stark in ihrer Konzeption und hinsichtlich der beabsichtigten Wirkung. Im Befreiten Prometheus brachte Aischylos seinen Glauben an einen gnädigen Weltenlenker und sein Ideal der Eintracht zum Ausdruck. Er wollte dem Publikum die versöhnungsbereite Haltung des Sträflings, der den Urheber seiner Leiden warnt, vor Augen führen und die Belohnung dieser Ergebenheit durch die Großmut des begnadigenden Gottes verherrlichen. Eine völlig andere Perspektive bestimmt die Handlung des Gefesselten Prometheus. Diese Tragödie ist im Gegensatz zum versöhnlichen Befreiungsdrama des Aischylos von gnadenloser Härte geprägt. Hier erscheint Zeus als grausamer, rachsüchtiger und törichter Despot, und Prometheus ist sein unbeugsamer Widersacher. Dieser Prometheus ist eine edle Idealgestalt: Vorausschauend erteilt er klugen Rat, im Kampf für Gerechtigkeit bleibt er auch unter schwerster Belastung standhaft; uneigennützig opfert er sich für die Menschheit, die ihm alles zu verdanken hat. Offensichtlich gilt ihm die ganze Sympathie des Dichters. Die Herrschaft des Zeus wird mehrmals ausdrücklich als Tyrannis bezeichnet, sogar der Scherge Kratos benennt sie unverhohlen so. Der Göttervater wird als finsterer Usurpator dargestellt; er ist ein erst neuerdings gewaltsam an die Macht gekommener Despot, der weder über Legitimität noch über Herrschertugend verfügt. Als typischer Tyrann ist er brutal, misstrauisch und ungerecht und kennt keine wahre Freundschaft. Der Umgang mit dem Sagenstoff ist in beiden Werken frei und von den Erfordernissen der dramatischen Wirkung bestimmt, die mythische Überlieferung wird durch zusätzliche Akteure und Motive erweitert. Das neu eingeführte Motiv der Zeus drohenden Gefahr, vor der Prometheus ihn warnen kann, spielt in beiden Stücken eine wichtige Rolle, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. Die Handlung des Befreiungsdramas bedarf dieser Ergänzung, weil hier eine von Hesiods Version stark abweichende Fassung des Mythos geboten wird: Prometheus wird nicht nur von der Folter erlöst, sondern vollständig begnadigt. Um diesen Sinneswandel des Zeus plausibel zu machen, fügte der Dichter die rettende Warnung ein: Der Titan weist den Göttervater auf die Gefahr hin, ohne eine Gegenleistung zu fordern, und stimmt ihn damit dankbar und gnädig. Völlig anders verhält sich der Protagonist im Gefesselten Prometheus: Dort hält Prometheus sein Wissen geheim und sieht darin ein Druckmittel gegen Zeus, während dieser ihn seinerseits mit furchtbaren Drohungen einzuschüchtern versucht. Das geheime Wissen macht aus dem äußerlich wehrlosen Gefangenen einen ebenbürtigen Gegenspieler des Weltherrschers; jeder der beiden hat das Schicksal des anderen in der Hand. In der unterschiedlichen Handhabung dieses Motivs zeigt sich der Gegensatz zwischen den beiden Tragödien. Neben sprachlichen, stilistischen und verstechnischen Argumenten stützt vor allem die massive, fundamentale Gotteskritik im Gefesselten Prometheus die Hypothese, dass dieses Werk nicht von Aischylos stammt, sondern von einem unbekannten Autor des späten 5. Jahrhunderts v. Chr., der das Konzept des berühmten Tragikers aufgriff und in seinem Sinn umwandelte. In dem Stück ist alles darauf angelegt, dem Publikum Empörung über die Willkür und Grausamkeit des Himmelsherrschers einzuflößen und den Widerstand gegen ihn zu rechtfertigen. Das widerspricht der Grundhaltung des frommen Aischylos, der das Walten der Götter für legitim und gerecht hielt. Für die Authentizität der Tragödie spricht jedoch, dass die traditionelle Zuschreibung einhellig überliefert ist und in der Antike niemals bezweifelt wurde. Mit dem von Prometheus vereitelten Vorhaben des Zeus, die Menschheit zu vernichten, ist offenbar die „Deukalionische Flut“, eine Sintflut, gemeint. Demnach kannte der Autor des Gefesselten Prometheus eine Version der Deukalionsage, der zufolge Prometheus seinem Sohn Deukalion durch kluge Beratung das Überleben der Flut ermöglichte. Komödie Von der Beliebtheit des Prometheus in der Bevölkerung Athens zeugt sein Auftreten als Figur in der attischen Komödie. Seine Schlauheit brachte ihm wohl in breiteren Schichten Sympathie ein. In der 414 v. Chr. aufgeführten Komödie Die Vögel des Aristophanes präsentiert er sich als Menschenfreund, der bekanntlich alle Götter hasst. Er rät den Menschen, wie sie mit Zeus verhandeln sollen, der gerade von anderen Göttern bedrängt wird und in Schwierigkeiten steckt. Hier ist die traditionelle Rolle des Titanen als trotziger Held ins Gegenteil verkehrt: Ängstlich und nervös versteckt sich Prometheus unter einem Sonnenschirm vor den Blicken des möglicherweise vom Himmel herabschauenden Zeus. Platons Verwertung des Stoffs Der Philosoph Platon ließ in seinem Dialog Protagoras den Sophisten Protagoras einen Mythos von der Entstehung der Menschheit erzählen. Nach dieser Geschichte waren Prometheus und Epimetheus im Auftrag der Götter maßgeblich an der Erschaffung der irdischen Lebewesen beteiligt. Sie sollten die verschiedenartigen Geschöpfe mit allem zur Lebenserhaltung Benötigten ausstatten. Epimetheus übernahm die Aufgabe, den einzelnen Arten die jeweils zum Schutz und zur Nahrungsbeschaffung erforderlichen Mittel und Eigenschaften zuzuteilen. Manchen Tierarten verlieh er Schnelligkeit, anderen Stärke und Wehrhaftigkeit, manchen die Fähigkeit, durch Fliegen zu entkommen oder sich gut zu verstecken; den Beutetieren gab er große Fruchtbarkeit, damit sie nicht ausgerottet würden. Mit dichter Behaarung sorgte er für ungünstige Witterung vor. So brauchte er die vorhandenen Mittel restlos auf. Als schließlich Prometheus die Arbeit seines Bruders überprüfte, musste er feststellen, dass Epimetheus den Menschen vergessen hatte. Dieser war nackt und wehrlos geblieben. So sah sich Prometheus gezwungen, den Göttern das Feuer und technisches Wissen zu stehlen, um den Menschen das Überleben zu ermöglichen. Unzugänglich war ihm aber das Wissen über das soziale Zusammenleben und die Organisation einer staatlichen Gemeinschaft, das in der Burg des Zeus verwahrt wurde und den Menschen daher bis auf weiteres versagt blieb. Bei Platon ist Prometheus kein Rebell, sondern ein Beauftragter der Götter. Den Diebstahl begeht er notgedrungen; der Schuldige ist eigentlich nicht er selbst, sondern sein Bruder, der versagt hat. Damit wird der Konflikt zwischen Zeus und dem Titanen weitgehend ausgeblendet. Diese Darstellung entspricht Platons Frömmigkeitsverständnis; den Göttern darf kein unethisches Verhalten unterstellt werden. Vermutlich verwertete Platon für die Ausführungen seiner Dialogfigur Material des historischen Protagoras, doch ist unklar, inwieweit er in der mythischen Erzählung authentisches Gedankengut des Sophisten wiedergab. Spätere griechische Literatur Im 3. Jahrhundert v. Chr. verfasste der Dichter Apollonios von Rhodos das Epos Argonautika, in dem er seine Version der Argonautensage erzählte. Diesem Mythos zufolge fuhren die Argonauten, eine Schar von Helden, auf dem Schiff Argo von Thessalien nach Kolchis an der Ostküste des Schwarzen Meeres, um dort das Goldene Vlies zu erbeuten. Als sie sich ihrem Ziel näherten, erblickten sie – so Apollonios – das Kaukasus-Gebirge, wo Prometheus an den Felsen gekettet war. Da sahen sie den Adler über ihr Schiff hinwegfliegen, und bald darauf hörten sie die Schmerzensschreie des Titanen, dessen Leber herausgerissen wurde. In Kolchis erlangten sie die Hilfe der zauberkundigen Königstochter Medea. Diese verschaffte ihnen das Zaubermittel „Prometheion“, ein Kraut, das zeitweilig gewaltige Kraft verleiht und unverwundbar macht, wenn man sich damit einreibt. Es wuchs dort, wo der Adler in den Schluchten des Kaukasus das Blut des Prometheus herabträufeln ließ. Der Geschichtsschreiber Diodor, der im 1. Jahrhundert v. Chr. tätig war, deutete die Sage euhemeristisch als Mythifizierung historischer Vorgänge. Nach seiner Interpretation war Prometheus kein Gott, sondern ein Mensch, der in Ägypten als Statthalter einen Bezirk verwaltete. Als der Nil, den die Ägypter wegen seiner reißenden Gewalt „Adler“ nannten, nach einem Dammbruch das Gebiet des Statthalters überschwemmte, wollte sich dieser aus Gram das Leben nehmen, doch der tüchtige Herakles reparierte den beschädigten Damm und brachte damit Prometheus von dem Suizid ab. Aus diesem Vorgang machten Dichter später den Mythos vom fressenden Adler und von der Befreiung des Titanen. Auf solche Weise erklärte Diodor auch den mythischen Feuerdiebstahl: Der historische Prometheus sei der Entdecker der „Feuerhölzer“, der damaligen Form des Feuerzeugs, gewesen. Nach einer abweichenden Version der Überschwemmungserzählung war Prometheus ein König der Skythen, dem es nicht gelang, die Überschwemmung eines Flusses zu verhindern, worauf er von seinen Untertanen gefangen gesetzt wurde; Herakles löste das Problem durch Umleitung des Flusses und befreite den König. In der frühen römischen Kaiserzeit verfasste ein unbekannter Autor das Handbuch der griechischen Mythologie, das unter der Bezeichnung Bibliotheke des Apollodor bekannt ist. Darin findet sich eine Reihe von Angaben zu Prometheus. Als seine Mutter wird hier die Okeanide Asia genannt. Prometheus erscheint in dieser Überlieferung als Vater des Helden Deukalion, den er zur Zeit der „Deukalionischen Flut“ berät. Auf den Rat seines Vaters baut Deukalion das Schiff, mit dem er die Sintflut übersteht. Der Satiriker Lukian von Samosata schrieb im 2. Jahrhundert den Dialog Prometheus, in dem er den mythischen Stoff humoristisch umgestaltete. Hermes und Hephaistos sind beauftragt, den Titanen im Kaukasus anzufesseln. Nachdem sie einen geeigneten schneefreien Felsen gefunden und ihr Werk vollbracht haben, müssen sie noch auf das Eintreffen des Adlers warten. Die Wartezeit verbringen die drei Götter mit einem witzigen Gespräch, in dem der gefesselte Prometheus die Hauptrolle übernimmt. Sie fingieren eine rhetorische Auseinandersetzung vor Gericht. Hermes, der selbst ein listiger Dieb und Gott der Diebe ist, klagt den Sträfling wegen des Opferbetrugs und des Feuerdiebstahls an und beschuldigt ihn, eigenmächtig die Menschen erschaffen zu haben. Die Erschaffung des Menschen erscheint hier als ganz eigenständige Leistung des Titanen. Prometheus hält eine lange Verteidigungsrede, in der er die Anklagepunkte so brillant widerlegt, dass Hermes nichts zu entgegnen weiß. Insbesondere rechtfertigt er seine Erzeugung der Menschheit. Die Existenz der Sterblichen sei für die Götter durchaus vorteilhaft. Erst durch die Kleinheit der Menschen werde die Größe der Götter ins rechte Licht gerückt, und die Beschäftigung mit den Sterblichen vertreibe den Unsterblichen die Langeweile. Dieses Werk Lukians hat den Charakter einer von geistreicher Ironie durchdrungenen rhetorischen Übung. Ein anderer Teil der Prometheussage, die Begnadigung, ist das Thema des ersten Dialogs von Lukians Göttergesprächen, einer Sammlung von Unterhaltungen, in denen sich der Satiriker über die Mythen lustig machte. In diesem kurzen Text verhandelt Prometheus mit Zeus erfolgreich über seine Freilassung. Im 4. Jahrhundert übernahm der römische Kaiser Julian die platonische Version des Mythos, der zufolge Prometheus als Beauftragter der Götter für das Heil der Menschheit sorgte. Julian deutete die Beschaffung des Feuers allegorisch als Ausstattung des Menschen mit der Vernunft. Lateinische Literatur Die Rezeption des Mythos in der lateinischen Literatur begann mit der Tragödie Prometheus des römischen Dichters Lucius Accius, der im 2. und frühen 1. Jahrhundert v. Chr. lebte. Von diesem Werk ist bis auf zwei winzige Fragmente nichts erhalten geblieben. Der Gelehrte Marcus Terentius Varro verfasste in den siebziger oder sechziger Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. eine menippeische Satire in Dialogform mit dem Titel Prometheus liber (Der freie Prometheus), von der vierzehn kurze Fragmente überliefert sind. Ihnen lässt sich entnehmen, dass vor allem die Rolle des Titanen als Menschenschöpfer aus philosophischer und kulturkritischer Sicht thematisiert wurde. Varro ließ offenbar Prometheus das Schöpfungswerk erläutern und beschrieb den Kulturverfall, der nach seiner Ansicht später eingetreten war. Angesichts dieses Niedergangs erschien das Wirken des Prometheus dem römischen Schriftsteller als fragwürdig. Im Jahr 45 v. Chr. erörterte Marcus Tullius Cicero in seinen Tusculanae disputationes die philosophische Frage, ob der Schmerz ein Übel sei, was von den Stoikern bestritten wurde. Dabei führte er unter anderem die Qual des Prometheus als Beispiel an und zitierte eine poetische Klage des Gefolterten. Es handelt sich um eine lateinische Wiedergabe einer Passage des Befreiten Prometheus des Aischylos. Wahrscheinlich hat Cicero die Verse selbst gedichtet. Zur Zeit des Kaisers Augustus (27 v. Chr. bis 14 n. Chr.) lebte der Gelehrte Gaius Iulius Hyginus, zu dessen Werken wahrscheinlich das mythographische Handbuch Genealogiae und das astronomisch-mythographische Handbuch De astronomia zählen. Die Genealogiae wurden früher einem mutmaßlichen späteren Autor gleichen Namens, den man „Hyginus Mythographus“ nannte, zugeschrieben und sind auch unter dem Titel Fabulae bekannt. In beiden Schriften sind Grundzüge der Sage zusammengefasst, in den Genealogiae sehr knapp, in De astronomia ausführlicher. Bei Hyginus ist eine Ausschmückung der Befreiungserzählung überliefert, wonach Prometheus nach seiner Begnadigung auf Befehl des Göttervaters einen Fingerring aus Stein und Eisen als symbolische Fesselung zur Erinnerung an seine Strafe tragen musste. In den Genealogiae als einziger Quelle ist als Name des Adlers Aethon (griechisch Aíthōn) genannt. Eine weitere Zusammenfassung des Stoffs stammt von dem spätantiken Grammatiker Maurus Servius Honoratus, der in seinem Kommentar zu Vergils Eklogen auf die Sage einging. Er stellte Prometheus als außerordentlich scharfsinnigen Kenner der Gestirne dar, der auf dem Kaukasus den Himmel studiert und dann den Assyrern seine Kenntnisse auf diesem Gebiet beigebracht habe. Wie Hyginus erzählte auch Servius von dem Fingerring. Der Dichter Ovid ging in seinen Metamorphosen, die er im ersten Jahrzehnt des 1. Jahrhunderts vollendete, nicht näher auf den Mythos ein. Er erwähnte aber bei der Behandlung der Weltentstehung eine Version, nach der Prometheus Erde, die „Himmelssamen bewahrte“, mit Regenwasser vermischte und daraus die Menschen nach dem Bild der Götter formte. In der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts ging der Dichter Gaius Valerius Flaccus in seinem Epos Argonautica, das die Argonautenfahrt schildert, auch auf das mythische Geschehen um Prometheus ein. Bei ihm werden die Argonauten aus der Ferne indirekt Zeugen der Befreiungstat des Herakles (lateinisch Hercules), deren spektakuläre Auswirkungen in der umgebenden Natur sie wahrnehmen, ohne zu wissen, wer handelt und was vorgeht. Für die Christen stellte die mythische Überlieferung eine Herausforderung dar, weil sie einer untergeordneten und überdies widerspenstigen Gottheit eine wesentliche Rolle bei der Erschaffung des Menschen zuschrieb. Gegen diese Vorstellung wandte sich im Jahr 197 der Kirchenschriftsteller Tertullian, der Gott als den wahren Prometheus bezeichnete. Bei den spätantiken Kirchenvätern hingegen galt Prometheus als Mensch. Im frühen 4. Jahrhundert bezeichnete ihn Laktanz in seiner Epitome divinarum institutionum als Urheber des abscheulichen Götzenkults; er habe das erste Götzenbild angefertigt. Sein plastisches Abbild des Menschen sei so lebensecht gewesen, dass schon seine Zeitgenossen und später die Dichter ihn fälschlich als Schöpfer „lebendiger“ Menschen bezeichnet hätten. Eine andere Erklärung der Schöpfungssage führte im frühen 5. Jahrhundert der Kirchenvater Augustinus an: Prometheus habe als so überragender Weisheitslehrer gegolten, dass man ihm die Fähigkeit zugetraut habe, Menschen aus Lehm zu erschaffen. Dabei nahm Augustinus auf eine Überlieferung Bezug, der zufolge Prometheus ein Zeitgenosse des Propheten Moses war. Eine christliche Umdeutung der Sage nahm auch der spätantike Mythograph Fulgentius in seiner Schrift Mitologiae vor. Er interpretierte den sprechenden Namen des „Vorausdenkers“ Prometheus als Bezeichnung für die Vorsehung Gottes und deutete das vom Himmel heruntergeholte göttliche Feuer als die von der Gottheit eingehauchte menschliche Seele. Kulturgeschichtliche Hintergründe Die sprechenden Namen „Prometheus“ und „Epimetheus“ scheinen darauf zu deuten, dass der „Vorausdenker“ kein altertümlicher Gott war, sondern eine Personifikation des abstrakten Konzepts Voraussicht mit dem Bruder als Kontrastgestalt. Da ihm die Zukunft vor Augen stand, war er zugleich eine Verkörperung der Schläue und Klugheit. Möglich ist aber auch, dass „Prometheus“ ursprünglich ein Beiname einer alten Gottheit war, der sich später durchsetzte, während der eigentliche Name vergessen wurde. Zum ältesten Bestand der Sage gehört die Bedeutung des Feuerraubs als Beginn der Zivilisation. Der Aspekt der Zivilisierung wurde im Lauf der Entwicklung herausgearbeitet und nahm innerhalb der mythischen Tradition an Gewicht zu; aus dem bloßen Dieb wurde ein Wissender und Aufklärer. Als jüngeres Sondermotiv kam die Menschenschöpfung hinzu. Durch die Erweiterungen des Mythos nahm die Rolle des Protagonisten beträchtlich an Bedeutung zu. In dem Mythos und seiner geschichtlichen Entwicklung sind zwei konträre Tendenzen erkennbar: Einerseits erscheint Prometheus als betrügerischer und trotziger Widersacher der höchsten Gottheit, der zu Recht für seine Auflehnung bestraft wird, andererseits als uneigennütziger Wohltäter und Lehrmeister der Menschheit und als tragischer Held, der zum Opfer göttlicher Rachsucht und Willkür wird. Dementsprechend sind die antiken Bewertungen seiner Taten und seines Schicksals unterschiedlich und teils schroff gegensätzlich. Sie drücken verschiedenartige weltanschauliche Grundhaltungen aus und sind zugleich Symptome des kulturgeschichtlichen Wandels. In der ältesten überlieferten Darstellung des Mythos dominiert die fromme Überzeugung, dass es ein Frevel sei, sich gegen den göttlichen Weltherrscher zu stellen. Die Folgen eines solchen verhängnisvollen Fehlers betrachteten die Zeitgenossen Hesiods mit Schauder, die Sichtweise der herrschenden olympischen Götter war die maßgebliche. Diese Beurteilung des mythischen Geschehens wurde auch in weit späteren Zeiten noch vertreten; in der augusteischen Epoche artikulierte sie der Dichter Horaz. Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. machte sich jedoch auch die gegenteilige Einstellung, die Sympathie und Solidarisierung mit dem verfolgten Menschheitswohltäter Prometheus, nachdrücklich geltend. In dieser Entwicklung spiegelte sich das Erstarken einer religionskritischen Strömung und das Aufkommen einer eigenständigen Reflexion über die Gültigkeit ethischer Normen. Der Prometheus-Mythos bot Gelegenheit, die Gerechtigkeit der göttlichen Weltlenkung in Zweifel zu ziehen oder gar offen zu bestreiten. In der „klassischen Epoche“ der griechischen Kulturgeschichte galt das überlieferte Verhalten der olympischen Götter in manchen Kreisen der gebildeten Oberschicht nicht mehr als über menschliche Kritik erhaben. Der Autor des Gefesselten Prometheus scheute sich nicht, Zeus als Tyrannen zu bezeichnen. In seiner demokratisch regierten Heimatstadt Athen war der Tyrannisvorwurf die schärfste Form, in der man Machtausübung kritisieren konnte. Ein wesentlicher Faktor bei der Distanzierung von herkömmlichen religiösen Anschauungen war in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. der Einfluss der als Bildungsbewegung auftretenden Sophistik, der auch im Gefesselten Prometheus spürbar ist. Hinzu kam in der Blütezeit Athens der Stolz auf die kulturellen Leistungen und Errungenschaften, deren Anfänge mit dem Namen des Prometheus assoziiert wurden. Wer in der Folgezeit – wie Platon im 4. Jahrhundert v. Chr. – am Konzept einer guten Weltordnung und einer weisen, wohlwollenden göttlichen Vorsehung festhalten wollte, musste den Konflikt zwischen Zeus und Prometheus abmildern oder herunterspielen. Im Rahmen des kulturellen Wandels wurde der mythische Stoff umgestaltet und neu interpretiert. In manchen Fällen spiegelt sich in der Bewertung des zivilisatorischen Aspekts das Geschichtsbild des Beurteilenden. Wer wie Hesiod kulturpessimistisch eingestellt war, an die heile Welt eines anfänglichen Goldenen Zeitalters glaubte und den Geschichtsverlauf in erster Linie als Verfallsprozess wahrnahm, der neigte zu einer ambivalenten oder negativen Einschätzung des Anfangs der Zivilisation. Ganz negativ fiel auch das Urteil der zivilisationsfeindlichen Kyniker aus. Sie sahen im Feuerraub den Beginn einer Fehlentwicklung, die zu Verweichlichung und Genusssucht geführt habe. Wer hingegen wie der Autor des Gefesselten Prometheus einen Fortschrittsoptimismus pflegte und den Urzustand der Menschheit für armselig und tierartig hielt, der sah in Prometheus den großen Wohltäter, dem alle bedeutenden Errungenschaften zu verdanken seien. Unbekannt ist der Ursprung der Rolle des Prometheus als Kunsthandwerker und Schöpfer, der zuerst die Tiere und dann auch die ersten Menschen aus Lehm erschuf. Jedenfalls ist hier sehr altes Sagenmaterial verarbeitet, wobei die Funktion einer altertümlichen Schöpfergottheit auf Prometheus übertragen wurde. Teils hieß es, er habe nur den menschlichen Körper geformt und für die Beseelung habe die Göttin Athene gesorgt, teils galt er als alleiniger Schöpfer des ganzen Menschen. Die wohl frühesten Bezeugungen dieses Zweiges des Mythos finden sich in „äsopischen“ – dem Erzähler Äsop zugeschriebenen – Fabeln, die allerdings nur in später Überlieferung vorliegen und daher nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt fassbar sind. Falls tatsächlich Äsop der Urheber oder Erzähler zumindest einer der Fabeln war, war dieser Stoff bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. verbreitet; belegt ist er aber erst ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. In einer äsopischen Fabel kommt das auch von Platon verwendete Motiv vor, dass zuerst die Tiere geformt wurden und dann nicht mehr genug Stoff für die Menschen übrig war. Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur und das Vorkommen von Homosexualität werden in der Fabelliteratur auf Unachtsamkeiten zurückgeführt, die Prometheus bei der Schöpfung unterlaufen seien. Kult Kultische Verehrung scheint Prometheus nur in Athen in größerem Ausmaß genossen zu haben. Nach einer umstrittenen Hypothese war er der Schutzgott mancher Handwerker, insbesondere der Töpfer. In dem Akadḗmeia genannten Hain im Nordwesten von Athen außerhalb der Stadtmauer befand sich im 5. Jahrhundert v. Chr. ein Prometheus-Altar. Von dort ging ein Fackellauf in die Stadt aus, der Wettkampfcharakter hatte und jährlich am Festtag des Gottes stattfand. Die Festlichkeiten dienten der Vergegenwärtigung und wohl auch der rituellen Erneuerung des Aktes, mit dem Prometheus das Feuer gebracht hatte. Ikonographie Griechische, etruskische und römische Künstler und Kunsthandwerker – vor allem Vasenmaler, Bildhauer und Gemmenschneider – schufen zahlreiche Abbildungen von Szenen aus der Prometheussage. Für gewöhnlich erscheint der Titan als Mann reifen Alters, meist bärtig. Als Gefesselter ist er in der Regel nackt. Die im Lauf der Zeit schwankende Beliebtheit einzelner Motive lässt Wandlungen des Publikumsgeschmacks erkennen. Die ältesten bildlichen Darstellungen stammen aus der Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. Sie alle zeigen die Bestrafung; der Adler fliegt oder verzehrt die Leber des Gefesselten. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde das Sujet der Erlegung des Adlers sehr geschätzt, dann trat es für längere Zeit in den Hintergrund. Beim römischen Kunstpublikum stießen Bestrafung und Befreiung auf beträchtliches Interesse. Der Akt des Feuerdiebstahls fand in der bildenden Kunst sehr wenig Beachtung. Häufiger wurde Prometheus als Überbringer des Feuers dargestellt, und zwar gewöhnlich in einer wohl aus dem heute verlorenen Satyrspiel des Aischylos stammenden Szene: Er übergibt das kostbare Gut nicht den Menschen, sondern den Satyrn. Ein beliebtes Motiv war ab der Epoche des Hellenismus die Schöpfertätigkeit des Titanen. Man pflegte seine mächtige Gestalt zusammen mit einem oder mehreren kleinfigurigen Menschen wiederzugeben. Die ersten Abbildungen finden sich auf Gemmen der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr. In der römischen Kaiserzeit wurde die Komposition erweitert: Die Göttin Athene kam als Mitwirkende hinzu. Sie setzt die Seele in Gestalt eines Schmetterlings in den von Prometheus modellierten Menschenkörper ein. In der kaiserzeitlichen römischen Sarkophagplastik war der Mythos ein geschätztes Thema, wobei die Erschaffung des Menschen im Vordergrund stand. Ein um 220 geschaffener Prometheussarkophag stellt die einzelnen Szenen des Ablaufs der Sagenhandlung dar. Auf einem Sarkophagfragment aus dem 3. Jahrhundert erweckt Prometheus eine Menschenfigur zum Leben, indem er sie mit ausgestrecktem Mittel- und Zeigefinger berührt; diese Art der Beseelung wurde in einer Reliefdarstellung des biblischen Menschenschöpfungsakts auf einem christlichen Sarkophag der beginnenden Spätantike übernommen. Auch sonst zeigen sich ikonographische Übereinstimmungen zwischen den Prometheussarkophagen und einer Gruppe von christlichen Sarkophagen des 4. Jahrhunderts. Mittelalter und Frührenaissance Im Mittelalter wussten die Gebildeten West- und Mitteleuropas relativ wenig von dem Mythos, denn die Hauptquellen (Hesiod, Tragödie, Platon, Lukian) waren ihnen nicht zugänglich; immerhin kannten manche Gelehrte beträchtliche Teile des in antiken Handbüchern überlieferten Stoffs. Man fasste Prometheus als historische Person auf. Er galt als großer Entdecker, und ihm wurden die ersten plastischen Abbilder des menschlichen Körpers zugeschrieben. Seine Rolle als menschenfreundlicher Widersacher der Gottheit, die schlecht in das christliche Weltbild passte, wurde weitgehend ignoriert. In der Mythographie wurde die Sage symbolisch ausgelegt. Dort erscheint Prometheus als überaus kluger Naturforscher, und der fressende Adler symbolisiert die Mühsal übermäßiger Anstrengungen bei der Erforschung der Bewegungen der Himmelskörper. Man glaubte, die Erzählung vom Feuerdiebstahl im Himmel sei entstanden, weil Prometheus die Ursache des Blitzschlags herausgefunden habe; dank seinem Verständnis dieses himmlischen Feuers habe er den Feuergebrauch eingeführt. Einen Sonderfall bildet der Gelehrte Alexander Neckam, der um 1200 ein grammatisches und lexikalisches Handbuch mit dem Titel Corrogationes Promethei (Sammlungen des Prometheus) verfasste. Dort bezeichnete er sich selbst als neuen Prometheus; er sah sich als Kulturbringer, der mit seinem Werk Ungebildeten vielfältigen Unterricht erteile. Mit dieser Selbstbeschreibung nahm erstmals ein Mensch für sich selbst die Rolle des Titanen in Anspruch. Hier zeigt sich der Beginn einer Entwicklung, die dazu führte, dass aus Prometheus eine Identifikationsfigur wurde, ein Muster für die Menschheitsgeschichte und das aktuelle Leben der Menschen. In der Frührenaissance zeigten die italienischen Humanisten ab etwa der Mitte des 14. Jahrhunderts Interesse an dem Stoff. Francesco Petrarca (1304–1374) kannte eine Version des Mythos, in der Prometheus nicht von einem Adler, sondern von einem Geier gequält wird; es handelt sich um eine Variante, die schon in der römischen Kaiserzeit bezeugt ist und in der Neuzeit öfters rezipiert wurde. Petrarca meinte, die Legende habe einen historischen Kern, der darin bestehe, dass Prometheus die Einsamkeit des Kaukasus aufgesucht habe, um in unermüdlichem Forscherdrang die Rätsel der Welt zu lösen. Der fressende Vogel symbolisiere die Anstrengung des Forschers, die ihn schwäche. Dieser Ansicht war auch Petrarcas Freund Giovanni Boccaccio (1313–1375), der in seiner Schrift Genealogia deorum gentilium eine ausführliche Beschreibung und neuartige Auslegung des Mythos vorlegte. Boccaccio nahm einen „zweifachen“ Prometheus an, da in der mythischen Überlieferung zwei verschiedene Personen vermengt seien. Der erste Prometheus sei Gott als Schöpfer des „natürlichen“ Menschen. Er habe seinem Geschöpf Leben und den Verstand eingehaucht, aber ihm keine Bildung vermittelt. Daher sei der natürliche Mensch unwissend gewesen und habe wie ein Tier gelebt. Der Urheber der Zivilisation sei der zweite Prometheus gewesen, ein weiser Mann, der beschlossen habe, die Barbarei der Menschheit zu beenden. Unter dem Feuer sei die Klarheit des Wissens zu verstehen, das dieser Kulturbringer von Gott bezogen und den Menschen gebracht habe. Mit der Begründung der Zivilisation habe er den Menschen gleichsam neu erschaffen. Der zweite Prometheus sei in Wirklichkeit nicht nach der Beschaffung des „Feuers“ zur Strafe im Kaukasus angekettet worden, sondern habe sich vor seiner Großtat freiwillig dort aufgehalten, um einsam Studien zu treiben. Mit dem quälenden Adler seien die anstrengenden Gedanken gemeint, mit denen er sich dort geplagt habe. Boccaccios durchweg positives Bild des vermenschlichten Kulturhelden Prometheus erweist ihn als Vorläufer späterer Renaissance-Humanisten wie Giovanni Pico della Mirandola, die den Geist des weisen, kreativen und insofern gleichsam göttlichen Menschen verherrlichten. Ähnlich dachte der Schriftsteller Filippo Villani, ein jüngerer Zeitgenosse Boccaccios. Er sah in Prometheus das Sinnbild des bedeutenden Künstlers. Die bildende Kunst ahme die Natur nach und sei somit eine Nachschöpfung nach dem Vorbild von Gottes Werk. Dieser Gedanke liege der antiken Legende vom erschaffenden Prometheus zugrunde. Der Philosoph Marsilio Ficino (1433–1499), der an die Tradition des antiken Platonismus anknüpfte, deutete die Qual des vom Geier gepeinigten Prometheus als Symbol für die generelle Lage des Menschen. Dieser sei als irdisches Wesen an die Materie gefesselt, bemühe sich vergeblich um die Lösung der Welträtsel und leide unter seiner geistigen Unzulänglichkeit. Zwar sei der Mensch in den Besitz des himmlischen Feuers der Vernunft gelangt, doch gerade dies mache ihn unglücklich, da ihm die letzte Wahrheit dennoch verborgen bleibe. Ähnlich äußerte sich Ficinos Mäzen, der Florentiner Staatsmann und Dichter Lorenzo il Magnifico (1449–1492). Er verherrlichte das mythische Goldene Zeitalter, dem Prometheus ein Ende gesetzt habe, da er zu viel habe wissen wollen. Mit seinem unmäßigen Forscherdrang habe er die Menschheit beunruhigt und um ihre frühere glückliche Daseinsweise gebracht. Frühe Neuzeit In der Frühen Neuzeit war die Rezeption der mythischen Überlieferung von einer stark erweiterten Quellenbasis und von der Auseinandersetzung mit der Symbolik des Kulturschöpfers und Zivilisationsbegründers geprägt. Dabei spaltete sich die herkömmliche Deutungstradition durch Umformungen und Neuinterpretationen in verschiedenartige Zweige auf. In einer Fülle von literarischen und künstlerischen Bearbeitungen zeigte sich die fortdauernde Fruchtbarkeit des Stoffs. Die Urteile über Prometheus schwankten zwischen Verherrlichung seiner Fähigkeiten und Leistungen und scharfem Tadel an seinem Übermut und an den Folgen der ihm zugeschriebenen kulturhistorischen Weichenstellung. Kritik entzündete sich zum einen an seiner Rolle als Initiator eines als problematisch wahrgenommenen Zivilisationsprozesses, zum anderen an seinem selbstbewussten Auftreten gegenüber der herrschenden Gottheit. In der Emblematik wurde die harte Bestrafung als Folge seiner Verwegenheit dargestellt und als abschreckendes Beispiel genutzt; die Lehre daraus sei, dass der Mensch nicht aus vermessener Neugier versuchen solle, in Gottes Geheimnisse einzudringen. Im späten 18. Jahrhundert führte die Bewegung von Sturm und Drang zu einer neuen Wertschätzung der Gestalt des Titanen, der nun als rebellisches Genie dem Zeitgeschmack entsprach und entsprechend verherrlicht wurde. Einen bedeutenden, aber erst spät in die Breite wirkenden Impuls erhielt die neuzeitliche Rezeption durch die Wiederentdeckung des im Mittelalter außerhalb des Byzantinischen Reichs unbekannten Gefesselten Prometheus. Schon 1423 war die wichtigste Handschrift von Konstantinopel nach Florenz gelangt, 1518 erschien der erste Druck des griechischen Originaltextes. Es folgten ab 1555 lateinische Übersetzungen. Dennoch schenkten die Humanisten des 16. Jahrhunderts diesem Drama wenig Beachtung, es entsprach nicht ihrem Geschmack. Oft bezogen sie ihre Kenntnisse aus mythographischen Handbüchern. Im 17. Jahrhundert nahm das Interesse an der Sage deutlich ab. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Gefesselte Prometheus ins Italienische, Englische, Französische und Deutsche übertragen. Philosophie Der humanistische Philosoph Charles de Bouelles präsentierte 1510/1511 in seiner Schrift De sapiente Prometheus als Urbild des Weisen, des Menschen im eigentlichen Sinne, der sich dank seinem Intellekt über seinen ursprünglichen Naturzustand erhebe, die gesamte Welt erforsche und im Himmel – der geistigen Welt – das Kostbarste von allem erlange, das Feuer der Weisheit, das er dann zur Erde bringe. Auch Pietro Pomponazzi (1462–1525) identifizierte die mythische Figur mit dem Philosophen und Naturforscher, der sich ausschließlich der Wissenschaft widme und beim Ringen um die Lösung der Welträtsel Qualen erleide wie der antike Held, sowohl durch seine geistige Mühsal als auch durch die Verachtung und die Verfolgungen, denen er in einer verständnislosen Umgebung ausgesetzt sei. Giordano Bruno schrieb in einem 1585 veröffentlichten satirischen Dialog, Prometheus habe das Feuer entwendet, um das Licht in der Vernunft zu entzünden. Dieser Mythos sei Metapher für dasselbe Thema wie die biblische Erzählung von Adam, der die Hände ausgestreckt habe, um die verbotene Frucht vom Baum der Wissenschaft zu pflücken. Bruno war der Überzeugung, Wissen werde erlangt, indem man es „jage“ oder „stehle“. Dazu sei erforderlich, dass der Mensch das göttliche Verbot übertrete und der Gottheit den Anspruch auf exklusives Wissen streitig mache. Nicht die eselhafte Geduld und der Gehorsam der Christen, sondern die Jägertugenden der Aufmerksamkeit und des schnellen Zugreifens führten zum Erfolg. Francis Bacon widmete dem Titanen das Kapitel Prometheus oder Die Lage des Menschen in seiner 1609 publizierten Schrift über antike Weisheit. Ausführlich beschrieb er aus seiner Sicht die Bedeutung einzelner Episoden des Mythos, dessen Hauptziel es sei, den Menschen als Mittelpunkt und Zweck des ganzen Universums zu zeigen. Bacon ging von einer Version der Prometheussage aus, die in antiken Quellen überliefert ist, aber erst durch das 1551 gedruckte mythographische Handbuch des Gelehrten Natale Conti einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden war. Nach Bacons Wiedergabe dieser Erweiterung der Legende erwiesen sich die Menschen als undankbar, nachdem Prometheus ihnen den Gebrauch des Feuers gezeigt hatte: Sie begaben sich zu Jupiter (Zeus) und klagten ihren Wohltäter bei ihm an. Als der Göttervater und die übrigen Götter von dem Diebstahl erfuhren, zürnten sie aber keineswegs, sondern waren sogar über das Geschehene entzückt. Sie ließen den Menschen nicht nur das Feuer, sondern machten ihnen ein weiteres Geschenk: die ewige Jugend. In übermäßiger Freude luden die Menschen diese Gabe auf den Rücken eines Esels, der sich damit auf den Heimweg machte. Unterwegs litt der Esel an großem Durst. Er gelangte zu einer Quelle, doch diese wurde von einer Schlange bewacht, die ihm das Trinken nur unter der Bedingung erlaubte, dass er ihr dafür das überließ, was er auf dem Rücken trug. Der arme Esel willigte ein, und so verloren die Menschen die ewige Jugend. – Bacon sah im Prometheus-Mythos eine symbolische Darstellung der Lage des Menschen. Die bei Jupiter erhobene Anklage gegen den Feuerbringer deutete er als berechtigte Klage des Menschen über die Unzulänglichkeit der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnis, die der Verbesserung bedürfe. Darin zeige sich die menschliche Unzufriedenheit mit dem bereits Erreichten, die Absage an den Stillstand und das fortdauernde Streben nach neuen Erfindungen. Dieser Wille zum Fortschritt habe Jupiter erfreut und zu der weiteren Gabe bewogen, denn eine solche Einstellung sei belohnenswert. Der Esel als träges Tier symbolisiert für Bacon die Langsamkeit eines auf bloßem Erfahrungswissen ohne theoretische Einsicht beruhenden Fortschritts der Wissenschaft. Die Menschen hätten den Fehler begangen, das Geschenk der Götter einem schwerfälligen, stumpfsinnigen Lasttier aufzuladen. Thomas Hobbes zog in der 1647 erschienenen zweiten Auflage seiner Schrift De cive den Mythos für seine verfassungsgeschichtliche Argumentation heran. Er sah im Göttervater den Repräsentanten der ursprünglichen und überlegenen Staatsform, der Monarchie. Mit dem Feuerdiebstahl und der Schöpfertätigkeit des Titanen sei die Einführung der jüngeren Staatsformen Aristokratie und Demokratie gemeint. Diese seien dadurch zustande gekommen, dass der erfinderische menschliche Verstand (Prometheus) die Gesetzgebung und das Justizwesen der Monarchie (Jupiter) durch Nachahmung (den Feuerraub) entlehnt und mit diesem „Feuer“ ein aristokratisches oder demokratisches Kollektiv (das Geschöpf des Prometheus) erzeugt habe. Die Urheber und Förderer dieses Umsturzes würden wie der Titan bestraft: Statt unter der natürlichen Königsherrschaft sicher und behaglich zu leben, müssten sie beständig unter den Sorgen und Konflikten leiden, die sich aus ihren Staatsordnungen ergäben. Die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts hielten wenig von Mythologie und befassten sich daher relativ selten und nur beiläufig mit der Gestalt des Prometheus. Keiner von ihnen – mit Ausnahme von Voltaire – sah in dem Titanen den Repräsentanten eines revolutionären Geistes. Jean-Jacques Rousseau fällte 1750 in seiner zivilisationskritischen Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste ein vernichtendes Urteil über die Tat des Prometheus. Er befand, der Fortschritt der Wissenschaften und Künste habe die Sitten korrumpiert und die Menschen durch Luxus und Verweichlichung geschwächt und unglücklich gemacht. Die fruchtlose Wissbegierde habe lauter Übel hervorgebracht. Statt der Tugenden würden die Talente honoriert. Prometheus, der Erfinder der Wissenschaften, sei ein der Muße der Menschen feindlich gesinnter Gott, den die Griechen von den Ägyptern übernommen hätten. Sie hätten ihn ungünstig beurteilt, wie die Sage von seiner Bestrafung erkennen lasse. Belletristik Dichterische Rezeption im 16. und 17. Jahrhundert In der Lyrik der Renaissance wurde die Sage gewöhnlich in konventionellem Sinn und nur beiläufig thematisiert, oft ohne Bezug zu einem symbolischen Hintergrund. Die Qual des bestraften Titanen diente als Gemeinplatz bei der Darstellung von Leiden aller Art. Insbesondere in der Liebeslyrik zog man sie heran, um die Not einer unerfüllten Liebe durch einen drastischen Vergleich auszumalen, wobei dem Adler oder Geier die Rolle der quälenden Leidenschaft zufiel. Die begehrte Frau wurde mit der Unglücksbringerin Pandora oder mit dem gestohlenen Feuer verglichen. Zu den Dichtern, die den Stoff in diesem Kontext verwerteten, zählen Pierre de Ronsard, Joachim du Bellay und Maurice Scève. In einer anderen Interpretation setzte Ronsard Prometheus allegorisch mit dem biblischen Adam gleich, das heißt mit der menschlichen Natur, die von Christus erlöst worden sei wie der antike Dulder von Herakles. Den Adler identifizierte der Dichter hier mit dem unerbittlichen alttestamentlichen Gesetz, das von der Gnade Christi überwunden worden sei. Rémy Belleau widmete der Klage des gefesselten Prometheus über die Ungerechtigkeit seiner Bestrafung ein langes Gedicht. Nur vereinzelt erscheint Prometheus in der Renaissance-Dichtung als Vorbild poetischer Schaffenskraft oder als Begründer der Poesie. Nach der Schilderung des lateinisch dichtenden Humanisten Marco Girolamo Vida in seiner 1527 publizierten Poetik hat die Menschheit ihrem mythischen Wohltäter nicht nur das Feuer zu verdanken, sondern auch die Dichtkunst. George Chapman griff dieses Motiv 1594 auf. Er stellte Prometheus als Schöpfer dar, der den Menschen ohne fremde Hilfe nach seinem eigenen Konzept geschaffen habe. Von solcher Art seien auch die genialen, übermenschlichen Dichter, die aus ihrer Phantasie eine Welt hervorzaubern; sie seien „Promethean Poets“. Ein düsteres Bild zeichnete hingegen Luís de Camões in seinem portugiesischen Epos Die Lusiaden (1572). Er warf Prometheus vor, er habe als Schöpfer dem Menschen üble Leidenschaften eingepflanzt, zu deren Folgen die Kriege zählten. Camões beklagte, dass die prometheische Anmaßung unter den Menschen nicht ausrottbar sei. Edmund Spenser führte im 1590 gedruckten zweiten Buch seines Epos The Faerie Queene Prometheus als Menschenschöpfer ein, der einen Körper aus Teilen vieler verschiedener Tierarten zusammengesetzt habe. Dann habe er im Himmel das Feuer gestohlen, um seine Kreatur, die er Elfe nannte, damit zu beseelen. Der spanische Dichter Pedro Calderón de la Barca verarbeitete den Stoff in seiner Komödie La estatua de Prometeo (Die Statue des Prometheus), die 1677 erschien. Im Mittelpunkt steht der Gegensatz zwischen den Brüdern Prometheus und Epimetheus. Epimetheus ist ein Jäger, ein ungebildeter Kraftmensch, der die kriegerische Göttin Pallas verehrt. Prometheus hingegen strebt nach philosophischer Erkenntnis und widmet sich dem Kult der Weisheitsgöttin Minerva, der Schwester der Pallas. Nach dem Scheitern seines Vorhabens, auf die rohe Bevölkerung des Kaukasus belehrend und zivilisierend einzuwirken, zieht sich Prometheus in eine Höhle zurück und wendet sich der Kunst zu. Er schafft eine Statue der Minerva. Sein Bruder ist von der Schönheit der Skulptur begeistert und will dieser Göttin einen Tempel weihen. Damit erregt Epimetheus aber die Eifersucht der Pallas. Sie befiehlt ihm, die Statue zu zerstören. Epimetheus beschließt jedoch, das bewunderte Kunstwerk nicht zu vernichten, sondern zu entwenden, zu verstecken und für sich zu behalten. In der Höhle trifft er Prometheus. Dieser hat inzwischen dank Minervas Gunst den Himmel aufsuchen dürfen und dort einen Sonnenstrahl geraubt. Mit dem entwendeten himmlischen Licht erweckt er nun das Bildnis der Göttin zum Leben. Da greift Pallas zu einer List: Die belebte Statue, die den Namen Pandora trägt, erhält das Gefäß des Unheils. Die Übel entweichen, und sogleich setzt Zwietracht ein. Unter den Kaukasiern bilden sich zwei feindliche Parteien, es droht ein Krieg. Epimetheus ist in Pandora verliebt, doch sie lehnt ihn ab, ihre Neigung gilt Prometheus. Schließlich erscheint der Gott Apollon und führt eine Versöhnung herbei. Prometheus heiratet Pandora. – Mit diesem heiteren Stück wollte Calderón dem Publikum die Verwicklungen vor Augen führen, die sich aus dem Streben nach höheren Werten und dessen Spannungsverhältnis zur Leidenschaft ergeben. Interpretationen und literarische Kontroversen der Aufklärungszeit Der einflussreiche frühe Aufklärer Shaftesbury beschrieb 1710 sein Ideal eines Autors, der die Bezeichnung „Dichter“ wirklich verdiene. Ein solcher Dichter sei „in der Tat ein zweiter Schöpfer, ein wahrer Prometheus unter Jupiter“. Wie die Gottheit als höchster Werkmeister oder die allgemeine bildende Natur schaffe er ein stimmiges, wohlausgewogenes Ganzes. Die These vom Dichter als Prometheus und zweitem Schöpfer unter Jupiter wurde im 18. Jahrhundert geläufig. Jonathan Swift verfasste 1724 ein satirisches Gedicht mit dem Titel Prometheus. In Swifts Satire ist am himmlischen Thron Jupiters eine herabhängende Goldkette befestigt, die bis zur Erde reicht und an deren unterem Ende alle menschlichen Belange hängen. Prometheus stiehlt diese Kette, ersetzt sie durch eine Messingkette und prägt aus dem Gold Münzen. Von dieser Zeit an bringen die Menschen dem Zeus keine Opfer mehr dar. Darauf wird der Übeltäter auf Jupiters Befehl mit seiner eigenen Kette gefesselt und seine Leber den Geiern zum Fraß gegeben. Den aktuellen Bezug enthüllte Swift selbst: Mit Jupiter meinte er König Georg I. und mit Prometheus den korrupten Münzmeister William Wood, dem er eine Bestrafung wie die des Prometheus wünschte, wobei Krähen die Rolle der Geier übernehmen sollten. Voltaire verarbeitete den Stoff in seinem 1748 veröffentlichten „philosophischen“ Opernlibretto Pandore, in dem Prometheus den Tyrannen Jupiter herausfordert. Der himmlische Machthaber weigert sich aus Missgunst, die von Prometheus angefertigte Statue der Pandora zu beseelen. Darauf beschafft sich der Titan das himmlische Feuer und führt damit selbst die Belebung durch. Sogleich verliebt sich Pandora in ihren Schöpfer. Der eifersüchtige Jupiter lässt sie in sein Reich entführen, aber es gelingt ihm nicht, ihre Gunst zu gewinnen. Prometheus rebelliert und versucht mit den Titanen den Himmel zu erstürmen, um die Entführte zu befreien. Das Vorhaben misslingt, doch Pandora darf zu ihrem Geliebten zurückkehren. Sie hat von Jupiter das verhängnisvolle Kästchen erhalten. Gegen den Willen des Prometheus öffnet sie es in seiner Abwesenheit, worauf die Übel entweichen. Das Unheil breitet sich aus, doch dem Paar bleiben Liebe und Hoffnung. Die Liebenden werden am Rande von Abgründen leben, aber die Liebe wird die Abgründe mit Blumen bedecken. Erde und Himmel bleiben für immer getrennt. – Mit dem religionskritischen Bühnenwerk wollte Voltaire seine vorsichtig optimistische Einschätzung der Zukunft einer selbstbestimmten Menschheit zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz zu Voltaire, der für Emanzipation von religiöser Bevormundung warb, behandelten die zeitgenössischen Bühnenautoren Pierre Brumoy und Jean-Jacques Lefranc de Pompignan den Stoff aus christlicher Sicht. Sie wollten anhand ihrer Versionen des mythischen Geschehens die üblen Folgen eigenwilliger Missachtung der göttlichen Weltordnung zeigen. Christoph Martin Wieland bekämpfte mit literarischen Mitteln die Kulturtheorie Rousseaus. In seine 1770 veröffentlichten Beyträge zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens fügte er eine fiktionale Erzählung ein: In einem Traum begegnet der Autor dem gefesselten Prometheus, der ihn befragt, was aus seinen Geschöpfen, den Menschen, geworden sei. Wieland berichtet ihm unter anderem von Rousseaus These, der Zustand der Menschheit werde sich erst bessern, wenn sie die Zivilisation aufgebe und in den „Stand der Natur“ zurückkehre. Darüber machen sich beide lustig. Prometheus enthüllt den Grund, aus dem er den Menschen erschaffen hat: Er war auf den Einfall gekommen, die Erde zu bevölkern, weil er gerade nichts Besseres zu tun hatte. Es war ein bloßes Spiel. Im Jahr 1779 behandelte Wieland dieselbe Thematik in seinem satirischen Singspiel Pandora, in dem er Prometheus die Rolle des Schöpfers zuwies, der „vor lauter Langeweile“ die Menschen zu seiner eigenen Unterhaltung geschaffen hat und später über das Unheil erzürnt ist, in das sich seine Kreaturen verwickelt haben. Auch mit diesem Werk protestierte Wieland gegen die von Rousseau initiierte Idealisierung eines angeblich optimalen Urzustands der Menschheit. Sein Prometheus wollte den Menschen vollendete Glückseligkeit verschaffen, doch mit dieser Absicht machte er sie zu so gutmütigen, einfältigen und gleichartigen Wesen, dass ihr Leben dumpf und eintönig verlief. Sie kannten keine Herausforderung und keine Entwicklung. Daher hielt er es bei ihnen vor Langeweile nicht mehr aus und verließ sie. Sturm und Drang Für die Bewegung Sturm und Drang in der deutschen Literatur wurde Prometheus ab den 1760er Jahren zum herausragenden Repräsentanten ihres Lebensgefühls. Als rebellisches Genie von gewaltiger Schöpferkraft verkörperte er das Ideal der Genieästhetik, das dieser von jugendlichem Aufbruchsgeist geprägten Strömung vorschwebte. Er galt als Vorbild für eine Menschheit, die sich von traditionellen Autoritäten und deren Machtansprüchen emanzipiert und sozial, politisch und geistig nach uneingeschränkter Selbstbestimmung strebt. Zugleich betrachtete man ihn als Urbild der autonomen Künstler- oder Autorenpersönlichkeit, die sich selbstbewusst von den Fesseln herkömmlicher ästhetischer Normen befreit, Großes wagt, ihrer individuellen Natur und Bestimmung treu bleibt und ihre Werke schöpferisch wie ein Gott hervorbringt. Nach der Überzeugung der „Stürmer und Dränger“ erschafft ein solcher genialer Autor oder Künstler seine eigene Kunstwelt wie Prometheus die Menschenwelt. Dabei dachte man in erster Linie an das Dichtergenie. Den Anstoß zur Statuierung des Prometheus als Symbolfigur der neuen Strömung gab Johann Gottfried Herder 1766/67 in seinem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst, wo er erklärte, jedes Volk habe seinen Prometheus, der den Feuerfunken des Genies vom Himmel gestohlen habe; die Dichtkunst sei göttlichen Ursprungs und sie sei allen Nationen natürlich. Shaftesburys Gedanken aufgreifend konstatierte Herder 1769, ein echter Dichter erschaffe seine Werke „als zweiter Prometheus“ und sei als solcher ein „Schöpfer unsterblicher Götter und sterblicher Menschen“. Der junge Goethe würdigte 1771 in seiner Rede Zum Schäkespears Tag Shakespeare mit den Worten: „Er wetteiferte mit dem Prometheus, bildete ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe.“ Im Zeitraum zwischen 1773 und Anfang 1775 verfasste Goethe zwei Werke, in denen er sein Verständnis des Mythos literarisch gestaltete: das Dramenfragment Prometheus und ein gleichnamiges Gedicht, das gewöhnlich als „Hymne“ oder „Ode“ bezeichnet wird. Im Dramenfragment hat sich Prometheus im Trotz gegen seinen Vater Jupiter aus dem Götterhimmel entfernt, um die Statuen zu erschaffen, aus denen das Menschengeschlecht entstehen soll. Vergeblich versuchen ihn Merkur und Epimetheus nacheinander zum Gehorsam und zur Rückkehr zu überreden. Ein verlockendes Angebot der olympischen Götter lehnt er schroff ab, weil er niemandes Knecht sein will. Die Weisheitsgöttin Minerva tritt auf und will zunächst vermitteln, doch schließlich lässt sie sich vom Freiheitsideal des Rebellen so tief beeindrucken, dass sie zu seiner Helferin wird: Sie führt ihn zum „Quell des Lebens“, wo die Statuen beseelt werden. Merkur berichtet Jupiter empört von Minervas „Hochverrat“ und von der Erschaffung lebendiger Menschen, doch der Göttervater unternimmt nichts dagegen, denn er ist sich sicher, dass dieses „Wurmgeschlecht“ ihm, dem Herrscher der Welt, künftig unterworfen sein wird. Prometheus jedoch hält Jupiter stolz und unbeugsam entgegen, er habe die Menschen nach seinem eigenen Bilde geformt – „zu leiden, weinen, zu genießen und zu freuen sich / und dein nicht zu achten / wie ich!“. Das Hauptmotiv des Dramas ist Prometheus’ Erfahrung seiner selbst als eines autonomen Subjekts. Sein Konflikt mit Jupiter wird als Konfrontation zwischen einem ungerechten, autoritären Vater und seinem freiheitsliebenden Sohn inszeniert – eine im Sturm und Drang beliebte Thematik. Mit der Entlarvung und Demontage des tyrannischen Vatergotts verbindet sich die Selbstvergötterung des genialen, schöpferischen Sohnes. Dasselbe Gedankengut drückt Goethes Prometheus-Hymne aus. Seine Gestaltung des mythischen Stoffs war auch eine Absage an Gehorsam fordernde Autoritäten seiner Zeit, an das christliche Gottesbild und den Machtanspruch der Fürsten. Allerdings ist im Dramenfragment auch Goethes hintergründige Ironie erkennbar. Prometheus erstrebt zwar aus der Sicht des Autors mit Recht ein individuelles, freies Leben, ist aber – wie Jupiter – in der Einseitigkeit seines Selbstgefühls befangen. Mit seiner Selbstherrlichkeit und seiner Verachtung anderer isoliert er sich von der Ganzheit des Kosmos. Er distanziert sich von einem Ganzen, in das er sich früher oder später unvermeidlich wieder einordnen muss. Goethe ironisiert die sich absolut setzende schöpferische Selbstherrlichkeit. Frühe Klassik und Frühromantik Nach dem Ende der Epoche von Sturm und Drang kam Herder noch mehrmals auf den Mythos zurück. Im Jahr 1795 schrieb er den Dialog Voraussicht und Zurücksicht, in dem Prometheus und Epimetheus rückblickend ihre unterschiedlichen Haltungen und Vorgehensweisen besprechen. Sieben Jahre später schuf Herder das dramatische Gedicht Der entfesselte Prometheus, in dem er den Leidensweg des Titanen als Triumph der Beharrlichkeit darstellte. Hier findet das Werk des Rebellen schließlich die Zustimmung der Götter, die „reine Menschlichkeit“ als größtes Göttergeschenk wird verwirklicht. Ein Nachklang von Herders Optimismus findet sich in August Wilhelm Schlegels 1797 entstandenem frühromantischem Gedicht Prometheus. Es beginnt mit wehmütiger Erinnerung an den Frieden und das Glück des vergangenen Goldenen Zeitalters, mit dessen Ende ein furchtbarer Niedergang eingesetzt hat. Da die alte Menschheit nicht mehr zu retten ist, schafft Prometheus eine neue. Nach seinen Worten darf die „goldne Kindheit“ der Menschheit, die „im weichen Schooß der Lust verstrich“, nicht wiederkehren. Gefragt ist jetzt kreative Anstrengung; im entbehrungsreichen Kampf gegen übermächtig scheinende Hindernisse hat sich der Mensch, der auf seine innere Kraft vertraut, zu bewähren. Um sein Geschöpf zu beseelen, beschafft Prometheus das Feuer. Da tritt ihm seine kulturpessimistisch eingestellte Mutter Themis entgegen, warnt ihn vor den verhängnisvollen Folgen seiner Tat und schildert ihm weissagend seine künftige Bestrafung durch Zeus. Ihren düsteren Voraussagen stellt er seine Hoffnung auf die menschliche Entwicklungsfähigkeit entgegen. Er sieht im Menschen das freie Wesen, das auf seinem Weg durch Irrtümer zur Vollendung schreitet und „sich zu schaffen nur geschaffen ist“. Bildende Kunst In der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit war Prometheus ein sehr beliebtes Sujet. Gewöhnlich wurde eine der bekannten Szenen aus dem mythischen Geschehen herausgegriffen. Als Menschenschöpfer erscheint der Titan – teils mit dem Feuer, mit dem er seine Geschöpfe beseelt – unter anderem auf Fresken von Domenico Beccafumi (1524/25) und Giovanni Francesco Barbieri, genannt „il Guercino“ (um 1616), einer Zeichnung von Parmigianino (um 1524/1527), einem Deckengemälde von Francisco Pacheco (1603) und Ölgemälden von Pompeo Batoni (1740/43) und Franz Anton Maulbertsch (um 1788). Als Feuerträger ist er auf einem Gemälde von Jan Cossiers (um 1636/38) abgebildet. Weitaus am zahlreichsten sind Darstellungen der Bestrafung; dabei ist Prometheus manchmal mit Vulcanus (Hephaistos) zu sehen, am häufigsten mit dem fressenden Adler. Motive dieser Art zeigen unter anderem ein Emblem im Emblembuch von Andrea Alciato (1531, mit Adler), ein Fresko von Benvenuto Tisi „il Garofalo“ (1540, mit Adler), Ölgemälde von Gregorio Martínez y Espinosa (zwischen 1590 und 1596, mit Adler), Peter Paul Rubens (1618 vollendet; den Adler malte Frans Snyders), Dirck van Baburen (1623, Prometheus und Vulcanus), Jusepe de Ribera (um 1630/31, mit Adler), Theodoor Rombouts (vor 1637, mit Adler), Paulus Moreelse (um 1634/38, mit Adler), Jacob Jordaens (1642, mit Adler), Gioacchino Assereto (vor 1649, mit Adler), Jacques de l’Ange (um 1640/1650), Salvator Rosa (um 1648/1650, mit Adler), Frans Wouters (vor 1659, mit Adler), Luca Giordano (um 1660, mit Adler) und Francesco Foschi (vor 1780, mit Adler), Zeichnungen von George Romney (um 1778/1779), John Flaxman (1794) und Richard Cosway (um 1785/1800, mit Adler), Bronzeskulpturen von Philippe Bertrand (1703, mit Adler) und François Dumont (1710, mit Adler), eine Bronzestatuette von Giovanni Battista Foggini (vor 1716, Prometheus und Merkur mit Adler) und eine Marmorskulptur von Nicolas Sébastien Adam (1762, mit Adler). Seltener wurde die Befreiung als Thema gewählt; sie ist das Sujet von Gemälden von Nicolas Bertin (1703) und Johann Heinrich Füssli (1781/1785) sowie einer Bronzestatuette von François Lespingola (um 1675/1700). Mehrere Motive aus der Prometheussage vereinen zwei zwischen 1510 und 1515 entstandene Truhenbilder (cassoni) des Malers Piero di Cosimo. Auf einem Deckenfresko von Francesco Morandini „il Poppi“ (1570) überreicht Natura, die Personifikation der Natur, Prometheus eine Gabe, mit der sie ihn wohl zum Herrn der Künste ernennt und ihm die Schöpferrolle überträgt. Wandteppiche des 16. Jahrhunderts präsentieren Prometheus nicht antikisierend, sondern in zeitgenössischem Kostüm. Musik In der Musik der Frühen Neuzeit war die Rezeption des Mythos gering. In der 1613 veröffentlichten Masque The Lords Maske von Thomas Campion wird die prometheische Menschenschöpfung thematisiert. 1669 wurde im kaiserlichen Palast in Wien Antonio Draghis Oper El Prometeo gespielt. Giovanni Battista Bassani schuf die 1683 uraufgeführte Oper Prometeo liberato. Georg Christoph Wagenseil komponierte die Serenade Il Prometeo assoluto (Prometheus befreit, Uraufführung 1762) und John Abraham Fisher die Ouvertüre für die Pantomime Prometheus (Uraufführung 1775). Zum Ausklang der Frühen Neuzeit kreierte Ludwig van Beethoven in den Jahren 1800/1801 seine Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“. Moderne Die moderne Rezeption des Mythos knüpfte zunächst an die Sichtweise des Sturm und Drang an. Im 19. Jahrhundert, vor allem in der Epoche der Romantik, wurde die prometheische Auflehnung gegen den Machtanspruch einer fragwürdigen etablierten Autorität verherrlicht und auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Auch das damit verbundene Motiv der Emanzipation der Menschheit von ihrer anfänglichen Unwissenheit und Hilflosigkeit entfaltete eine starke Faszinationskraft. Philosophen, Dichter, Schriftsteller und Künstler nutzten die Interpretations- und Gestaltungsmöglichkeiten, die ihnen der Stoff bot. Der Name Prometheus stand für wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, Wissen und Zivilisation, zugleich auch für die Zurückweisung unterdrückerischer religiöser Dogmen und für den politischen Kampf gegen Tyrannei. Die antike mythische Gestalt wurde zum Symbol für den Menschen schlechthin, für sein kraftvolles Aufbegehren und seinen Kampf gegen widrige Mächte. Fortschrittsoptimisten feierten den Triumph des „prometheischen“ Menschen, der sich als autonomes Wesen konstituiert und sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Für manche Autoren war dabei Goethes Prometheusbild aus der Zeit von Sturm und Drang wegweisend. Die jungdeutsche Bewegung der 1830er Jahre berief sich darauf und zog daraus revolutionäre politische Konsequenzen, vor denen Goethe selbst zurückgeschreckt war. Daneben machten sich aber auch gegenläufige Tendenzen bemerkbar, und ab dem späten 19. Jahrhundert wurden vermehrt kritische Stimmen laut. Das prometheische Ideal des autoritätsfreien, schöpferischen Individuums, das dank seinem Wissen selbst die Rolle der entthronten Götter übernimmt und eine glänzende Zukunft schafft, wurde angezweifelt. Skeptiker und Kulturpessimisten kritisierten das prometheische Bewusstsein als fragwürdige Selbstvergötterung und problematisches Streben nach grenzenloser Macht. Im 20. Jahrhundert wurde der von Prometheus verkörperte unbedingte Selbstverwirklichungswille verstärkt als zwiespältig wahrgenommen. Man bemühte sich um Ausleuchtung der Chancen und der Gefahren, die in der Natur der prometheischen Revolte liegen. Mythenforschung In vielen Teilen der Welt sind Erzählungen entstanden, denen zufolge der menschliche Feuergebrauch mit einem Diebstahl oder Betrug begann: Das Feuer wurde einer Gottheit gestohlen oder aus dem Himmel oder einem Märchenland entwendet, oder das Wissen über seine Erzeugung wurde durch Überlistung des ursprünglichen Besitzers erlangt. Oft wird der Diebstahl als Tat eines legendären Helden beschrieben, eines listigen Kulturheros vom Typus des Tricksters. Den Hintergrund solcher Erzählungen bildet die Annahme eines antagonistischen Verhältnisses zwischen Göttern und Menschen. Die Menschen sind nicht durch die Gunst des ursprünglichen göttlichen Eigentümers des Feuers, sondern durch den Wagemut eines schlauen Helfers in den Besitz des kostbaren Guts gelangt. In der älteren Forschung erregten die Übereinstimmungen zwischen den Feuersagen zahlreicher Ethnien große Aufmerksamkeit. Schon 1859 untersuchte Adalbert Kuhn, ein Pionier der vergleichenden Mythenforschung, die Ähnlichkeit des Prometheusstoffs mit indischem Sagengut. Seine Hypothese, dieser Befund deute auf Abhängigkeit der ältesten griechischen Fassung von einem indischen Urmythos, fand beträchtliche Resonanz, unter anderem bei Louis Séchan, stieß aber auf den Widerspruch von Georges Dumézil. Eine umfangreiche Zusammenstellung und Untersuchung des Überlieferungsmaterials publizierte 1930 der Religionsethnologe James George Frazer. Die neuere Forschung ist von der Vermutung eines geschichtlichen Zusammenhangs zwischen der griechischen und der indischen Überlieferung abgekommen. Es wird aber mit der Möglichkeit gerechnet, dass die ältesten griechischen Gestalter des Mythos Rohmaterial aus dem vorderasiatisch-anatolischen Kulturraum vorfanden, das sie für ihre Zwecke grundlegend umformten. Außerdem bestehen auffällige Übereinstimmungen zwischen der Prometheussage und Legenden aus der Kaukasusregion sowie der skandinavischen Loki-Sage. Dabei geht es um die Fesselung und Folterung eines Riesen bzw. Gottes, der bestraft wird. Ein historischer Zusammenhang gilt als wahrscheinlich, eine Ursage als gemeinsame Ausgangsbasis scheint plausibel, doch fehlt es an zuverlässigen Anhaltspunkten für eine Bestimmung der Entwicklung des Sagenmaterials. Johann Jakob Bachofen brachte 1861 in seiner Untersuchung Das Mutterrecht den Wesensunterschied zwischen Prometheus und Epimetheus mit dem „Gegensatz in der Denkweise der Muttervölker und der Vatergeschlechter“ in Zusammenhang. Aus Bachofens Sicht dominiert bei den matriarchal organisierten „Muttervölkern“ das stoffliche Prinzip der passiven, formlosen, ungestalteten Hyle, bei den Vatergeschlechtern das geistige Prinzip der formgebenden Idee, des Eidos. Der fremdbestimmte Epimetheus repräsentiert das matriarchale Übergewicht des Stoffs und der unbewussten Naturnotwendigkeit, während der Menschenschöpfer Prometheus als Symbol männlicher Gestaltungskraft das geistige Prinzip vertritt. Das Vaterprinzip, das auf die Sonne hinweist, gelangt „durch prometheische Leiden hindurch zum endlichen Siege“. Hans-Georg Gadamer untersuchte die Geschichte und Symbolik der Sage 1946 in seinem Aufsatz Prometheus und die Tragödie der Kultur. Er meinte, im Prometheusmythos habe sich von früh an „die abendländische Menschheit in ihrem eigenen Kulturbewußtsein gedeutet“. Die Geschichte der Deutung dieses „Schicksalsmythos des Abendlandes“ sei „die Geschichte der abendländischen Menschheit selbst“. Nach Gadamers Interpretation besteht das Wesentliche der Tat des Prometheus darin, dass er den Menschen, indem er ihnen die Kultur brachte, die Fähigkeit zur Selbsthilfe gab, die zuvor ein Vorrecht der Götter gewesen war. Somit war die Kultur selbst ein Frevel gegen die Götter. Die Problematik der dadurch entstandenen Lage der Menschheit zeigt sich in einem tragischen Widerspruch „im Herzen der menschlichen Kultur“: Der „Stolz des menschlichen Kulturwillens“ ist – so Gadamer – „unmäßig und verzweifelt zugleich“, weil der Mensch zwar Herrliches erschaffen, aber die Vergänglichkeit nicht aufheben kann. Hierin sieht Gadamer den Hintergrund des Gefesselten Prometheus: „Kulturbewußtsein ist immer schon Kulturkritik“. Der Religionswissenschaftler Karl Kerényi widmete der Gestalt des Prometheus 1946 eine Untersuchung, in der er die Sage in den Zusammenhang des Weltbilds der antiken Griechen am Anfang ihrer Geistesgeschichte einordnete und den Protagonisten als Sinnbild des Menschen auffasste. Nach seinen Worten wird im Mythos vom Handeln und Leiden des Feuerbringers „das unvermeidliche Unrechttun als ein Grundzug der menschlichen Existenz“ dargestellt. Unvermeidlich ist es, weil die Menschheit ohne das Feuer zugrunde gegangen wäre; Unrecht ist es, weil der Mensch auf ein Gut, das ihm nicht gehört, keinen Anspruch erheben kann. Das Bekenntnis des reuelosen Prometheus zu seiner bewusst und gern begangenen Tat und deren Folgen zeigt nach Kerényis Verständnis die Richtigkeit der „Deutung des prometheischen Schicksals als selbsterwählte menschliche Existenz“. Ein wichtiges Forschungsthema ist die Frage nach der vorhesiodischen Urfassung des Mythos. Es wird angenommen, dass Hesiod für seine Schilderung den Stoff einer älteren, heute verlorenen Erzählung verwertete und umgestaltete. Dabei handelte es sich offenbar um eine naiv-lustige, wohl in epischer Form dargebotene Geschichte, in der Zeus eine unvorteilhafte Rolle spielte. Nach diesem alten Schwank wurde der Göttervater nicht nur beim Feuerraub bestohlen, sondern auch bei der Teilung des Opfers in Mekone von Prometheus hereingelegt. Das missfiel dem frommen Hesiod. Da Hesiod an der Übertölpelung des göttlichen Weltherrschers beim Opfer Anstoß nahm, behauptete er, Zeus habe von Anfang an durchschaut, dass List im Spiel war. Unproblematisch war für ihn hingegen der Umstand, dass Zeus beim Feuerraub der Bestohlene war, denn ein solches Getäuschtwerden durch heimlichen Frevel minderte in seinen Augen die göttliche Größe nicht. Eine Allwissenheit im Sinne des christlichen Begriffs schrieb er dem Göttervater nicht zu, nur als Betrogenen wollte er ihn nicht sehen. Unterschiedlich gedeutet wird das Opfer des Prometheus bei Hesiod. Jean Rudhardt verwirft die gängige Interpretation, nach der es sich um das erste Opfer handelt, das den Göttern dargebracht wurde. Vielmehr gehe es in Hesiods Erzählung um die Trennung von Göttern und Menschen, die nach dem Mythos damals stattgefunden habe; das erste Opfer sei ein späterer Akt der Wiederannäherung der beiden getrennten Welten gewesen, den Deukalion nach der Flut vollzogen habe. Den Aspekt der Scheidung und Entfremdung von Göttern und Menschen betont auch Jean-Pierre Vernant, der aber in Prometheus den Begründer der Opfer sieht. Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegel legte in seinen Berliner Vorlesungen den Mythos aus. Prometheus habe den Menschen das „Sittliche, Rechtliche“ nicht gegeben, sondern „nur die List gelehrt, die Naturdinge zu besiegen und zum Mittel menschlicher Befriedigung zu gebrauchen“. Als Titan habe er zu den „alten“ Göttern gehört. Daher sei er im Gegensatz zu den neuen, olympischen Göttern unfähig gewesen, etwas „Geistigeres und Sittlicheres“ – die „Staatseinrichtung“ – zu vermitteln. Die Feuerverwendung sei zunächst nur „in den Dienst der Selbstsucht und des Privatnutzens“ gestellt worden. Der nie endende Schmerz, den der nagende Geier verursachte, drücke den Umstand aus, dass die bloße Befriedigung natürlicher Bedürfnisse nie zur Sättigung führe, denn das Bedürfnis wachse immer fort wie die Leber des Prometheus. Im Marxismus fand der Mythos in der Gestalt, die er im Gefesselten Prometheus erhalten hatte, von Anfang an hohe Wertschätzung. Karl Marx schrieb 1841 in der Vorrede zu seiner Dissertation, Prometheus sei „der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender“; seine radikale Absage an die Götterwelt sei das eigene Bekenntnis der Philosophie, „ihr eigener Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewußtsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen“. Arthur Schopenhauer deutete 1851 Prometheus als Personifikation der menschlichen Vorsorge, des Denkens an morgen. Dieses Privileg habe der Mensch zwar gegenüber den Tieren, doch müsse er dafür durch die unablässige Qual der Sorge büßen, die der nagende Geier verkörpere. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling († 1854) äußerte sich in einer späten Vorlesung zur Bedeutung der Prometheus-Gestalt. Er betrachtete sie als Verkörperung des Gedankens, „in dem das Menschengeschlecht, nachdem es die ganze Götterwelt aus seinem Innern hervorgebracht, auf sich selbst zurückkehrend, seiner selbst und des eigenen Schicksals bewußt wurde“. Prometheus sei „in seinem Recht“, er habe nicht anders handeln können, denn er sei durch eine sittliche Notwendigkeit dazu getrieben worden. Doch auch seine Bestrafung sei notwendig gewesen, denn „nur um solchen Preis erkauft sich die Freiheit und Unabhängigkeit von Gott“. Dieser Widerspruch könne nicht aufgehoben werden; das Schicksal der Menschheit sei „von Natur ein tragisches“. Friedrich Nietzsche befand 1872 in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, der innerste Kern der Prometheussage sei die dem titanisch strebenden Individuum gebotene Notwendigkeit des Frevels. Nach Nietzsches Deutung stellt der Feuerdiebstahl „einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin“ und rückt ihn „wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur“. Die Menschheit erkämpft sich selbst ihre Kultur; sie erringt das Beste und Höchste, dessen sie teilhaftig werden kann, durch einen Frevel und muss dann dessen Folgen, eine Flut von Leiden und Kümmernissen, hinnehmen. Der Gefesselte Prometheus verherrlicht den herben Stolz und die aktive Sünde des titanischen Schöpfers. Die „erstaunliche Schreckenstiefe“ dieser Tragödie liegt für Nietzsche darin, dass „die Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild“ ist, „das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt“. Der Schriftsteller Alfred Döblin befasste sich 1938 in seinem kulturphilosophischen Essay Prometheus und das Primitive mit dem „Promethismus“, der „Technik und Haltung des Feuermachens, der Werkzeuge und Waffen“, die er als „Außentechnik“ den religiösen Praktiken und Maßnahmen, der „Innentechnik“, gegenüberstellte. Die Innentechnik versuche die Verbindung der Individuen mit dem Urzustand, der vor der Individuation bestanden habe, herzustellen. Prometheus sei das Sinnbild des Menschen, der diesen Urzustand verlasse und dann als „primitiv“ abwerte. Mit seinem „forschenden technischen Trieb“ eile er der Natur, die vor ihm zurückweiche, nach. Bei ihm müsse es zur Überhebung und zu Tragik kommen. Döblin analysierte in seinem Essay die psychischen und kulturgeschichtlichen Folgen der Vorherrschaft des „prometheischen Triebs“. Albert Camus stellte 1946 in seinem Essay Prométhée aux enfers (Prometheus in der Hölle) die Frage nach der Bedeutung des Mythos für die Gegenwart. Nach seinem Befund waren seine Zeitgenossen taub für den großen Schrei der prometheischen Revolte. Der antike Held – so Camus – hat den Menschen zugleich das Feuer und die Freiheit gegeben, die Techniken und die Künste; aus seiner Sicht gehören Maschine und Kunst zusammen. Der moderne Mensch jedoch, der sich einseitig der Faszination der Technik hingibt und dabei seinen Geist sterben lässt, hat das nicht begriffen. Er begeht Verrat an seinem Wohltäter Prometheus. Herbert Marcuse beschrieb 1955 Prometheus als den „Archetypus des Helden des Leistungsprinzips“. Der Kulturheld zeige sich in dieser Gestalt wie in den meisten Fällen als der schlaue Betrüger und leidende Rebell gegen die Götter, „der die Kultur um den Preis dauernden Leids schafft“. Er symbolisiere die Produktivität, die rastlose Anstrengung das Leben zu meistern. Aus solcher Produktivität resultiere ein Fortschritt, der mit Mühsal und Unterdrückung unlösbar verflochten sei. In der Welt des Prometheus erscheine Pandora, das weibliche Prinzip, das für Sexualität und Lust stehe, zersetzend und zerstörend. Den entgegengesetzten Pol zu dieser „Arbeitswelt der Kultur“ bilde die alternative Wirklichkeit, für die Orpheus und Narziss stünden: Freude und Erfüllung. Diese beiden Gestalten hätten niemals Kulturhelden der westlichen Welt werden können. Ernst Bloch ging 1959 in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung auf den „unaufgeblühten Glauben an Prometheus“ ein. Der „Prometheusglaube“ sei die Religion der griechischen Tragödie, dort sei sein Tempel und sein Kult. Der Gefesselte Prometheus sei die griechische Zentraltragödie. Alle griechischen Tragödienhelden seien zu Masken des Feuerbringers geworden. Allerdings sei dieser Glaube unaufgeblüht geblieben, weil ihm ein sozialer Auftrag gefehlt habe und weil seine Stiftung in der Betrachtung des Schauspiels steckengeblieben sei. Die marxistische, insbesondere von Bloch formulierte Wertschätzung für den prometheischen Impuls in der Menschheitsgeschichte bezog sich sowohl auf die Rebellion gegen inhumane Ideologien und unterdrückerische Machtverhältnisse als auch auf den zivilisatorischen Aspekt. Das Feuerbringen wurde als Umgestaltung der menschlichen Lebenswelt durch wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aufgefasst. Bloch sah im technischen „Umbau der Natur“ die materielle Basis der erhofften Verwirklichung seiner Utopie einer Optimierung der Lebensverhältnisse durch sozialistische Humanisierung. Als sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Debatten über Chancen und Risiken der stürmischen technologischen Entwicklungen intensivierten, diente Prometheus als Symbol für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und für das Vertrauen auf dessen Segnungen. Auch Technikskeptiker wie Lewis Mumford, Günther Anders und Hans Jonas machten von dieser Symbolik Gebrauch, sie verbanden damit aber andere Bewertungen als die Fortschrittsoptimisten. Jonas eröffnete 1979 das Vorwort seines Hauptwerks Das Prinzip Verantwortung mit der Metapher vom endgültig entfesselten Prometheus, dem die Wissenschaft nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft den rastlosen Antrieb gebe. Diese Macht müsse von der Ethik gezügelt werden, sonst werde sie zum Unheil. Die Verheißung der modernen Technik sei in Drohung umgeschlagen. Im neueren technikkritischen Diskurs wird der „technische Prometheismus“ als Ausdruck einer „naiv utopieträchtigen Fortschrittsgläubigkeit“ angeprangert. Das „prometheische Prestige“ der Technik führe zur Verkennung der Gefahren der Hochtechnologie. Günther Anders prägte den Begriff der „prometheischen Scham“. Diese sei Ausdruck der „Antiquiertheit des Menschen“; der Mensch sei zum „Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks“ geworden und schäme sich seiner Unzulänglichkeit angesichts der Perfektion seiner Apparaturen. Hans Blumenberg legte 1979 in seinem Buch Arbeit am Mythos eine detaillierte Interpretation der Prometheussage und ihres Fortlebens vor. Er deutete sie als Versuch der menschlichen Selbstbehauptung gegenüber dem „Absolutismus der Wirklichkeit“. Hinter der mythischen Welterklärung stehe die Absicht, das Entsetzen angesichts der Unheimlichkeit und Ungeheuerlichkeit der Welt zu bewältigen und das Schreckliche erträglich zu machen. Nach Blumenbergs Auslegung befriedigte der Mythos das Grundbedürfnis nach Selbstbehauptung, indem er verkündete, dass Zeus weder den Feuerraub rückgängig machen noch den Willen des Titanen brechen konnte. Die Unumkehrbarkeit der Tat des Prometheus bot den Menschen eine gewisse Sicherheit. Sie verbürgte ihnen die Dauerhaftigkeit ihres Kulturbesitzes und milderte damit die Verzweiflung über die Hilflosigkeit der Sterblichen und die Grausamkeit des Schicksals. Der Verstoß des Prometheus gegen die Weltordnung besteht für Blumenberg darin, dass er die Aufwertung des zuvor verächtlichen Menschengeschlechts zu einer Weltgröße erzwungen hat. Psychologie Sigmund Freud veröffentlichte 1932 seinen Aufsatz Zur Gewinnung des Feuers, in dem er eine psychoanalytische Deutung der Prometheussage vortrug. Er sah den historischen Kern des Mythos in einer Niederlage des Trieblebens infolge eines notwendig gewordenen Triebverzichts, den die Hinwendung zur Kultur erfordert habe. Nach Freuds Auslegung ist Zeus hier der Repräsentant des eigentlich übermächtigen, aber unter bestimmten Umständen um seine Befriedigung betrogenen Trieblebens. Die harte Bestrafung des Prometheus drückt „unverhohlen den Groll aus, den die triebhafte Menschheit gegen den Kulturheros verspüren mußte“, denn die Durchsetzung eines Triebverzichts ruft Aggressionslust hervor. Eine andere Deutung vertrat Carl Gustav Jung. Seinem Ansatz zufolge ist psychisch jeder Schritt zu einem größeren Bewusstsein eine Art prometheischer Schuld. Durch die Erkenntnis wird gewissermaßen ein Feuerraub an den Göttern begangen, indem etwas, das Eigentum der unbewussten Mächte war, aus diesem naturhaften Zusammenhang herausgerissen und der Willkür des Bewusstseins unterstellt wird. Die Verlassenheit des angeschmiedeten Prometheus im Kaukasus interpretierte Jung als die Einsamkeit desjenigen, der eine neue Erkenntnis gewonnen hat, die sein Bewusstsein erweitert: Ein solcher Entdecker hat sich zwar einem gottähnlichen Zustand angenähert, aber zugleich seiner menschlichen Umgebung entfremdet. Die Qual seiner Einsamkeit ist die Rache der Götter für die „Usurpation“ von Erkenntnis, die – wie im biblischen Mythos vom Sündenfall – eine Tabuverletzung darstellt. Der Philosoph Gaston Bachelard erörterte 1937 in seiner Untersuchung Psychoanalyse des Feuers die sozialen und psychologischen Aspekte des Feuergebrauchs. Dabei versuchte er das Interesse begreiflich zu machen, „auf das der an sich recht dürftige Mythos vom Vater des Feuers noch immer stößt“. Bachelard ging von der Beobachtung aus, dass für die Kinder das Feuer „ursprünglich Gegenstand eines allgemeinen Verbotes“ ist, und folgerte, das soziale Verbot sei „die erste allgemeine Erkenntnis, die wir über das Feuer haben“. Die Ehrfurcht vor dem Feuer sei nicht natürlich, sondern erlernt, denn zuerst werde eine soziale Hemmschwelle geschaffen, die der natürlichen Erfahrung vorangehe. Daher werde das Problem der persönlichen Erkenntnis des Feuers zum Problem der listigen Übertretung, denn das Kind versuche hinter dem Rücken seines Vaters das verbotene Phänomen zu erkunden. So entstehe der „Prometheuskomplex“. Diesen definierte Bachelard als die Gesamtheit der Strebungen, „die uns dazu drängen, ebensoviel zu wissen wie unsere Väter, mehr zu wissen als unsere Väter“. Der Prometheuskomplex sei „der Ödipuskomplex des intellektuellen Lebens“. Nationalsozialismus In der nationalsozialistischen Rezeption des Mythos stand die Verherrlichung der heroischen Willensstärke neben dem Aspekt des Schöpfertums im Vordergrund. Schon 1925 bezeichnete Adolf Hitler im ersten Band seiner Programmschrift Mein Kampf den Arier als den „Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirne der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang“. In den 1930er Jahren schufen die Bildhauer Arno Breker und Willy Meller Prometheus-Skulpturen. Mellers Fackelträger-Figur wurde in der NS-Ordensburg Vogelsang auf dem Sonnwendplatz aufgestellt. Diese muskulöse Prometheus-Gestalt wurde dem Führungsnachwuchs der NSDAP als Verkörperung des nationalsozialistischen Führerideals vor Augen gestellt. Das Theater feierte Hitler als neuen Prometheus. Nur als kraftvoller Held kam der Titan ins Blickfeld, die Bestrafung und der tragische Aspekt des Mythos wurden ausgeblendet. Belletristik In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts griffen Dichter und Schriftsteller der Romantik das vom Sturm und Drang geprägte Motiv des Rebellen Prometheus auf und gestalteten es auf ihre Weise neu. Der Feuerbringer symbolisierte die Vergöttlichung des Menschen, die Entmachtung des mit Zeus gleichgesetzten biblischen Schöpfergottes und die Überwindung der Finsternis von Aberglauben und Furcht. Außerdem wurde der Widersacher der etablierten Weltordnung als Sozialreformer dargestellt. Diese Strömung setzte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte und um die Jahrhundertwende fort, der Gegenspieler des Göttervaters wurde als Sinnbild des militanten Atheismus und Materialismus aufgefasst. Daneben machten sich zwei andersartige Stränge der Rezeption geltend: In manchen Werken erschien ein bereuender, von den Ergebnissen seines Emanzipationsdrangs und seiner Wissbegier enttäuschter Prometheus, in anderen wurde der Titan zum Muster der einsamen überragenden Persönlichkeit, die in ihrem eigenen Reichtum Erfüllung findet und keinen Gott benötigt. Ein Mittel zur Illustration der Problematik der menschlichen Daseinsbedingungen war die Schilderung der Verzweiflung des Prometheus, der alles durchgemacht hat und dann über die Welt tief enttäuscht ist. Im 20. Jahrhundert zersplitterte das überlieferte Motivgut in eine Vielzahl von unterschiedlichen Neuinterpretationen und Weiterentwicklungen. Eine Sonderform der Rezeption war der in der klassischen und romantischen Belletristik thematisierte Gedanke, dass Napoleon Bonaparte mit seinem titanischen Macht- und Gestaltungswillen und seinem dramatischen Scheitern der moderne Prometheus sei. Dramatische Literatur Jahrzehnte nach seinen ersten Bearbeitungen des mythischen Stoffs unternahm Goethe 1807/1808 mit seinem Festspielfragment Pandora – anfangs Pandoras Wiederkehr genannt – eine neue dramatische Umgestaltung der antiken Thematik, die er als ihm immer gegenwärtige „Fixidee“ bezeichnete. Hier erscheint Prometheus als Kontrastfigur zu Epimetheus in negativem Licht und erweist sich als Unglücksbringer. Er ist ein auf Technik und materielle Produktion konzentrierter Tat- und Machtmensch, während sich der träumerische Epimetheus den schöngeistigen Belangen widmet. Goethe wollte das Spannungsverhältnis zwischen diesen gegensätzlichen Grundhaltungen demonstrieren. Die bekannteste romantische Bearbeitung des mythischen Stoffs ist das lyrische Lesedrama in vier Akten Prometheus Unbound (Der entfesselte Prometheus), das der Dichter Percy Bysshe Shelley 1818/1819 verfasste und 1820 veröffentlichte. Im ersten Akt schildert der schon seit dreitausend Jahren angekettete Prometheus in einem Monolog seine Leiden. Er hat einst den Despoten Jupiter verflucht, aber dann im Lauf der Zeit Einsicht gewonnen und sich von seinem Rachedurst gelöst; sein eigenes Leid hat ihn belehrt. Nach einem grundlegenden Sinneswandel widerruft er nun den Fluch, da er keinem lebenden Wesen Leid wünscht. Er widersteht den Drohungen Merkurs, der ihn dazu drängt, das Geheimnis der Jupiter drohenden Gefahr zu verraten. Im zweiten Akt wartet Asia, die Geliebte des Prometheus, auf seine Befreiung. Benötigt wird dafür das Eingreifen des Demogorgon, einer Macht der Unterwelt, die diejenigen Veränderungen des Weltzustands durchführt, die von den Erdenbewohnern durch geistige Akte vorbereitet und damit ermöglicht worden sind. Da Prometheus mit der Rücknahme des Fluchs die Voraussetzung für einen universalen Umschwung geschaffen hat, kann Demogorgon im dritten Akt Jupiter entmachten und den Kosmos von der Tyrannei erlösen. Prometheus wird von Herkules befreit und vereinigt sich mit Asia. Die Menschen bleiben zwar den Lebensrisiken und der Vergänglichkeit sowie ihren eigenen Leidenschaften ausgesetzt, aber von nun an erleben sie die Nöte des Daseins im Bewusstsein ihrer Freiheit mit einer fundamental veränderten Haltung. Im vierten Akt feiern Elementarwesen mit Tanz und Gesang das Erlösungswerk. – Shelleys Prometheus verkörpert den Freiheitswillen der unterdrückten Menschheit und ihre Rebellion gegen tyrannische Willkür. Den Weg zur Befreiung bahnt aber nicht der Wille zum Umsturz und zur eigenen Machtergreifung, sondern die Erkenntnis, die dem Helden zuteilwird, seine Abwendung vom Hass und vom Vergeltungsprinzip. Zugleich wird mit der Darstellung der Rolle Jupiters dem strafenden und belohnenden christlichen Schöpfergott eine Absage erteilt. In der Folgezeit schuf eine Vielzahl von Autoren Dramen, Dramenfragmente und dramatische Gedichte über die mythische Thematik. Zu ihnen zählen Hartley Coleridge (unvollendetes dramatisches Gedicht Prometheus, 1820), Alfred des Essarts (dramatisches Gedicht Prométhée, 1835), Edgar Quinet (Versdramen-Trilogie: Prométhée, inventeur du feu; Prométhée enchaîné; Prométhée délivré, 1838), Leopold Schefer (dramatisches Gedicht Prometheus und der Nachtwächter, 1848), Paul Defontenay (Drama Prométhée délivré, 1854), Édouard Grenier (Versdrama Prométhée délivré, 1857), Richard Henry Horne (lyrisches Drama Prometheus the Fire-Bringer, 1864), Richard Paul (Versdrama Der entfesselte Prometheus, 1875), Charles Grandmougin (dramatisches Gedicht Prométhée, 1878), Alexandre Saint-Yves d’Alveydre (Versdrama Le mystère du progrès, 1878), Robert Bridges (Maskenspiel Prometheus the Firegiver, 1883), Eugen von Jagow (Versdrama Prometheus, 1894), Joséphin Péladan (Versdramentrilogie La Prométhéide, 1895), Christian von Ehrenfels (Versdramentetralogie Der Kampf des Prometheus, 1895), Adolf Schafheitlin (dramatisches Gedicht Das Zeitalter der Cyclopen, 1899), Iwan Gilkin (dramatisches Gedicht Prométhée, 1899), Trumbull Stickney (Versdrama Prometheus Pyrphoros, 1900), William Vaugn Moody (Versdrama The Fire-Bringer, 1904), Mécislas Golberg (Drama Prométhée repentant, 1904), Élémir Bourges (Drama La Nef, 1904 und 1922), Bernard Drew (dramatisches Gedicht Prometheus delivered, 1907), Reinhard Sorge (dramatischer Entwurf Prometheus, 1911), Wjatscheslaw Iwanowitsch Iwanow (Tragödie Prometej, 1919), Victor Eftimiu (Verstragödie Prometeu, 1919), Alberto Casella (dramatisches Gedicht Prometeo, 1923), Nikos Kazantzakis (Versdramentrilogie Promitheas, 1943–1945), Max Garric (Tragödie Prométhée Olympien, 1947), James McAuley (Maskenspiel Prometheus, 1947/1948), Erich Brock (Drama Prometheus, 1954) und Peter Hacks (Drama Pandora, 1979). In vielen dramatischen Werken der Moderne spiegelt das Prometheusbild die weltanschaulichen Überzeugungen des Autors. Das Spektrum reicht vom bereuenden Prometheus, der seinen Irrtum einsieht und sich reumütig der Gottheit unterwirft, bis zum unbeirrbaren und unbeugsamen Feind jeder Gottesverehrung. Mit der kulturschöpferischen Tätigkeit des Prometheus befasste sich der polnische Dichter Cyprian Kamil Norwid in seinem 1851 publizierten, zwei Versdialoge und einen Prosaepilog umfassenden Werk Promethidion. Dort legte Norwid seine Überzeugung dar, dass es die Aufgabe des Künstlers sei, mit seiner schöpferischen Kraft den Alltag des Volkes zu durchdringen und das soziale Leben umzugestalten. Der schwedische Schriftsteller und Dichter Viktor Rydberg stellte 1877 in seinem Dialoggedicht Prometeus och Ahasverus (Prometheus und Ahasverus) den Titanen dem „Ewigen Juden“ Ahasverus gegenüber. Ahasverus besucht den gefesselten Prometheus. In dem Dialog der beiden Unglücklichen tritt Prometheus als Vertreter des Gerechtigkeitsprinzips auf, das er der Unrechtsherrschaft Jupiters entgegenstellt. In dieser Rolle findet er Halt und Trost. Er verlässt sich auf den „Gott der Ewigkeit“, der in seiner eigenen Brust spreche. Ahasverus hält dem entgegen, das abstrakte Gerechtigkeitsprinzip sei „inhaltslos und leer“. Er rät zur demütigen Unterwerfung, da nur Machtverhältnisse real seien und das Recht vom Machthaber definiert werde. Heiner Müller schrieb 1967/1968 das Drama Prometheus, eine Bearbeitung des antiken Gefesselten Prometheus, die 1969 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde. Müller ließ die Widersprüche und Schwächen des Titanen hervortreten. Das Aushalten der Qualen, die sein Protagonist erleidet, fasste er als eine Form von „Arbeit“ auf. Epik Der Schriftsteller Siegfried Lipiner schrieb bereits als Gymnasiast das Epos Der entfesselte Prometheus, das 1876 gedruckt wurde. Dieses Werk fand zeitweilig den Beifall von Nietzsche, der sich anfangs enthusiastisch äußerte. Es brachte dem Autor eine Schar begeisterter Anhänger ein, darunter Gustav Mahler, der ihn für ein Genie hielt. Lipiner verband ein prometheisches mit einem christlichen Motiv. Er ließ Prometheus in der Begegnung mit Christus bereit werden, durch größtes Leid eine Wiedergeburt der gesamten Menschheit zu bewirken. Dahinter stand die Vorstellung eines nur Auserwählten erfahrbaren Schmerzerlebnisses, das Lipiner als wirkendes Prinzip der Heilsgeschichte auffasste. Der Schweizer Epiker Carl Spitteler griff auf das traditionelle mythologische Namensreservoir zurück, ohne sich inhaltlich an der antiken Überlieferung zu orientieren. Die Charaktere und Schicksale seiner Gestalten sind freie Schöpfungen seiner eigenen Phantasie. Für zwei seiner Figuren, ein Brüderpaar, wählte er die sprechenden Namen Prometheus und Epimetheus wegen deren Bedeutungen „Vorausdenker“ und „Hintendreindenker“; außerdem machte er sich dabei die gängigen affektiven Konnotationen dieser Namen zunutze. In seinem 1880–1881 veröffentlichten Erstlingswerk, dem Epos Prometheus und Epimetheus in frei rhythmisierter Prosa, schilderte er die Geschicke der beiden sehr unterschiedlich veranlagten Brüder, die bei ihm keine Titanen, sondern Menschen sind. Erst 1924, im Todesjahr des Autors, erschien eine gekürzte und überarbeitete Versfassung des Epos mit dem Titel Prometheus der Dulder. In Spittelers Epos verlässt Prometheus in jugendlichem Übermut zusammen mit seinem Bruder die Menschengemeinschaft, denn er will „anders werden als die Vielen, die da wimmeln in dem allgemeinen Haufen“. Die beiden bauen sich Häuser in einem stillen Tal. Sie nehmen keine Sitte an und folgen keiner Gottheit außer der eigenen Seele. Der Engel Gottes, der die Welt lenkt, hat die geistige Kraft des Außenseiters Prometheus erkannt und will ihn zum König der gesamten Menschheit machen. Zunächst fordert er den Auserwählten auf, seine Selbstbestimmung aufzugeben, auf den Rat seiner Seele zu verzichten und stattdessen einem „Gewissen“ zu folgen, das er ihm geben will. Dieses – bei Spitteler negativ bewertete – Gewissen soll ihm „-heit“ und „-keit“ – zu Normen erhobene Begriffe – beibringen, die ihm zur Richtschnur werden sollen. Prometheus lehnt das ab, er hält sich lieber an das „geliebte Flüstern“ seiner Seele. Epimetheus hingegen bringt dem Engel das verlangte Opfer und empfängt von ihm das Gewissen. Darauf verschafft ihm der Engel die Königsherrschaft, Prometheus muss ins Exil gehen. Der kurzsichtige Epimetheus ist seiner Aufgabe jedoch nicht gewachsen. Unter seiner Regierung treten Verwicklungen ein, welche die Welt in höchste Gefahr bringen, und es entsteht allgemeine Verwirrung. Schließlich greift Prometheus als Retter ein. Er allein kann das Unheil abwenden, da seine Seele ihm die nötige Kraft verleiht. Nachdem dies gelungen ist, bietet ihm der Engel die Königsherrschaft an, doch Prometheus schlägt das Angebot aus und kehrt in seine Einsiedelei zurück. – Spittelers Anliegen war die Darstellung des Spannungsverhältnisses zwischen einem weitsichtigen Außenseiter und der verblendeten Masse der Unfähigen. Dieser Gegensatz führt im Epos weder zur Selbstverleugnung und Anpassung des überlegenen Einzelnen noch zu seiner Machtübernahme und monarchischen Herrschaft; beides widerspräche seiner Bestimmung. Prometheus kann beide Fehler vermeiden, weil er der Stimme seiner Seele folgt. Ein Prometheus-Epos schuf auch der Philosoph, Schriftsteller und Dichter Rudolf Pannwitz. Sein 1902 veröffentlichter Prometheus in Hexametern, ein Jugendwerk in klassizistischem Stil, stellt den Titanen als Helden dar, der sein Schicksal überwindet, indem er sich selbst überwindet und verwandelt. Lyrik In der modernen Lyrik fanden die einprägsamen Motive der Prometheussage ein mannigfaltiges Echo. Insbesondere die Bestrafung des Titanen mit ihrer großen Symbolkraft wurde häufig aufgegriffen. Viele Lyriker zogen den antiken Mythos im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit modernen Verhältnissen heran, beispielsweise bei der Charakterisierung der „prometheischen“ Persönlichkeit und Tätigkeit Napoleons; andere orientierten sich stärker an der antiken Überlieferung. Oft diente Prometheus als poetisches Sinnbild, wenn Dichter die Härte und Ungerechtigkeit des Schicksals beklagten oder Tyrannei und religiösen Zwang anprangerten oder wenn sie den Fortschritt und die Emanzipation der Menschheit entweder feierten oder als fragwürdig hinstellten. Ein beliebtes Thema war die Absage an religiöse Bindungen und Hoffnungen und die Hinwendung zu einer rein irdischen Bestimmung des Menschen. Manche Dichter priesen diese Lebenseinstellung, andere stellten das Streben nach innerweltlicher Erfüllung als vergeblich dar. Eine besondere Vorliebe für den Prometheus-Mythos zeigte Victor Hugo (1802–1885). Er schätzte den Titanen als Märtyrer der Freiheit, als Aufklärer und als Symbol des Fortschritts und des Vertrauens auf eine bessere Zukunft der Menschheit. Zu den bekannteren lyrischen Werken der Moderne, in denen Prometheus im Mittelpunkt steht, zählen Gedichte von George Gordon Byron (Prometheus, 1816), Friedrich von Sallet (Prometheus, 1835), James Russell Lowell (Prometheus, 1843), Henry Wadsworth Longfellow (Prometheus, or The Poet’s Forethought, 1855), Louise-Victorine Ackermann (Prométhée, 1865), Olegario Víctor Andrade (Prometeo, 1877), Richard Dehmel (Der befreite Prometheus, 1891) und Johannes R. Becher (Prometheus, 1940). In der DDR, wo Goethes Hymne zum Schulstoff gehörte, bot der Mythos Lyrikern Gelegenheit, aktuelle Erfahrungen, Anschauungen und Vorschläge poetisch zu reflektieren. Teils wurde der Titan als Repräsentant des „menschlichen Wesens“ aufgefasst, teils ging es um die Problematik des Verhältnisses zwischen dem erfinderischen Individuum und der Gesellschaft oder um den Verlust der prometheischen Kraft im Alltag. Während in der Frühzeit konventionelle, affirmative Gedichte im Vordergrund standen und der Titan als proletarischer Held besungen wurde, kam später die Ambivalenz des technischen und gesellschaftlichen Fortschritts ins Blickfeld. Im Sinne solcher Skepsis dichtete Rainer Kirsch 1982: „Groß in Gesängen rühmten die Alten den Schaffer Prometheus, / Weil er das Feuer uns gab; wir heute schlucken den Rauch.“ Roman und Erzählung Der in der DDR lebende Schriftsteller Franz Fühmann wollte die Prometheus-Legende im Rahmen einer Sagensammlung für jugendliche Leser nacherzählen. Aus diesem Vorhaben entwickelte sich das Projekt eines großen Jugendromans, das unvollendet blieb. Im Jahr 1974 erschien der erste Teil mit dem Titel Prometheus. Die Titanenschlacht. Im Nachlass des 1984 gestorbenen Autors fanden sich Texte zur geplanten Fortsetzung, Prometheus II, die 1996 veröffentlicht wurden. In dem Romanfragment wird Prometheus von Zeus aus dem Reich der Götter vertrieben, worauf er sich der Erde und der Erschaffung der Menschheit zuwendet. Fühmanns Prometheus ist als mutiger Rebell gegen einen ungerechten Herrscher ein Held im Sinne des Realsozialismus. Seine Schöpfung ist ihm aber nicht gelungen, da die Menschen nicht bereit sind, Initiative zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Die Veröffentlichung des Romans stieß in der DDR auf Schwierigkeiten, da er als politisch brisant eingeschätzt wurde. Der albanische Schriftsteller Ismail Kadare verfasste eine Erzählung über die Gefangenschaft und Befreiung des Prometheus. Am Ende beschleicht den Befreiten der Verdacht, dass die Menschen möglicherweise sein Opfer nicht verdient haben. Dies ist für ihn die grausamste Folter, schlimmer als der Schnabel des Adlers. Besondere Umgestaltungen des Stoffs In manchen modernen literarischen Bearbeitungen bildet nicht die traditionelle Konzeption der antiken Sage die Grundlage. Stattdessen werden nur herausgegriffene Elemente der mythischen Überlieferung auf Verhältnisse in anderen – modernen oder fiktiven – Zeiten übertragen oder der mythische Diskurs wird als solcher durch Umformung diskreditiert. Verfremdungseffekte sollen zum Weiterdenken anregen. Mary Shelley veröffentlichte 1818 ihren Schauerroman Frankenstein oder der moderne Prometheus. Shelleys neuer Prometheus ist der Chemiker Victor Frankenstein, der im Labor einen monströsen Menschen erzeugt und zum Leben erweckt und schließlich seinem eigenen Geschöpf, das gegen ihn rebelliert, zum Opfer fällt. Frankenstein ist Zeus und Prometheus zugleich. Unter einem anderen Gesichtspunkt beschäftigte sich Giacomo Leopardi mit der Schöpfertätigkeit des Prometheus. In seinem 1824 verfassten sarkastischen Dialog La scommessa di Prometeo (Die Wette des Prometheus) behauptet der Menschenschöpfer Prometheus, seine Geschöpfe seien die beste Erfindung aller Zeiten. Er meint dies beweisen zu können und schließt darüber mit dem skeptischen Gott Momos eine Wette ab. Zur Klärung der strittigen Frage durch Augenschein begeben sich die beiden zur Erde. Dort stoßen sie dreimal auf Untaten, die so monströs sind, dass sich Prometheus geschlagen gibt. Stark verfremdet ist der mythische Stoff in André Gides 1899 erschienenem Werk Le Prométhée mal enchaîné (Der schlechtgefesselte Prometheus), das nach Angabe des Autors zur Literaturgattung „Sotie“ zählt. Es handelt sich um eine grotesk-satirische Erzählung, die in einem phantastischen Milieu voller Absurditäten spielt. Die Titelfigur Prometheus hat sich selbst von der schlechten Fesselung befreit und hält sich nun im modernen Paris auf. Zeus, der hier ein Bankier ist, führt durch grundloses, aber folgenreiches Handeln (action gratuite) die Ausgangskonstellation herbei, eine Begegnung in einem Lokal, die das Leben der Beteiligten verändert. Er löst eine Kette von Ereignissen aus, indem er einen ihm unbekannten Mann namens Kokles ohrfeigt und einem anderen Unbekannten, Damokles, dessen Anschrift er von Kokles erhalten hat, einen Briefumschlag, der eine 500-Franc-Banknote enthält, anonym zukommen lässt. Damit setzt Zeus die Schicksale der beiden Männer in Bewegung: Kokles und Damokles, die sich – jeder auf seine Art – mit dem Geschehenen auseinandersetzen, treffen in dem Lokal auf Prometheus und kommen mit ihm ins Gespräch. Für alle drei hat die action gratuite des Zeus weitreichende Folgen. Kokles verliert ein Auge, das ihm der Adler des Prometheus, der ins Lokal hereingeflogen ist, ausschlägt. Damokles, der sein unbegreifliches Erlebnis bewältigen und seine „Schuld“ begleichen will, wird von der Rätselhaftigkeit des Vorgangs so gequält, dass er an der Unlösbarkeit zugrunde geht; er erkrankt und stirbt. Prometheus macht einen Lernprozess durch und gibt seine Erkenntnisse weiter. Er erläutert die Funktion des fressenden Adlers im menschlichen Leben. Dieser ist demnach das, was eine Person begleitet und „verschlingt“, was von ihr Besitz nimmt und zur fixen Idee wird. Jeder hat seinen persönlichen Adler, den er füttert, beispielsweise seinen Glauben an den Fortschritt, sein Pflichtgefühl oder eine Leidenschaft. Der jeweilige Adler gibt der Lebensgeschichte ihre individuelle Prägung. Er wird zum Daseinszweck und verleiht dem Menschen Existenzberechtigung. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Adler. Das muss aber, wie Prometheus nun meint, nicht zwangsläufig so sein. Nachdem Prometheus seinen Adler lange hingebungsvoll genährt hat, ändert er schließlich seine Haltung grundlegend: Er tötet den Vogel und serviert dessen wohlschmeckendes Fleisch den Gästen im Lokal. – Mit diesem Ausgang wendet sich André Gide gegen das traditionelle heroische Prometheusbild und ironisiert jede Form von sinngebender Weltdeutung, insbesondere das Weltbild der Christen und das der Fortschrittsoptimisten, die ihre Hoffnungen auf eine idealisierte Zukunft setzen. Franz Kafka verfasste im Januar 1918 einen kurzen Prosatext, der erst postum veröffentlicht wurde und unter dem nicht authentischen Titel Prometheus bekannt ist. Kafka behauptete, es gebe vier über Prometheus berichtende Sagen, und gab deren Inhalt knapp wieder. Die erste entspricht ungefähr dem antiken Bestrafungsmythos, allerdings ist von mehreren Adlern die Rede; die anderen drei sind Kafkas eigene Fiktion. Nach der zweiten Sage drückte sich Prometheus im Schmerz immer tiefer in den Felsen, bis er mit ihm eins wurde; nach der dritten wurde die Tat, für die er bestraft wurde, im Lauf der Jahrtausende vergessen, auch von ihm selbst. Laut der vierten Sage wurde man des „grundlos Gewordenen“ müde: Die Götter ermüdeten, die Adler auch, „die Wunde schloß sich müde“. – Mit der Aneinanderreihung seiner Versionen trat Kafka der Vorstellung entgegen, der „Wahrheitsgrund“ des Mythos lasse sich durch korrekte Deutung aufdecken. Aus seiner Sicht sind alle Sagen zwangsläufig vergebliche Versuche, Unerklärliches zu erklären. Bei Kafka wird der Mythos als möglicher Träger eines erkennbaren Sinns entmachtet. Heiner Müller wandte sich 1972 in seinem Theaterstück Zement, das in der Sowjetunion spielt, erneut dem Mythos zu. Am Schluss der Szene Befreiung des Prometheus wird eine neue Version erzählt. Hier kommt Herakles nach drei Jahrtausenden als Befreier zu Prometheus. Dieser ist vom Adlerkot, der seine einzige Nahrung bildet, bedeckt. Herakles hält den betäubenden Gestank kaum aus, daher gelingt es ihm erst nach langen Bemühungen, den Adler zu töten. Prometheus ist ihm jedoch nicht dankbar, sondern weint um den Vogel, der sein einziger Gefährte und Ernährer war. Er beschimpft seinen Befreier als Mörder und wehrt sich brüllend. Herakles muss ihn gewaltsam vom Gebirge schleppen. Vergeblich versuchen die Götter dies mit einem Wirbel von Gesteinsbrocken zu verhindern. Prometheus beteuert den Göttern, laut gegen den Himmel schreiend, seine Unschuld an der Befreiung. Nach dem Scheitern ihrer Bemühungen bringen sich die Götter schließlich um. Nun setzt sich Prometheus auf die Schultern seines Befreiers und nimmt eine Siegerpose ein. Michael Scott ließ im 2010 veröffentlichten vierten Teil der Fantasyreihe Die Geheimnisse des Nicholas Flamel mit dem Titel Der unheimliche Geisterrufer den Menschenschöpfer Prometheus auftreten. Sein Prometheus zeigt nur entfernte Ähnlichkeit mit der herkömmlichen Figur. Bildende Kunst In der bildenden Kunst der Moderne wurde der mythische Stoff weiterhin häufig aufgegriffen. Im 19. Jahrhundert dominierten traditionelle Darstellungen, wobei die Bestrafung ein sehr beliebtes Sujet war. Daneben setzte aber bereits die Tendenz zur Neugestaltung und Verfremdung ein, die sich dann im 20. Jahrhundert ausbreitete. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Motiv der Zivilisationsschöpfung kam die Ambivalenz des technischen Fortschritts in den Blick. In seiner Eigenschaft als Kulturschöpfer wurde Prometheus zum Versatzstück für die Dekoration der zahlreichen im Lauf des 19. Jahrhunderts gegründeten Museen und Akademien. Vor allem in Deutschland bestand eine ausgeprägte Affinität zu ihm als Patron der Künste und Initiator jeglicher Bildung. Darstellungen des Titanen gehörten zum Standardrepertoire der Museumsausstattung und zierten auch Universitäten und Technische Hochschulen. Im Bewusstsein der gebildeten Öffentlichkeit war der Aspekt der Stiftung von Künsten und Wissenschaften eng mit dem der Menschenschöpfung verbunden. Bei der Erschaffung des Menschen wurde Prometheus manchmal zusammen mit Athene (Minerva) dargestellt. Zu den Kunstwerken, deren Sujet dieser Akt ist, zählen Deckengemälde von Jean-Simon Berthélemy (1802) und Christian Griepenkerl (1878 vollendet), mehrere Reliefs von Bertel Thorvaldsen (1807–1808 und später), eine Kohlezeichnung und ein Fresko von Peter von Cornelius (1829/1830), eine Marmorskulptur von Ludwig Schaller (1840), zwei Zeichnungen (1908) und eine Lithographie (1924) von Ernst Barlach und ein Ölgemälde von Otto Greiner (1909). Der Feuerraub ist auf einem Deckenfresko von Giuseppe Collignon (1814) abgebildet. Den Feuerbringer zeigen Gemälde von Heinrich Friedrich Füger (1817), Jean Delville (1907, mit leuchtendem Stern statt Fackel), Maxfield Parrish (1919) und Ludwig Valentin Angerer (2011/2016), eine Zeichnung von William Rimmer (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) und eine Bronzeskulptur von Ossip Zadkine (1964). Auf einem Wandgemälde von José Clemente Orozco (1930) versucht Prometheus die von oben über die Menschheit hereinbrechenden Flammen – moderne Folgen des Feuerraubs – abzuwenden. François Rude schuf 1837–1840 das Basrelief Prometheus belebt die Künste. Auf einem Gemälde von Josef Abel (1814) ist Prometheus, der die Fackel hält, mit Merkur (Hermes) und Pandora, die er zurückweist, zu sehen. Besondere Bedeutung erlangte die monumentale vergoldete Bronzefigur des Feuerbringers von Paul Manship, die im 1934 eingeweihten Prometheus-Brunnen des Rockefeller Center in New York aufgestellt wurde. Sie war als Zeichen für Demokratie, Fortschritt und Völkerverständigung gedacht und ist die nach der Freiheitsstatue bekannteste Skulptur New Yorks. Ein beträchtlicher Teil der zahlreichen Darstellungen der Bestrafung des Titanen orientierte sich am Vorbild des Gemäldes von Rubens, doch daneben machte sich schon im 19. Jahrhundert ein Bestreben zu neuartiger Auseinandersetzung mit dem Sujet geltend. Den gefesselten Prometheus zeigen unter anderem Gemälde von Claude-Félix-Théodore Aligny (1837), Thomas Cole (1847), Joseph Lies (1850), Arnold Böcklin (drei Gemälde: 1858, 1882 und 1885), Carl Rahl (vor Juli 1865), William Blake Richmond (1874 ausgestellt), Briton Rivière (1889), Giorgio de Chirico (1909), Christian Rohlfs (um 1912), Franz von Stuck (mehrere Ausführungen, die erste um 1926) und Max Beckmann (1942), ein Wandgemälde von Pierre Puvis de Chavannes (1895/1896, Prometheus mit Okeaniden, im Vordergrund Aischylos), Deckengemälde von Anselm Feuerbach (1875, Prometheus mit Okeaniden) und Oskar Kokoschka (1950, Triptychon Prometheus), eine Zeichnung von Washington Allston (vor Juli 1843) sowie Skulpturen von Paul Bouré (1845, Bronze), Eduard Müller (1868–1879, Marmor, mit Okeaniden), Reinhold Begas (um 1900, Marmor, mit Geier), Paul Landowski (1924, Gips), Gerhard Marcks (1948 und 1981, beide Bronze), Leonard Baskin (Bronzerelief, 1970) und Menashe Kadishman (mehrere Ausführungen, eine davon 1986/1987, Cortenstahl). Die Szene der Fesselung des Prometheus durch Hephaistos, Kratos und Bia ist das Sujet einer Zeichnung von Johann Heinrich Füssli (um 1800/1810). Weniger zahlreich sind die Werke, deren Motiv die Befreiung des Gefesselten bildet. Zu ihnen zählen ein Fresko von Peter von Cornelius und Joseph Schlotthauer (1830, mit Geier), ein Deckengemälde von Christian Griepenkerl (1878 vollendet), ein Ölgemälde von William Blake Richmond (1882), eine Radierung von Max Klinger (1894) und eine Lithographie von Hans Erni (1980). Auf dem Felsen, aber ungefesselt ist Prometheus auf einem Gemälde von George Frederic Watts (1904 beendet, mit Okeaniden) und einer Lithographie von Henry Moore (1950) zu sehen. Manche Künstler wichen bei ihrer Gestaltung des Sagenstoffs erheblich von der Tradition ab. Zu ihnen gehört William Etty, der 1825/1830 ein Gemälde schuf, das den gefesselten Prometheus zeigt, der statt des Adlers vom Pfeil des Herakles getroffen worden ist. Auf einem 1868 entstandenen Gemälde von Gustave Moreau steht der gefesselte Prometheus aufrecht am Felsen und blickt in die Ferne, ohne den gefräßigen Geier neben sich zu beachten; ein weiterer Geier liegt erlegt am Boden, womit die bevorstehende Befreiung angedeutet ist. Hier ist Prometheus zur Erlöserfigur stilisiert. Ein Marmorkopf von Constantin Brâncuși (1911) zeigt Prometheus als schlafenden Knaben; das Kind symbolisiert die Kreativität des Kulturschöpfers. Eine Bronzeskulptur von Jacques Lipchitz, deren erste Ausführung 1937 ausgestellt wurde, stellt Prometheus dar, der den Geier erwürgt. Negativ wird das Motiv des Zivilisationsschöpfers auf dem Ölgemälde von Otto Dix Prometheus – Grenzen der Menschheit (1919) präsentiert: Hier ist Prometheus ein moderner Kriegsversehrter mit Blindenbrille; die Voraussicht, die sein Name ihm zuschreibt, ist ihm abhandengekommen. Im 20. Jahrhundert verwendeten manche Künstler bei der Auseinandersetzung mit der Prometheus-Thematik ausschließlich Gestaltungsmittel der abstrakten Kunst; so Ernst Wilhelm Nay (Ölgemälde Prometheus I, Prometheus II und Prometheus III, 1948), Barnett Newman (Gemälde Prometheus Bound, 1952, Kunstharz auf Leinwand), Jean Dewasne (Gemälde Prometheus, 1952–1965, Lackfarbe auf Aluminium) und William Turnbull (Holzskulptur, 1961). Sozialistische Karikaturisten des 19. Jahrhunderts griffen auf das Motiv des gefesselten Prometheus zurück, um die Unterdrückung der Pressefreiheit durch die Zensur und die Ausbeutung des Proletariats durch den Kapitalismus anzuprangern. Auch die Werbung machte sich den Mythos zunutze. Nachdem im späten 19. Jahrhundert die elektrische Beleuchtung aufgekommen war, wurde aus dem Feuerbringer ein Werbeträger. Plakate des frühen 20. Jahrhunderts zeigen ihn als Lichtbringer mit Glühlampe statt Fackel. Musik Auf beträchtliches Interesse stieß der Sagenstoff auch bei Komponisten. Manche nahmen direkt auf die antike Tragödie Bezug; daneben wurden auch das Gedicht von Herder und das Lesedrama von Shelley musikalisch interpretiert. Die starke Rezeption von Goethes Deutung des Mythos wirkte sich auch im musikalischen Bereich aus, seine Hymne wurde mehrfach vertont. Im Vordergrund standen Musik für den Bühnentanz und Chorwerke, ab 1900 entstand auch eine Reihe von Opern. Oper, Ballett, Modern Dance Salvatore Viganò gestaltete die Choreographie des „heroisch-allegorischen“ Balletts Die Geschöpfe des Prometheus, einer sehr freien Bearbeitung des antiken Stoffs. Die Musik dazu komponierte Ludwig van Beethoven (Opus 43) auf Wunsch der Kaiserin Maria Theresia von Neapel-Sizilien, die bei der Uraufführung in Wien am 28. März 1801 anwesend war. Das Ballett verherrlichte den als Schöpfer triumphierenden Titanen und sein Werk, insbesondere die Erziehung der Menschen zur Kultur. Im Jahr 1813 choreographierte Viganò eine neue Version dieses Balletts mit teilweise anderer Musik für die Mailänder Scala. Der englische Komponist John Barnett schuf die 1831 uraufgeführte Burleske Olympic Revels, or Prometheus and Pandora, eine heitere Bearbeitung des Stoffs. In der Oper erhielt der Titan verschiedentlich die Rolle des Protagonisten. Den Anfang machte Gabriel Fauré mit der „lyrischen Tragödie“ Prometheus (Uraufführung 1900, Opus 82). Weitere Opernkomponisten, die das mythische Geschehen auf die Bühne brachten, waren Maurice Emmanuel (Der gefesselte Prometheus, Opus 16, 1916–1918, Uraufführung 1959), Luigi Cortese (Prometheus, Opus 18, Uraufführung 1951), Ramiro Cortés (Prometheus, 1960), Jan Hanuš (Die Fackel des Prometheus, Opus 54, Uraufführung 1965), Carl Orff (Prometheus mit dem altgriechischen Text der antiken Tragödie, Uraufführung 1968), Lazar Nikolov (Kammeroper Der gefesselte Prometheus, Uraufführung 1974) und Bernadetta Matuszczak (Kammeroper Prometheus, 1981–1982). Die Choreographie von Balletten und Werken des Modern Dance schufen Nicola Guerra (Ballett Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1913), Loïe Fuller (Modern Dance Prometheus, 1914), Max Terpis (heroisches Tanzspiel Prometheus, 1927), Albrecht Knust (Ballett Die Geschöpfe des Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1927), Serge Lifar (Ballett Die Geschöpfe des Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1929), Ted Shawn (Modern Dance Der gefesselte Prometheus mit Musik von Skrjabin, 1929), Aurel von Milloss (Ballett Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1933), Yvonne Georgi (Ballett Die Geschöpfe des Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1935), Pia und Pino Mlakar (Ballett Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1935), Ninette de Valois (Ballett Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1936), Tatjana Gsovsky (Ballett Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1949), Maurice Béjart (Ballett Prometheus, 1956), Elsa-Marianne von Rosen (Ballett Prometheus mit der Musik von Beethoven, 1958), Jean Erdman (Modern Dance Io and Prometheus mit Musik von Lou Harrison, 1959), Erich Walter (Ballett Die Geschöpfe des Prometheus, 1966) und Frederick Ashton (Ballett Die Geschöpfe des Prometheus, 1970). Sonstige Werke der Kunstmusik Eine Reihe von Komponisten vertonten Goethes Hymne. Zu ihnen zählen Johann Friedrich Reichardt (Prometheus, 1809), Franz Schubert (Lied Prometheus, D 674, 1819), Adolph Bernhard Marx (Die Schmiede des Prometheus, Opus 6, 1841), Hugo Wolf (Klavierlied Prometheus, 1889; Fassung für Singstimme und Orchester, 1890), Julius Röntgen (Lied Prometheus, Opus 99, 1928), Hanns Jelinek (Lied Prometheus, Opus 14, 1936) und Erich Sehlbach (Lied Prometheus, Opus 35, 1941). Besonders zur Vertonung des mythischen Stoffs geeignet schien der Gesang mit Instrumentalbegleitung. Vor allem entstand eine Vielzahl von Chorwerken. Franz Schubert komponierte 1816 seine Prometheus-Kantate für Solisten, Chor und Orchester, die verschollen ist. Fromental Halévy veröffentlichte 1849 seine Kantate Der gefesselte Prometheus, deren Libretto von seinem Bruder Léon Halévy stammte. Dieses Werk bot ein romantisches, optimistisches Bild des Titanen als Märtyrer einer Überzeugung, die schließlich triumphiere. Franz Liszt schuf 1850 Chöre zu Herders entfesseltem Prometheus und 1855–1859 eine überarbeitete Fassung dieses Werks; aus der Ouvertüre machte er die symphonische Dichtung Prometheus, rein instrumentale Programmmusik, die 1855 uraufgeführt wurde. Liszt folgte Herders Deutung der Sage und bemerkte zu seiner Musik, er habe darin die Stimmungen aufgehen lassen wollen, welche die Seele des Mythos bildeten: Kühnheit, Leiden, Ausharren und Erlösung. Im Vorwort zur Partiturausgabe des Orchesterwerks schrieb Liszt: „Ein tiefer Schmerz, der durch trotzbietendes Ausharren triumphiert, bildet den musikalischen Charakter dieser Vorlage.“ Auch Camille Saint-Saëns griff den mythischen Stoff auf. In seiner Kantate Die Hochzeit des Prometheus (Opus 19, 1867) heiratet Prometheus Humanité, die personifizierte Menschheit, die ihm die Zivilisation verdankt. Weitere Werke schufen unter anderem Peter Benoit (Oratorium Prometheus, 1867), Hubert Parry (Kantate Der entfesselte Prometheus nach Shelleys Drama, 1880), Lucien Léon Guillaume Lambert (Kantate Der gefesselte Prometheus, Uraufführung 1885), Heinrich Hofmann (Chorkomposition Prometheus, Opus 110, 1892 veröffentlicht), Reynaldo Hahn (Oratorium Der triumphierende Prometheus, 1908), Josef Matthias Hauer (Lied Der gefesselte Prometheus, Opus 18, 1919), Granville Bantock (Chorkomposition Der entfesselte Prometheus nach Shelleys Drama, 1936), Frank Wohlfahrt (Oratorium Die Passion des Prometheus, Uraufführung 1955), Alfred Koerppen (Oratorium Das Feuer des Prometheus, 1956), Carlos Chávez Ramírez (Kantate Der gefesselte Prometheus, 1956) und Rudolf Wagner-Régeny (Prometheus, szenisches Oratorium, Uraufführung 1959). Luigi Nono komponierte die 1984 uraufgeführte „Hörtragödie“ Prometeo. Tragedia dell’ascolto, ein zweieinhalbstündiges, neunteiliges Werk, in dem er die theatralische Aktion in die Musik verlagerte und so das Konzept des Musiktheaters auf den Kopf stellte. Heiner Goebbels vertonte 1985 den Prosatext von Heiner Müller aus dessen Theaterstück Zement in seinem Hörstück Die Befreiung des Prometheus. Auch in der Instrumentalmusik entstand eine Reihe von Bearbeitungen, darunter Werke von Joseph Lanner (Prometheus-Funken, Grätzer Soirée-Walzer, Opus 123, 1837), Woldemar Bargiel (Ouvertüre zu Prometheus, Opus 16, 1852), Karl Goldmark (Ouvertüre Der gefesselte Prometheus, Opus 38, 1889), Leopoldo Miguez (symphonische Dichtung Prometheus, Opus 21, 1891), Johan Peter Selmer (symphonische Dichtung Prometheus, Opus 50, 1898), Jean-Louis Martinet (Prometheus, symphonische Fragmente, 1947), Aleksandar Iwanow Rajtschew (Der neue Prometheus, Symphonie Nr. 2, 1958), Iain Hamilton (Orchesterwerk Die Fesselung des Prometheus, 1963) und Brian Ferneyhough (Kammermusik Prometheus, 1967). Eine besonders wichtige Rolle spielte die Prometheus-Thematik für den russischen Komponisten Alexander Nikolajewitsch Skrjabin, der selbst mit „prometheischem“ Sendungsbewusstsein auftrat. Skrjabin war von der reinigenden und erleuchtenden Macht seiner Kunst überzeugt. Er wollte ein alle Sinne zugleich ansprechendes Gesamtkunstwerk schaffen. Wegen seines frühen Todes im Jahr 1915 konnte das große Vorhaben nicht über eine anfängliche Probierphase hinausgeführt werden. Einen ersten Schritt in die anvisierte Richtung bildete die 1908–1910 komponierte, 1911 in Moskau uraufgeführte symphonische Dichtung Prométhée. Le poème du feu (Prometheus. Die Dichtung des Feuers, Opus 60). Mit ihr wandte sich Skrjabin an zwei Sinne zugleich, indem er seine Musik mit einem begleitenden Farbenspiel verband. Prometheus symbolisierte für den Komponisten das schöpferische Prinzip des Universums, das die Menschheit aus ihrem Anfangszustand der Unbewusstheit befreit und mit der Gabe des Feuers die Schaffenskraft aufgeweckt hat. Skrjabin führte den sechstönigen „Prometheus-Akkord“ ein, in dem er nach seinen Worten „das Licht in der Musik“ fand und dem er ein ekstatisches, rauschhaftes Erleben verdankte, das er als „Aufflug“ und „atemloses Glück“ beschrieb. Unterhaltungsmusik Die Band Einstürzende Neubauten nahm in ihrem Lied Zerstörte Zelle im Album Fünf auf der nach oben offenen Richterskala (1987) auf den Mythos Bezug. In ihrem Text verhungert der Adler und stürzt ab, da die Leber des Prometheus nicht nachwächst. Die norwegische Black-Metal-Band Emperor präsentierte 2001 mit dem Album Prometheus – The Discipline of Fire & Demise eine moderne Version des Mythos. Das Lied Abschiedsbrief des Prometheus auf dem Album Rasluka Part II von Nargaroth (2002) handelt von der unheilbaren Wunde. Im deutsch gesungenen Lied Feuer Overture/Prometheus Entfesselt auf dem Album Lemuria der schwedischen Gruppe Therion (2004) wird das mythische Geschehen knapp aus optimistischer Perspektive dargestellt. Die deutsche Mittelalter-Rock-Band Saltatio Mortis thematisierte die Rolle des Feuerbringers im Song Prometheus auf dem 2007 veröffentlichten Album Aus der Asche. Das Album Pandora (2013) der deutschen Mittelalterband Reliquiae enthält den Song Pandora, der die Geschichte von Prometheus und Pandora behandelt. Die griechische Death-Metal-Band Septicflesh widmete dem Mythos den Song Prometheus auf ihrem 2014 erschienenen Album Titan. Film, Fernsehen, Videospiel Der englische Dichter und Bühnenautor Tony Harrison schuf 1998 den Film Prometheus, in dem der Mythos den Hintergrund zu einer Darstellung des Niedergangs der englischen Arbeiterklasse im späten 20. Jahrhundert bildet. Harrison übertrug die Konstellation der antiken Tragödie Der gefesselte Prometheus verfremdend auf die modernen Verhältnisse. Für den Film 2001: Odyssee im Weltraum von Stanley Kubrick (1968) wird in der Forschungsliteratur eine Anknüpfung an die Prometheussage, insbesondere an deren Rezeption bei Nietzsche, angenommen. Explizit ausgesprochen ist die Anlehnung an den Mythos im Science-Fiction-Film Prometheus – Dunkle Zeichen von Ridley Scott aus dem Jahr 2012. Dieser ist nach dem Raumschiff Prometheus benannt, dessen Mannschaft eine Expedition zur Kontaktaufnahme mit den außerirdischen Konstrukteuren des Menschen unternimmt. Der Filmtitel erinnert an die antike Sage, die im Film auch kurz erzählt wird. Den Konstrukteuren weist Scott die Rolle des Menschenschöpfers zu. Allerdings ist die von ihm konzipierte Handlung von der mythischen sehr verschieden. In der Science-Fiction-Serie Stargate – Kommando SG-1 wird das erste von Menschen gebaute Großraumschiff, das menschliche und außerirdische Technologie kombiniert, Prometheus genannt. In der Mystery-Fernsehserie Supernatural kommt es in der Staffel 8 nach der Befreiung des Prometheus zum Kampf zwischen ihm und Zeus, der mit dem Tod beider endet. Im Videospiel God of War II versucht ein Widersacher des Zeus, den angeketteten Prometheus zu befreien. Es gelingt ihm schließlich, die Fesselung zu lösen, doch führt dies zum Sturz des Prometheus. Der Titan kommt dabei ums Leben und wird so von der Folter erlöst. Naturwissenschaft Die antike Sagengestalt fungiert in der Naturwissenschaft verschiedentlich als Namengeber. Nach ihr benannt wurden unter anderem das 1945 entdeckte chemische Element Promethium, die 1948 erstmals wissenschaftlich erwähnte Vormenschenart Australopithecus prometheus, der 1960 entdeckte Asteroid (1809) Prometheus, der 1980 entdeckte Saturnmond Prometheus, die Marsebene Promethei Planum sowie ein Vulkan auf dem Jupitermond Io. Prometheus wurde auch eine Langlebige Kiefer genannt, die rund 5000 Jahre alt war, als sie 1964 gefällt wurde. Literatur Übersichtsdarstellungen Elisabeth Frenzel, Sybille Grammetbauer: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte (= Kröners Taschenausgabe. Band 300). 10., überarbeitete und erweiterte Auflage. Kröner, Stuttgart 2005, ISBN 3-520-30010-9, S. 761–767. Hans-Karl Lücke, Susanne Lücke: Antike Mythologie. Ein Handbuch. Marix, Wiesbaden 2005, ISBN 3-86539-046-3, S. 673–691. Olga Raggio: The Myth of Prometheus. Its survival and metamorphoses up to the eighteenth century. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes. 21, 1958, S. 44–62. Raymond Trousson: Prometheus. In: Pierre Brunel (Hrsg.): Companion to Literary Myths, Heroes and Archetypes. Routledge, London/New York 1992, ISBN 0-415-06460-0, S. 968–981. Gesamtdarstellungen Carol Dougherty: Prometheus. Routledge, London/New York 2006, ISBN 0-415-32406-8. Jacqueline Duchemin: Prométhée. Histoire du Mythe, de ses Origines orientales à ses Incarnations modernes. Les Belles Lettres, Paris 1974. Raymond Trousson: Le thème de Prométhée dans la littérature européenne. 3., korrigierte Auflage, Droz, Genève 2001, ISBN 2-600-00519-6. (Standardwerk) Allgemeine Aufsatzsammlungen François Flahault (Hrsg.): L’idéal prométhéen (= Communications, Nr. 78). Éditions du Seuil, Paris 2005, ISBN 2-02-083379-4. Edgar Pankow, Günter Peters (Hrsg.): Prometheus. Mythos der Kultur. Fink, München 1999, ISBN 3-7705-3381-X. Maria Pia Pattoni (Hrsg.): Forum. Prometeo. Percorsi di un mito tra antichi e moderni (= Aevum antiquum, Faszikel 12/13). Vita e Pensiero, Milano 2015, ISBN 978-88-343-3025-8. Claus Leggewie, Ursula Renner, Peter Risthaus (Hrsg.): Prometheische Kultur. Wo kommen unsere Energien her? Fink, Paderborn 2013, ISBN 978-3-7705-5601-4. Antike Jean-Robert Gisler: Prometheus. In: Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae (LIMC). Band 7.1, Artemis, Zürich/München 1994, ISBN 3-7608-8751-1, S. 531–553 (Text) und Band 7.2, S. 420–430 (Abbildungen). Nachträge in den Ergänzungsbänden Supplementum 2009: Supplementband 1, Artemis, Düsseldorf 2009, ISBN 978-3-538-03520-1, S. 436 f. (Text) und Supplementband 2, S. 208 f. (Abbildungen) Jean-Robert Gisler: Die Ikonographie des Prometheus in der Antike. In: Freiburger Universitätsblätter. Jahrgang 39, Heft 150, 2000, S. 61–74. Eckard Lefèvre: Studien zu den Quellen und zum Verständnis des Prometheus Desmotes. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2003, ISBN 3-525-82524-2. Irmela Kühnrich-Chatterjee: Prometheusbilder. Vorstellungen von Prometheus in den schriftlichen und bildlichen Zeugnissen von den Anfängen im 7. Jh. v. Chr. bis in hellenistische Zeit. Dissertation Universität Freiburg 2019. (Digitalisat) Mittelalter und Frühe Neuzeit Reinhard Steiner: Prometheus. Ikonologische und anthropologische Aspekte der bildenden Kunst vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. Boer, Grafrath 1991, ISBN 3-924963-42-8. Moderne Caroline Corbeau-Parsons: Prometheus in the Nineteenth Century. From Myth to Symbol. Legenda, London 2013, ISBN 978-1-907975-52-3. Paul Goetsch: Die Prometheusmythe in der englischsprachigen Literatur nach 1945. In: Martin Brunkhorst u. a. (Hrsg.): Klassiker-Renaissance. Modelle der Gegenwartsliteratur. Stauffenburg, Tübingen 1991, ISBN 3-923721-79-X, S. 31–51. 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Laurenz Lütteken (Hrsg.): Der entfesselte Prometheus. Der antike Mythos in der Musik um 1900. Bärenreiter, Kassel 2015, ISBN 978-3-7618-2156-5. Literarische Rezeption Wolfgang Storch, Burghard Damerau (Hrsg.): Mythos Prometheus. Texte von Hesiod bis René Char. Reclam, Leipzig 1995, ISBN 3-379-01528-8. Weblinks Ursula Renner: Prometheus-Bibliographie (2012; PDF) Prometheus (Bilder auf der Website von Hedwig Abraham: Kunst und Kultur in Wien) Anmerkungen Person der griechischen Mythologie Titan (Mythologie) Männliche Gottheit Griechische Gottheit als Namensgeber für einen Asteroiden Namensgeber für ein chemisches Element
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https://de.wikipedia.org/wiki/Nietzsche-Archiv
Nietzsche-Archiv
Das Nietzsche-Archiv war die erste Einrichtung, die sich der Archivierung, Erschließung und Herausgabe von Dokumenten zu Leben und Werk des Philosophen Friedrich Nietzsche widmete. Heute trägt das Museum in der Villa Silberblick diesen Namen. Das Archiv wurde 1894 in Naumburg gegründet und befand sich seit 1896 in Weimar. Seine Geschichte ist bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eng mit seiner Gründerin und jahrzehntelangen Leiterin Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester des Philosophen, verknüpft und war deshalb von Beginn an teilweise heftiger Kritik ausgesetzt. Trotzdem konnte sich das – seit 1908 als Stiftung Nietzsche-Archiv geführte – Archiv bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als zentrale Stelle der Nietzsche-Rezeption in Deutschland halten. In der DDR wurde es den Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar angeschlossen und 1956 formal aufgelöst. Seine Bestände wurden westlichen Forschern zugänglich gemacht, welche die fragwürdigen früheren Nietzsche-Ausgaben durch wissenschaftlich haltbare ersetzen konnten. In der DDR blieb Nietzsche allerdings ein faktisch verbotener Autor. Heute werden die ehemaligen Archivbestände in verschiedenen Einrichtungen der Klassik Stiftung Weimar verwahrt. Der frühere Sitz des Archivs, die Villa Silberblick, wird als Museum und als Sitz des Kollegs Friedrich Nietzsche verwendet. Auch dieses Gebäude wird manchmal als Nietzsche-Archiv bezeichnet und trägt heute wieder diesen Schriftzug über seinem Eingang. Im Nietzsche-Archiv befinden sich auch Teile (ungeordnet) des Peter-Gast-Archivs (Heinrich Köselitz). Geschichte Ziele des Archivs Nachdem Elisabeth Förster im Herbst 1893 aus Paraguay nach Deutschland zurückgekehrt war, plante sie die Gründung eines Nietzsche-Archivs. Vorbilder dürften das seit 1889 unter diesem Namen betriebene Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar und die „Bayreuther Bewegung“ um Cosima Wagner gewesen sein. Ziel der Archivgründung war die Sammlung von Quellen, um ihre Verstreuung zu vermeiden und sich eine Monopolstellung in ihrer Auswertung zu verschaffen. Seit Anfang der 1890er stieg die Nietzsche-Rezeption im deutschsprachigen Raum sprunghaft an. Das Nietzsche-Archiv versuchte, in der öffentlichen Diskussion die Deutungshoheit über Friedrich Nietzsche und seine Philosophie zu gewinnen. Dem dienten in den folgenden Jahrzehnten nicht nur die biografischen Bücher Elisabeth Förster-Nietzsches, sondern auch eine Vielzahl von Zeitschriften- und Zeitungsartikeln, die aus dem Archiv oder aus dessen Umkreis kamen. Förster-Nietzsche hatte schon seit ihrer Jugend Dokumente über den von ihr bewunderten Bruder gesammelt und kaufte jetzt vor allem seine Briefwechsel für teilweise beträchtliche Summen auf. Neben Friedrich Nietzsches Werken wurden von nun an also auch seine Briefe direkt oder indirekt vom Archiv herausgegeben. Ein weiterer Grund für die bald beginnende rege Publikationstätigkeit des Archivs und seine Monopolisierung von Nietzsches Werk dürfte gewesen sein, dass damit hohe Gewinne erzielt werden konnten. Gründung in Naumburg Nach Nietzsches Zusammenbruch 1889 hatten zunächst Heinrich Köselitz und Franz Overbeck als Verantwortliche für Nietzsches literarischen Nachlass gehandelt. Köselitz wandte sich im Winter 1893/94 vorläufig von jeder Beschäftigung mit Nietzsche ab, als Förster die von ihm begonnene Nietzsche-Ausgabe hatte zurückziehen und einstampfen lassen. Overbeck und Förster hatten sich schon davor zerstritten. Förster ließ sich weitere in fremden Händen befindliche Manuskripte ihres Bruders aushändigen und handelte mit dem Verlag C.G. Naumann neue Verträge aus. Zum 68. Geburtstag ihrer Mutter am 2. Februar 1894 überraschte sie diese mit fertig eingerichteten Archivräumen in der gemeinsamen Naumburger Wohnung. Im April wurde der Schriftsteller und Kunstwissenschaftler Fritz Koegel (1860–1904) als Herausgeber der geplanten Nietzsche-Gesamtausgabe angestellt. Bereits im September zog das Archiv aus dem Wohnhaus der Mutter und des kranken Bruders in ein größeres Naumburger Quartier, wo bald auch Besucher wie Harry Graf Kessler empfangen wurden. Bei einem Besuch im Goethe-Archiv hatte Frau Förster die Bekanntschaft der Goethe-Herausgeber Eduard von der Hellen und Rudolf Steiner gemacht. Letzterer, auch als Nietzsche-Kenner geltend, besuchte sie mehrfach und durfte Original-Manuskripte einsehen. Am 1. Oktober wurde von der Hellen als neuer Mitarbeiter gewonnen. Dieser Verpflichtungscoup lenkte einige öffentliche Aufmerksamkeit auf das Archiv. Zwischen Steiner und von der Hellen kam es deswegen zu einer Auseinandersetzung, deren Hintergrund nicht völlig geklärt ist. Dass Steiner lieber selbst Herausgeber geworden wäre, wurde von ihm später energisch bestritten, aber von Förster-Nietzsche später im Streit mit Steiner öffentlich so dargestellt. Schon bald nach der Anstellung von der Hellens wurde Fritz Koegel für einige Zeit beurlaubt. Von der Hellen schied schon nach wenigen Monaten im gegenseitigen Einvernehmen wieder aus dem Archiv aus. Die von Koegel unter Mitarbeit von der Hellens begonnene Gesamtausgabe schritt 1895 zügig voran. Ebenfalls ein literarischer Erfolg wurde der erste Band von Försters Nietzsche-Biografie. Aus heutiger Sicht war diese Schrift auch der erste Baustein des verzerrten Nietzsche-Bildes, welches das Archiv in den Folgejahren verbreitete (siehe Das Nietzsche-Bild des Archivs). Im Dezember 1895 gelang es Förster nach erheblichem Druck, ihrer Mutter und dem zweiten Vormund des Kranken, Adalbert Oehler, alle Rechte an den Schriften ihres Bruders abzukaufen. Dafür lieh sie sich 30.000 Mark beim Bankier Robert von Mendelssohn, wobei die Nietzsche-Freunde und -Verehrer Meta von Salis, Harry Graf Kessler, Hermann Hecker und Raoul Richter als Bürgen eintraten. Immer wieder kam es in dieser Zeit zu Auseinandersetzungen zwischen Schwester und Mutter des Philosophen: Letztere empfand das Gebaren des Archivs und ihrer Tochter als unwürdig und fühlte sich ungerecht behandelt. Sie starb am 20. April 1897 im Alter von 71 Jahren in Naumburg. Umzug nach Weimar Am 1. August 1896 zog das Archiv mit finanzieller Unterstützung Meta von Salis’ nach Weimar um, zunächst in eine angemietete Wohnung. Grund für die Wahl Weimars dürfte der Wunsch gewesen sein, von der Aura der Kulturstadt zu profitieren und sich dem bereits erwähnten Vorbild des Goethe- und Schiller-Archivs gleichzustellen. Auch Harry Graf Kessler, ein wichtiger Protagonist des „Neuen Weimars“, hatte für diesen Umzug geworben. Im Winter 1896/97 kam es zu einer ersten schweren Krise im Archiv, über deren genauen Hergang keine endgültigen Erkenntnisse vorliegen. Förster-Nietzsche wollte Rudolf Steiner als Herausgeber gewinnen und gegebenenfalls Koegel, mit dem es zu sachlichen Differenzen und persönlichen Spannungen gekommen war, entlassen. Nach Darstellung Steiners und anderer hat sie dazu Steiner und Koegel gegeneinander aufgehetzt, die dies allerdings schließlich durchschaut hätten. Förster-Nietzsche stellte es später so dar, dass Steiner Herausgeber werden wollte und so von sich aus in Konflikt mit Koegel geraten sei. In Folge dieser Krise wurde Koegel schließlich zum 1. Juli 1897 entlassen, und nachfolgende Verhandlungen mit Steiner, der sich immer weiter vom Archiv distanzierte, scheiterten. Ebenfalls zum 1. Juli 1897 kaufte Meta von Salis die Villa „Zum Silberblick“ in Weimar für 39.000 Mark und stellte sie dem Archiv zur Verfügung. Der Umzug fand im Sommer statt, auch der pflegebedürftige Friedrich Nietzsche wurde hierher verlegt. Mit eigenmächtigen Umbaumaßnahmen verärgerte Förster-Nietzsche ihre Freundin und Gönnerin Meta von Salis, die das Haus 1898 an Adalbert Oehler verkaufte und den Kontakt zu Förster-Nietzsche abbrach. Im Oktober 1898 konnte Arthur Seidl als Herausgeber einer neuen Gesamtausgabe – bereits der dritten nach den jeweils abgebrochenen Köselitz’ und Koegels – gewonnen werden. In der Folgezeit traten auch die Brüder Ernst und August Horneffer als Mitarbeiter ins Archiv ein, Ende 1899 auch Heinrich Köselitz. Bei Köselitz’ überraschendem Eintritt dürfte seine schwierige finanzielle Lage eine Rolle gespielt haben. Mazzino Montinari hat später die These aufgestellt, es habe eine Art „Nichtangriffspakt“ zwischen Köselitz und Förster-Nietzsche gegeben, denen beide abschätzige Urteile Friedrich Nietzsches über den jeweils anderen bekannt waren. Öffentliche Auseinandersetzungen Im Jahr 1900 kam es zum ersten öffentlichen Streit um die Editionsmethoden des Archivs und seine philosophische und philologische Kompetenz. Ausgelöst wurde er durch einen Aufsatz Ernst Horneffers, in dem der frühere Herausgeber Koegel scharf attackiert wurde; damit sollte der Aufsatz auch die Einziehung der alten und den Beginn der neuen Gesamtausgabe rechtfertigen. Rudolf Steiner, der in die oben erwähnte Archivkrise verwickelt war, antwortete darauf mit einer „Enthüllung“ im Magazin für Litteratur. Er verteidigte Koegel und gab eine sehr negative Charakterisierung von Förster-Nietzsche, die in der Behauptung gipfelte: „Daß Frau Förster-Nietzsche in allem, was die Lehre ihres Bruders angeht, vollständig Laie ist. Sie hat nicht über das Einfachste dieser Lehre irgend ein selbständiges Urteil. [… Zudem fehlt ihr] aller Sinn für […] logische Unterscheidungen; ihrem Denken wohnt nicht die geringste logische Folgerichtigkeit inne; es geht ihr jeder Sinn für Sachlichkeit und Objektivität ab. Ein Ereignis, das heute stattfindet, hat morgen bei ihr eine Gestalt angenommen, die […] so gebildet ist, wie sie sie eben zu dem braucht, was sie erreichen will. [Sie lügt aber nicht absichtlich:] Nein, sie glaubt in jedem Augenblicke, was sie sagt. Sie redet sich heute selbst ein, daß gestern rot war, was ganz sicher blaue Farbe trug.“ Damit war zum ersten Mal der Vorwurf nicht nur der philosophischen Inkompetenz, sondern auch der (bewussten oder unbewussten) Verfälschung von Friedrich Nietzsches Werk und Person gegen das Archiv öffentlich erhoben worden. Es entwickelte sich nun ein in mehreren Zeitschriften ausgetragener Streit, der sich nicht nur um diese Punkte, sondern auch um philosophische Fragen der Nietzsche-Deutung drehte. Die genannten Vorwürfe gegen das Archiv wurden in verschiedener Schärfe in den Folgejahren immer wieder erhoben, oft auch direkt oder indirekt von ehemaligen Archivmitarbeitern. Die heutige Nietzscheforschung ist sich weitgehend einig, dass sie berechtigt waren. Das Basler „Gegenarchiv“ Die wichtigsten öffentlichen Gegner des Archivs sahen sich selbst in der Nachfolge Franz Overbecks in Basel; man sprach daher von der „Basler Deutung“, „Basler Tradition“ oder gar dem „Basler Gegenarchiv“. Die Universitätsbibliothek Basel verwahrt bis heute mit Nachlässen F. Overbecks, Carl Albrecht Bernoullis, Jacob Burckhardts, M. von Salis’, Josef Hofmillers, P. Lauterbachs, P. Lanzkys, Karl Joëls und Gustav Naumanns nach dem Archiv die zweitgrößte Sammlung von Nietzscheana. Die größten Auseinandersetzungen fanden zwischen 1905 und 1909 statt und vermengten sehr unterschiedliche Fragen. Sie begannen mit dem Vorwurf Förster-Nietzsches, durch Overbecks Schuld seien Manuskripte Nietzsches für eine vollständige Schrift Die Umwertung aller Werte verloren gegangen. Die juristische und literarische Verteidigung des Verstorbenen wurde von dessen Witwe Ida und dessen Schüler Carl Albrecht Bernoulli begonnen. Die juristische Auseinandersetzung endete 1907 mit einem Vergleich, ihren Standpunkt machten Förster-Nietzsche (Das Nietzsche-Archiv, seine Freunde und Feinde, 1907) und Bernoulli (Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, 1908) auch in Büchern deutlich. Die heutige Nietzscheforschung gibt eindeutig den „Baslern“ recht. Schon 1901 hatten die Brüder Horneffer und Köselitz für das Archiv eine aus Nietzsches Nachlass kompilierte Schrift Der Wille zur Macht herausgegeben. 1906 erschien eine stark veränderte und erweiterte Fassung davon, herausgegeben von Förster-Nietzsche und Köselitz. Die Schrift wurde vom Archiv als „Hauptprosawerk“ Nietzsches bezeichnet und entfaltete eine aus heutiger Sicht fragwürdige und das Werk Nietzsches entstellende Wirkung. Der Streit um die Frage, wie Nietzsches Nachlass herauszugeben sei, wurde selbstkritisch von den Brüdern Horneffer angestoßen (August Horneffer: Nietzsche als Moralist und Schriftsteller, 1906; Ernst Horneffer: Nietzsches letztes Schaffen, 1907) und in unterschiedlichen Zeitschriften geführt. Eine sachliche Verteidigung des Archivs versuchte Ernst Holzer. 1908 ging Heinrich Köselitz gerichtlich gegen den zweiten Band von Bernoullis oben erwähnter Schrift Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck vor. Er wollte die Publikation seiner früheren Briefe an Overbeck, in denen er Förster-Nietzsche scharf kritisiert hatte, verhindern. Tatsächlich mussten Bernoulli und sein Verleger Eugen Diederichs die Stellen zunächst schwärzen und schließlich ganz streichen. Gerichtliche Auseinandersetzungen um die Herausgabe des Nietzsche-Overbeck-Briefwechsels zogen sich bis in den Ersten Weltkrieg hin. Auch dieser Prozess wurde von Angriffen und Gegenangriffen in der Presse begleitet. Von Bedeutung ist, dass Bernoulli hier zum ersten Mal aus den sogenannten „Koegel-Exzerpten“ zitierte: Der inzwischen verstorbene Herausgeber Fritz Koegel hatte in seiner Zeit im Archiv (siehe oben) heimlich eine ganze Reihe von Stellen aus Nietzsches Manuskripten und Briefen abgeschrieben, die unter anderem Friedrich Nietzsches gespanntes Verhältnis zu Mutter und Schwester zeigten und damit Förster-Nietzsches biografischen Schriften widersprachen. Das Nietzsche-Archiv bestritt bis in die 1930er Jahre deren Authentizität. Eine Archiv-kritische Nietzscheforschung wurde fortgeführt von Charles Andler, Josef Hofmiller und Erich Podach. Im Zuge all dieser Auseinandersetzungen verloren das Archiv und seine Leiterin zwar für einige Interessierte ihre Glaubwürdigkeit und sahen sich in kritischen Kreisen Spott ausgesetzt. Beispielsweise veröffentlichte Alfred Kerr zu Förster-Nietzsches 60. Geburtstag ein Spottgedicht Die Übermenschin, worin er die geistige Situation im Archiv kennzeichnete: Übermenschenkaffeekränzchen. 1931 vermerkte Kurt Tucholsky: „Nun aber ist Lieschen die Schwester. […] Sie darf die Werke Nietzsches einleiten, sie darf den Nachlaß Nietzsches, seine Briefe und seine Zettel verwalten, und sie verwaltet sie so, wie wir wissen. Genutzt hat es ihr nichts. Nietzsche, nicht das Brüderchen, der wahre Nietzsche ist, hauptsächlich durch Andler, bekannt geworden – trotz dieses Archivs.“ Dennoch behielt und gewann das Archiv mächtige Unterstützer. Einrichtung als Stiftung, Erster Weltkrieg und Weimarer Republik Im Mai 1908 konnte dank einer außerordentlich hohen Spende des schwedischen Bankiers und Nietzsche-Verehrers Ernest Thiel die „Stiftung Nietzsche-Archiv“ gegründet werden, die vom Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach als gemeinnützige, wissenschaftliche und kulturelle Institution anerkannt wurde. Rechtlich ging damit die Leitung des Archivs in die Hände des Vorstands der Stiftung über, faktisch behielt aber Förster-Nietzsche in allen entscheidenden Fragen das letzte Wort, da die Vorstandsmitglieder ihr entweder treu ergeben waren oder auch an der eigentlichen Tätigkeit des Archivs kein Interesse hatten. Dem Vorstand gehörten in den folgenden Jahren wechselnde Personen des politischen und kulturellen Lebens an. Den Vorsitz der Stiftung hatten inne: Adalbert Oehler (1908–1923, Rücktritt nach Differenzen mit Förster-Nietzsche), Arnold Paulssen (1923–1931) und Richard Leutheußer (1931–1945). Im Ersten Weltkrieg stimmte das Archiv in die allgemeine Kriegsbegeisterung ein. Billige Kriegsausgaben ausgewählter Nietzsche-Schriften fanden großen Absatz. Nach dem Krieg positionierte sich Förster-Nietzsche politisch eindeutig: nämlich in Opposition zur Weimarer Republik. Sie trat der Deutschnationalen Volkspartei bei, vertrat unter anderem die Dolchstoßlegende und rief bei der Reichspräsidentenwahl 1925 zur Wahl Paul von Hindenburgs auf. Dennoch wollte das Archiv nach außen parteipolitische Neutralität wahren, wie sie auch mit den genannten Stiftungsvorsitzenden symbolisiert wurde: Paulssen gehörte der DDP, Leutheußer der DVP an. Tatsächlich gelang es dem Archiv, auch von DDP- und SPD-geführten Ministerien Unterstützung zu erlangen. Adalbert, Max und Richard Oehler, alle Verwandte Förster-Nietzsches, waren bereits vor dem Krieg mit dem Archiv verbunden. Ab 1919 lebten und arbeiteten sie alle direkt am Archiv, ihre politische Einstellung entsprach derjenigen ihrer Cousine. Der Verwaltungsbeamte Adalbert Oehler, zuvor unter anderem Oberbürgermeister Düsseldorfs, war von Spartakisten aus dem Düsseldorfer Bürgermeisteramt vertrieben worden. Er war schon seit Gründung Vorsitzender der Stiftung Nietzsche-Archiv, legte den Vorsitz aber 1923 nach Streitigkeiten mit Förster-Nietzsche nieder. Der Berufssoldat Max Oehler schied 1919 aus dem Heer aus und wurde Archivar. Er erledigte einen Großteil der täglichen Arbeit im Archiv und wurde nach Förster-Nietzsche die bestimmende Figur. Namhafte Unterstützer des Archivs in den ersten Jahren der Weimarer Republik waren Ernst Bertram und Thomas Mann, deren Werke Nietzsche. Versuch einer Mythologie (Bertram, 1918) und Betrachtungen eines Unpolitischen (Mann, 1918) Nietzsche in einer Weise darstellten, die grundsätzlich dem Bild des Archivs entsprach. Harry Graf Kessler dagegen blieb zwar mit Förster-Nietzsche in Kontakt, entfremdete sich aber im Zuge seiner Wandlung zum Pazifisten und „roten Grafen“ von der Linie des Archivs, das sich seinerseits politisch immer weiter nach rechts bewegte. Ab 1923 wurde vor allem Oswald Spengler von Förster-Nietzsche hofiert, zum Vorstandsmitglied gemacht und zum Redner bei wichtigen Anlässen im Nietzsche-Archiv. Das Archiv befand sich „[i]m Fahrwasser der ‚Konservativen Revolution‘“. 1923 stand das Archiv infolge der Inflation vor dem Bankrott, konnte sich aber durch stetige Unterstützung aus großbürgerlichen Kreisen halten. Der erwähnte Ernest Thiel, mütterlicherseits jüdischer Abstammung, war vielleicht der großzügigste Gönner des Archivs, das immer wieder in finanzielle Notlagen kam. Er bewunderte Elisabeth Förster-Nietzsche zutiefst. Ein weiterer Großspender war der Zigarettenfabrikant Philipp Reemtsma, der dem Archiv von 1929 bis 1945 – zunächst anonym – jährlich 28.000 Reichsmark zukommen ließ. Einen im Vergleich dazu eher symbolischen Beitrag leistete Reichspräsident von Hindenburg, der Förster-Nietzsche zu ihrem 80. Geburtstag (1926) einen monatlichen „Ehrensold“ in Höhe von 450 Reichsmark garantierte. Der Archivleiterin war 1921 von der Universität Jena der Ehrendoktortitel verliehen worden, auch wurde sie von deutschen Professoren mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Schließlich wurde 1926 die Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs gegründet mit dem vorrangigen Zweck, Spenden für das Archiv zu sammeln. Während prominente Honoratioren diese Gesellschaft nach außen vertraten, wurde sie tatsächlich von denselben Leuten geleitet wie das Nietzsche-Archiv. Sie hatte allerdings vergleichsweise geringen Erfolg. Um 1925 begannen die Kontakte des Archivs zum Faschistenführer Benito Mussolini. Mussolini war Nietzsche-Verehrer und unterstützte das Archiv in der Folgezeit auch finanziell. Umgekehrt wurde von Seiten des Archivs der Faschismus als geistige Bewegung im Gefolge Nietzsches gelobt, was auch im Vorstand der Stiftung zu Spannungen führte. Die genannte Unterstützung durch Reemtsma oder mehrere Besuche der „Kaiserin“ Hermine wurden aber von der zunehmend rechtsradikalen Ausrichtung des Archivs begünstigt. Durch die Beziehungen zum faschistischen Italien kam es auch zur Annäherung an die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland, die in der Umgebung Weimars ohnehin schon Ende der 1920er überdurchschnittlich stark war (vergleiche Baum-Frick-Regierung). Der genannte Max Oehler war bekennender Nationalsozialist. Anfang 1932 kam es anlässlich der deutschen Erstaufführung von Mussolinis und Forzanos Theaterstück Die hundert Tage (Campo di maggio) zum ersten Treffen zwischen Förster-Nietzsche und Adolf Hitler, der in der Folgezeit mehrfach das Archiv besuchte. Nationalsozialismus und Tod von Förster-Nietzsche In mehreren Briefen begrüßte Förster-Nietzsche den Regierungsantritt Hitlers euphorisch. Sie sah das Nietzsche-Archiv „in herzlicher Verehrung zum Führer“ und in „Verbundenheit mit den Idealen des Nationalsozialismus“. Die Brüder Richard und Max Oehler propagierten die geistige Nähe zwischen Nietzsche und Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus (Richard Oehler: Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft, 1935). Solche Ansichten teilten nicht alle: 1933 trat beispielsweise Romain Rolland unter Protest gegen die Nähe zu Mussolini aus der Gesellschaft der Freunde des Nietzsche-Archivs aus. 1935 verließ auch Oswald Spengler wegen der politischen Tendenz des Archivs den Stiftungsvorstand. 1935 starb Elisabeth Förster-Nietzsche. An der Trauerfeier und der Beerdigung nahmen Adolf Hitler und viele weitere Würdenträger des NS-Staates teil. Max Oehler übernahm die Leitung des Archivs, das damit seinen salonartigen Charakter verlor. Oehler veranstaltete bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs Führungen im Archiv und verbreitete in Schriften und Vorträgen sein nationalsozialistisches Nietzsche-Bild. Tatsächlich ging er in seiner Anpassung an die herrschende Politik weiter als Förster-Nietzsche. Nach dem Ablauf der Schutzfrist für Nietzsches Werke hatte sich zur Erstellung einer „historisch-kritischen Gesamtausgabe“ bereits 1931 ein Wissenschaftlicher Ausschuss (WA) beim Archiv konstituiert (vergleiche Nietzsche-Ausgabe: Ablauf der Schutzfrist 1930). Zwischen dessen Leiter Carl August Emge – ebenfalls aktiver Nationalsozialist – und den Oehlers kam es nach dem Tod Förster-Nietzsches zu einem Machtkampf. Nachdem Emges Plan, das Archiv der Preußischen Akademie der Wissenschaften anzugliedern, gescheitert war, verließ er 1935 das Archiv. Archivmitarbeiter stellten die Fälschungen, Eingriffe und Unterschlagungen der Verstorbenen in Nietzsches Briefen und Manuskripten fest und berichteten dem WA darüber. 1937 reiste Karl Schlechta nach Basel, um in der dortigen Universitätsbibliothek – dem „Gegenarchiv“ – weitere Nachforschungen anzustellen. In internen Berichten wurden nun etwa die „Koegel-Exzerpte“ für authentisch erklärt. Zu einer öffentlichen Diskussion kam es aber nicht. Von der Regierung angestoßen und unterstützt wurde der Bau einer Nietzsche-Gedächtnishalle, der aber mit Kriegsbeginn faktisch abgebrochen wurde. Auch wurde das Archiv finanziell unterstützt; besonders Reichsstatthalter Fritz Sauckel wollte unter anderem mit Hilfe des Archivs Weimar als zentralen Ort des Nationalsozialismus etablieren, was aber nicht in gewünschtem Maße gelang. 1937 wurden auf Wunsch Sauckels drei offizielle Vertreter des NS-Staats, darunter Ministerpräsident Willy Marschler, in den Stiftungsvorstand aufgenommen. Es handelt sich das „Alte Funkhaus“, dessen letzte Sendung 2000 ausgestrahlt wurde. Über die tatsächliche Bedeutung des Nietzsche-Archivs in der Zeit des Nationalsozialismus gibt es unterschiedliche Auffassungen. Der genannte Carl August Emge betonte Ende 1933 stolz die „unmittelbare[n] Beziehungen zum Führer“ und sah „wohl außer Bayreuth keine Stätte, die durch den Führer nach außen hin so anerkannt ist als kulturell wichtiges Unternehmen, wie gerade das Nietzsche-Archiv.“ Ein späterer Autor schreibt von einer „Einbeziehung des Nietzsche-Archivs in den Propaganda-Apparat des Faschismus“. Bezüglich der genannten Nietzsche-Gedenkhalle ist aber auch auf die „Distanz der gleichsam offiziellen Künstlerprominenz zu den Aktivitäten auf dem ‚Silberblick‘“ hingewiesen worden sowie auf das „trostlose Schicksal“ der Weimarer Nietzsche-Gemeinde, die zum hundertsten Geburtstag Nietzsches 1944 nur eine halbfertige Gedenkhalle und ein Grußtelegramm Hitlers, der sich von Alfred Rosenberg vertreten ließ, vorfand. Eine systematische Untersuchung der Rolle des Nietzsche-Archivs im „Dritten Reich“, wie überhaupt der Indienstnahme Nietzsches im Nationalsozialismus, steht noch aus. Im Laufe des Krieges wurden einige Archivmitarbeiter eingezogen, so dass die Arbeit an Nietzsche-Dokumenten ab ca. 1942 im Wesentlichen zum Erliegen kam. Fast alle Archivbestände blieben im Krieg von Zerstörungen verschont. Schließung, Wiedereinrichtung und Auflösung Im April 1945 wurde Weimar von US-amerikanischen Truppen besetzt, im Juli wurde die Stadt an sowjetische Truppen übergeben. Schon gegenüber den Amerikanern stellte Max Oehler das Archiv in einer Verteidigungsschrift „gegen den Vorwurf der Reaktion“ als eine unpolitische Einrichtung im Dienste freier Forschung dar. Im Juli sperrte die sowjetische Militäradministration die Konten des Archivs. Max Oehler wurde Anfang Dezember verhaftet, kurz darauf wurde das Haus geschlossen und versiegelt, der gesamte Inhalt wurde im Frühjahr 1946 beschlagnahmt und abtransportiert. Oehler, zur Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, starb noch vorher im März 1946 in Weimar. Der in Kisten verpackte Inhalt des Nietzsche-Archivs sollte offenbar in die Sowjetunion abtransportiert werden. Dazu kam es allerdings nicht: Im Sommer 1946 wurden die Kisten zurückgegeben und der Inhalt wieder in der Villa Silberblick aufgestellt. Über die Hintergründe dieser Rückgabe gibt es unterschiedliche Berichte. Sicher scheint, dass der thüringische Landespräsident Rudolf Paul bei der sowjetischen Militäradministration zugunsten einer Rückgabe interveniert hat. Nach der mit Dokumenten belegten Darstellung Wolfgang Stephans geschah dies auf Anregung des Goethe-Forschers Hans Wahl. Karl Schlechta schreibt ohne Beleg, er selbst habe über den Verleger Anton Kippenberg Rudolf Paul auf die Gefahr eines Verlusts aufmerksam gemacht. Als kommissarischer Leiter des Archivs wurde im Dezember 1946 Hans Wahl eingesetzt, der in der Folgezeit verschiedene Vorschläge zur Wiedereröffnung und Weiternutzung machte, die jedoch nicht weiter verfolgt wurden. Nach Wahls Tod 1949 wurde der Literaturwissenschaftler Gerhard Scholz (1903–1989) zum Leiter des Archivs, das weiterhin als Stiftung bestand, ernannt. Dem Vorstand der Stiftung Nietzsche-Archiv gehörten neben einem Vertreter des Staats und einer Mitarbeiterin Scholz’ auch – möglicherweise nur formal – Ernst Bloch, Franz Altheim und Reinhard Buchwald an. Die Bestände des Nietzsche-Archivs und anderer Weimarer Einrichtungen wurden ab 1950 dem Goethe- und Schiller-Archiv (GSA) angegliedert. Die Villa Silberblick sollte als Seminar des GSA verwendet werden. Nietzsches Manuskripte wurden geordnet und westlichen Forschern zugänglich gemacht. 1953 ging das Archiv in die Rechtsträgerschaft der neugegründeten Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG) über. Deren Direktor Helmut Holtzhauer beantragte die Auflösung der Stiftung Nietzsche-Archiv, die schließlich 1956 erfolgte. Während Nietzsche in der DDR ein faktisch verbotener Autor war, unterstützten Holtzhauer und sein Nachfolger Walter Dietze als Direktoren der NFG und Karl-Heinz Hahn (1921–1990) als Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs die Entstehung der neuen Kritischen Gesamtausgabe Nietzsches. Nach der Wende Nach der Wiedervereinigung übernahm die Stiftung Weimarer Klassik, heute Klassik Stiftung Weimar, als Nachfolgegesellschaft der NFG die Archivbestände und die Villa Silberblick. Bereits 1990/91 wurde das Erdgeschoss der Villa Silberblick der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Heute hat es nach Wiederherstellung des Interieurs van de Veldes (siehe Architektur) den Charakter eines Museums und zeigt in Ausstellungen sowohl Dokumente Nietzsches und Nietzsche-Ikonen, wie sie von Förster-Nietzsche arrangiert wurden, als auch Dokumente zur Geschichte des Archivs bis 1945. Die oberen Räume dienen wie bereits in der DDR als Gästehaus. 1999 wurde von der Stiftung Weimarer Klassik ein Kolleg Friedrich Nietzsche gegründet. Dieses veranstaltet Seminare und Tagungen, vergibt Fellowships – Fellows waren bisher etwa Jean Baudrillard, Dieter Henrich, Peter Sloterdijk, Gianni Vattimo und Slavoj Žižek – und hat einige Schriften publiziert. Schwerpunkte der Arbeit sind die Erforschung der Nietzsche-Rezeption sowie allgemeiner Kulturgeschichte und Wissenschaftstheorie. Leiter des Kollegs ist Rüdiger Schmidt-Grépály. Der emeritierte Philosophieprofessor Manfred Riedel hat der Stiftung Weimarer Klassik vorgeworfen, das DDR-Verdikt über Nietzsche und die eigene Verstrickung darin als Nachfolgeorganisation der NFG ungenügend aufzuarbeiten. Der Nietzsche-Kult Überblick Die Geschichte des „Nietzscheanismus“ und „Nietzsche-Kults“ in Deutschland ist sehr vielschichtig; über den Einfluss, den das Nietzsche-Archiv direkt und indirekt darin ausübte, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Sicherlich hatte es „an der Popularisierung und Monumentalisierung der Werke des Philosophen entscheidenden Anteil“ und versuchte, „den Kult um den Philosophen zu institutionalisieren, ihm Monumente zu errichten, eine Liturgie zusammenzustellen und Rituale wie Zeremonien zu entwickeln.“ Die dahinter befindliche Nietzsche-Gedächtnishalle sollte dem gleichen Zweck dienen. Das Nietzsche-Bild des Archivs Elisabeth Förster-Nietzsche und das Archiv verbreiteten ein Nietzsche-Bild, das einerseits ihr selbst genehm war, andererseits dem Philosophen zu Ansehen verhelfen sollte: sie suchte ihn „vom Ruch des Pathologischen zu befreien und seinen Ideen den Stachel der Subversion zu nehmen.“ In den offiziösen Darstellungen des Archivs erschien er „als gesunder Patriot, als selbstloser und liebender Bruder […] eine fast heilige Gestalt […] von äußerer wie innerer Schönheit, gesellig und heiter, aber von einer verständnislosen Öffentlichkeit zum Alleinsein verurteilt, ein entschlossen sein Vaterland liebender Preuße“. Heinrich Köselitz stellte 1910 fest, „wie heftig Frau Förster danach brennt, den Kaiser für Nietzsche zu interessieren und ihn womöglich zu einer anerkennenden Äußerung über Nietzsches Tendenz zu bringen“ und wie sie in diesem Sinne etwa einen Brief Nietzsches gefälscht hatte. Nietzsches abfällige Äußerungen über die Deutschen und das Deutsche Reich stellte sie als enttäuschte Liebe eines wahrhaftigen Patrioten dar; sie hob Nietzsches Begeisterung fürs Militärische hervor und deutete insbesondere Nietzsches Schlagwort „Wille zur Macht“ in dieser Weise. Ein weiteres wichtiges Anliegen Förster-Nietzsches war, jeden Verdacht sowohl eines Erbleidens als auch einer syphilitischen Ansteckung bei ihrem Bruder zu bekämpfen. Der Zusammenbruch Nietzsches war für sie Folge einer Überarbeitung und übermäßigen Konsums von Chloralhydrat. Dass ihr Bruder keusch gelebt habe, stand für sie unumstößlich fest. Ihre eigene Rolle in Nietzsches Bekanntschaft mit Lou Salomé stellte sie positiv, die von ihr gehasste Salomé schlecht dar. Gerade in diesem Punkt machte sie sich allerdings angreifbar: schon früh konnten ihr Kritiker Fälschungen und Vertuschungen nachweisen. Formen des Kults im Archiv In Weimar suchte und fand Elisabeth Förster-Nietzsche zunächst den Anschluss an die künstlerische Avantgarde. Mehrere Künstler durften den siechen Nietzsche besuchen, um Skulpturen, Zeichnungen und Gemälde von ihm anzufertigen. Es wurden auch Tischgesellschaften veranstaltet, wobei bis 1900 besonders willkommene Gäste den im oberen Stockwerk lebenden Kranken sehen durften. Das Archiv wusste um die Formen des Nietzsche-Mythos und pflegte sie. Hubert Cancik konstatierte, Förster-Nietzsche und ihre Verwandten aus der Familie Oehler betrieben einen „gentilizische[n] Totenkult“ mit „Festkalender und […] Ritual der Gedenktage“. Im Sinne eines ungebrochenen Toten- und Grabkultes war es durchaus beabsichtigt, Nietzsche auch an der Villa Silberblick zu beerdigen, wofür allerdings keine Erlaubnis erteilt wurde. Sein Sterbezimmer wurde aber als mythische Stelle erhalten, auch eine Totenmaske wurde abgenommen und konnte später in einer deutlich idealisierten „Rekonstruktion“ in Zeitschriften abgebildet werden. Porträts, Büsten, Statuetten und andere Kultgegenstände erfreuten sich in Reproduktionen eines guten Absatzes. Wie auch bei seinen Nietzsche-Ausgaben sprach das Archiv hier mit differenzierter Preis- und Produktgestaltung alle Käuferschichten an. Daneben wurden auch immer wieder Nietzsche-Monumente geplant. Die meisten dieser Pläne wurden nie verwirklicht: dazwischen kamen oft Geldmangel und die „[i]m Kontrast zur unleugbaren Skrupellosigkeit […] menschlich sympathischere Inkonsequenz, Stilunsicherheit und Naivität“ der Archivleiterin. Tatsächlich ausgeführt wurden nur der Umbau der Villa Silberblick und der Bau der Nietzsche-Halle ab 1937, der aber mit Kriegsbeginn 1939 eingestellt wurde (siehe Architektur). Der wohl monumentalste Entwurf war eine Idee Harry Graf Kesslers und wurde zwischen 1911 und 1914 verfolgt: danach sollte ein gigantischer Festspielplatz mit einem Stadion, einem Tempel und einer von Aristide Maillol zu schaffenden Apollo-Statue entstehen. Im Stadion sollten sportliche Wettkämpfe im Sinne der olympischen Bewegung stattfinden. Viele bekannte Persönlichkeiten erklärten sich zur Förderung des Projekts, das griechisch-heidnische, antichristliche und moderne Elemente verband, bereit. Durch den Ersten Weltkrieg zerschlug sich dieser Plan. Bestände Das Nietzsche-Archiv war bis zu seinem Ende bestrebt, alle hinterlassenen Dokumente Nietzsches zu sammeln, und war darin außergewöhnlich erfolgreich. Nietzsches Nachlass liegt bis heute in seltener Geschlossenheit vor und reicht von Kindheitsaufzeichnungen und Schulheften über Studienunterlagen, umfangreiche Briefwechsel und persönliche Dokumente bis zu einem philosophischen Nachlass aus Dutzenden Notizbüchern, Kladden und Einzelblättern; auch zu allen wichtigen Werken sind entweder Druckmanuskripte oder zumindest doch Reinschriften oder autorisierte Korrekturfahnen erhalten. Die umfassendste und bis heute akzeptierte Übersicht über die Manuskriptbestände hat Hans Joachim Mette 1932 gegeben. Darüber hinaus verwahrte das Nietzsche-Archiv nachgelassene Papiere von und zu Nietzsches Vorfahren sowie Nietzsches Bibliothek. Das Goethe- und Schiller-Archiv verwahrte nach der Angliederung auch die inzwischen ebenfalls äußerst umfangreichen Geschäftsunterlagen, Briefwechsel etc. des Nietzsche-Archivs selbst, darunter die Nachlässe Elisabeth Förster-Nietzsches und Heinrich Köselitz’. Grund für den ungewöhnlichen Umfang, in dem Nietzsches Leben und Werk dokumentierbar ist, ist vor allem die Sammelleidenschaft der Schwester, die bereits in ihrer Jugend Schriften ihres abgöttisch verehrten Bruders – mitunter gegen dessen Willen – aufhob und wie bereits erwähnt nach der Gründung des Nietzsche-Archivs große Anstrengungen unternahm, um alle seine Papiere zu sammeln. Andererseits ist zu bedenken, dass sie umgekehrt auch für die Vernichtung und Verstümmelung einiger Dokumente und eine verzerrte Darstellung Nietzsches verantwortlich ist. In der heutigen Nummerierung des Goethe- und Schiller-Archivs sind für die Nietzscheforschung von Interesse: Bestand 71: Nietzsche, Friedrich Bestand 72: Förster-Nietzsche / Nietzsche-Archiv Bestand 100: Nietzsche Familie Bestand 101: Weimar / Nietzsche-Archiv Ikonografie Bestand 102: Gast Die Bibliotheken Friedrich Nietzsches und des Nietzsche-Archivs befinden sich heute zusammen mit einer Sammlung von Nietzsche-Literatur in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Architektur Villa Silberblick Die Gründerzeit-Villa „Zum Silberblick“, die diesen Namen schon vor dem Einzug des Nietzsche-Archivs trug, befindet sich etwas außerhalb des Stadtzentrums von Weimar auf einem Hügel, an der heutigen Humboldtstraße (früher Luisenstraße) und ging 1902 in den Besitz Elisabeth Förster-Nietzsches über. Sie ließ das Gebäude vom belgischen Künstler Henry van de Velde renovieren. Der Kreis um Harry Graf Kessler, zu dem van de Velde und Förster-Nietzsche gehörten, wollte in diesen Jahren das „Neue Weimar“ als Zentrum der künstlerischen Avantgarde etablieren. Van de Velde gestaltete die Inneneinrichtung in Zusammenarbeit mit dem Hoftischlermeister Hermann Scheidemantel Ü im Erdgeschoss neu und ließ einen repräsentativen Vorbau errichten. Das umgebaute Gebäude wurde zu Nietzsches Geburtstag am 15. Oktober 1903 festlich eingeweiht. Die Villa und die Einrichtung im Jugendstil überstand den Zweiten Weltkrieg und wurde in der DDR zumindest in den 1950er Jahren instand gehalten. 1978 bis 1983 wurde das Gebäude saniert; 1992 wurde eine schon vor der Wiedervereinigung begonnene Restauration der Innenräume im Erdgeschoss beendet. Seit 1991 sind die Jugendstilinterieurs für Besucher geöffnet. Nietzsche-Gedenkhalle Ein Teil der Nietzsche-Anhänger im Umfeld des Archivs sah die Zeit für eine Nietzsche-Gedenkhalle, wie sie schon früher geplant worden war (siehe Formen des Kults im Archiv), nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gekommen. Hitler selbst gab im Oktober 1934 den Anstoß für konkrete Planungen, als er bei einem Besuch im Archiv 50.000 Reichsmark „aus persönlichen Mitteln“ stiftete. Bis 1938 kamen Spenden in Höhe einer halben Million Reichsmark zusammen; neben Privatleuten und verschiedenen staatlichen Ebenen spendeten insbesondere Reichsinnenminister Frick, die Carl-Zeiss-Werke und die Wilhelm-Gustloff-Stiftung. Dennoch fehlte Geld, weitere Probleme traten hinzu. Der Architekt Paul Schultze-Naumburg musste seine anfangs dem Neo-Biedermeier zugehörigen Pläne den auseinandergehenden Wünschen der Familie Oehler, des Gauleiters Sauckel und Hitlers anpassen. Einige Beteiligte, darunter auch Förster-Nietzsche kurz vor ihrem Tod, favorisierten einen reinen Zweck- und Nutzungsbau, andere wollten einen monumentalen Gedächtnisbau. Die Umgebung war künstlerisch-baulich ungeeignet, dazu kamen Rohstoffmangel und immer wieder Unstimmigkeiten zwischen den Beteiligten. Auch war das Projekt im Vergleich zu anderen Bauvorhaben des „Dritten Reichs“ wohl für die NS-Führung von nachrangiger Bedeutung. Im April 1937 genehmigte Hitler einen Kompromissplan Schultze-Naumburgs, im August 1938 wurde ein Richtfest gefeiert. Mit Kriegsbeginn 1939 wurde die Arbeit am unfertigen Bau jedoch fast völlig eingestellt. Zur Aufstellung im Gebäude waren Büsten bedeutender Männer aus verschiedenen Zeiten und gleichsam als Abschluss ein Nietzsche-Zarathustra-Denkmal geplant. Über letzteres wurde aber keine Einigkeit erreicht, so lehnte Hitler etwa einen Vorschlag Georg Kolbes ab. Als Notlösung sandte Mussolini 1942 eine Replik einer antiken Dionysos-Statue, die erst 1944 in Weimar eintraf und nicht mehr aufgestellt wurde – sie war zudem zu groß für die Nische. Die bestehenden Bauten wurden im Krieg von der Wehrmacht und als Lager für Kunstsammlungen sowie den Hausrat ausgebombter Familien benutzt. Später übernahm sie der Rundfunk der DDR, nach 1990 der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Der MDR zog 2000 aus, nach mehrjährigem Leerstand wird das Gebäude heute für Partys genutzt. Personen Vorstandsmitglieder der Stiftung Nietzsche-Archiv Die Stiftung Nietzsche-Archiv wurde 1908 von Elisabeth Förster-Nietzsche gegründet. Sie selbst übernahm keinen offiziellen Posten. Tatsächlich hatte Förster-Nietzsche aber in allen entscheidenden Punkten ein Einspruchsrecht und die Vorstandsmitglieder wurden in aller Regel auf ihren Vorschlag gewählt, weswegen man ihnen nur eine beratende Funktion zusprechen kann. Der Vorstand konstituierte sich erstmals 1909. Ihm gehörten neben anderen an: Max Dreger, 1919–1929, verstorben Carl August Emge, 1932–1935, ausgetreten Hermann Gocht 1909–1938, verstorben Max Heinze, 1909, verstorben Walter Jesinghaus, 1931–1945 Harry Graf Kessler, 1909–?? mindestens 1933, verstorben 1937 Karl Koetschau, 1914–1937, ausgetreten Richard Leutheußer, 1931–1945; Vorsitzender 1931–1945 Günther Lutz, 1942–1945 Willy Marschler, 1937–1945 Richard M. Meyer, 1910–1913, ausgetreten Adalbert Oehler, 1909–1923 und 1930–1940, verstorben; Vorsitzender 1909–1923 Max Oehler, 1909–1945 Richard Oehler, 1930–1945 Arnold Paulssen, 1923–?? mindestens 1937, verstorben 1942; Vorsitzender 1923–1931 Hans Pilder, 1928–?? mindestens 1933 (Bankdirektor Dresdner Bank; vermittelte die Spenden Reemtsmas) Raoul Richter, 1909–1912, verstorben Oswald Spengler, 1923–1935, ausgetreten Hans Vaihinger, 1909–1933, verstorben Eberhard von Bodenhausen, 1914–1918, verstorben Wissenschaftlicher Ausschuss Der Wissenschaftliche Ausschuss (WA) wurde 1931 für die „historisch-kritische Ausgabe“ eingerichtet und blieb offenbar formal bis zum Kriegsende bestehen. Erich Podach hat diesen Ausschuss rückblickend harsch kritisiert: „Der WA setzte sich aber aus Männern zusammen, die, jeder in seiner Art, sich als Deuter oder Fortführer Nietzsches festgelegt hatten. Auf einen gemeinsamen Nenner lassen sie sich nur dadurch bringen, daß sie zu Nietzsche eine dem herrschenden Kurs konforme Stellung eingenommen haben.“ Etwas wohlwollender haben sich der an der Ausgabe beteiligte Karl Schlechta und Mazzino Montinari über den WA geäußert. Carl August Emge, 1931–1935 Martin Heidegger, 1935–1942 Hans Heyse, 1935–1945 (Herausgeber der „gleichgeschalteten“ Kant-Studien) Walter Jesinghaus, 1931–1945 (Oberregierungsrat im Thüringischen Volksbildungsministerium) Max Oehler, 1931–1945 Richard Oehler, 1931–1945 Walter F. Otto, 1933–1945 Oswald Spengler, 1931–1935 Bedeutende Mitarbeiter Heinrich Köselitz („Peter Gast“): stand dem Archiv zunächst kritisch gegenüber; 1899–1909 wichtigster Mitarbeiter; danach keine öffentliche Äußerung über das Archiv Fritz Koegel: 1895–1897 angestellt, zunehmend im Gegensatz zu Förster-Nietzsche; geheime Anfertigung der „Koegel-Exzerpte“; nach der Entlassung keine Äußerung über das Archiv Rudolf Steiner: 1895–1897 dem Archiv nahestehend, danach Distanzierung; 1900 öffentlicher Angriff gegen das Archiv; danach wenige Äußerungen zum Archiv Arthur Seidl: 1898–1899 angestellt Ernst und August Horneffer: 1899–1901 bzw. 1903 angestellt, zunächst philologisch korrekte Kritik an der Ausgabe Koegels, dann Kompromittierung durch eigene Ausgaben ähnlicher Machart; nach dem Austritt scharfe Kritik an der Archivleiterin und der von ihr erzwungenen Arbeitsweise Ernst Holzer: 1902–1910; Schüler Erwin Rohdes, wichtigster Herausgeber der Philologica; gab dem Archiv eine gewisse wissenschaftliche Aura und durfte sich dafür einige Freiheiten, auch Kritik an der Archivleiterin, erlauben; verstorben Otto Crusius: weiterer Herausgeber der Philologica Eduard von der Hellen: 1894 vom Goethearchiv gewechselt, noch im selben Jahr einvernehmliche Trennung Richard Oehler Otto Weiß: 1909–1913 angestellt, gab die Nachlassbände mit dem „Willen zur Macht“ heraus und verfasste dazu einen kritischen Apparat, der die Kompilation faktisch widerlegte; entlassen Karl Schlechta Hans Joachim Mette Rüdiger Schmidt-Grépály: seit 1999 Leiter des Kolleg Friedrich Nietzsche Literatur Hubert Cancik: Der Nietzsche-Kult in Weimar. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der wilhelminischen Ära In: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 405–429 (Zu religiös-kultischen Elementen in der Nietzschegemeinde und insbesondere dem Stadionprojekt Graf Kesslers) Hubert Cancik: Der Nietzsche-Kult in Weimar (II). Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der nationalsozialistischen Ära (1942-1944) In: ders. und Hildegard Cancik-Lindemaier: Philolog und Kultfigur. Friedrich Nietzsche und seine Antike in Deutschland. Metzler, Stuttgart und Weimar 1999, ISBN 3-476-01676-5, S. 252–277. (Zu religiös-kultischen Elementen der Nietzschefeiern 1942 und 1944) Karl-Heinz Hahn: Das Nietzsche-Archiv In: Nietzsche-Studien 18, 1989, S. 1–19 (Kurzer Überblick über Entstehung, Ziele der Gründerin, Geschichte und Bestände vom damaligen Leiter des Goethe- und Schiller-Archivs kurz vor der Wende) David Marc Hoffmann: Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. de Gruyter, Berlin und New York 1991, ISBN 3-11-013014-9 (Materialreiches Standardwerk vor allem zur Geschichte bis 1910; enthält eine ausführliche Chronik, Studien und zahlreiche Dokumente) Jürgen Krause: „Märtyrer“ und „Prophet“. Studien zum Nietzsche-Kult in der bildenden Kunst der Jahrhundertwende. de Gruyter, Berlin und New York 1984, ISBN 3-11-009818-0 – Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 14. (Vor allem kunstgeschichtliche Untersuchung des weiteren Archiv-Umfelds bis 1945) Raymond J. Benders u. a. (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Chronik in Bildern und Texten. dtv, München 2000, ISBN 3-423-30771-4 (Enthält zahlreiche Dokumente aus der Gründungsphase des Archivs bis zu Nietzsches Tod 1900) Roswitha Wollkopf: Die Gremien des Nietzsche-Archivs und ihre Beziehungen zum Faschismus bis 1933 in: Karl-Heinz Hahn (Hrsg.): Im Vorfeld der Literatur: vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Böhlau, Weimar 1991, ISBN 3-7400-0122-4, S. 227–241. (Abriss der Geschichte des Archivs bis 1933 und insbesondere seiner Beziehungen zum Faschismus und Nationalsozialismus vor 1933, von einer Archivarin des Goethe- und Schiller-Archivs) Frank Simon-Ritz; Justus H. Ulbricht: "Heimstätte des Zarathustrawerkes": Personen, Gremien und Aktivitäten des Nietzsche-Archivs in Weimar 1896–1945. In: Wege nach Weimar: auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik: [eine Ausstellung des Freistaats Thüringen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Historischen Museum Berlin, Ausstellungshalle im Thüringer Landesverwaltungsamt Weimar, 6.2. bis 30.4.1999]. - Berlin: Jovis, 1999, S. 155–176. Simone Bogner: Die ehemalige Nietzsche Gedächtnishalle in Weimar von Paul Schultze Naumburg – Von der Kultstätte zum Rundfunkhaus. In: Weimar-Jena. Die große Stadt. Jg. 7, Jena 2014, H. 1, S. 52–71. Weblinks Nietzsche-Archiv Kolleg Friedrich Nietzsche Seite des Stadtmuseums Naumburg zu den Anfängen in Naumburg. Einige Bilder des Nietzsche-Archivs sowie Informationen zur dortigen Trauerfeier nach Nietzsches Tod Einzelnachweise Friedrich Nietzsche als Namensgeber Museum in Weimar Literaturarchiv Schriftstellermuseum Nietzsche Bildung und Forschung in Weimar Gegründet 1894 Klassik Stiftung Weimar Kulturdenkmal in Weimar
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Marguerite Porete
Marguerite Porete (; eingedeutscht auch Margareta oder Margarete u. a.; auch Marguerite Porète, Porette, Porrette oder Poirette; * um 1250/1260 im Hennegau; † 1. Juni 1310 in Paris) war eine französischsprachige spätmittelalterliche Mystikerin. Sie gehörte der religiösen Bewegung der Beginen an. Als Autorin der Schrift Le mirouer des simples ames („Spiegel der einfachen Seelen“) erregte sie Aufsehen. Das Thema des „Spiegels“ ist die etappenweise Befreiung der Seele von allen Abhängigkeiten, die sie in Knechtschaft halten. Wegen der eigenständigen theologischen Lehre, die im „Spiegel“ verkündet wird, geriet Porete in Konflikt mit dem kirchlichen Lehramt, dem sie die Befugnis zur Beurteilung ihrer Theologie absprach. Der für ihren Wohnsitz zuständige Bischof von Cambrai ordnete die öffentliche Verbrennung des als häretisch eingestuften Buchs an und verbot die Verbreitung der darin dargelegten Auffassungen. Da Porete weiterhin für ihre Überzeugung eintrat, wurde sie von der Inquisition zum Verhör vorgeladen. Als sie sich weigerte, der Vorladung Folge zu leisten, wurde sie inhaftiert. Im anschließenden Inquisitionsverfahren in Paris lehnte sie es ab, sich zur Sache zu äußern, und zeigte keine Reue. Daraufhin wurde sie nach anderthalbjähriger Haft zum Tode verurteilt und öffentlich auf dem Scheiterhaufen hingerichtet. Ihre Schrift blieb im Umlauf, wurde aber fortan anonym oder pseudonym verbreitet. Leben Über das Leben Poretes ist wenig bekannt. Neben autobiographisch deutbaren Hinweisen in ihrem „Spiegel der einfachen Seelen“ sind die unvollständig überlieferten Akten des Inquisitionsprozesses die Hauptquelle. Hinzu kommen Erwähnungen in Chroniken. Herkunft und Ausbildung Gesichert ist Poretes Herkunft aus dem Hennegau. „Porete“ ist wohl ein Beiname, kein Familienname. Wahrscheinlich stammte sie aus der Stadt Valenciennes oder deren Umgebung, denn sie hat offenbar dort gelebt. Ihre ausgezeichnete Bildung lässt erkennen, dass sie der Oberschicht entstammte. Wegen ihrer für eine damalige Frau ungewöhnlichen theologischen Kenntnisse wird sie in spätmittelalterlichen französischen Chroniken als clergesse („Gelehrte“, wörtlich „Klerikerin“) und en clergrie mult suffissant („in geistlichem Wissen sehr bewandert“) bezeichnet. Der Begriff „Kleriker“ wird in mittelalterlichen Quellen nicht nur für Geistliche im Sinne der Ständeordnung, sondern auch allgemein für gebildete Personen verwendet. Unklar ist, wie sich Porete ihr Wissen angeeignet hat, denn die Bildungseinrichtungen standen Frauen nicht offen. Wahrscheinlich erhielt sie Privatunterricht. Das Beginentum Zu einem unbekannten Zeitpunkt schloss sich Porete der Beginenbewegung an. Ihre Zugehörigkeit zu den Beginen ist gut bezeugt, in der Forschung gelegentlich geäußerte Zweifel daran sind unberechtigt. Die Beginen waren Frauen, die im karitativen Bereich oder handwerklich tätig waren oder Schulunterricht erteilten und diese Aktivitäten mit einem intensiven religiösen Leben verbanden. Manche von ihnen schlossen sich zu gemeinsamem Leben zusammen. Die Pflege der spirituellen Liebe bildete einen Schwerpunkt ihrer Bestrebungen und war Gegenstand intensiver Reflexion. Der Eintritt in den Beginenstand erfolgte durch einen Aufnahmeritus. Die Haltung des Klerus zum Beginentum war zwiespältig, teils positiv, teils ablehnend. Porete betrachtete die Prinzipien und Praktiken des Beginenlebens kritisch; manches schien ihr zu starr fixiert und daher der Spiritualität abträglich. Sie gehörte anscheinend keiner organisierten Beginengemeinschaft an, sondern zählte zu den einzeln lebenden Beginen. Erster Konflikt mit der kirchlichen Obrigkeit Wohl vor dem Ende des 13. Jahrhunderts schrieb Porete den „Spiegel der einfachen Seelen“. Damals galt es zwar als zulässig, dass eine Frau sich mit Theologie befasste und ihre theologischen Ansichten verbreitete, doch konnte dies nur im privaten Bereich geschehen, insbesondere zum Zweck der Belehrung von Frauen untereinander. Ein öffentliches Lehren war ausgeschlossen, da der Apostel Paulus dies unmissverständlich untersagt hatte (; ). Das gegen die Frauen gerichtete Verbot des Lehrens konnte im Mittelalter umgangen werden, indem ihre Texte als unmittelbare, wörtliche göttliche Eingebung bezeichnet wurden, etwa im Rahmen der Visionsliteratur. Porete hielt ihr Buch zwar für göttlich inspiriert, berief sich aber nicht auf ein derartiges wunderbares Ereignis; Wunder kommen bei ihr nicht vor. Daher konnte schon der Umstand, dass sie ihre theologischen Ansichten mit großer Bestimmtheit vertrat und dass ihre Schrift in der Öffentlichkeit erhebliche Resonanz fand, Anstoß erregen. Suspekt war sie außerdem als Begine. Da die Betätigung der Beginen sich teilweise außerhalb des etablierten Systems kirchlicher Aufsicht und Lehrvermittlung abspielte, waren ihre Aktivitäten aus der Sicht des Klerus nicht so gut kontrollierbar wie diejenigen von Ordensfrauen und daher problematisch. Wegen der bei ihnen verbreiteten Neigung zu eigenständigem, unkonventionellem religiösem Denken gerieten sie relativ leicht in den Verdacht der Häresie (Ketzerei). Hinzu kam bei Porete die Radikalität und Kühnheit mancher ihrer Aussagen und ihr Verzicht auf eine Absicherung durch das namentliche Zitieren theologischer Autoritäten; sie berief sich nur auf Bibelstellen. Der Bischof von Cambrai, Guy II. von Colmieu, der von 1296 bis 1306 amtierte, verbot die Verbreitung des „Spiegels“ und ordnete die öffentliche Verbrennung des Werks in Valenciennes an. Porete zeigte sich von den gegen ihr Werk ergriffenen Maßnahmen kaum beeindruckt. Sie propagierte nun eine überarbeitete Version des „Spiegels“, in der sie aber an den verurteilten Aussagen festhielt, und empfahl das Buch u. a. dem Bischof von Châlons-en-Champagne, Jean von Châteauvillain. Damit verstieß sie gegen eine Anordnung des Bischofs von Cambrai, der ihr untersagt hatte, die beanstandeten Ansichten weiterhin zu vertreten und das Buch zu besitzen. Guy II. hatte ihr für den Fall der Zuwiderhandlung die Exkommunikation und ein Häresieverfahren angedroht. Poretes Verhalten nach der Verbrennung ihres Buchs lässt erkennen, dass in der Diözese Cambrai kein ordentliches Inquisitionsverfahren durchgeführt worden war. Ein solches hätte entweder zu einem Geständnis und Widerruf oder zu einem Todesurteil führen müssen. Nach einem Häresiegeständnis und Widerruf hätte Porete ihr Buch nicht einem Bischof vorlegen können in der Absicht, seine Zustimmung zu finden. Porete konnte sich auf drei von ihr eingeholte theologische Stellungnahmen berufen, die dem „Spiegel“ Korrektheit im Sinne der kirchlichen Lehre bescheinigten. Sie fügte ihrem Werk eine Wiedergabe der Stellungnahmen bei, von denen nur eine ein schriftliches Gutachten war; bei den beiden anderen handelte es sich um mündliche Äußerungen, die sie selbst schriftlich zusammenfasste. Eine der Beurteilungen stammte von einem Franziskaner, eine von einem Zisterzienser und eine von dem angesehenen Theologen Gottfried von Fontaines, der an der Sorbonne unterrichtete. Strittig ist in der Forschung, ob diese Stellungnahmen vor der Verurteilung des Buchs durch den Bischof von Cambrai angefordert und erstellt wurden oder erst nachher. Gegen die letztere Annahme spricht, dass die Verteidiger des „Spiegels“ in diesem Fall riskierten, selbst der Häresie verdächtigt und angeklagt zu werden. Andererseits ist Poretes Missachtung des bischöflichen Verbots leichter erklärbar, wenn man davon ausgeht, dass sie die Stellungnahmen nach der Verurteilung eingeholt hatte, um ein Gegengewicht zur Autorität des Bischofs von Cambrai zu schaffen. Dann wird auch verständlich, dass sie sich nach der Verurteilung an einen anderen Bischof wandte. Jedenfalls konnten die Stellungnahmen sie nicht vor den Folgen ihrer Übertretung des Verbots schützen. Sie wurde vom neuen Bischof von Cambrai, Guys Nachfolger Philipp von Marigny, und vom Provinzialinquisitor von Lothringen zum Verhör vorgeladen. Philipp war ein einflussreicher Kirchenpolitiker mit guten Beziehungen zum Königshof. Prozess und Hinrichtung Philipp von Marigny übergab den Fall dem päpstlichen Generalinquisitor für Frankreich, dem Dominikaner Wilhelm von Paris. Wilhelm war der Beichtvater Philipps IV., des damals regierenden Königs von Frankreich, und an den vom König initiierten und vorangetriebenen Templerprozessen in deren Anfangsphase maßgeblich beteiligt. Dabei setzte er sich so eifrig für die Interessen des Königs ein, dass Papst Clemens V. ihn zeitweilig seines Amtes enthob, doch wurde er auf königlichen Druck 1308 wieder eingesetzt. Er lud Porete mehrmals vor, doch weigerte sie sich zu erscheinen. Darauf wurde sie im Jahr 1308 festgenommen, zwangsweise vorgeführt und eingekerkert. Der Generalinquisitor setzte ein Gremium von 21 Theologen ein, das fünfzehn bereits zusammengestellte häresieverdächtige Passagen des „Spiegels“ beurteilen sollte. Es ging somit nicht um das Buch als Ganzes, sondern nur um die herausgegriffenen Zitate, deren Wortlaut unabhängig vom Kontext hinsichtlich der Rechtgläubigkeit zu überprüfen war. Die auffallend hohe Zahl der aufgebotenen Fachleute zeugt von der Bedeutung, die führende kirchliche Instanzen dem Fall beimaßen, und vom Bedürfnis, die für Porete positive Stellungnahme des Gottfried von Fontaines zu entkräften. Zu den Kommissionsmitgliedern gehörte der später berühmte Exeget Nikolaus von Lyra. Die Kommission tagte in Paris, wo Porete inhaftiert war. Von den fünfzehn Anklageartikeln sind nur drei wörtlich überliefert. Im ersten Artikel wird Porete beschuldigt gelehrt zu haben, „dass die zunichtegewordene Seele von den Tugenden Abschied nimmt und nicht weiter in deren Knechtschaft steht, da sie diese ja nicht für irgendeinen Gebrauch besitzt, sondern die Tugenden ihr auf einen Wink gehorchen“. Der fünfzehnte Artikel betrifft ihre Behauptung, „dass eine solche Seele sich weder um Tröstungen Gottes noch um seine Gaben kümmert und sich darum auch nicht kümmern soll und kann, da sie ganz auf Gott ausgerichtet ist und ihre Bezogenheit auf Gott anderenfalls behindert würde“. Ein weiterer Artikel lautet, dass nach Poretes Lehre „die in der Liebe zum Schöpfer zunichtegewordene Seele ohne Gewissenstadel oder Gewissensbiss der Natur gewähren kann und soll, was immer diese anstrebt und begehrt“. Dabei handelt es sich um eine verkürzte und überspitzte Formulierung einer Aussage im 17. Kapitel des „Spiegels“, wonach man von den erschaffenen Dingen, die zur Befriedigung natürlicher Bedürfnisse benötigt werden, ohne Bedenken Gebrauch machen soll, wenn eine Notwendigkeit es erfordert. Die Kommission kam in ihrer Sitzung vom 11. April 1309 in Anwesenheit des Generalinquisitors zum Ergebnis, dass das Buch, das die fünfzehn beanstandeten Aussagen enthält, tatsächlich häretisch sein müsse. Zu diesem Zeitpunkt war Porete offenbar bereits exkommuniziert. Nachdem sie von der Möglichkeit des Widerrufs ihrer Thesen keinen Gebrauch gemacht hatte, wurde das Verfahren im folgenden Jahr fortgesetzt. Zu diesem Zweck berief der Generalinquisitor eine neue Kommission, der nur noch elf der ursprünglich 21 Theologen und dazu fünf neu hinzugezogene Kanonisten (Kirchenrechtler) angehörten. Diese Kommission tagte im März 1310, doch die Theologen zogen sich zurück und überließen den Fall gänzlich den Kanonisten. Die fünf Kirchenrechtler kamen am 3. April 1310 zu einer ersten Beratung zusammen. Dabei wurde festgestellt und im Protokoll festgehalten, dass Porete sich geweigert hatte, sich zum Zweck der Aussage vor dem Inquisitor vereidigen zu lassen. Sie lehnte es auch ab, zu den Anklagepunkten inhaltlich Stellung zu beziehen bzw. die beanstandeten Aussagen zu widerrufen, und schwieg hartnäckig. Damit folgte sie einem Grundsatz, den sie selbst in ihrer Schrift aufgestellt hatte: Eine freie Seele sei nicht anzutreffen, wenn man sie vorlade; „ihre Feinde erhalten keinerlei Antwort von ihr“. Dem Protokoll zufolge bemühte sich der Inquisitor vergeblich, sie zum Einlenken zu bewegen. Die Kommission befand, dass die Angeklagte, die schon seit anderthalb Jahren eingekerkert war, der Häresie schuldig und daher zum Tode zu verurteilen sei. Wenn sie aber Reue zeige, könne sie zu lebenslanger Kerkerhaft begnadigt werden. Als sich Porete weiterhin völlig unkooperativ zeigte, empfahl die Kanonistenkommission am 9. Mai 1310 dem Generalinquisitor, die Hinrichtung zu veranlassen. Darauf fällte Wilhelm den Schuldspruch, der am 31. Mai (Pfingstsonntag) in Anwesenheit und mit der Zustimmung des Bischofs von Paris öffentlich verkündet wurde. Formal handelte es sich nicht um ein Todesurteil, da die Kirche nach ihrem Selbstverständnis kein Blut vergießen durfte, sondern Barmherzigkeit zeigen musste. Beschlossen wurde nur, wie in solchen Fällen üblich, die Verurteilte der „weltlichen Justiz“ zu überlassen, wobei Wilhelm noch ausdrücklich darum bat, man möge sie, soweit dies rechtlich möglich sei, barmherzig behandeln und weder verstümmeln noch töten. Diese Bitte war aber eine belanglose Formalie, denn für rückfällige und verstockte Häretiker war nach einem kirchlichen Schuldspruch die Hinrichtung zwingend vorgeschrieben, eine Begnadigung war von vornherein ausgeschlossen. Anschließend wurde die Verurteilte den staatlichen Behörden übergeben, die für die Vollstreckung zuständig waren. Nach damaligem Kirchenrecht war der Tatbestand zur Begründung des Urteils ausreichend. Ein zur Hinrichtung führender Schuldspruch der Inquisition konnte allein wegen der mangelnden Kooperation der Angeklagten erfolgen, unabhängig davon, ob die Häresiebeschuldigung tatsächlich zutraf. Am 1. Juni 1310, dem Pfingstmontag, wurde Porete auf der Place de Grève in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Da sie kein Schuldbekenntnis abgelegt hatte, hatte sie die Absolution (Lossprechung) nicht erhalten, sondern starb exkommuniziert, also außerhalb der Kirchengemeinschaft. Bald darauf verbot das Konzil von Vienne (1311–1312) den Beginen theologische Betätigung, womit es unter anderem aus dem spektakulären Fall Konsequenzen zog. Werk Marguerite Poretes „Spiegel der einfachen, zunichtegewordenen Seelen und derer, die einzig im Wunsch und der Sehnsucht nach Liebe verharren“ (Le mirouer des simples ames anienties et qui seulement demourent en vouloir et désir d’amour) wurde in altfranzösischer Sprache verfasst. Erhalten ist aber nur eine mittelfranzösische Fassung, die in einer einzigen Handschrift aus dem späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert überliefert ist. Der „Spiegel“ ist ein Lehrbuch der Seelenkunde. Das Thema ist allgemein die Seele und ihr Verhältnis zu Gott und den geschaffenen Dingen und speziell die Befreiung der Seele von ihren Abhängigkeiten und ihr Aufstieg zu Gott. In heutiger Terminologie wird das Werk zur mystischen Literatur gezählt. Literarische Gestaltung Die Schrift besteht aus 139 lose aneinandergereihten Kapiteln. Der stark von theoretischen Ausführungen geprägte Hauptteil endet mit dem 122. Kapitel. In den eher praktisch ausgerichteten restlichen siebzehn Kapiteln folgen „einige Betrachtungen für jene, die sich im Zustand der Verirrten befinden und die nach dem Weg ins Land der Freiheit fragen“. Das Werk hat die Form eines Gesprächs zwischen mehreren Beteiligten. Daraus ergibt sich eine unsystematische Präsentation der dargelegten Lehren. Die Seele und eine Anzahl von personifizierten Mächten, Tugenden und Gemütsfaktoren reden miteinander. Die Hauptrollen spielen die Seele, die Liebe (Amour) und der Verstand (Raison). Amour und Raison sind allegorische Gestalten, die in der altfranzösischen Lyrik oft miteinander konfrontiert werden. Die Liebe, die mit Gott identisch ist, und die Seele vertreten die Überzeugungen der Autorin, der Verstand äußert Zweifel und trägt Gegenargumente vor. Am Dialog beteiligt sind ferner u. a. die Sehnsucht, die Wahrheit, der Glaube, die Furcht, die Hoffnung und der Heilige Geist. Ferner ergreift auch die Autorin selbst (L’Acteur) das Wort. Der Stil der Debatte ist lebhaft, teils leidenschaftlich und dramatisch. Öfters wird das Publikum – die „Hörer dieses Buches“ – direkt angesprochen. Zwar ist der „Spiegel“ in erster Linie eine Lehrschrift, doch sind auch Passagen in lyrischem Stil eingefügt. Vorangestellt ist ein Gedicht in Form einer Kanzone, in dem zur Demut aufgerufen wird. Ob es von der Autorin stammt oder später eingefügt wurde, ist ungewiss. Zweck und Zielpublikum Marguerite Porete bezeichnet Gott bzw. die mit ihm gleichgesetzte Liebe als den eigentlichen Autor des Buches. Nach seinem Willen solle es denen, für die es bestimmt sei, dazu verhelfen, das vollkommene Leben und den Zustand des Friedens besser zu schätzen. Man könne den „Spiegel“ nur verstehen, wenn man mit großer Begierde und Achtsamkeit „von innen heraus“ (de dedans vous) den Darlegungen folge. Anderenfalls komme es zu Missverständnissen. An anderer Stelle bemerkt Porete, das Buch sei von der Seele verfasst worden. Da nach ihrer Lehre die zunichtegewordene Seele keinen eigenen Willen hat, sondern nur Gottes Willen vollzieht, sind diese Feststellungen zur Verfasserschaft miteinander im Einklang. Allerdings ist die im Dialog auftretende Seele keine statische Gestalt. Sie zeigt sich in verschiedenen Entwicklungszuständen, die sich durch unterschiedliche Nähe zu Gott unterscheiden. Wie aus dem Titel zu ersehen ist, ist der „Spiegel“ für zwei Lesergruppen bestimmt: die fortgeschrittenen, bereits „zunichtegewordenen“ Seelen, die keinen vom göttlichen Willen getrennten Eigenwillen mehr haben, und diejenigen, die hinsichtlich der Liebe noch im Wollen und Wünschen verharren, nachdem sie sich ihrer sonstigen Wünsche entledigt haben. Porete teilt die intensiv religiösen Menschen in drei Gruppen: die Zugrundegegangenen (periz), die Verirrten (marriz) und die Zunichtegewordenen (adnienties). Daneben gibt es noch die „gewöhnlichen Leute“ (les communes gens). Zugrunde gegangen sind diejenigen, welche auf ihre Tugendwerke vertrauen und meinen, die rechte Lebensweise bestehe in äußerer Aktivität. Sie beschränken sich darauf, Gottes Gebote und Verbote einzuhalten. An sie und an die „gewöhnlichen Leute“ wendet sich Porete nicht, denn sie meint, solche Menschen seien nicht in der Lage, den „Spiegel“ zu verstehen. Zu den Unverständigen rechnet sie insbesondere die „rohen“ Personen, die sich in ihrer Lebensführung vom Alltagsverstand (das heißt von gängigen Wertungen und Vorurteilen) leiten lassen; in diesem Zusammenhang nennt sie ausdrücklich die Theologen. Das Publikum, für das sie schreibt, sind nur die Verirrten und die Zunichtegewordenen. Als „verirrt“ bezeichnet sie Personen, die zwar lernfähig sind und auf dem Weg der Kontemplation zu Gott streben, aber es noch nicht geschafft haben, sich gänzlich von allen ihren Wünschen zu lösen. Ihnen soll dazu verholfen werden, den Eigenwillen restlos aufzugeben und damit „zunichtezuwerden“, wodurch sie in den fortgeschrittensten Stand aufsteigen. Nur die Zunichtegewordenen sind wirklich frei und haben damit das Ziel erreicht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die unfreien Seelen vom Heil ausgeschlossen sind. Sie können es im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten ebenfalls erlangen, aber auf mühevolle Weise und auf einem anderen Weg als dem im „Spiegel“ beschriebenen und empfohlenen. Theologische und literarische Einflüsse Im „Spiegel“ sind nirgends verwendete Quellen ausdrücklich benannt, doch sind eine Reihe von literarischen Einflüssen erkennbar. Marguerite Porete übernimmt Begriffe aus der weltlichen, ritterlich-höfischen Liebesliteratur, aus der Gedankenwelt der Troubadours. Dazu zählt insbesondere der zentrale Begriff des fin amour, der sowohl im höfischen Minnekonzept als auch im „Spiegel“ das Ideal einer vollendeten, bedingungslosen Liebe bezeichnet. Diese Liebe richtet sich in den höfischen Minnetexten auf eine bestimmte Dame, im „Spiegel“ auf Gott. Mancherlei Anregungen verdankt Porete dem Rosenroman oder auch dem Traktat De amore des Andreas Capellanus. Dazu gehört die Idee, personifizierte Begriffe auftreten zu lassen. Ferner steht der „Spiegel“ in der Tradition der mittelalterlichen „Spiegelliteratur“, einer Literaturgattung, die dem Leser Erkenntnisse „wie in einem Spiegel“ vermitteln soll. Werke dieser Gattung bilden das ab, was ist (faktische Spiegel) oder – wie bei Porete – das, was sein soll (exemplarische oder normative Spiegel). Außerdem ist die im „Spiegel“ dargelegte Lehre vom Aufstieg der Seele stark von der neuplatonischen Tradition geprägt. Porete setzt sich auch mit den Ideen führender Theologen des Zisterzienserordens (Bernhard von Clairvaux, Wilhelm von Saint-Thierry) auseinander. Im ersten Kapitel des „Spiegels“, dem Prolog, präsentiert die Autorin ein Beispiel aus dem Alexanderroman. Die personifizierte Liebe erzählt von einer Königstochter, die von Liebe zu einem außergewöhnlich vornehmen und vortrefflichen fremden König namens Alexander (Alexander dem Großen) ergriffen wurde, obwohl sie ihn nur aus Erzählungen kannte. Da er fern war und keine andere Liebe sie befriedigen konnte, verfiel sie in Liebeskummer; sie war „im Herzen oft verwundet“. Sie konnte aber ihrer Not abhelfen, indem sie ein Bild des Geliebten anfertigen ließ, welches sein Aussehen gemäß dem Ideal in ihrer Vorstellung wiedergab. Zu dieser Erzählung bemerkt die Seele, ihr gehe es genauso mit ihrem fernen Geliebten (Gott). Daher habe er ihr dieses Buch – den „Spiegel“ – gegeben, damit sie sich ihn vergegenwärtigen könne. Lehre Marguerite Poretes Denken kreist um den Aufstieg der Seele zu Gott. Sie betrachtet den Aufstieg als Rückkehr in einen Ursprungszustand, in dem sich die Seele ursprünglich befand, bevor sie sich von Gott trennte. Die Stufen des Aufstiegs Der Aufstieg der Seele ist ein Prozess, der sich in sieben Etappen oder Stufen vollzieht, welche Porete als „sieben Seinsweisen im edlen Sein“ und als „die sieben Zustände“ bezeichnet. Dieser Prozess führt die Seele „aus dem Tal auf den Gipfel des Berges, der so vereinzelt dasteht, dass man dort außer Gott nichts sieht“. Jede der ersten fünf Stufen muss gemäß ihren besonderen Erfordernissen bis zur Vollkommenheit gebracht werden, bevor man zur sechsten gelangen kann, dem „kostbarsten und edelsten“ im irdischen Leben erreichbaren Zustand (die letzte Stufe ist nachtodlich). Auf der ersten Stufe wird die Seele von der Gnade Gottes berührt und bemüht sich, seine Gebote zu halten, was sie als mühsam empfindet. Sie glaubt, mit dieser Aufgabe ausgelastet zu sein. Auf der zweiten Stufe hält sie sich auch an das, was Gott seinen besonderen Freunden rät. Damit sind insbesondere die Evangelischen Räte gemeint (Armut, Keuschheit und Gehorsam). Auf der dritten Stufe liebt die Seele nichts anderes mehr, als Liebeswerke zu vollbringen. Da sie nun aber in Gefahr ist, von der Anhänglichkeit an solche Werke innerlich abhängig zu werden, gibt sie sie auf und unterwirft sich dem fremden Willen einer anderen Person, um ihren Eigenwillen zu zerstören. Auf der vierten Stufe verzichtet die Seele auf den Gehorsam gegenüber dem fremden Willen und gibt auch ihre äußeren Übungen auf. Nun erlebt sie in der Kontemplation einen intensiven Genuss der Liebe, doch führt dieses Dasein zu einer gefährlichen Selbstbezogenheit und zur Stagnation. Daher kann keine der vier ersten Stufen als hoher Zustand bezeichnet werden, vielmehr lebt die Seele auch auf der vierten Stufe noch „in sehr harter Knechtschaft“. Die vier ersten Stufen entsprechen in ihrer Gesamtheit ungefähr dem, was im 12. Jahrhundert Bernhard von Clairvaux in seiner Abhandlung De diligendo deo („Über die Gottesliebe“) als die vier Stufen der Gottesliebe beschrieben hatte. Porete will aber Bernhards Konzept überwinden, indem sie das auf seinen vier Stufen Erreichbare als etwas zwar Sinnvolles, aber Vorläufiges und Problematisches zu erweisen sucht. Bei ihr erlangt die Seele erst auf der fünften Stufe Freiheit. Auf die fünfte Stufe gelangt die Seele, indem sie aus der Liebe ins (göttliche) Nichts stürzt und damit zunichtewird. Dies muss geschehen, denn „ohne dieses Nichts kann sie nicht alles sein“, also das in ihr angelegte göttliche Wesen nicht zum Ausdruck bringen. Auf dieser Stufe gibt sie ihren freien Willen, den sie von Gott empfangen hat, an Gott zurück, denn sie erkennt, dass Gott das Sein ist und sie von sich aus nichts ist; das bedeutet, dass ein von Gottes Willen getrennter Eigenwille nur zum ontologisch Nichtseienden, also zum Schlechten, hinneigt und somit wertlos ist. Die Freiheit, welche die Seele damit erlangt, besteht in ihrer Befreiung von ihrem Eigenwillen, dessen Sklavin sie bisher war. Die Sklaverei ergibt sich aus der bloßen Existenz des Eigenwillens und besteht auch dann, wenn der Eigenwille einen Einklang mit dem göttlichen Willen anstrebt, indem er den göttlichen Willen zu erkennen und zu erfüllen trachtet. Ist die Einheit des göttlichen Willens und des Willens der Seele durch die restlose Beseitigung des Eigenwillens vollständig verwirklicht, so ist die Aussage „Gott will, was ich will, und will nichts, was ich nicht auch will“ ebenso wahr wie die umgekehrte. Die Seele „schwimmt im Meer der Freude“, das aus der Gottheit ausfließt, doch empfindet sie dabei nicht die Freude, sondern sie selbst ist Freude. Die sechste Stufe erreicht die Seele durch ihren Sturz aus dem Nichts der fünften Stufe in die Klarheit Gottes. Auf der sechsten Stufe sieht sie sich selbst wegen ihrer Demut nicht und Gott wegen seiner Erhabenheit nicht, sondern Gott sieht sich selbst in ihr. Damit wird die Subjekt-Objekt-Trennung zwischen Gott und der Seele hinsichtlich der Erkenntnis aufgehoben. Nun ist die Seele von allen geschaffenen Dingen so weit entfernt, dass sie nichts mehr empfinden kann, was zu ihnen gehört. Allerdings kann sie nur kurz in diesem Zustand, der blitzartig eintritt, verbleiben, da sie sonst überfordert wäre; sie kehrt dann auf die fünfte Stufe zurück. Die siebte Stufe ist der Status der ewigen Seligkeit, den die Seele erst nach dem Tod des Körpers im Land des Friedens erlangen wird. Konkret befasst sich Porete überwiegend mit der fünften und der sechsten Stufe, den übrigen Stufen schenkt sie wenig Aufmerksamkeit. Im Verlauf ihres Aufstiegs werden der Seele drei Todeserlebnisse zuteil. Zuerst empfängt sie das Leben der Gnade, die aus dem Tod der Sünde geboren wurde. Dieses Leben entspricht der ersten und zweiten Stufe. Beim Übergang zur dritten Stufe erlebt sie den Tod der Natur und erlangt das Leben des Geistes. Der Übergang zur fünften Stufe ist mit dem Tod des Geistes (mort d’esperit) verbunden. Dieser Tod ist erforderlich, damit die Seele fortan das göttliche Leben führen kann. Der Geist muss sterben, da er voll von geistigen Begehrlichkeiten ist, die mit dem göttlichen Leben unvereinbar sind. Die befreite Seele Die Hauptmerkmale einer freien Seele, die durch das Erreichen der fünften Stufe befreit worden ist, sind ihr Abschied von den Tugenden, ihre Gleichgültigkeit gegenüber Frömmigkeitspraktiken und gängigen religiösen Werturteilen und ihre Unfähigkeit zu sündigen. Zwar besitzt die freie Seele die Tugendkräfte weiterhin, sogar auf bessere Weise als zuvor, doch wendet sie sie nicht mehr an. Bisher hat sie ihnen gedient, nun sind die Tugenden ihrerseits in den Dienst der Seele getreten und haben ihr zu gehorchen. Der Wille Gottes, der nun allein in der Seele waltet, kann nicht einer Orientierung an Forderungen der Tugenden unterworfen sein, sondern ist deren Meister. Porete betont, dass es zwischen der freien Seele und der Gottheit keinerlei Vermittlung gibt, vielmehr ist die Verbindung zwischen ihnen eine ganz unmittelbare. Daher werden die Tugenden, die für unfreie Seelen als Botschafter Gottes fungieren, im Reich der Freiheit nicht mehr benötigt. Die Gleichgültigkeit der freien Seele gegenüber allen Zielen, die nicht Gott sind, erstreckt sich auch auf Himmel und Hölle; weder strebt sie nach dem Himmelreich noch will sie der Hölle entgehen. Sündigen kann sie nicht, da alle Sünde aus dem Eigenwillen kommt. Solche radikale, damals provozierend klingende Konsequenzen leitet Porete aus Grundannahmen ab, mit denen sie sich noch im Rahmen herkömmlicher, kirchlich anerkannter Lehren bewegt. Mit den Konsequenzen verlässt sie aber aus der Sicht ihrer Gegner diesen Rahmen. Hier setzt die gegen sie gerichtete Häresiebeschuldigung an. Die freie Seele hat sich zwar innerlich von allem, was geschaffen ist, gelöst, doch bedeutet dies keineswegs, dass sie sich äußerlich von der Welt abwendet. Vielmehr kann sie, wie die personifizierte Liebe (Gott) erklärt, bei Bedarf sogar ein Land regieren. Gottes Transzendenz Ein wichtiges Thema des „Spiegels“ ist Gottes Transzendenz. Er ist „unfasslich außer durch sich selbst“. Im Sinne der negativen Theologie betont Porete, alles, was man über Gott denken, schreiben oder sagen könne, sei eher Lüge als Wahrheit. Diese Feststellung bezieht sie auch auf ihr eigenes Buch, dessen Abfassung sie dennoch für hilfreich und von Gott gewollt hält. Die wirkliche Gotteserkenntnis sei die Selbsterkenntnis Gottes in der Seele. Eine besondere Vorliebe zeigt Porete für die Bezeichnung Gottes als „der Fernnahe“ (le Loingprés). Mit diesem paradoxen Begriff drückt sie den Gegensatz zwischen der absoluten Transzendenz Gottes und der vollkommenen Einheit von Gott und Seele aus und deutet zugleich den Zusammenfall der Gegensätze in Gott an. Der menschliche Alltagsverstand (raison) kann die für den Aufstieg der Seele erforderlichen Schritte gedanklich nur mit Mühe oder gar nicht nachvollziehen, da er einer transzendenten Wirklichkeit nicht gewachsen ist. Poretes Kritik an seiner Unzulänglichkeit bedeutet aber nicht, dass sie sich zu einer irrationalistischen Position bekennt. Die allegorische Gestalt Raison, die sie auftreten und im Dialog scheitern lässt, repräsentiert konventionelle Denkgewohnheiten, deren Untauglichkeit ans Licht gebracht werden soll. Den Wert des menschlichen Intellekts und der von ihm vermittelten Einsicht (entendement) schätzt Porete – der platonischen Tradition folgend – sehr hoch ein; die Erkenntnis verortet sie am Gipfel der Seele. Die große und die kleine Kirche Marguerite Poretes Kirchenlehre ist eine Besonderheit ihres theologischen Konzepts. Sie unterscheidet zwischen der „kleinen heiligen Kirche“ (Saincte Eglise la Petite), die vom Verstand gelenkt wird, und der „großen heiligen Kirche“ (Saincte Eglise la Grant), die von der Liebe gelenkt wird. Die Bezeichnungen „klein“ und „groß“ beziehen sich nicht auf die Anzahl der Mitglieder, sondern auf eine spirituelle Rangordnung. Die kleine Kirche ist die von der kirchlichen Hierarchie geleitete und repräsentierte Institution. Die große Kirche ist keine äußerliche Einrichtung, sondern die Gemeinschaft der freien Seelen. Die kleine Kirche predigt die Gottesfurcht, die bei den freien Seelen jedoch ausgetilgt sein muss, da sie sonst deren Freiheit zerstören würde. Die kleine Kirche ist außerstande, die Lebensweise einer freien Seele als vorbildlich zu erkennen; das, was sich im Bereich der großen Kirche abspielt, übersteigt ihren Horizont. Eine freie Seele ist gerade wegen ihrer besonderen Nähe zu Gott für die kleine Kirche unbegreiflich. Obwohl Porete ihre Kirchenkritik zurückhaltend äußert, ist ihre Geringschätzung der Ämterhierarchie und des Autoritätsanspruchs des kirchlichen Lehramtes offenkundig. Nähe zur Lehre Meister Eckharts Auffallend ist die große Nähe von Poretes theologischen Positionen zu denen von Meister Eckhart, der ihr Zeitgenosse war. Beispielsweise existiert die Seele bei Porete wegen ihrer Wesensgleichheit mit Gott ewig, ist also nicht in der Zeit geschaffen; dies entspricht Eckharts Lehre von der Ewigkeit des Seelengrunds. Porete schreibt, die Seele sei „aus der Güte Gottes ausgeflossen“, womit sie an das neuplatonische Emanationsmodell anknüpft, das auch Eckhart rezipiert. Ein Kernelement ihrer Theologie, das bei Eckhart wiederkehrt, ist ihre radikale Ablehnung jeder Form von religiösem Leistungsdenken. Nachdrücklich verwirft sie die Vorstellung, man könne und solle sich durch die Einhaltung von Geboten, die Pflege von Tugenden und das Verrichten guter Werke Verdienste erwerben in der Hoffnung, dass Gott dies honorieren werde. Eine solche Haltung ist aus ihrer Sicht Ausdruck einer Sklavenmentalität. Mit Eckhart stimmt sie auch in der Überzeugung überein, dass eine Einheit von Gott und Mensch nicht nur in Christus besteht, sondern in jedem einzelnen Menschen angelegt ist. Rezeption Mittelalter und Frühe Neuzeit Spätmittelalterliche französische Chronisten vermerkten Marguerite Poretes theologische Bildung. Als Grund der Hinrichtung gaben sie theologische Irrtümer insbesondere hinsichtlich der Eucharistie an. Poretes Schrift, deren Titel in den Prozessakten und Chroniken nirgends genannt wird, galt nach dem Tod der Autorin als verschollen. Der Generalinquisitor hatte die Vernichtung aller Exemplare angeordnet und den Besitz des „Spiegels“ unter Strafe der Exkommunikation verboten. Daher konnte das Werk nicht unter dem Namen der Verfasserin weitergegeben werden. Es war aber anonym weiterhin im Umlauf, ohne dass die Leser ahnten, dass es von einer wegen Häresie hingerichteten Autorin stammte und dass sie sich mit dem Besitz des Buches strafbar machten. Mitunter wurde es Margareta von Ungarn († 1270), einer ungarischen Königstochter und Dominikanerin, zugeschrieben. Meister Eckhart hat den „Spiegel“ anscheinend gekannt und herangezogen, nimmt aber nirgends ausdrücklich darauf Bezug. Über Poretes Schicksal war er wahrscheinlich gut informiert, denn er wohnte während seines zweiten Parisaufenthalts ab 1311 im Dominikanerkonvent St. Jacques, wo damals auch der Generalinquisitor Wilhelm von Paris lebte. Dort hatte im April 1310 auch die Inquisitionskommission getagt, die Porete für schuldig befand. Über Eckhart können zentrale Gedanken Poretes dann auch in die Vita der zeitweise in Straßburg lebenden Begine Gertrud von Ortenberg eingeflossen sein. In spirituell orientierten Kreisen fand der anonym oder pseudonym überlieferte „Spiegel“ jahrhundertelang weite Verbreitung und erregte bei kirchlichen Würdenträgern und Schriftstellern Ärgernis. Das Werk wurde im 14. Jahrhundert ins Altitalienische übersetzt. Eine lateinische Übersetzung, von der mehrere Handschriften erhalten sind, entstand vielleicht schon zu Lebzeiten der Autorin, eine mittelenglische im späten 14. oder frühen 15. Jahrhundert. Die mittelenglische Übersetzung wurde im Milieu der englischen Kartäuser erstellt. Sie basiert auf einer fehlerhaften Abschrift des französischen Originaltextes. Da der Inhalt teilweise problematisch schien, fertigte der Übersetzer eine zweite Fassung an, wobei er fünfzehn Glossen (Erläuterungen) hinzufügte, mit denen er die Brisanz heikler Stellen zu entschärfen versuchte. Diese mit einer Reihe von Übersetzungsfehlern behaftete Version ist in drei Handschriften aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Bei den englischen Kartäusern galt der „Spiegel“ im 15. Jahrhundert als Werk des berühmten flämischen Theologen Jan van Ruysbroek († 1381), den man in England irrtümlich für einen Kartäuser hielt. Die Autorität des angeblichen Verfassers verschaffte dem Werk Ansehen. In Wirklichkeit hatte jedoch Ruysbroek einige Kernthesen des „Spiegels“ scharf kritisiert. Von den Kartäusern ging die Verbreitung der Schrift in England in erster Linie aus; im 15. und 16. Jahrhundert wurde sie dort stark beachtet. Noch nachhaltiger als in England war die Wirkung in Italien. Es waren zwei italienische Übersetzungen im Umlauf, die beide auf der lateinischen Fassung fußten. Im 15. Jahrhundert identifizierte der Franziskaner Bernhardin von Siena († 1444) die Lehren des „Spiegels“, gegen die er predigte, mit denen der in Italien aktiven „Brüder und Schwestern des freien Geistes“. Er meinte, es handle sich um die gleiche Häresie. 1433 verbot das Generalkapitel der Benediktinerkongregation von Santa Giustina den Mönchen die Lektüre des „Spiegels“. Papst Eugen IV. sandte 1437 den Franziskaner Johannes von Capestrano nach Venedig, Padua und Ferrara, wo Johannes Nachforschungen über die dortige Verbreitung des „Spiegels“ in Kreisen der Jesuaten anstellen sollte. Der Papst ordnete an, die aufgefundenen Exemplare des Werks zu beschlagnahmen. 1439 wurde Eugen IV. selbst auf dem Basler Konzil beschuldigt, ein Häretiker zu sein und mit den Lehren des „Spiegels“ zu sympathisieren. Ein Ankläger warf ihm vor, rechtgläubige Gegner dieser Schrift inhaftiert zu haben, und forderte deren Freilassung sowie die Vernichtung der mehr als 36 Abschriften des „Spiegels“, die sich noch im Besitz einer päpstlichen Kommission befänden. Der englische Kartäuser Richard Methley fertigte 1491 eine zweite lateinische Übersetzung des „Spiegels“ an, wobei er von der mittelenglischen Fassung ausging, deren Glossen er durch eigene Erläuterungen ersetzte. Von der theologischen Unbedenklichkeit des Werks war er überzeugt. In Frankreich wurde der „Spiegel“ im 14. und 15. Jahrhundert vereinzelt von Autoren anonym überlieferter spiritueller Literatur rezipiert. Die Königin Margarete von Navarra († 1549), die sich als Schriftstellerin betätigte, übernahm Gedankengut des „Spiegels“ in ihr allegorisches Epos Les prisons („Die Gefängnisse“), wobei sie der ihr unbekannten Autorin hohes Lob spendete. Unter anderem griff sie die Bezeichnung Gottes als „der Fernnahe“ auf. Moderne Die mittelenglische „Spiegel“-Übersetzung wurde von Clare Kirchberger in modernes Englisch übertragen und 1927 veröffentlicht. Da man von Marguerite Poretes Verfasserschaft damals noch nichts ahnte, erhielt Kirchberger für ihre Veröffentlichung der Schrift eines „unbekannten französischen Mystikers“ die kirchliche Druckerlaubnis (Imprimatur), womit die theologische Unbedenklichkeit des „Spiegels“ bescheinigt wurde. Rund zwei Jahrzehnte später entdeckte die italienische Forscherin Romana Guarnieri, dass eine lateinische Fassung des „Spiegels“ zwei der aus den Prozessakten bekannten verurteilten Artikel enthält. Damit konnte sie das anonym überlieferte Werk Porete zuweisen und so die moderne Erforschung von deren Lehre einleiten. Guarnieri publizierte ihr spektakuläres Ergebnis 1946. Erst 1965 veröffentlichte Guarnieri die Erstausgabe des französischen Textes. Die Philosophin Simone Weil las 1942–1943 in London den „Spiegel“ in der 1927 erschienenen englischen Übersetzung und notierte ihre Eindrücke. In der modernen Forschung werden besonders zwei Fragenbereiche kontrovers diskutiert. Zum einen wird erörtert, ob Porete tatsächlich im Sinne der zu ihrer Zeit geltenden kirchlichen Vorstellungen als Häretikerin zu betrachten war und inwieweit sich die Anklage auf den Wortlaut und den Sinn ihrer Ausführungen im „Spiegel“ stützen konnte. Zum anderen wird unter dem Gesichtspunkt der Thematik der Gender Studies gefragt, inwieweit bei ihr eine spezifisch weibliche Einstellung erkennbar ist und welche Rolle bei ihrer Verurteilung der Umstand spielte, dass sie als Frau die rein männliche Hierarchie der Kirche herausgefordert hatte. Einige Forscherinnen, die sich intensiv mit Poretes Gedankengut und Schicksal auseinandergesetzt haben, bekennen sich zu einem feministischen Ansatz, von anderer Seite wird die Bedeutung des Geschlechts eher minimiert. Joanne Robinson hat den elitären Charakter von Poretes Haltung und Zielpublikum herausgearbeitet. Die kanadische Dichterin und Schriftstellerin Anne Carson schrieb das Libretto der 2001 in New York uraufgeführten dreiteiligen Oper Decreation, deren zweiter Teil vom Schicksal Poretes handelt. Textausgaben und Übersetzungen John Clark (Hrsg.): Richard Methley: Speculum Animarum Simplicium. A Glossed Latin Version of The Mirror of Simple Souls. Band 1: Text, Band 2: Introduction and Notes. Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Salzburg, Salzburg 2010 (kritische Ausgabe) Marilyn Doiron (Hrsg.): Margaret Porete: „The Mirror of Simple Souls“. A Middle English Translation. With an Appendix: The Glosses by „M. N.“ and Richard Methley to „The Mirror of Simple Souls“, by Edmund Colledge and Romana Guarnieri. In: Archivio Italiano per la Storia della Pietà. Bd. 5, 1968, S. 241–382 (kritische Ausgabe) Louise Gnädinger (Hrsg.): Margareta Porete: Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik. Artemis, Zürich/München 1987, ISBN 3-7608-0727-5 (deutsche Übersetzung mit Erläuterungen und einer knappen Einführung) Romana Guarnieri, Paul Verdeyen (Hrsg.): Marguerite Porete: Le mirouer des simples ames. Margaretae Porete speculum simplicium animarum (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis Bd. 69). Brepols, Turnhout 1986, ISBN 2-503-03691-0 (kritische Edition des französischen Textes und der mittelalterlichen lateinischen Übersetzung; textkritische Korrekturen dazu bietet Edmund Colledge: The New Latin Mirror of Simple Souls. In: Ons Geestelijk Erf. Bd. 63, 1989, S. 279–287) Bruno Kern (Hrsg.): Marguerite Porete: Der Spiegel der einfachen Seelen. Mystik der Freiheit. Marixverlag, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-86539-253-4 (deutsche Übersetzung) Literatur Barbara Hahn-Jooß: „Ceste ame est Dieu par condicion d’amour“. Theologische Horizonte im „Spiegel der einfachen Seelen“ von Marguerite Porete. Aschendorff, Münster 2010, ISBN 978-3-402-10284-8. Suzanne Kocher: Allegories of Love in Marguerite Porete’s Mirror of Simple Souls. Brepols, Turnhout 2008, ISBN 978-2-503-51902-9. Irene Leicht: Marguerite Porete – eine fromme Intellektuelle und die Inquisition. Herder, Freiburg im Breisgau 1999, ISBN 3-451-26872-8. Irene Leicht: Marguerite Porete. Eine Frau lebt, schreibt und stirbt für die Freiheit. München 2001, ISBN 3-7698-1322-7 (populärwissenschaftliche Einführung) Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Band 3: Blüte. Männer und Frauen der neuen Mystik (1200–1350). Herder, Freiburg 1999, ISBN 3-451-23383-5, S. 431–465. Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Band 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit. Beck, München 1993, ISBN 3-406-34499-2, S. 338–371. Ulrike Stölting: Christliche Frauenmystik im Mittelalter. Historisch-theologische Analyse. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 2005, ISBN 3-7867-2571-3, S. 323–440. Paul Verdeyen: Le procès d’inquisition contre Marguerite Porete et Guiard de Cressonessart (1309–1310). In: Revue d’histoire ecclésiastique. Bd. 81, 1986, S. 47–94. Sean L. Field u. a. (Hrsg.): Marguerite Porete et le “Miroir des simples âmes”: Perspectives historiques, philosophiques et littéraires. Vrin, Paris 2013, ISBN 978-2-7116-2524-6. Weblinks Bibliographie Auszüge aus dem „Spiegel“ in deutscher Übersetzung Irmgard Kampmann: Im Nichts befestigt (2010) Anmerkungen Mystiker Autor Literatur des Mittelalters Literatur (Französisch) Franzose Geboren im 13. Jahrhundert Gestorben 1310 Frau Beginen und Begarden
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https://de.wikipedia.org/wiki/Wedeler%20Au
Wedeler Au
Die Wedeler Au ist ein Bach in Norddeutschland von 12,6 km Länge, davon 6 km auf Hamburger und 6,6 km auf schleswig-holsteinischem Gebiet. Sie ist damit der längste in Hamburg entspringende Elbnebenfluss, weil die Quellen der längeren Fließgewässer Bille, Alster und Este sämtlich in Schleswig-Holstein bzw. Niedersachsen liegen. Ihre Quelle liegt in Sülldorf, einem Stadtteil im Hamburger Bezirk Altona, unmittelbar an der Grenze zu Schenefeld und Iserbrook; westlich des bebauten Stadtgebietes von Wedel mündet die Wedeler Au in die Elbe. Das Gebiet wird als „Ökoregion 14 (zentrales Flachland)“ klassifiziert. Vom Fließgewässertyp her handelt es sich um einen sandgeprägten Tieflandbach (Typ 14). Um 1960 zählte der Bach zu den am stärksten verunreinigten Gewässern der Bundesrepublik; Mitte der 1980er begannen Maßnahmen zu seiner Renaturierung. Im 21. Jahrhundert ist die Wedeler Au zum Leitgewässer eines Regionalparks von rund 5.130 ha Größe entwickelt worden, der als Pilotprojekt für die länderübergreifende Zusammenarbeit in der Metropolregion Hamburg gilt. Bedeutung in der Vergangenheit Als Verkehrsweg spielte die Wedeler Au aufgrund ihrer Kürze und der geringen Ausmaße, aber auch wegen ihrer elbparallelen Ausrichtung nie eine Rolle, sieht man vom geschützt liegenden Auhafen in Mündungsnähe ab. Vermutlich schon seit der Bronzezeit führte eine Furt, die Teil des Ochsenweges zwischen Jütland und der Unterelbe war, durch die Niederung am Unterlauf; nahe dieser Stelle liegt der Ursprung der Stadt Wedel. Auf Johannes Mejers „Landt Carte von der Grafschaft Pinnenberg“ von 1650 heißt die Au noch Wedelbeck und weist einen markanten Unterschied zum heutigen Verlauf auf: seinerzeit entsprang sie weit nordöstlich von Schenefeld. Erst deutlich später wurde dieser Abschnitt teils trockengelegt, teils in die nordwärts fließende Düpenau abgeleitet. Am Stauwehr des Mühlenteiches, in der damaligen Feldmark von Schulau – heute der östliche Teil Wedels –, wurde im 16. Jahrhundert eine Wassermühle errichtet. Dass Sülldorfer oder Rissener Bauern die Wedeler Au in der frühen Neuzeit nutzten, um Getreide zur dortigen Kornmühle zu bringen, wäre denkbar, ist aber unbelegt. Dagegen spricht die Tatsache, dass es in diesen beiden Dörfern nur eine Handvoll eher armseliger Bauernstellen gab, deren Felder vom Bachlauf weit entfernt lagen (etwa längs der heutigen B 431), während die dazwischen liegende, moorige Niederung (niederdeutsch als „Brook“ bezeichnet) lediglich als Weideland sowie zur Gewinnung von Lohe aus der Rinde der Eichen und von Schilf genutzt und erst im 19. Jahrhundert kultiviert wurde. Umso unwahrscheinlicher wäre die Existenz einer zweiten Mühle in diesem Gebiet, wie sie gelegentlich aus der alten, am Rissener Ufer der Wedeler Au gelegenen Flurbezeichnung „Woistmöhlen“ abgeleitet wurde. Zum Schneiden des Schilfes (hier „Katt’nküll“ oder „Bullnpesel“ genannt) zogen die Männer aus den Dörfern alljährlich gemeinsam in das Feuchtgebiet; getrocknet wurde es als Stroh und Beifutter verwendet. Bis etwa 1800 war auch das nördlich bis an den Mittellauf der Au heranreichende Gebiet unbewaldet. Erst nach der holsteinischen Bodenreform von 1793 begann hier die Aufforstung der Moor- und Heideflächen zum heutigen Forst Klövensteen. Bis 1937 lag dieser Bach vollständig auf holsteinischem Territorium; erst durch das Groß-Hamburg-Gesetz wurden die Stadt Altona und damit die oberen 6 km der Wedeler Au Teil des Landes Hamburg, ein Jahr später auch in die Stadt Hamburg eingemeindet. Heutiger Verlauf und Begleitwege Die Breite der Wedeler Au schwankt zwischen 0,5 m am Ober- und 3 m am Unterlauf, wo sie mit gut 1 m auch ihre größte Tiefe erreicht; nur am ehemaligen Auhafen ist sie künstlich deutlich verbreitert worden. Bei einem mittleren Gefälle von 0,02 ‰ weist sie nur eine geringe Strömungsenergie auf. Ihr Einzugsgebiet umfasst 55,85 km², von denen 21,64 km² (entsprechend 39 %) auf Hamburger und 34,21 km² auf Schleswig-Holsteiner Gebiet liegen; östlich und nördlich grenzt ihr Einzugsgebiet an das der Düpenau, südlich und westlich an dasjenige der Elbe an. Die Wedeler Au entspringt auf rund in der Sülldorfer Feldmark, einem Geestgebiet, und fließt zunächst in nordnordwestlicher Richtung entlang der Stadtgrenze zwischen Hamburg und Schenefeld, wobei sie bereits nach wenigen Metern verrohrt zu einem Rückhaltebecken geführt wird, dem sie bei Überlauf infolge Starkregens als Vorfluter dient. Anschließend passiert sie das 1981 stillgelegte „Klärwerk West“ an der Straße Ellernholt und beschreibt, wieder offen und überwiegend durch Grün- und Ackerland mit alten Baumreihen und Knickstrukturen fließend, einen nur leicht mäandrierenden Halbbogen in westsüdwestlicher Richtung. Nach rund 3,5 km – östlich des Klövensteenwegs, wo sich ein weiteres Rückhaltebecken befindet – verlässt sie das landwirtschaftlich genutzte Gebiet und grenzt den Forst Klövensteen von der südlich angrenzenden Einzel- und Reihenhausbebauung des Stadtteils Rissen ab. Nach einem kurzen, scharfen Schwenk nach Süden (westlich der Gernotstraße) fließt sie auf Höhe des Geländes der Hanna-Reemtsma-Stiftung wieder in westsüdwestlicher Richtung weiter, wobei sie nach 6 km, am Schulauer Moorweg, das Hamburgische Staatsgebiet verlässt. Von da ab verläuft die Wedeler Au weitgehend parallel zur S-Bahnstrecke Altona–Wedel (S1) durch Wiesengelände, bis sie sich nördlich von Wedeler Bahnhof und Stadtzentrum zum Mühlenteich aufweitet, der durch ein erstmals 1314 urkundlich erwähntes Wehr aufgestaut wird. Hinter dem Wehr tritt sie in die Wedeler Marsch ein, wo an der Unterquerung der Schulauer Straße der ehemalige Auhafen liegt; in diesem liegt seit Anfang der 1970er Jahre das Theaterschiff Batavia. Außerdem existiert dort ein kleiner Sportboothafen, dessen weitere Nutzung die Stadt allerdings Ende der 2000er Jahre untersagt hat. Die letzten 2,1 km fließt die schilfbestandene, ab hier tidebeeinflusste Au zunächst vor dem alten Elbdeich (Brooksdamm) in südwestlicher Richtung durch das Marschland. Seit dem Ausbau des Hamburger Yachthafens an der Elbe wird sie kurz vor ihrer historischen Mündung nach Nordwesten geführt, wo sie am Zusammenfluss mit der Hetlinger Binnenelbe erneut scharf nach Süden abknickt und durch ein sturmflutsicheres Sperrwerk in der neuen Deichlinie in die Unterelbe entwässert. Ein durchgehender Weg längs des Bachufers existiert nicht. Die Quelle und weite Abschnitte des Oberlaufes sind, wenn überhaupt, bestenfalls aus der Distanz oder von einer der Feldwegbrücken zu sehen. Am Mittellauf verläuft ab der Einmündung des Laufgrabens bis zum Klövensteenweg ein Feld- und Reitweg für einige hundert Meter uferparallel, aber nur selten mit Blick auf das Gewässer, dann noch einmal ein Fußweg an dem Südschwenk westlich der Rissener Gernotstraße. Vom Klövensteen her ist die Zugänglichkeit besser, weil das rechte Ufer dort weniger steil abfällt; linksseitig ist es bis zu 4 m hoch. Auf Wedeler Gebiet verläuft im Autal bis zum Mühlenteich ein langer, ausgebauter Rad- und Wanderweg („Auweidenweg“) direkt neben dem Bahndamm, der einen guten Blick über das breite Tal ermöglicht, vom Bachlauf aber relativ weit entfernt ist. Ähnliches gilt für den am nördlichen Talrand gelegenen Weg. Erst wieder westlich der Schulauer Straße und wiederum nur abschnittsweise existiert auf den letzten zwei Kilometern bis zur Mündung noch einmal die Möglichkeit, entlang der Wedeler Au zu gehen oder zu radeln. Zuflüsse und Querungen Die meisten Zuflüsse sind anthropogen zu Gräben überformte, kurze Wasserläufe. Noch in der Feldmark fließen der Wedeler Au linksseitig Iserbrook-, Ellernholt-, Schlankweg- und Panzergraben zu. Bachabwärts folgen die rechtsseitigen Zuflüsse Lauf- (mit Seggen-) und Rissener Moorgraben sowie die Rüdigerau, die aber gleichfalls hauptsächlich aus Entwässerungsgräben (Sandbargsmoor- beziehungsweise Schnaakenmoorgraben) gespeist wird. Nahe der Stadtgrenze münden, wiederum am linken Ufer, der Schulauer Moorgraben (mit Steenbarg- und Rissener Dorfgraben) sowie kurz vor ihrer eigenen Mündung rechtsseitig die Hetlinger Binnenelbe in die Wedeler Au. Etliche Brücken queren den Bach, darunter sechs zum Teil stark befahrene Straßenbrücken (Ellernholt, Klövensteen- und Sandmoorweg in Hamburg, Autal, Mühlen-, Schulauer bzw. Austraße in Wedel). Dazu kommen zahlreiche kleinere Brücken für Fußgänger bzw. landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge, alleine fünf auf den ersten vier Bachkilometern (Feldwege 65, 67, 68, 82 und 81). Zu den ältesten Querungen gehörte die gewölbte Stockbrücke in Wedel, die allerdings Anfang der 1980er Jahre im Zuge des Ausbaues der Schulauer Straße abgerissen und durch eine neue Brücke, in die ein Fluttor eingelassen ist, ersetzt wurde. Gewässerzustand Physikalisch-chemischer Zustand An Ober- und Mittellauf, insbesondere im intensiv landwirtschaftlich genutzten Bereich auf Hamburger Gebiet, sowie an den Zuflüssen wurden seit den 1950ern zahlreiche Begradigungs- und Befestigungsmaßnahmen (trapezförmiger Querschnitt, Uferverbau mit Bongossiholz) mit signifikanten hydrologischen Konsequenzen durchgeführt. Dies führte generell zu einer Erhöhung der Fließgeschwindigkeit, die durch die entgegengerichtete Wirkung der Brückenbauwerke nur unwesentlich eingeschränkt wurde – vielmehr erreichte sie speziell nach starken Regenfällen regelmäßig Spitzenwerte, wodurch es für Gewässerorganismen zu einem „Ausräumungseffekt“ kam. Zudem wurden bei einer Überlagerung der Niederschläge mit Mischwasserüberlauf aus dem Hamburger Sielnetz am quellnahen Rückhaltebecken zeitweise erhebliche Nähr- und Schadstofffrachten eingetragen, die den chemischen Zustand des Gewässers negativ beeinflussten. Zwar verfügt das Becken (Fassungsvermögen: 17.600 m³) über einen Feinrechen zur mechanischen Klärung des abfließenden Wassers, aber alleine aus dieser Quelle werden im langjährigen Mittel 15.000 m³ in den Bach eingespeist, die einem CSB von 1,5 t für diese Wassermenge pro Jahr entsprechen. Des Weiteren liegen in Rissen drei Regensielauslässe (Einleitstellen von Niederschlagswasser stark befahrener Straßen und aus Gewerbegebieten mit Abwassertrennung) für ca. 300 ha angeschlossene befestigte Fläche. Durchschnittlich werden dort pro Jahr ca. 250.000 m³ Niederschlagswasser in das Gewässer eingeleitet; das entspricht einer Fracht von ca. 11 t organischem Kohlenstoff (TOC) pro Jahr. Im Boden der angrenzenden Felder und Weiden kommen größere Eisenocker-Ablagerungen vor, die bei Auswaschung die Besiedlungsmöglichkeit des Gewässerkörpers für Tiere und Pflanzen gleichfalls erheblich beeinträchtigen. Bachbett, Sedimente und Gewässersubstrat sind weitgehend organisch bis sandgeprägt, kiesige bzw. steinige Abschnitte mit ihrer höheren Reinigungswirkung hingegen selten; der in der Wedeler Au vorherrschende Schwebstofftransport trübt das Wasser. Sein Säurebindungsvermögen liegt bei rund 2 mmol/l, der pH-Wert zwischen 6,7 und 7,6; zu Chloriden liegen keine Angaben vor. Die Belastung des Sauerstoffhaushalts durch abbaubare organische Substanzen (Saprobie) lag laut Gewässergütebericht von 1999 im mittleren Bereich. Eine Untersuchung der Gewässersedimente auf Schwermetalle ergab 1993, dass der Oberlauf mit Blei (31–60 mg pro kg Trockensubstanz) und Cadmium (0,46–0,90 mg/kg TS) relativ gering belastet war, am Mittellauf nahe der Landesgrenze allerdings viermal so hoch (Blei 120–240, Cadmium 1,81–3,60 mg/kg TS). Neben der Landwirtschaft haben auch die zunehmend intensivere Freizeitnutzung, insbesondere im Klövensteen, und die vor allem in Rissen und Wedel teilweise unmittelbar an den Uferbereich heranrückende Bebauung (Wohnen, Gewerbe, Verkehrswege) zum Verlust von natürlichen Uferrandstreifen und zur Einschränkung des ökologischen Entwicklungspotentials der Wedeler Au beigetragen. Zusammengenommen führte dies dazu, dass die Gewässergüte der Wedeler Au noch 2001 als II-III („kritisch belastet“), nur abschnittweise als III („stark verschmutzt“) zu bewerten war. Biologischer Zustand Flora Autochthones Plankton kann sich in dem kleinen Fließgewässer kaum entwickeln. Erhebungen über das Vorkommen von Phytobenthos wurden bisher nicht vorgenommen. Überhaupt ist die Gewässerflora hier „im Vergleich zu anderen Flachlandbächen der Geest gering ausgeprägt; insbesondere im Wasser flutende Pflanzen fehlen weitgehend“, wofür die Eisenocker-Ausfällungen ursächlich sein könnten. Bei einer Begehung wurden 2003 lediglich einzelne schwimmende (Wasserlinsen, Teichrosen) und wurzelnde (Laichkraut, Wassersterne) Wasserpflanzen festgestellt; eine systematische Erhebung existiert aber bisher nicht. Naturnahe Gewässerrandstreifen sind auf Hamburger Gebiet infolge der Bachregulierungsmaßnahmen und der abschnittsweise bis an das Ufer heranreichenden menschlichen Nutzungen nur teilweise vorhanden und oftmals nur schmal. Sie werden aber im Zuge der Renaturierung seit Ende der 1980er Jahre wiederhergestellt bzw. verbreitert (siehe unten); 2003 wurden hauptsächlich Simsen- und Seggenarten sowie Igelkolben festgestellt. Im Wedeler Abschnitt zwischen Landesgrenze und Mühlenteich waren diese Maßnahmen schon 1994 abgeschlossen; dort haben sich inzwischen auch wieder Schilfgürtel gebildet. Allerdings bieten die teilweise unmittelbar an den Bachlauf angrenzenden Pflanzendecken (Wiesen und Weiden, Nadel-, Laub-, Misch- und Bruchwald, Moor, Marsch und Dünen) eine sehr viel größere botanische Vielfalt. Fauna Für den Hamburger Teil des Baches liegen detaillierte Untersuchungsergebnisse vor. Nach dem zwischen 1982 und 1986 erhobenen Artenkataster war bei der Fischbiozönose eine auffällige niedrige Individuendichte und Artenarmut zu beobachten; auch waren langlebige Arten unterrepräsentiert – ein Indikator für den schlechten Zustand der Wedeler Au. Das Vorkommen reduzierte sich im Wesentlichen auf Aale sowie zwei Stichlingsarten (drei- und neunstachliger Stichling); Stichlinge vermögen oft als einzige, Kleingewässer in der Kulturlandschaft zu besiedeln. Nur vereinzelt wurden Amerikanische Hundsfische (Umbra pygmaea) und Moderlieschen, noch seltener Bachforelle, Karausche, Rotauge, Gründling, Schleie und Kaulbarsch festgestellt. Mittlerweile findet man im Mündungsbereich zur Elbe zeitweise Stinte, Flundern und Meerforellen vor, dort und weiter flussaufwärts Barsche, Zander und Aale als Raubfischarten und von den Friedfischen Karpfen sowie die im Einflussbereich der Elbe sehr häufig vorkommenden Brassen und Alande. Das Makrozoobenthos wurde 2000/01 an Ober- und Mittellauf untersucht. Es überwogen Ringelwürmer (Oligochaeten) und Kleinkrebse (Flohkrebse, Wasserasseln). Unter den Insekten sind Köcherfliegen-, Zweiflügler- und hier speziell Zuckmückenlarven stark vertreten. Nahe der Quelle traten andere Insekten zusätzlich auf, wie z. B. Wanzen, Schlammfliegen und Käfer. Der Bachflohkrebs ist die individuenreichste Art im gesamten hamburgischen Abschnitt. Etliche Standvogelarten, die Mitte des 20. Jahrhunderts noch heimisch waren, kommen an der Wedeler Au nicht mehr vor, beispielsweise Birkhähne, der Große Brachvogel und der Ziegenmelker, dem es infolge der landwirtschaftlichen Intensivierung und Düngung an Schmetterlingen, Käfern und anderen Fluginsekten mangelt. Allerdings bietet das Gebiet aufgrund der Vielfalt angrenzender Vegetationstypen auch heute noch zahlreichen Vögeln Lebensraum. Hervorstechend sind zwei Bereiche: die offenen Feuchtwiesen am Ober- und Mittellauf, auf denen seltene und besonders geschützte Arten wie Kiebitz, Eisvogel, Sumpfrohrsänger, Bekassine und Braunkehlchen brüten und nisten, und die mündungs- und Nordsee-nahe Marsch mit rund 160 Vogelarten. Renaturierung und Schutzgebiete Ab Mitte der 1980er Jahre kam es zu einem vorsichtigen Richtungswechsel im Umgang mit der Wedeler Au. Dazu trug neben einem sich ändernden Umweltbewusstsein bei, dass sich das Betätigungsfeld der wenigen in der Sülldorf-Rissener Feldmark ansässigen Landwirte von intensivem Anbau weg und hin zu Dienstleistungen „rund um das Reitpferd“ verlagerte; einer der verbliebenen Bauern betreibt heutzutage ökologischen Landbau. Auch in der Kommunalpolitik wuchs das Verständnis für veränderte Ansprüche an den Erholungswert naturnaher Landschaften in der Großstadt. In den 1990ern fand dies zunehmend Eingang in die stadt- und landesplanerische Praxis; in Hamburg beispielsweise wurde ab 1995 anlässlich der Erstellung des neuen Stadtentwicklungskonzeptes nicht nur ein Landschafts-, sondern zusätzlich auch ein Artenschutzprogramm entwickelt. Allerdings konkurrieren andere Nutzungsinteressen (in diesem Gebiet hauptsächlich zusätzliche Pferdeställe, attraktive Wohnbauflächen und Straßenausbau) weiterhin mit der Renaturierung. Insbesondere die bauliche Erweiterung der Höfe in der Feldmark ist aufgrund des „Landwirtschaftsprivilegs“ nach BauGB in der Praxis häufig schwer zu verhindern. Im Sommer 2010 beklagten die ansässigen Landwirte eine zunehmende Vernässung ihrer Nutzflächen. Erste Maßnahmen ergriff die Stadt Wedel: ab 1984 wurde der Mühlenteich entschlammt und der oberhalb liegende Bachlauf entgradigt. In Hamburg übernahmen private Naturschutzorganisationen (NABU, GÖP) „Bachpatenschaften“ und arbeiteten, unterstützt von Bezirksversammlung und Bezirksamt Altona, in kleinen Schritten Defizite ab. Einige renaturierte Bachabschnitte mäandrieren wieder und wurden mit einer naturnahen, kiesbedeckten Sohle sowie Gehölzanpflanzungen am abgeflachten Ufer versehen; zwei Teiche mit ausgedehnten Sumpf- und Flachwasserzonen wurden angelegt und an die Wedeler Au angebunden. Außerdem wurde das Rückhaltebecken am Mittellauf zu einer Flutmulde zurückgebaut. Im Sommer 2006 waren an der Au wieder Kugelmuscheln, Gründling, Bachschmerle, Berle und Brunnenkresse anzutreffen. Im Jahr 2007 stehen die Wedeler Au selbst und weite, vor allem nördlich angrenzende Gebiete unter Schutz. Dabei handelt es sich allerdings weder um eine zusammenhängende Unterschutzstellung noch um einheitliche Instrumente zur Durchsetzung dieser Schutzverordnungen. Vielmehr sind Teilräume als Landschaftsschutzgebiet (LSG), Naturschutzgebiet (NSG) oder nach in nationales Recht übergeleiteten EU-Richtlinien ausgewiesen, und die Zuständigkeiten verteilen sich gleichfalls auf verschiedene Organe der Exekutive. Im Einzelnen sind dies: in Hamburg der im Bezirk Altona liegende Bachabschnitt und seine Uferbereiche als „Europäisches Fischgewässer“ nach der EG-Wasserrahmenrichtlinie, als Auenentwicklungsbereich nach dem Landschaftsprogramm sowie, bis auf ein kurzes Stück östlich der Landesgrenze, als Teil des Wasserschutzgebietes Baursberg Teile der Rissen-Sülldorfer Feldmark und des Forstes Klövensteen als LSG Das Schnaakenmoor als NSG, das zudem auch als Schutzgebiet nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie angemeldet wurde in Wedel der gesamte in Wedel liegende Bachabschnitt als Bestandteil des Natura-2000-Gebiets „Schleswig-Holsteinisches Elbästuar und angrenzende Flächen“ der Bachabschnitt oberhalb des Mühlenwehrs als Teil des LSG „Holmer Sandberge und Moorbereiche“ der Bachabschnitt unterhalb des Mühlenwehrs als Teil des LSG „Wedeler Marsch“ der Mündungsbereich der Wedeler Au mit seinem außendeichs gelegenen Auwaldrest als Teil des NSG „Haseldorfer Binnenelbe mit Elbvorland“ Außerdem ist der gesamte Bachlauf und seine weiträumige Umgebung im Rahmen der EG-Nitratrichtlinie als „gefährdetes“ und im Rahmen der Kommunalabwasserrichtlinie als „empfindliches Gebiet“ ausgewiesen. Schaffung eines Regionalparks Seit Beginn des 21. Jahrhunderts existierte das Projekt eines länderübergreifenden Regionalparks „Wedeler Au / Rissen-Sülldorfer Feldmark“, der im Norden deutlich über den Einzugsbereich des Baches hinausreicht, städtische Siedlungskerne aber ausspart. Von seinen geplanten 51,3 km² Fläche liegen 36 % in Hamburg, 27 % in Wedel, 13 % in Holm, 11 % in Pinneberg, 7 % in Appen und 6 % in Schenefeld. Als erstes Projekt dieser Art in der Metropolregion Hamburg besitzt es Modellcharakter für die Kooperation der Bundesländer Schleswig-Holstein, Hamburg und des hieran allerdings nicht beteiligten Niedersachsens. Die Anerkennung als Modellprojekt erfolgte 2003; im Herbst 2005 wurde der Auftrag für ein fortlaufendes Gutachterverfahren an die Hamburger Landschaftsarchitekten Schaper, Steffen und Runtsch vergeben, ein projektbegleitender Arbeitskreis aus Vertretern der beteiligten Gemeinden unter Federführung der Wedeler Stadtverwaltung eingerichtet und diesem im Mai 2007 die erste Gutachtenfassung vorgestellt. Das Gutachten enthielt eine Bestandsbewertung, stellte Nutzungskonflikte, Defizite und Entwicklungspotentiale dar und beinhaltete ein Ziel- und Rahmenkonzept sowie einen detaillierten Katalog von Vorschlägen für konkrete Maßnahmen. Der Zeitplan sah vor, von 2008 bis 2013 einen Teil der Einzelprojekte zu realisieren und als regionalen Beitrag zur Internationalen Gartenschau 2013 in Hamburg-Wilhelmsburg zu präsentieren. Zusammengefasst lag der Schwerpunkt des Konzepts auf einer „Sicherung landschaftlich empfindlicher Zonen“ und ihrer „Entwicklung … zur Steigerung der Naherholungs-Attraktivität“, die durch einen Wegenetzverbund mit Aussichtspunkten hergestellt und um „Schwerpunkträume für intensive Erholung“ ergänzt werden sollen. „Die namensgebende Wedeler Au ist dabei als Leitgewässer zu entwickeln“, wobei dem Erhalt der extensiv genutzten Grünlandflächen und der „naturnahen Gewässerstrukturen“ zentrale Bedeutung zukommt. Von den 20 vorgeschlagenen Einzelprojekten in Teilräumen bezogen sich vier unmittelbar auf die Wedeler Au und ihren Nahbereich: An Ober- und Mittellauf wurde u. a. die „Extensivierung und teilweise Wiedervernässung von Niederungsgrünland als Maßnahme zum Wiesenvogelschutz“ vorgeschlagen; außerdem sollte die Quelle in eine neu anzulegende, kleine Sumpffläche nördlich der Straße Ellernholt verlegt werden. Im Talraum auf Wedeler Gebiet bis zum Mühlenteich wird der Ausbau der Naherholungsfunktion „unter Berücksichtigung der Ansprüche als Schutzgebiet von europäischer Bedeutung“ – gemeint ist das Natura-2000-Gebiet – verfolgt, in der Innenstadt sollen „Zugänglichkeit und Erlebbarkeit“ verbessert werden. Im Mündungsbereich schließlich soll gleichfalls die „Entwicklung der landschaftsbezogenen, extensiven Naherholung“ vorangetrieben werden. Die Stadt Wedel hat als erste Maßnahme mit der Lückenschließung des Elbufer-Rad- und -wanderwegs im Bereich des Kraftwerks – also nicht in Bachnähe – begonnen, wofür der Rat bereits Mittel in einer Gesamthöhe von etwa 80.000 € bewilligt hat. 2013 begann eine Untersuchung, inwieweit die seit der Aufforstung vom Wald überwucherten Binnendünen in einem Maße wieder freigelegt werden können, damit sie als „Trittsteine“ für eine großräumliche Trockenbiotopachse dienen und die Lebensbedingungen gebietstypischer Pflanzen und Tiere – beispielsweise Silbergras, Besenheide, Berg-Sandglöckchen, Zauneidechse und Schlingnatter – verbessern helfen können. Wie das Vorhaben im kommenden Jahrzehnt tatsächlich umgesetzt werden kann, ist teilweise noch fraglich. Zum einen befindet sich ein Großteil der benötigten Flächen in Privatbesitz; zum anderen muss der Widerspruch zwischen beabsichtigter Verbesserung der verkehrlichen Erreichbarkeit bzw. Intensivierung der Naherholungsnutzung und dem Konzept von Erhalt und Ausbau der naturnahen Räume auch nach Auffassung der Gutachter erst noch gelöst werden. Im Frühjahr 2008 sollte das Konzept erstmals öffentlich vorgestellt werden, was aber auch 2010, obwohl so beabsichtigt, noch nicht geschehen ist. Stattdessen wurde im November 2009 – nach rund anderthalbjähriger Satzungsdiskussion in den beteiligten Kommunen und dem Kreis Pinneberg – ein neuer Verein (Regionalpark Wedeler Au e. V.) als Träger des Regionalparks offiziell gegründet. In den 2010er-Jahren sind zwei Projekte realisiert worden. Zum einen führen mittlerweile mehrere GPS-unterstützte „digitale Informationspfade“ durch den Park. Zum anderen ist auf einer sanierten, ehemaligen Altlastverdachtsfläche auf Wedeler Gebiet eine „Wassererlebniszone“ entstanden,. Dort wurden einzelne Zugänge zum Bach geschaffen. Für beide Vorhaben wurden Informationstafeln über die jeweils zu beobachtenden Pflanzen und Tiere errichtet. Zu Jahresbeginn 2020 werden oberhalb des Mühlenteiches zwei Sandfänge geschaffen, um die starke Sedimentation im Teich selbst zu verringern. Zudem wird auch durch den Einbau von Kies und Totholz im Bachbett eine Forderung der EU-Wasserrahmenrichtlinie aus dem Jahr 2000 realisiert. Literatur Gedruckte Quellen Amt für Umweltschutz (Freie und Hansestadt Hamburg): Umsetzung der EG-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL). Landesinterner Bericht zum Bearbeitungsgebiet Wedeler Au. Bestandsaufnahme und Erstbewertung. (Stand: 20. September 2004) Bürgerverein Sülldorf-Iserbrook (Hrsg.): Sülldorfer Geschichte und Geschichten. Eigenverlag, Hamburg o. J., 2006 Josef Nyary: Die Naturwunder der Wedeler Au. Hamburger Abendblatt vom 25. August 2006 Schaper/Steffen/Runtsch Garten- und Landschaftsarchitekten (im Auftrag des Fachdienstes Stadt- und Landschaftsplanung der Stadt Wedel in Kooperation mit dem Fachamt Stadt- und Landschaftsplanung des Bezirksamts Hamburg-Altona): Regionalpark Wedeler Au / Rissen-Sülldorfer Feldmark. Rahmenkonzept Kurzfassung. (Stand: 16. April 2007; die Langfassung war Ende August 2007 noch nicht fertiggestellt) Umweltbehörde (Freie und Hansestadt Hamburg): Umweltatlas Hamburg 1994. (Sonderdruck 1994) Weblinks Offizielle Seite zum Regionalpark Wedeler Au Seite zur Bachpatenschaft des NABU Einzelnachweise 1Wedeler Au Fluss in Hamburg Fluss in Europa Fluss in Schleswig-Holstein Hamburg-Sülldorf Hamburg-Rissen Gewässer im Kreis Pinneberg Geographie (Wedel) Renaturierungsökologie
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Karatepe-Arslantaş
Karatepe-Arslantaş, (Karatepe türkisch „schwarzer Hügel“, Arslantaş türkisch „Löwenstein“, auch Aslantaş) luwisch á-za-ti-wa/i-tà-ia-na(URBS) Azatiwataya, ist eine neo-hethitische Ruinenstätte im Landkreis Kadirli der Provinz Osmaniye im Süden der Türkei. Azatiwada, der Ende des 8. bis ins 7. Jahrhundert v. Chr. über ein spätluwisches Kleinreich herrschte, gründete die Hügelfestung mit seinem Palast an einer damals bedeutenden Fernhandelsroute. Sie lag am Fluss Ceyhan, dem antiken Pyramos, im Süden des Taurusgebirges. Da keine Bauwerke nachfolgender Herrscher ausgegraben wurden, dürfte der Ort bald nach Azatiwadas Tod aufgegeben worden sein. Die Festung ist von einer etwa einen Kilometer langen Mauer umgeben, die zum Teil im Wasser des Arslantaş-Stausees verschwunden ist. Von der Festung sind die Grundmauern einiger Gebäude erhalten, darunter eines vom Bît-Hilâni-Typ. Der Ort ist vor allem wegen der dort gefundenen zwei monumentalen Toranlagen mit bemerkenswerten Reliefs bekannt, die Helmuth Theodor Bossert 1946 entdeckte und die bis heute (2012) unter der Leitung von Halet Çambel (1916–2014) erforscht und restauriert werden. Sie zeigen sowohl Szenen aus dem höfischen Leben als auch mythologische und kultische Bilder. Sie sind zu großen Teilen mit zweisprachigen Texten in Luwischen Hieroglyphen und in phönizischer Schrift versehen, die Bossert als Bilingue erkannte, was maßgeblich zur Entzifferung der damals Hieroglyphen-Hethitisch genannten Schrift beitrug. Eine phönizische Version der Inschrift bedeckt zum Teil auch die überlebensgroße Statue des Wettergottes. Seit 2020 ist Karatepe-Arslantaş auf der Tentativliste zur Anerkennung als Weltkulturerbe gelistet. Lage Der Palast des Azatiwada liegt auf dem Kalksteinhügel Ayrıca Tepesi etwa 224 m über dem Meeresspiegel in den Ausläufern des kilikischen Mitteltaurus, rund 135 km nordöstlich von Adana. Südlich davon beginnt die Karatepe-Bergkette. Westlich des Burgberges und des Ceyhan-Flusses führte die Karawanenstraße Akyol entlang, die das ebene Kilikien mit dem anatolischen Hochland verband. Sie entspricht einem Teil des antiken Straßennetzes, das von Karatepe im Norden durch den Taurus nach Zentralanatolien und im Süden über den Amanos nach Samʼal (heute Zincirli) verlief. Der heutige Arslantaş-Stausee überflutete das Flussbett und Teile der Festungsmauern. Am gegenüberliegenden Ufer des Ceyhan liegt ein weiterer befestigter Hügel, der Domuztepe. Von dort stammt vermutlich ein Teil des Basalts, der für die Reliefs am Karatepe-Arslantaş verwendet wurde. Bahadır Alkım hat dort bei seinen Grabungen Abbauspuren gefunden. Geschichte Das spätere Kilikien, das etwa dem hethitischen Kizzuwatna entsprach, bestand am Anfang des ersten vorchristlichen Jahrtausends aus den Königreichen Qu'e und Hilakku. Qu'e entsprach ungefähr Kilikia Pedias, dem ebenen Kilikien und Hilakku, das später namensgebend für das ganze Kilikien war, entsprach Kilikia Tracheia, dem rauen Kilikien. Zu Qu'e gehörte auch die Region des heutigen Adana, wo die für die Stadt namensgebenden Danunäer ansässig waren. Zwischen 738 und 732 v. Chr. regierte in Qu'e König Awariku. Er war dem assyrischen Herrscher Tiglat-Pileser III. tributpflichtig, in dessen Tributlisten taucht er unter dem Namen Urikki auf. Awarikus Statthalter war der in Karatepe residierende Azatiwada. Damit kann davon ausgegangen werden, dass dieser in der Regierungszeit des Awariku eingesetzt wurde und die Festung errichtete. Da er in der Inschrift beschreibt, dass er die Nachkommen Awarikus in Adana inthronisiert habe, muss für die Entstehung der Inschrift ein Datum nach dem Tod Awarikus (nach 709 v. Chr.) angenommen werden. Von einigen Forschern wird Azatiwada gleichgesetzt mit Sanduarri, dem König von Kundi (wahrscheinlich Anazarbos) und Sissu (Kozan), beide nördlich der Ebene von Adana. Sanduarri verbündete sich im 7. Jahrhundert v. Chr. mit der phönizischen Stadt Sidon gegen Assyrien, wurde aber von Asarhaddon gefangen genommen und enthauptet. Diese Gleichsetzung würde zu der von Albrecht Götze beschriebenen luwischen Einwanderung nach Kilikien gegen Ende der assyrischen Herrschaft passen sowie zur Anwesenheit der Phönizier in dem Gebiet. Während jedoch Goetze und andere eine frühere Datierung ins 9. Jahrhundert in die Zeit von Shalmaneser III. vorschlagen, ordnet die amerikanische Archäologin Irene J. Winter die Reliefs nach einer stilistischen Analyse in eine spätere Zeit ein, schließt für die Erbauung der Befestigung jedoch das 9. Jahrhundert nicht aus. Für das Ende der Burg, möglicherweise ihre Zerstörung im Rahmen der Feldzüge des Asarhaddon nach Hilakku (Kilikien), wird allgemein das 7. Jahrhundert angenommen. Spuren von Nachfolgebauten sind nicht gefunden worden, einige wesentlich später zu datierende Mauerzüge im Nordwestbereich der Festung stammen aus byzantinischer Zeit. Neuere Forschungen schließen eine Datierung Azatiwadas nach 727 v. Chr. jedoch aus und deuten auf eine Datierung seiner Bautätigkeit in die Zeit um 750 v. Chr. hin. Forschungsgeschichte Karatepe wurde 1946 von dem deutschen Archäologen Helmuth Theodor Bossert entdeckt, nachdem unter anderen der örtliche Lehrer Ekrem Kuşcu Hinweise auf einen Löwenstein gegeben hatte. Im Auftrag der Universität Istanbul erforschte er das Gelände gemeinsam mit Halet Çambel und Bahadır Alkım, der für die Türkische Geschichtsgesellschaft arbeitete. Dabei wurden die Toranlagen freigelegt und die Bilingue von Karatepe gefunden, eine zweisprachige Inschrift in Phönizisch und Hieroglyphen-Luwisch. Da der phönizische Teil lesbar war, trug dieser Fund wesentlich zur Entzifferung der damals noch Hieroglyphen-Hethitisch genannten Schrift bei. In den Jahren bis Anfang der 1950er grub Alkım auch am Domuztepe und erforschte das von Karatepe-Arslantaş über den Taurus nach Zentralanatolien und über das Amanosgebirge nach Samʼal (heute Zincirli) führende Straßennetz. Ab 1952 standen die Grabungsarbeiten unter der Leitung von Halet Çambel, während Bossert in Mopsuestia, dem heutigen Yakapınar, nach der im Text Pahri genannten Hauptstadt des Asitawatas suchte. Bis 1957 wurden Restaurierungsarbeiten an den Toranlagen sowie unter der Leitung von Bahadır Alkım weitere Ausgrabungen in einigen Bereichen der Befestigung vorgenommen. In den späten 1950er-Jahren wurden die Toranlagen durch Dächer geschützt, 1958 wurde der Karatepe-Aslantaş-Nationalpark gegründet. In den 1980er-Jahren waren wegen des Baus des Arslantaş-Staudamms Rettungsgrabungen am Domuztepe nötig, die von Mehmet Özdoğan 1983/84 durchgeführt wurden. Während die Restaurierungsarbeiten an den Toren weiterliefen, wurden 1997 unter der Leitung von Martina Sicker-Akman vom Deutschen Archäologischen Institut Istanbul in Zusammenarbeit mit Halet Çambel die Arbeiten an der Festungsarchitektur wieder aufgenommen. 1962 besuchte Paolo Matthiae, damals Mitarbeiter der italienischen Grabung am Arslantepe den Karatepe in Abwesenheit der Ausgrabungsmannschaft, fertigte Fotografien an und veröffentlichte an seiner Universität die unautorisierte Schrift Studi sui Rilievi di Karatepe. Nach scharfen Protesten von Seiten verschiedener Institutionen zog die Universität die Veröffentlichung zurück. Daraufhin wurde auf dem Gelände ein striktes Fotografierverbot erlassen. Für die Publikation über die Bildwerke des Karatepe, die Halet Çambel und Aslı Özyar 2003 veröffentlichten, wurden die Reliefs von Dieter Johannes, dem damaligen Fotografen des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul, neu aufgenommen und danach das Fotografierverbot aufgehoben. Das Gelände ist heute als Freilichtmuseum dem Archäologischen Museum Adana angegliedert und wurde bis zu ihrem Tod 2014 von Halet Çambel geleitet. Festung Ein zweigeteilter Mauerring umgibt den Burgberg, auf dem der Palast stand, wobei der westliche und östliche Teil des Systems nicht miteinander verbunden sind. Der Durchmesser der Befestigung beträgt in Nord-Süd-Richtung etwa 375 Meter, in West-Ost-Richtung 195 Meter, der Umfang liegt bei etwa einem Kilometer. Die Mauern sind im Schnitt etwa vier Meter stark und verfügten über 28 Türme und fünf Tortürme. Teile der äußeren Befestigung im Osten sind heute vom Stausee überflutet. Die Errichtung der Mauern auf dem gewachsenen, zerklüfteten Felsen erforderte teilweise eine Unterfütterung von Felsspalten, oder das Abtragen von Felspartien. Vor allem im steilen zum Fluss hin gelegenen Ostteil der Anlage bestand die Gefahr einer Unterspülung des Mauerwerks durch abfließendes Regenwasser. Deshalb wurde im gesamten Bereich der Festung ein komplexes Entwässerungssystem eingerichtet, dessen Kanäle sich unter Mauern und Gebäuden durchziehen. Eine Vormauer an der steilen Ostseite des Berges schützte den Zugang zum Fluss, womit die Wasserversorgung gewährleistet wurde. Der Zugang erfolgt durch zwei monumentale Toranlagen im Norden und Süden. Die Mauerreste nordwestlich und südöstlich des oberen, südlichen Tores werden als Kasernen beziehungsweise als Depot gedeutet. Ein daran anschließender Raum in unmittelbarer Nachbarschaft zum Südtor ist mit Felsbearbeitungen wie Näpfchen und Schalenfelsen ausgestattet. Dieses und die Nähe zum Standbild des Wettergottes lassen möglicherweise auf eine kultische Funktion des Raumes schließen. Weiter nördlich liegen Reste eines allgemein als Palast interpretierten Gebäudes. Im nördlichsten Areal des ummauerten Bereichs liegt ein weiterer Gebäudekomplex, dessen Funktion nicht bekannt ist. Palast Der als Palast bezeichnete Gebäudekomplex liegt an der höchsten Stelle des Hügels und misst 45 Meter in West-Ost- und 65 Meter in Nord-Süd-Richtung. Erhalten sind lediglich 40 Zentimeter über den gewachsenen Fels reichende Reste der Grundmauern. Um einen Hof von 22 × 30 Metern gruppieren sich in unregelmäßiger Anordnung eine Anzahl Räume. Nördlich des Hofes liegt ein nach Süden offener Raum, dessen Eingangsöffnung von zwei Basaltblöcken flankiert wird. Bahadır Alkım sieht darin Säulensockel und erkennt damit in der Anordnung der nördlichen Bauelemente den Grundriss eines Bît Hilâni, eines im gesamten Nahen Osten und in Kleinasien verbreiteten Gebäudetyps, der aus mehreren kleinen Räumen besteht, die um einen offenen, breiten Eingang gruppiert sind, der von Säulen eingerahmt wird. Aufgrund von teilweisen Überbauungen und leichten Abweichungen in der Ausrichtung lässt sich erkennen, dass der Komplex in mindestens vier Bauphasen errichtet wurde. Von der ersten Phase sind lediglich eine Treppe und wenige Mauerreste westlich des Palastgebäudes erhalten. Sie ist in den anstehenden Fels gearbeitet und durch jüngere Mauern im Osten überbaut. Ein späterer Kanal aus Phase 2 ist als Rinne in die Treppe eingeschlagen. Zur zweiten Bauphase gehören die Räume, die im Norden das Bît Hilâni bilden. Rechts und links der mit Säulen eingefassten 12,5 Meter breiten Vorhalle liegen zwei quadratische Gebilde, möglicherweise Türme. Dahinter folgt der Hauptraum in gleicher Breite und 7,5 Metern Tiefe, daneben im Osten ein länglicher Raum und im Westen eine Gruppe von vier nebeneinanderliegenden und drei davor angeordneten Räumen. Von der Mitte des Hilânis aus wird der Bau über Kanäle nach Osten aus dem Gebäude heraus und nach Westen durch die anderen Räume entwässert. Die Kanäle liegen unterhalb des Fußbodenniveaus und messen 20 bis 30 Zentimeter in der Breite, sie sind von 10 bis 30 Zentimeter hohen Randsteinen eingefasst. In Phase 3 wurde der Bît Hilâni umgebaut, wobei die vorhandenen Mauern zum Teil überbaut wurden. Der Hauptraum wurde um die seitlich angrenzenden Teile erweitert. Die Basaltbasen im Vorraum entstanden wahrscheinlich erst in dieser Phase, im westlichen Anschlussraum an den Hauptraum wurden ebenfalls Basaltsockel gefunden. Im Süden kamen zwei Gebäudeflügel hinzu sowie eine Mauer im Osten, wodurch jetzt der Hof als zentrales Element zustande kam. Durch einen langen Raum und mehrere kleine im Westen schließt dieser südliche Teil an das Hilâni im Norden an, wobei die Ausrichtung leicht gegeneinander versetzt ist. Die Kanäle aus Phase 2 sind durch die neuen Mauern teilweise gestört, was darauf hinweist, dass sie in dieser Zeit nicht mehr genutzt wurden. Neue Kanäle führen durch die südwestlichen Räumlichkeiten nach außen und weiter unter einem gepflasterten Weg. Von der Pflasterung des Hofes sind an einigen Stellen Reste erhalten. In Phase 4 wurde das Hilâni auf der ganzen Breite nochmals nach Norden erweitert, wobei Lagen aus verstürztem Mauerwerk überbaut wurden. Hier zeigen sich deutlich unterschiedliche Mauertechniken. Während die Mauern bis Phase 3 kleinsteinig errichtet sind, wurde bei Phase 4 ein größeres, polygonales Mauerwerk verwendet. Einige Reste von Mauern im nordwestlichen Bereich, die über die vorhandenen hinweg gebaut sind, ohne auf vorhandene Niveauunterschiede von bis zu einem Meter Rücksicht zu nehmen, deuten auf eine Bautätigkeit in wesentlich späterer, möglicherweise byzantinischer Zeit hin. Bei Kumkale, flussaufwärts, liegt ein byzantinischer Stützpunkt, der wohl auch die bereits von Alkım gefundenen vereinzelten byzantinischen Scherben erklärt. Marina Sicker-Akman, die seit den 1990er-Jahren die Architektur auf dem Karatepe untersucht, fasst zusammen, dass sich in den Bauwerken die hethitische Bautradition mit dem Element des Bît Hilâni und dem Hof ebenso widerspiegelt wie nordsyrische, aramäische Einflüsse. Die von Alkım vermuteten Holzsäulen könnten auf Kontakt zur kretischen Kultur hinweisen. Toranlagen Den Zugang zur Burg bildeten zwei Toranlagen im Nordosten und Südwesten der Umfassungsmauer, einfachheitshalber als Nordtor und Südtor bezeichnet. Zu diesen führten Rampen, die dem natürlichen Geländeverlauf folgten. Die Tore waren durch in die Burgmauer eingebundene vorgelagerte beziehungsweise flankierende Türme geschützt. Die Rampen führten zunächst in einen überdachten Vorhof, an den sich nach innen ein Tor aus zwei hölzernen Flügeln anschloss. Davon sind noch die Schwellen sowie an beiden Seiten Türangelsteine erhalten. Dahinter folgten rechts und links je eine Kammer. Die Wände waren im Sockelbereich aus Bruchsteinen mit Lehmmörtel, darüber mit ungebrannten Lehmziegeln ausgeführt, wobei von letzteren nur geringe Reste erhalten sind. Innen waren sie mit Orthostaten ausgestattet, die Reliefs und Beschriftungen trugen. Sie stehen auf Basaltsockeln, die großenteils ebenfalls beschriftet sind. Zwischen Sockeln und Orthostaten sowie darüber, zum aufgehenden Bruchsteinmauerwerk hin, waren Holzbalken eingelassen. Die Beschriftungen in luwischer und phönizischer Schrift und Sprache, die zum Teil ganze Orthostaten bedecken, aber auch auf Sockeln, Reliefs und den Torlöwen zu finden sind, bilden die Bilingue von Karatepe. Hinter dem Südtor befand sich ein heiliger Bezirk, in dem die Statue des Wettergottes stand, die jetzt links hinter dem Tor aufgestellt ist. Auch die Statue ist Träger einer Version des phönizischen Teils der Bilingue. Die Reliefs, einschließlich der Portallöwen und -sphingen, werden nach Çambel mit einer Kombination von zwei Groß- und einem Kleinbuchstaben sowie einer Ziffer bezeichnet. Dabei steht der erste Großbuchstabe ‚S‘ oder ‚N‘ für Süd- oder Nordtor, der zweite ‚V‘ oder ‚K‘ für Vorhof oder Kammer, der dritte, kleine Buchstabe ‚r‘ oder ‚l‘ für rechts oder links. Die Ziffern folgen einer durchlaufenden Nummerierung von der Außenseite der Tore nach innen. Die Inschriften werden Ho und Pho für Hieroglyphen beziehungsweise Phönizisch am oberen Südtor oder entsprechend Hu und Phu am unteren Nordtor benannt. Die Bildwerke sind zum Teil unvollendet. Die Szenen wurden zunächst in den Stein eingeritzt, danach wurde der Stein mit wahrscheinlich eisernen Meißeln abgetragen. An Unterschieden in Technik und Stil ist erkennbar, dass mindestens zwei verschiedene Steinmetzen an den Darstellungen gearbeitet haben. Die Höhe der Orthostaten liegt, soweit sie vollständig erhalten sind, zwischen 1,41 und 1,10 Metern, die Breite reicht von 1,77 Metern beim Portallöwen NVr 1 bis zu weniger mehr als 20 Zentimetern bei bildlosen Bindersteinen. Nordtor Vorhof rechts Die Bildwerke am Vorhof des Nordtors beginnen rechts mit einem Portallöwen NVr 1. Er besteht aus vier Fragmenten, von denen der Kopf 100 Meter entfernt im Wald gefunden wurde. Vorderbeine und Kopf sind plastisch, der Körper als Relief ausgeführt. Auf dem Rücken sowie auf einem eingesetzten Keilstein, der als Auflage des aufgehenden Mauerwerks diente, sind Teile der luwischen Inschrift Hu 8 angebracht. Es folgt als NVr 2 ein Abbild des ursprünglich ägyptischen Gottes Bes. Er trägt eine siebenteilige Federkrone, Gesicht und Körper sind von tiefen Falten durchzogen. Er hat einen stilisierten Schnurr- und Kinnbart, der über die Brust herabhängt. Unterhalb des Körpers sind ein Phallus und dahinter ein herabhängender Schwanz zu sehen. Auf seinen Schultern sitzen zwei Affen, die die Hand zum Mund führen. Der Kopf der Figur ist im Verhältnis zum Körper erheblich zu groß, was aber zu der für Bes typischen zwergenhaften Darstellung passt. Die für Bes-Darstellungen charakteristische frontale, stark symmetrische Ansicht und die großen Augen mit einem durchdringend anmutenden Blick deuten möglicherweise auf eine Abschreckungs- oder Schutzfunktion hin. Dazu passt sowohl die Lage direkt hinter dem Portallöwen, als auch die eines weiteren Bes hinter der Portalsphinx zur rechten Kammer. Der folgende, schmale Orthostat NVr 3 trägt den Abschnitt Hu 9 des Textes, der in kleinen Teilen auf die rechts und links benachbarten Bildwerke übergreift. Auf NVr 4 schließt sich die Abbildung eines Bogenschützen, wahrscheinlich eines Jägers oder Jagdgottes, mit einem Bären an. Der links stehende, nach rechts gerichtete Mann hält in der linken Hand den Bogen, in der rechten drei Pfeile, über der Schulter ist ein Köcher sichtbar. Die Kleidung mit hoher Mütze, Wickelrock und kurzärmligem Hemd taucht auch bei einigen anderen Personen auf. Vor ihm steht ein aufgerichteter Bär mit vorgestreckten Tatzen. Die menschliche Gestalt ist etwa doppelt so groß wie das Tier, was wohl auf Überlegenheit hindeuten soll. Der nächste Bildstein NVr 5 ist etwa im Verhältnis 1:3 horizontal aufgeteilt. Der obere, kleinere Teil zeigt zwei Raubvögel, vermutlich Geier, die sich über ein ziegenartiges totes Tier beugen, das alle viere von sich streckt. Im unteren Feld ist in der Mitte eine Person zu sehen, die mit zwei Löwen kämpft. Diese stehen aufrecht zu beiden Seiten und schlagen je eine Vorderpranke in seine Schultern, während er mit beiden Händen ihre andere Pranke hält. Dieses Motiv des mit Löwen kämpfenden Helden ist bereits seit dem 4. Jahrtausend aus mesopotamischen Darstellungen bekannt. Die Szene der beiden Geier mit Ziege in der Mitte taucht unter anderem auf Siegeln vom Tell Zubeidi im Irak und auf einem goldenen Becher aus Marlik im Iran auf. Nach einem schmalen Stein ohne Abbildung (NVr 6), der nur als Zwischenstück dient, folgt auf NVr 7 eine weitere Löwenjagdszene, wobei der Kämpfer diesmal, erkennbar an der die Platte ausfüllenden Größe, ein allerdings nicht genau zu identifizierender Gott ist. Er steht links, bekleidet mit runder Kappe, kurzärmligem Hemd und Wickelrock mit Gürtel. In der Rechten hält er einen Speer, mit dem er auf den vor ihm aufrecht stehenden, nur halb so großen Löwen zielt. Über dem Löwen und vor dem Gesicht des Speerträgers ist, ohne erkennbaren Zusammenhang, ein Raubvogel, wohl ein Habicht, abgebildet, der einen Hasen geschlagen hat. Das Gefieder auf der Brust und den erhobenen Flügeln ist gut zu erkennen. Der nächste Orthostat mit der Nummer NVr 8 zeigt eine Göttin, die neben einer Palme stehend einen Knaben stillt. Sie steht rechts in einem chitonartigen Gewand und bietet dem kleineren Knaben die Brust. Dieser steht links, etwas höher als die Mutter, und hat den Kopf zum Trinken zurückgelegt. Beide haben jeweils einen Arm um den anderen gelegt. Am linken Bildrand steht leicht nach rechts geneigt eine Palme mit kreuzschraffiertem Stamm und herabhängenden Dattelrispen. Ob ihr eine Bedeutung, etwa als Fruchtbarkeitssymbol, zukommt, oder ob sie lediglich dem optischen Gleichgewicht der Darstellung dient, ist ebenso wie bei dem Vogel in NVr 7 nicht zu entscheiden. Über die Identität der Figuren kann nur spekuliert werden. Dass die große Figur eine Göttin darstellt, scheint gesichert, der Knabe kann ebenfalls ein Gott sein oder der Herrscher. Die schützende Umarmung durch einen Gott ist aus hethitischen Darstellungen auf Siegeln oder aus Yazılıkaya (Tudhalija IV. und Šarruma) bekannt, das Motiv der stillenden Göttin hat möglicherweise seinen Ursprung in Ägypten, wo es häufig auftaucht und von wo es über phönizische Handwerker nach Kilikien gekommen sein könnte. Halet Çambel schlägt als weitere Möglichkeit die Deutung als das hurritisch-hethitisch-luwische Mutter-Sohn-Paar Ḫebat und Šarruma vor. Auf dem anschließenden Stein NVr 9 ist ein geflügelter, vogelköpfiger Schutzgeist (Genius) abgebildet. Seine Hände sind erhoben und tragen eine Flügelsonne. Der Kopf ist der eines Raubvogels mit gekrümmtem Schnabel, der menschliche Körper ist ähnlich den männlichen Figuren gekleidet. Von den beiden Flügelpaaren, die ihm aus den Seiten wachsen, hält er eines nach oben und eines nach unten. Ähnliche geflügelte Mischwesen finden sich auf dem Tell Halaf. Die geflügelte Sonne ist aus hethitischen Darstellungen als Merkmal eines Gottes zum Beispiel aus Eflatun Pınar bekannt oder als Herrschersymbol von den Königskartuschen in Yazılıkaya. Links zwischen den Flügeln sind Hieroglyphen eingemeißelt, die zu der Inschrift Hu 11 auf dem benachbarten, nur 21 Zentimeter breiten Orthostaten NVr 10 gehören. Das Relief NVr 11 zeigt einen nach links schreitenden Gott, der über den Schultern eine Ziege trägt. Er hält das Tier mit beiden Händen an Vorder- und Hinterbeinen, außerdem in der rechten Hand einen Streitkolben. An einem von der Schulter hängenden Riemen ist ein Kurzschwert befestigt. Er trägt die übliche Männerkleidung einschließlich einer runden Mütze mit hochgeklapptem Ohrenschutz, auffällig sind die kurzen Stiefel, bei denen Details von Zunge, Schaft und Verschnürungen zu erkennen sind. Der Streitkolben, zu dem vergleichbare Exemplare in Zincirli, aber auch auf Samos gefunden wurden, sowie die im späthethitischen Bereich ungewöhnliche Aufhängung des Schwertes weisen auf Verbindungen Kilikiens zur westlichen Welt hin. Die Deutung dieser Figur ist unklar, vergleichbare Darstellungen sind zahlreich zu finden, beispielsweise in Karkemiš in einem Zug von Opferträgern, aber auch als Einzelpersonen im Verbund mit Göttern und Mischwesen, wobei ihre Funktion nicht erschlossen ist. Auch hier sind beidseitig des Körpers Teile der Inschrift Hu 11 zu sehen. Bei NVr 12 handelt es sich um ein unvollendetes Stück, das wahrscheinlich während der Bearbeitung zerbrochen ist und aufgegeben wurde. Es ist auf dem Kopf stehend als Binder zwischen NVr 11 und der versetzt stehenden Sphinx NVr 13 eingefügt. Es zeigt eine Figur mit Capriden und Vögeln, die ebenfalls die ganze Reliefhöhe einnimmt. Die Portalsphinx NVr 13 steht um eine Steinstärke versetzt. Der menschliche Kopf, der abgebrochen war und danebenliegend gefunden wurde, ist vollplastisch, der Löwenkörper als Halbrelief ausgeführt. Die Augen aus weißem Kalk sind eingesetzt und mit Blei befestigt, die Pupillen fehlen. Sie ist mit einem Umhang über den Schultern bekleidet, der fischgrätenartig gemustert ist und unten mit einem dreifachen Saum abschließt. An den Schultern ist ein besonders verzierter Besatz des Umhangs zu erkennen. Dahinter wachsen zwei Paar Flügel, von denen nur jeweils einer zu sehen ist. Sie schreitet nach rechts, der hochgehaltene Schwanz endet in einem Schlangenkopf. Körper, Hinterbeine und der Hintergrund der Darstellung tragen die luwische Inschrift Hu 11. Vorhof links Da auf der linken Seite die Zusammenstellung der Reliefs durch den Inschriftenblock Phu A III–I auf den Orthostaten NVl 3–5 unterbrochen ist, wurden einige Bildwerke hier waagrecht geteilt, um auf fünf Steinen ebenfalls sieben Bilder unterzubringen. Nachdem einer davon (NVl 11) zerbrach, wurde als Ersatz das Bildnis NVl 0 außerhalb der Reihe, links vom Portallöwen aufgestellt. Vermutlich als Einleitung zur folgenden Reihe wurde es ebenfalls horizontal in zwei Zonen geteilt, allerdings mit fast identischen Abbildungen. NVl 0 wurde nicht in situ gefunden, konnte aber aufgrund des genau passenden Anschlusses an der jetzigen Stelle lokalisiert und wieder aufgestellt werden. Es zeigt in beiden Bildern jeweils zwei Krieger mit Raupenhelmen auf dem Kopf und Lanzen und Schilden in den Händen. Zwischen beiden ist in der oberen Zone ein etwas kleinerer Mensch mit abgespreizten Armen und Spitzhelm zu sehen, nach dem beide mit ihrer Lanze stoßen. In der unteren Zone sieht man an gleicher Stelle einen Hasen, darüber eine Palmette. Letztere hat möglicherweise nur die Funktion, den leeren Raum auszufüllen. Çambel schlägt zwei Deutungsmöglichkeiten vor: Entweder stellen die beiden antithetischen (einander gegenüberstehenden) Krieger einheimische Soldaten, erkennbar am Raupenhelm, dar, die einen Feind, vielleicht Assyrer (Spitzhelm), schlagen, der mit einem Hasen verglichen wird, oder der mittlere Krieger versucht, einen Streit zwischen den beiden äußeren zu schlichten. Die eigentliche Reihe der Reliefs beginnt mit dem Portallöwen NVl 1. Er bildet das Gegenstück zu NVr 1, war aber ursprünglich größer geplant, was an der doppelten Rücken-Schwanz-Linie zu erkennen ist. Er trägt auf dem Körper sowie dem Sockel die phönizische Inschrift Phu A IV. Torlöwen sind in Anatolien zahlreich bekannt, mindestens seit dem 18. Jahrhundert v. Chr. durch einen Fund aus Kaneš. Der Orthostat NVl 2 ist durch ein Palmettband horizontal in zwei Hälften geteilt. Auf der linken Seite ist ein bogenförmiges Stück ausgeschnitten, entsprechend der ursprünglichen Schwanzlinie des verkleinerten Portallöwen. Im oberen Bild ist ein Reiter zwischen zwei Knechten zu sehen. Er sitzt seitlich auf einem Gestell, das einem Packsattel ähnelt, und hält sich mit einer Hand an einer aufragenden Stütze fest, während die Füße auf einem Brett ruhen. Der rechte Pferdeknecht führt das Pferd an einer Schlinge, der linke treibt es mit der Hand an. Über dem Pferd füllt wieder ein Palmettenbaum den leeren Raum. Durch Vergleiche der Sattelkonstruktion mit assyrischen Darstellungen sieht Çambel den Reitenden als Herrscher an. Im unteren Bild wird ein Löwe von zwei Kriegern bezwungen. Der linke Kämpfer wehrt das in der Mitte stehende, aufrecht nach links gewandte Tier mit einer Hand ab und stößt ihm mit der anderen das Kurzschwert in den Körper. Der zweite Krieger kommt von rechts zu Pferd und greift den Löwen von hinten mit einer Lanze an. Die drei folgenden Steinblöcke NVl 3 bis NVl 6, von denen NVl 5 ein nur 24 Zentimeter schmales Verbindungsstück ist, tragen die Inschriftenteile Phu A III bis Phu A I, wobei einige ausgelassene Buchstaben auf dem nebenstehenden NVl 2 in der rechten oberen Ecke über dem Kopf des Knechts nachgetragen sind. NVl 7 ist wiederum halbiert, diesmal nur durch eine waagrechte Linie. Im oberen Bereich halten zwei gegenüberstehende Frauen mit je einer Hand einen Ring, zwischen ihnen schlägt eine kleinere Frau eine Rahmentrommel. Alle drei tragen wadenlange Wickelröcke und Hauben, die im Nackenbereich das volle Haar umschließen. Unten sind zwei Musiker abgebildet, links ein Leierspieler, rechts ein Aulet, dazwischen zwei Tänzer, der linke mit angewinkelten Beinen im Sprung, rechts davon ein kleinerer. Rahmentrommel, Leier und Aulos gehören zu den ältesten bekannten Musikinstrumenten des Alten Orients. Die Leier, hier eine Art Rundbodenleier mit unten abgeflachten Resonanzkasten, war sowohl nach bildlichen als auch schriftlichen Zeugnissen bei den Hethitern das meistgespielte Instrument. Auch in späthethitischen Reliefs ist sie vielfach nachgewiesen. Ein Aulos wurde bereits in Ur von Leonard Woolley gefunden, in späthethitischer Zeit ist er, beispielsweise aus Karkemiš, ebenso bekannt wie aus Assyrien. Zum ersten Mal taucht hier eine Mundbinde, Phorbeia genannt, auf, ein Lederriemen, der mit ein oder zwei um den Kopf laufenden Bändern am Mund des Bläsers festgehalten wurde und wohl unter anderem der Erschlaffung der Wangenmuskeln vorbeugen sollte. Die Rahmentrommel war in Mesopotamien mindestens seit Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. in Gebrauch. Für Anatolien sind aus hethitischer Zeit verschiedene Membranophone schriftlich belegt, bildliche Darstellungen gibt es erst aus der späthethitischen Phase. Die beiden Szenen werden als zu einem Ereignis gehörig gedeutet, vermutlich zu einem kultischen Fest mit Musik und Tanz, laut Çambel möglicherweise mit einem Wettstreit zwischen Leier- und Aulosspieler verbunden, vergleichbar dem griechischen Agon. Der Ring, den die beiden oberen Frauen halten, wäre dann eine Art Siegerkranz. Auf dem folgenden Relief NVl 8 sieht man einen nach links blickenden Krieger, der Größe nach ein Gott, der in der rechten Hand eine auf den Boden gestützte Lanze hält, in der linken eine Keule. Vor dem Oberkörper trägt er ein Kurzschwert an einem Halteriemen, vergleichbar den Reliefs NVr 11, NVr 12, NVl 2 und NKl 6. Die Bekleidung besteht aus der konischen Kappe mit hochgestellten Ohrenklappen, einem kurzärmligen Hemd und einem kurzen Wickelrock, dessen rautenförmiges Muster demjenigen des Genius von NVr 9 ähnelt. Im 2. Jahrtausend v. Chr. sind zahlreiche hethitische Herrscher mit kurzem Wickelrock und ähnlicher Bewaffnung dargestellt, beispielsweise in Hanyeri, Hemite, Karabel, auch Šuppiluliuma II. in Kammer II in Ḫattuša. Da jedoch im 1. Jahrtausend die Selbstdarstellung der Herrscher immer in langen Gewändern stattfand, schließt Çambel hier auf einen verstorbenen, vergöttlichten Regenten. Auf dieses Relief folgt ein 23 Zentimeter schmales Binderstück. Mit der Nummer NVl 10 schließt sich ein zwei- beziehungsweise sogar dreigeteiltes Relief ohne trennende Markierungen an. Über einem Band aus Lotosblüten und -knospen sind zwei Stiere zu sehen, die sich mit gesenktem Kopf gegenüberstehen. Dazwischen stellt ein Dreieck vermutlich einen Berg dar. Die oberste Szene, die etwa die Hälfte der Höhe einnimmt, zeigt eine Hirschjagd. Hirsch und Mensch bewegen sich nach rechts, der Jäger hat in der Linken einen gespannten Bogen, die Rechte greift nach hinten, um einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen. Der Hirsch hat bereits einen Pfeil im Rücken stecken und dreht sich nach dem Jäger um. Er hat ein hohes Geweih. Die Hirschjagd ist, wie auch zum Beispiel die Löwenjagd, ein häufiges Bildmotiv in Anatolien, Beispiele stammen unter anderem aus Alaca Höyük, Zincirli, Karkemiš und Tell Halaf. Die antithetischen Stiere betonen laut Çambel den kultischen Charakter der Hirschjagd. Das Lotosband, als Bilddarstellung ägyptischen Ursprungs, ist als ornamentale Form von Phöniziern, Assyrern, Persern und Griechen übernommen worden. Den Abschluss der linken Reihe des Vorhofs bildet die Sphinx NVl 12. Der Kopf wurde davorliegend gefunden. Sie entspricht der gegenüberstehenden NVr 13, ist aber qualitativ schlechter ausgeführt. Die Kanten sind nicht abgerundet, das Muster des Umhangs und der Flügel ist gröber. Dahinter liegt als Läufer das Relief NVl 11, das gebrochene Original zu NVl 0. Zwischen den beiden Sphingen verläuft über die Breite des Vorhofs eine vier Meter lange Schwelle, gefolgt von einem vier Meter langen und ebenso breiten Gang. Daran schließen sich rechts und links, wiederum über eine Schwelle, die beiden Torkammern an. Rechte Torkammer Die beiden Kammern werden jeweils von einer Sphinx und einem Löwen flankiert. Allerdings sind die Portalsphingen NKr 1 und NKl 1, nicht wie NVl 12 und NVr 13 halbplastisch, sondern als Flachrelief ausgeführt. Auch diese Sphinx hat einen schraffierten Umhang über den Schultern, der zwischen den Vorderbeinen als Schurz herabhängt. Die beiden Flügelpaare sind ebenfalls schraffiert. Vor ihr steht ein Palmettbaum mit zwei Voluten am oberen Ende des Stammes. Danach folgt als NKr 2 eine weitere Bes-Darstellung. Die mit gehockten Beinen dargestellte Figur hält in beiden Händen eine Schlange und trägt eine fünfteilige Krone. Die beiden Affen, die bei NVr 2 auf den Schultern sitzen, haben hier einen separaten oberen Bildabschnitt, zwischen ihnen steht ein Bäumchen. Sie führen eine Hand zum Mund und scheinen an etwas zu knabbern. Die Anordnung des Bes direkt nach dem Portaltier weist auch hier auf eine Wächterfunktion hin. Das stark fragmentiert aufgefundene Relief wurde aus mehreren Teilen zusammengesetzt. Auf dem zweigeteilten Bildstein NKr 3 sind oben drei Greifvögel im Profil in unterschiedlicher Haltung zu sehen, zwei nach rechts, einer nach links gewandt. Darunter stehen vier männliche Gestalten. Der rechte wendet sich nach links, alle anderen blicken in seine Richtung. Der zweite und vierte von links tragen einen Wickelrock, die beiden anderen Hemden, die bis zu den Knien reichen. Demnach sind wohl zwei der Männer Einheimische, der rechte vielleicht der Herrscher, die anderen beiden Fremde, die hier empfangen werden. Çambel schlägt die Möglichkeit vor, dass hier auf ein historisches Ereignis Bezug genommen wird, möglicherweise den Abschluss des Paktes zwischen Sanduarri und den Phönizierfürsten. Die Bedeutung der Vögel ist unklar, in Verbindung mit dem Vertragsschluss könnte eine Vogelschau angedeutet sein. NKr 4 ist ein 21 Zentimeter schmaler Binder ohne Bild, NKr 5 trägt den Abschnitt Hu 5a der Hieroglypheninschrift. Auf NKr 6 taucht erneut das Motiv der Löwenbezwinger auf. Zwei antithetische Kämpfer kämpfen mit einem in der Mitte aufrecht stehenden Löwen. Darunter befinden sich zwei kleinere Löwen und eine Ziege. Einer greift von links die Ziege an, der zweite ist ihr bereits auf den Rücken gesprungen. Eine Trennung zwischen oberem und unterem Bildinhalt ist nicht vorhanden. Es folgen der Inschriftenstein NKr 7 mit Hu 5b sowie mit dem Binder NKr 8 die Ecke der Kammer. Die rückwärtige Reihe der Kammer beginnt nun von rechts mit zwei Kriegern, die sich auf NKr 9 gegenüberstehen. Beide sind mit Raupenhelmen und Schilden ausgestattet und haben einen Kurzspeer in der Hand. Das nächste Relief NKr 10 zeigt zwei aufrecht sich gegenüberstehende Capriden an einem stilisierten Baum. Am Stamm des Gewächses sind volutenartige Auswüchse zu erkennen, am oberen Ende Blätter oder Knospen. Da beim linken Tier im Gegensatz zum rechten ein Penis erkennbar ist, scheint es sich um Bock und Ziege zu handeln. Auch das Motiv antithetischer Ziegen an einer Pflanze ist sowohl aus Mesopotamien, zum Beispiel von der Goldenen Leier aus Ur, als auch im ersten vorchristlichen Jahrtausend aus späthethitischen Zeugnissen wie in Zincirli und Tell Halaf bekannt. Die folgenden drei Szenen NKr 11 bis NKr 13 müssen im Zusammenhang gesehen werden. In der rechten, in der Mitte der Kammer platzierten, sind zwei große antithetische Gestalten abgebildet mit einer kleineren in der Mitte. Links steht ein Mann, rechts eine Frau. Die mittlere, ebenfalls männliche Person steht höher und umarmt die beiden äußeren. Die großen Figuren tragen ein langes, glattes Gewand mit einem senkrechten, doppelten Steg. Der Mann hat auf dem Kopf eine runde Kappe oder ein Diadem, die Frau einen Schleier. Von der kleineren Gestalt sind große Teile weggebrochen, sodass Einzelheiten der Kleidung nicht erkennbar sind. Sie stellen mit ziemlicher Sicherheit eine Göttertrias von Vater, Mutter und Sohn dar. Unklar bleibt, ob es sich um die hethitische, aus dem hurritischen Pantheon übernommene Dreiheit von Teššub, Ḫebat und Šarruma handelt, von der durch drei Karyatiden aus Tell Halaf erwiesen ist, dass sie mindestens im 9. Jahrhundert v. Chr. noch bekannt war. Auch eine Deutung als Kubaba, die luwische Stadtgöttin von Karkemiš, mit Tarhunza und Karhuha wird in Erwägung gezogen. In NKr 12 und NKr 13 sind jeweils zwei große, nach rechts gewandte Männer zu sehen. Der erste (von rechts) hält in der rechten Hand vor dem Körper ein Messer, die linke ist zum Gruß erhoben. Der zweite winkelt einen Arm an, während er mit dem anderen grüßt. Der dritte hält wiederum ein Messer, der vierte eine geschulterte Keule, beide grüßen mit der anderen Hand. Die Bekleidung ist bei allen gleich mit langen Gewändern und runden Kappen oder Stirnbändern. Alle vier bewegen sich in einer Reihe auf die Göttertrias von NKr 11 zu. Aus dem Vergleich mit der Götterprozession von Yazılıkaya wird geschlossen, dass es sich hier gleichfalls um Götter handelt. Winfried Orthmann schlägt dagegen einen Zug von Würdenträgern vor. Solche Szenen sind aus Karkemiš und Zincirli bekannt, allerdings gehen sie nicht auf Götter, sondern auf Könige zu. Die Rückseite der Kammer wird von dem bildlosen Binder NKr 14 abgeschlossen. Das linke hintere Eckstück der Kammer bildet mit der Nummer NKr 15 ein unvollendetes Relief mit zwei männlichen Gestalten, die linke, nach rechts gewandte etwas größer als die andere, ihm gegenüberstehende. NKr 16 besteht aus zwei Zonen ohne trennende Markierung. Unten sieht man einen Reiter ohne Sattel auf einem Pferd sitzen, die linke Hand hält einen Zügel, die andere ist zum Gruß erhoben. Über ihm gehen drei Männer in langen Gewändern und mit runder Kappe, ebenfalls grüßend. Alle bewegen sich nach rechts, sie bilden wohl den Anfang eines Zuges, der sich, nach einer Opferszene, auf NKr 18 fortsetzt. Da sie unbewaffnet sind, kann man eine kultische Prozession annehmen. Die Abbildung von Reitern ohne Waffen ist im kleinasiatischen und mesopotamischen Bereich ohne Vergleichsobjekte, alle bekannten Reiterbilder stehen in Zusammenhang mit Krieg oder Jagd. Auch NKr 17 ist ohne Trennstrich in zwei Zonen aufgeteilt. Oben steht links eine kleine männliche Gestalt, die in der vorgestreckten Hand einen Speer hält. Dieser ist nach dem Glätten des Reliefhintergrunds eingeritzt. Vor ihm steht ein nach rechts gehender Capride, unter dessen Kopf ein weiterer, nach links gewandter kleiner Mann in Grußhaltung. Die untere Szene zeigt eine Stieropferung. Das Opfertier wird von zwei Männern an Hörnern und Schwanz festgehalten, ein dahinterstehender dritter schwingt eine Doppelaxt, mit der er den Stier töten wird. Am linken Bildrand beobachtet ein größerer Mann, vermutlich ein Priester, das Geschehen, er hält in der rechten Hand einen runden Gegenstand. Das Stieropfer ist vergleichbar mit dem attischen Ochsenmord, bei dem der Opferstier mit einem Beil erschlagen wurde, wogegen im anatolischen Bereich dem Tier im Allgemeinen die Kehle durchschnitten wurde. Deshalb wird auf eine westliche Herkunft dieses Rituals geschlossen. Bei einem entsprechenden Fest im Heraion von Argos wurde der Ochsenschläger anschließend symbolisch gesteinigt, um ihn von seiner Schuld zu reinigen. Daher könnte der Gegenstand in der Hand des Priesters ein Stein sein. In der Inschrift beschreibt Azatiwada eine jährliche Zeremonie, bei der Tarhunzas/Baal ein Stier und ein Schaf geopfert wurde. Damit könnte hier ein Bezug zwischen Schrift und Relief bestehen, wenn man annimmt, dass statt des Schafes hier eine Ziege dargestellt ist. Auf dem schlecht erhaltenen, nur 27 Zentimeter breiten Binder NKr 18 sind zwei nach rechts gewandte Männer in grüßender Haltung abgebildet, die mit großer Wahrscheinlichkeit den Abschluss des in NKr 16 beginnenden Prozessionszuges darstellen. Die nun folgende Schiffsszene NKr 19 ist eines der bemerkenswertesten und meistbesprochenen Bildwerke des Karatepe. Sie zeigt ein Schiff mit vierköpfiger Besatzung, darunter Fische und menschliche Gestalten. Es hat links am Bug einen rechteckigen Rammsporn, rechts einen im Bogen hochgezogenen Achtersteven. Aus dem Schiffsrumpf ragen fünf Ruder mit abgewinkelten Blättern sowie im Heckbereich ein Steuerruder. Die Anzahl der Ruder muss nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten des gezeigten Schiffes übereinstimmen, sie ist eher den Platzmöglichkeiten des Steinmetzen geschuldet, ebenso wie die Tatsache, dass die Ruder nicht bis zum Wasser reichen. An Bug und Heck sind mit Latten umrahmte Plattformen angebracht, dazwischen die Reling. Der Mast reicht bis zum oberen Rand des Steins, an der quer dazu stehenden Rah sind kleine Dreiecke zu erkennen, die mit großer Wahrscheinlichkeit als gereffte Segel zu deuten sind. Von der Takelage sind sechs teilweise schräg laufende Taue zu sehen, an denen eine Schraffierung zu erkennen ist, die wohl die Drehung der Seilstränge darstellen soll. An Deck steht auf der linken Plattform ein Mann, der nach vorn schaut und mit einer Hand dorthin zeigt. Oberhalb der Reling sitzen zwei nach hinten gewandte Besatzungsmitglieder mit ausgestreckten Beinen, der vierte sitzt auf der Heckplattform, schaut nach vorn und hält eine Schale. Laut Lionel Casson bestand die Besatzung der griechischen Schiffe vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. neben den Ruderern aus drei Offizieren: dem Bugoffizier (Prorates), der hauptsächlich am Bug Ausschau hielt, dem für die Ruderer zuständigen Keleustes und dem Kapitän und Steuermann (Kybernetes). Dem Keleustes wurde später noch ein zweiter Mann zugeordnet, der Pentekontarchos. Übernimmt man diese Deutung, wären hier links der Bugoffizier, rechts sitzend der Steuermann und in der Mitte die beiden Ruderoffiziere zu sehen. Dass die Personen oberhalb statt hinter den Deckaufbauten und der Reling sitzen oder stehen, muss wohl wiederum dem Steinmetz zugeschrieben werden, da die Darstellung sonst zu unübersichtlich geworden wäre. Unter dem Schiff liegen zwei Personen im Wasser, darunter dicht gedrängt vier große und vier kleinere Fische. Ein Vergleich mit den Opfern einer Wagenschlacht, die auf der Long Wall of Sculptures in Karkemiš zu sehen sind, lässt aufgrund der ähnlich verrenkten Haltung darauf schließen, dass es sich hier um Tote, also in einer Seeschlacht getötete Feinde, handelt. Da alle Seeleute unbewaffnet dargestellt sind, kann von einer Szenerie nach einer gewonnenen Schlacht ausgegangen werden. Ob damit ein bestimmtes historisches Ereignis gemeint ist, muss offenbleiben. Die Schiffsszene wurde nach der ersten Veröffentlichung von zahlreichen Wissenschaftlern behandelt. Machteld Mellink vergleicht 1950 mit ähnlichen Szenen aus Sanheribs Palast in Ninive und erwägt, dass es sich um ein kilikisches Schiff handeln könnte, da in Sanheribs Annalen von Hethitern die Rede ist, die für ihn Schiffe bauten. Der französische Historiker James Germain Février bezeichnet es im selben Jahr in einem Beitrag über phönizische Schiffe als Langschiff des griechischen Typs. Der belgische Marinehistoriker Lucien Basch erkennt 1969 darin ebenfalls in einer Untersuchung zu phönizischen Schiffen eine der griechischen ähnliche Bauweise. Casson dagegen sieht eine den phönizischen Vorbildern nachgebaute Kriegsgaleere, während der amerikanische Unterwasserarchäologe George Fletcher Bass ebenfalls Parallelen zum ägäischen Schiffstyp sieht. Irene Winter beschreibt die Szene in ihrem Aufsatz zu den Reliefs vom Karatepe, lässt dabei aber die Entscheidung über die Herkunft des Schiffes offen. Halet Çambel schließlich gibt nach zahlreichen Vergleichen von Aufbauten, Takelage, allgemeiner Bauweise und Mannschaft der griechischen beziehungsweise ägäischen Abstammung des Schiffes den Vorzug. Orthostat NKr 20 fehlt, die Kammer wird abgeschlossen von dem stark fragmentierten Portallöwen NKr 21. Er ist aus etlichen Teilen zusammengesetzt, der Kopf ist beschädigt. In den Augen sind, wie bei allen Portallöwen, die Eingussstellen für das Blei zur Befestigung der Augäpfel zu erkennen, die Einsätze selbst fehlen hier. Im rechten Winkel dazu, außerhalb der Kammer, steht NKr 22 mit der luwischen Inschrift Hu 3. Linke Torkammer Die linke Kammer des Nordtores wurde sehr gestört aufgefunden. Da das Gelände hier in mehreren Richtungen abfällt, waren die Wirkungen der Erosion besonders stark, die schützende Erdschicht reichte nur bis zur halben Höhe der Reliefsteine. Nur ein kleiner Teil der Sockel war in situ verblieben. Von den Orthostaten wurden lediglich Teile der Sphinx NKl 1, die untere Hälfte von NKl 10 und ein Teil des Inschriftensteins NKl 11 am ursprünglichen Standort vorgefunden. Die jetzige Aufstellung der Reliefs ist daher nicht gesichert. Die Bildnisse der Kammer beginnen links mit der aus mehr als 250 Fragmenten zusammengesetzten Portalsphinx NKl 1. Sie entspricht etwa der gegenüberstehenden NKr 1, jedoch wurde hier auf den Palmettbaum verzichtet. Das folgende Relief NKl 2 zeigt einen nach rechts fahrenden Wagen mit drei Personen, der von einem Pferd gezogen wird. Die vordere Figur, der Wagenlenker, ist vorgebeugt und hält die Zügel in beiden Händen, von den weiteren Insassen ist wenig erhalten. Der Wagen hat achtspeichige Räder, der Wagenkasten ist bis auf ein Stück der Deichsel fast komplett weggebrochen. Die aufgeputzte Mähne des Pferdes ist deutlich zu erkennen, vom Geschirr hängt ein Ring mit Anhängern herab, vom Kopf ein weiteres Zierobjekt. Der Ring ist vergleichbar mit der von assyrischen Pferdebildern bekannten Zierscheibe. Pferdewagen kommen in späthethitischen Darstellungen sonst nur im Zusammenhang mit Jagd oder Krieg vor. Da jedoch hier weder Bewaffnung noch Feinde oder Beutetiere zu sehen sind, kann über die Bedeutung des Reliefs nur spekuliert werden. Ein bogenförmiges Objekt über den Köpfen der Wagenbesatzung wird entweder als Sonnenschirm angesehen oder als Schild, wie er von einem Terrakotta-Wagenmodell aus Ajia Irini auf der Kykladeninsel Kea bekannt ist. Darstellungen von Herrscherausfahrten mit Sonnenschirm sind im mesopotamischen Raum häufig zu finden, der Vergleich mit dem kykladischen Modell würde eher auf einen kultischen Hintergrund deuten. Vom anschließenden NKl 3 ist nur das Fragment einer nach rechts gerichteten Person mit vorgestrecktem Arm erhalten. Möglicherweise war auch eine zweite Figur vorhanden. Die Rückwand der Kammer beginnt mit NKl 4, einem stark abgesplitterten und fragmentierten Gott, der eine Ziege trägt. Erkennbar sind die nach links gehenden Füße, die linke Hand, die die Hinterbeine des Tieres hält und von diesem Ohr und Hornansatz. Beim folgenden Relief NKl 5 ist die Oberfläche zwar nahezu vollständig, jedoch nur flach in Konturen ausgearbeitet, also wohl nicht fertiggestellt. Zu sehen sind zwei nach rechts schreitende Männer. Der vordere trägt rechts eine Schale sowie in der erhobenen Linken eine Schüssel mit Speise. Diese ist, wie auch bei den Festmahlszenen SVl 3 und SKr 15 im offenen Querschnitt dargestellt, damit der Inhalt sichtbar ist. Der zweite, etwas kleinere Mann führt eine neben ihm laufende Ziege, indem er sie am Horn und am Rücken hält. Die Bedeutung der Szene bleibt offen, möglich ist eine Mahlzeit oder eine Opferszene. Beispiele von gabenbringenden Prozessionen, bei denen ein Mann mit dem Opfertier dem Libierenden folgt, sind aus Arslantepe und aus Karkemiš bekannt. Auch in Alaca Höyük werden Ziegen in ähnlicher Form zur Opferung geführt. Auf dem nächsten, ebenfalls stark fragmentierten Orthostaten NKl 6 ist ein nach links schreitender, die ganze Höhe einnehmender Mann, also vermutlich ein Gott, abgebildet, der einen erjagten Löwen vor sich hält. Das Beutetier hängt von der Hand des Mannes herab, der Kopf ist mit geöffnetem Rachen nach oben gebogen. Der Jäger ist bewaffnet mit Kurzschwert und Streitkolben. Nach den Waffen könnte es sich auch um einen Herrscher oder Beamten handeln, die Lage in der Mitte der Rückwand gegenüber der Göttertrias von NKr 9 weist jedoch eher auf einen Gott. Das Relief NKl 7 zeigt zwei antithetische Männer, die sich einer in der Mitte stehenden Palme zuwenden, über der Szene schwebt eine Flügelsonne. Es besteht aus 45 Fragmenten, die Oberfläche ist stark beschädigt. Von den Figuren fehlen große Teile, von der Palme sind die Krone mit einer von Voluten eingerahmten Blüte und ein Rest des kreuzschraffierten Stammes zu erkennen. Die Flügelsonne besteht aus konzentrischen Kreisen, die Flügel aus Deck- und Schwungfedern. Ein Vergleich mit einem Relief, das in Domuztepe auf der anderen Flussseite gefunden wurde, zeigt, dass die Beine der Personen gebeugt sind und die Hände wahrscheinlich die Palme berührten. Diese Körperhaltung ist für Tanzende typisch. Die Flügelsonne lässt darauf schließen, dass es sich bei den Abgebildeten nicht um Sterbliche handelt. Orthmann sieht in dem Bild Parallelen zu neuassyrischen Vorbildern. Çambel hält mit Hinweis auf entsprechende Funde aus Nuzi auch eine Verbindung zum mitannisch-hurritischen Kulturkreis für möglich. Der letzte Bildstein der Rückwand mit der Nummer NKl 8 zeigt eine Frauenfigur von voller Reliefhöhe, also wohl eine Göttin. Teile von Kopf und Arm sind weggebrochen. Sie ist mit einem bis zu den Waden reichenden, gefältelten Gewand mit Borte bekleidet, das von einem Gürtel mit vorn herabhängenden Enden umfasst wird. Auf dem Kopf trägt sie einen Henkelkrug, den sie vermutlich mit beiden Händen hält. Die Bedeutung oder genaue Identität der Göttin ist unklar. Durch Aussparungen in der Bosse ist bei diesem Stein die Aufstellung am Kammereck gesichert. Von NKl 9 ist nur ein 40 Zentimeter hohes und 30 Zentimeter breites Fragment erhalten, das eine Hand zeigt, die wahrscheinlich einen Vogel hält. Das vor allem im oberen Bereich stark gestörte Relief NKl 10 zeigt einen nach rechts gewandten Mann, einen Vogelfänger. Er hat einen gefangenen Vogel über der Schulter. Die Füße des Tiers sind mit einem Strick zusammengebunden, an dessen anderem Ende ein weiterer Vogel hängt. In der Hand hält er einen Netzschläger, mit dem er im Begriff ist, einen vor seinen Füßen stehenden Vogel zu fangen. Ein gleiches Gerät ist auf SKl 14 zu sehen. Bei dem rechten Vogel handelt es sich wahrscheinlich um einen Braunen Sichler, eine Ibisart. Reliefreste rechts oben könnten zu einem weiteren Vogel gehört haben. Aus dem Text einer Bronzetafel aus Hattuša geht hervor, dass bei der vertraglichen Übergabe eines Landes die dort befindlichen Vogelfänger mit zu übergeben sind. Das deutet auf eine besondere Bedeutung der Vogelfänger hin, möglicherweise in Zusammenhang mit der Vogelschau, die in der hethitischen Großreichszeit häufig praktiziert wurde. Da das Unterteil von NKl 10 in situ gefunden wurde, ist die Aufstellung hier gesichert. Der nächste Orthostat NKl 11 trägt die Hieroglypheninschrift Hu 1. Der Portallöwe NKl 12 schließt die linke Torkammer ab. Auch er ist stark fragmentiert. Vom beschädigten Kopf sind noch der aufgerissene Rachen, die etwas heraushängende Zunge und die Eckzähne zu erkennen. Südtor Durch die Lage des Südtors auf einer hochgelegenen Terrasse nahe der Hügelkuppe konnte sich hier erheblich weniger Erde ansammeln, sodass die Orthostaten den Kräften von Erosion und Vegetation stärker ausgesetzt waren als am Nordtor. Außerdem führte die Lage an einem Steilhang dazu, dass alle einmal bewegten Teile durch starke Regengüsse weiter hangabwärts gespült wurden. Daher war der Auffindezustand der hiesigen Reliefs wesentlich schlechter als am Nordtor. Im Laufe der Jahre wurden immer wieder Fragmente am Hang im Buschwerk gefunden. Vorhof rechts Die rechte Seite des Vorhofs beginnt mit der nur noch teilweise erhaltenen Portalskulptur SVr 1. Übrig sind Beine und Teile des Körpers mit erkennbaren Flügeln. Da Portalsphingen in späthethitischer Zeit an außenliegenden Stellen nicht nachweisbar sind, hält Çambels Mitarbeiterin Aslı Özyar die Figur für einen geflügelten Löwen, ebenso wie die entsprechende gegenüberstehende Skulptur SVl 1. Es folgt SVr 2 mit der luwischen Inschrift Ho 2. Das Relief SVr 3 zeigt den Herrscher, nach links gewandt auf einem Thron sitzend. Seine Füße ruhen auf einer Ablage, die rechte erhobene Hand hält eine Blume, von der allerdings die Blüte weggebrochen ist, die linke vor dem Körper eine Schale. Hinter ihm steht ein etwas kleinerer Mann mit einem Fliegenwedel. Die Augen beider Personen sind frontal abgebildet und doppelt umrandet. Bei dem Stuhl scheint es sich um einen in Karatepe bekannten Typ zu handeln, da er ähnlich auch auf SVl 3 und SKr 16 zu sehen ist. Er ist sicherlich aus Holz und hat seitlich drei Querstreben, dazwischen eine Täfelung. Vergleichbare Szenen gibt es hier auf den erwähnten Reliefs sowie in Zincirli. Unter den Figuren sind ohne Zusammenhang Teile des hieroglyphen-luwischen Textes angebracht. Auf dem Orthostaten SVr 4 sind zwei antithetische Stiermenschen dargestellt. Die frontal gezeigten Gesichter sind menschlich mit langen, auf die Schulter fallenden Haaren und einem Bart. Unterhalb des Hemdes sind die Hinterfüße von Stieren und der Schwanz zu erkennen. Die Hände halten auf dem Boden stehende Lanzen. Winfried Orthmann listet in seinen Untersuchungen zur späthethitischen Kunst zahlreiche Beispiele derartiger Stiermenschen auf, ebenso vereinzelte Darstellungen aus hethitischer Großreichszeit und aus mittel- und neuassyrischer Kunst. Meist handelt es sich um Wächterfiguren, die Bedeutung der Wesen in Karatepe ist jedoch unklar. Die folgenden Steine SVr 5 und SVr 6 tragen die luwischen Inschriftenteile Ho 6a und 6b. Die den Vorhof abschließende Löwenfigur SVr 7 ist im Unterschied zum Nordtor um mehr als einen Meter versetzt. Sie besteht aus zahlreichen Fragmenten, große Teile, darunter der Kopf, fehlen. Den Körper bedeckt die Inschrift Ho 1. Vorhof links Von dem die linke Vorhofreihe eröffnenden geflügelten Löwen SVl 1, dem Gegenstück zu SVr 1, sind nur geringe Teile erhalten, sie sind heute mittels Metallstützen in vermuteter Position angebracht. Die beiden folgenden Orthostaten SVl 2 und SVl 3 müssen als zusammengehörig angesehen werden. Beide sind in zwei Zonen aufgeteilt, links werden oben Speiseträger, unten eine Musikkapelle und rechts oben eine Festmahlszene und unten ein Stieropfer dargestellt. Die Speiseträger sind vier männliche Figuren, drei davon nach rechts, einer nach links gewandt. Der vorderste, rechte, trägt zwei Getränkegefäße, eine Phiale und ein Henkelgefäß, die der erkennbaren Kannelierung nach aus Bronze oder Edelmetall sind. Der zweite, kleinere, der als einziger ohne Bart gezeichnet ist, hält eine Schnabelkanne und einen Beutel, möglicherweise mit Wasser und Gewürzen. Warum er als einziger nach links blickt, lässt sich nicht klären. Der dritte bringt auf einem Tablett einen Hasenbraten, der vierte eine Ente. Alle vier sind mit knielangen Hemden mit Borte bekleidet. Die vier Musikanten im unteren Bereich sind ebenfalls nach rechts gerichtet. Sie werden von einem Auleten angeführt, die nächsten beiden spielen verschiedene Leiern. Diese unterscheiden sich im Typ von denen in Szene NVl 7, die erste ist eine Rundbodenleier, wie sie im ägäischen Raum beheimatet ist, die zweite eine asymmetrische Flachbodenleier, die aus Mesopotamien und Nordsyrien, aber auch im 2. Jahrtausend v. Chr. in Anatolien bekannt ist, unter anderem von einem hethitischen faustförmigen Rhyton unbekannter Herkunft. Der vierte Musiker schlägt eine Rahmentrommel. Im Unterschied zu NVl 7 ist es hier ein Mann, der dieses Instrument bedient. Orthmann gibt in seinen Untersuchungen eine große Zahl von hethitischen Musikkapellen an, die er in verschiedene Gruppen aufteilt. Diese ordnet er in Gruppe B ein, bei der sich die Musiker in einer Reihe in die gleiche Richtung bewegen. Vergleichbare Kapellen tauchen in Zincirli und Karkemiš auf. Die obere Hälfte der rechten Abbildung SVl 3 zeigt eine auf einem Thron sitzende männliche Gestalt, die Füße auf einer Bank ruhend, vor einem gedeckten Tisch. Die rechte Hand greift nach den Speisen in einer Schale, die im Querschnitt dargestellt ist, zu sehen sind Fladenbrote und kegelförmiger Käse. Einen solchen hält er in der linken Hand, die auf der Armlehne ruht. Hinter dem Sessel steht ein weiterer Speisenständer mit zwei Henkelkrügen, daneben ein Diener mit Wedel. Vor dem Thronenden stehen ihm zugewandt zwei weitere Bedienstete, der vordere ebenfalls mit Fliegenwedel sowie einem Krug, der hintere bringt ein Tablett mit nicht identifizierbaren Speisen. Links neben dem Tisch befindet sich ein Räucherständer. Unter dem Tisch kauert ein Äffchen mit der Pfote am Mund, anscheinend verspeist es Reste des Mahles. Bei den Gefäßen handelt es sich um Formen aus Ton und Metall, die aus Zentralanatolien bekannt sind, aber auch aus dem weiteren Umkreis wie beispielsweise aus Kreta, der Levante oder Zypern. Unter den Keramikfunden vom Karatepe war allerdings kein vergleichbares Geschirr. Der Stuhl mit der Sitzbank ähnelt demjenigen von SVr 3 und SKr 16, er ist, ebenso wie der Speisenständer, aus Holz und stammt aus einheimischer Produktion. Der Tisch steht auf S-förmigen Beinen, die oben mit einer stabilisierenden Querstrebe verbunden sind. Darüber sind drei Kapitelle zu erkennen, die die Platte tragen. E. Gubel sieht in seiner Untersuchung zu phönizischen Möbeln eine dortige Herkunft des Tisches, aber auch der bekannte Tisch aus dem großen Tumulus von Gordion bietet sich als Vergleich an. Çambel nimmt an, dass dem Steinmetz phönizische und phrygische Tische bekannt waren, sodass er beides in seine Vorstellungen eines fürstlichen Tisches einfließen ließ. Affen sind und waren im anatolischen Raum nie heimisch, tauchen aber sowohl in assyrischen als auch in kleinasiatischen Abbildungen ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. auf, sie sind wohl als Geschenke aus Ägypten in das Gebiet gelangt. Ob ihm eine Bedeutung im Rahmen des dargestellten Rituals zukommt, lässt sich nicht klären. Im unteren Abschnitt von SVl 3 ist eine Opferszene zu sehen. Ein Stier wird von zwei rechts und links stehenden Männern an einem Strick gehalten, hinter dem Tier steht ein weiterer Mann mit einem Krug in den Händen. Am rechten Rand des Reliefs trägt ein Mann eine Ziege auf den Schultern. Ein fünfter Mann steht links der Szene, von ihr abgewandt. Er ist mit einem Umhang mit parallelen Streifen bekleidet, den Çambel mit dem des Königs Warpalawa vom Felsrelief von İvriz vergleicht. Seine Funktion ist nicht geklärt. Die Opferung von Stier und Ziege könnten hier, ähnlich wie bei NKr 17, einen Bezug zu dem im Text der Inschrift beschriebenen jährlichen Opfer an den Wettergott haben. Die Opfertiere weisen darauf hin, dass es sich bei der Szene SVl 2/3 um ein rituelles Mahl handelt. Dabei besteht möglicherweise ein zeitlicher Zusammenhang der beiden oberen Bilder, in denen Speisen zum Tisch des Thronenden gebracht werden, und der beiden unteren, in denen das Opfer durch eine Musikkapelle begleitet wird. Aber ebenso können alle vier Bilder als Einzelteile derselben Handlung aufgefasst werden. Beispiele für beide Möglichkeiten sind unter anderem in Mesopotamien zahlreich vorhanden. Bei der thronenden Person kann es sich nach Çambel nicht um einen Gott handeln, da diese zwar bei Bankettszenen sitzend, aber nie im Zusammenhang mit sterblichen Bediensteten dargestellt werden. Daher bleibt nur die Deutung als Herrscher, ob es allerdings ein lokaler Regent, also Azatiwada, ist oder ein bereits verstorbener, vergöttlichter König, in dem Fall vermutlich Awariku/Urikki, bleibt Spekulation. Ebenso ungeklärt ist die Funktion der linken Gestalt in der Stieropferszene, mit der möglicherweise ein Priester dargestellt ist, der die Opferungszeremonie leitet, vielleicht aber auch der oben abgebildete Herrscher selbst, der zu einem anderen Zeitpunkt in priesterlicher Funktion dem Ritual beiwohnt. Der Orthostat SVl 4 zeigt einen nach rechts blickenden, auf einem Stier stehenden Mann. Er hält mit der rechten Hand einen Hasen an den Hinterläufen, in der linken einen Vogel. Vor ihm steht eine kleinere, ebenfalls rechtsgewandte Figur. Die Größe und die Tatsache, dass er auf einem Stier steht, weisen ihn eindeutig als Gott aus. Während sonst diesen Standort der Wettergott innehat, deuten hier die abgebildeten Tiere an, dass eine Vermischung von Wettergott mit einem Schutzgott der Felder und Tiere vorliegt. Die Funktion der kleinen Figur ist unklar, möglicherweise stellt sie den Herrscher dar, allerdings wegen der gleichen Blickrichtung nicht als Adorant, sondern als Schutzbefohlenen, vergleichbar mit der Abbildung Tudhalijas als Schützling Šarrumas in Yazılıkaya. Das folgende Relief SVl 5 ist wieder in zwei Zonen aufgeteilt. In der oberen wird ein in der Mitte stehender, unbewaffneter Mann von zwei antithetischen Kriegern mit Schwertern erstochen. Die beiden tragen die Raupenhelme der Fußtruppen sowie runde Schilde und halten den Mann mit einer Hand an den Handgelenken fest. Dieser steht erhöht auf einem Podest. In dem unteren Bild steht in der Mitte ein Krieger mit Helm und über der Schulter getragenem Schild. Er hält die Pferde zweier Reiter am Halfter fest. Diese sind mit für die Reiterei typischen Spitzhelmen und Lanzen bewaffnet, die sie waagrecht in Höhe der Pferderücken halten. Sie ziehen die Köpfe der Reittiere zurück, um sie anzuhalten. Vom Zaumzeug sind die Zügel und verschiedene Riemen zu sehen. Zu der oberen Szene finden sich vergleichbare Darstellungen in Tell Halaf und Karkemiš. Zur unteren Szene sind aus Anatolien und Mesopotamien keine Parallelen bekannt, weshalb eine Deutung nicht möglich ist. Der nächste Stein enthält den Abschnitt Pho B II der phönizischen Inschrift. Die linke Vorhofreihe wird abgeschlossen mit dem nur stückweise erhaltenen Portallöwen SVl 7. Der Kopf der Figur fehlt, auf dem Körper ist die Inschrift Pho B I eingraviert. Rechte Torkammer Die Reliefs der rechten Torkammer sind nur in wenigen Fragmenten erhalten, die Aufstellung ist, mit Ausnahme des Portallöwen SKr 19, nicht gesichert. Vom ersten Stein der rechten Kammer SKr 1 ist nichts erhalten, vom zweiten SKr 2 nur ein Fragment mit dem linken unteren Teil einer aufrechten Gestalt. Bei SKr 3 ist lediglich in der rechten unteren Ecke eine kleine männliche Figur in Grußhaltung erkennbar. Beim ebenfalls fragmentierten SKr 4 ist nur noch ein nach rechts gewandter Mann zu sehen, der in einem kastenartigen Gebilde steht. Die Reste von SKr 5 lassen den Teil einer Schiffszene ähnlich NKr 19 erkennen, übrig sind der Rumpf mit einem Rammsporn, einige Ruder sowie eine im Wasser treibende Leiche. Auf SKr 6 ist eine Wagenszene dargestellt. Zu sehen sind ein Lenker mit vorgestreckten Armen und eine zweite Personen, von der der obere Teil abgesplittert ist. Vom Gefährt sind der Wagenkasten und Teile des Pferdes erhalten. Links oben, über den Figuren, ist ein Tier, möglicherweise ein Hund, zu erkennen. Das ebenfalls stark zerstörte Relief SKr 7 zeigt eine weitere Wagenszene mit Resten des Pferdekörpers ohne Kopf sowie Teilen des Kastens und die Arme des Wagenlenkers. Zwei schwer erkennbare Tiere, ein Vogel und vielleicht ein Hund, was jeweils auf eine Jagdszene hindeuten könnte. Auf der zweizonigen Reliefplatte SKr 8, mit der die Kammerrückwand beginnt, ist von ursprünglich mindestens drei abgebildeten Personen nur noch eine links oben zu erkennen, die einen Fisch in der Hand hält. Von zwei anderen sind nur links unten die Füße erhalten. Der wiederum in zwei Zonen aufgeteilte Orthostat SKr 9 zeigt zwei kräftige, nach rechts gewandte Ziegenböcke. Der untere ist in großen Teilen, der obere nur fragmentarisch erhalten. Vergleichbare Darstellungen sind in der späthethitischen Kunst nicht bekannt, eine Deutung ist daher nicht möglich. Von Relief SKr 10 fehlt die obere Hälfte, in der unteren sind ein Hirsch und eine Ziege zu sehen, die von Hunden gejagt werden, die sie von hinten anfallen. Vom Hirsch sind nur noch Umrisse zu erkennen. Derartige Jagdszenen sind schon aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. aus Alacahöyük, aber auch aus den etwa zeitgenössischen Orten Zincirli und Karkemiš bekannt. In SKr 11 stehen sich zwei die volle Reliefhöhe ausfüllende Männer gegenüber, die einen dritten, nackten, kopfüber an den Füßen halten. Der linke Mann sticht ihm mit seinem Schwert in den Körper. Vergleiche mit entsprechenden Darstellungen, unter anderem wieder aus Zincirli und Karkemiš, zeigen, dass es sich hier um die Tötung des Ḫumbaba durch Gilgamesch und Enkidu handelt. Auf den Resten des nur 29 Zentimeter breiten Binders SKr 12 ist der Oberkörper eines nach rechts gewandten Kriegers zu sehen, der eine Keule und eine Lanze hält, darüber senkrecht ein Fisch. Die Bedeutung des Reliefs ist unklar, möglicherweise steht der Fisch in Zusammenhang mit SKr 8. Das aus zahlreichen Einzelteilen zusammengesetzte Bild SKr 13 zeigt zwei große Männer, die sich gegenüberstehen, dazwischen einen kleineren. Die beiden Äußeren scheinen auf nicht genau identifizierbaren vierfüßigen Tieren zu stehen, was sie als Götter ausweist. Sie halten nicht erkennbare Tiere in den Händen. Auch der dritte, kleinere Mann in der Mitte hält ein Tier an den Hinterläufen, es ist vermutlich der Herrscher im Schutz der beiden Gottheiten. Die linke Seitenwand beginnt mit SKr 14, von dem nur wenige Teile erhalten sind. Reste von fünf Männern, wohl ursprünglich sechs, sind in zwei Zonen erkennbar. Da weder Opfertiere noch Speisen zu sehen sind, ist nicht zu klären, welche Art Zug sie bilden. Die beiden folgenden, zusammengehörigen Orthostaten SKr 15 und SKr 16 enthalten in Resten eine Bankettszene, vergleichbar SVl 3. Die Anordnung ist verändert, der Thronende sitzt links, die Darstellung scheint der bekannten Festmahlszene nachempfunden, dabei aber vereinfacht. So ist beispielsweise der Tisch einfacher gezeichnet, die Speisen liegen ohne Schale darauf. Die wenigen erhaltenen Fragmente von SKr 17 zeigen rechts unten einen kleinen Mann, davor den Hinterleib eines Pferdes. Ein Gebilde in der linken oberen Ecke könnte laut Özyar ein Lockvogelkäfig sein. Vom nächsten Relief SKr 18 ist nur das obere Drittel vorhanden. Zu sehen ist ein Bogenschütze, der Größe nach ein Gott. Er ist nach rechts gewandt und hält einen ungespannten Bogen in der ausgestreckten Hand, auf der Schulter trägt er einen Köcher. Ein ähnliches Bild ist auf NVr 4 zu sehen. Den Abschluss der linken Kammerreihe bildet der Portallöwe SKr 19, der ebenfalls nur in wenigen Teilen erhalten ist. Der Kopf fehlt, ein aufgelesenes Fragment des Oberkiefers mit Zähnen und Nasenlöchern ist im lokalen Museum ausgestellt. Alle vorhandenen Teile des Tieres sind von der Hieroglypheninschrift Ho 7 bedeckt. Im rechten Winkel zum Löwen ist ein letzter Stein SKr 20 aufgestellt, der auf zwei Seiten Reliefs trägt. Auf der Schmalseite ist ein Mann mit einem Stab in der Hand abgebildet, auf der Breitseite Teile eines Rindes und Reste eines weiteren Tieres. Linke Torkammer Von der linken Torkammer waren zumindest die Sockel in situ erhalten, weshalb die Aufstellung der Reliefs als gesichert gilt. Die Kammer beginnt auf der linken Seite mit dem Eckstein SKl 1, der sowohl auf der Schmal- als auch auf der Breitseite Reliefs in schlechtem Erhaltungszustand trägt. Auf der breiten Seite ist eine große männliche Figur mit Bogen abgebildet, vor ihr ein Hund, von dem nur der vordere Teil vorhanden ist, darunter ein weiteres Tier. Links hält ein kleinerer Mann Pfeile bereit, darüber sind ein Vogel und zwei Hunde zu sehen. Vermutlich stellen die Gestalten einen Jagdgott mit seinem Gehilfen dar. Auf der Schmalseite ist ebenfalls eine kleinere Gestalt eingemeißelt, vielleicht ein weiterer Jagdgehilfe. Hunde sind auch auf SKr 10 als Jagdhelfer eingesetzt. Die Steine SKl 2 bis SKl 6 fehlen gänzlich. Auf dieser Kammerseite steht einzig noch SKl 7, auf dem eine große, nach links gewandte Figur abgebildet ist, davor eine ihn anblickende, wesentlich kleinere. Der Große, also der Gott, trägt ein reich geschmücktes Gewand mit Fransen und einer Bordüre aus Rosetten und Quadraten, vergleichbar dem des Königs Warpalawa auf der in Kemerhisar, dem luwischen Tuwana, gefundenen sogenannten Stele von Bor und desselben Königs auf dem Felsrelief von İvriz. Im Unterschied zu den beiden erwähnten Darstellungen ist es allerdings hier der Gott, der das geschmückte Gewand trägt. Die kleinere Gestalt wäre demnach der von diesem beschützte Herrscher. Die drei ersten Orthostaten der Rückwand SKl 8 bis SKl 10 stellen zusammen einen Opferzug dar, der sich wohl nach links auf den Gott von SKl 7 zubewegt. Von SKl 9 fehlt die obere Hälfte, bei SKl 10 etwa ein Drittel. Auf dem ersten, SKl 8, sind in zwei Zonen je zwei Männer zu sehen. Der linke obere hält einen Stab, der nächste trägt eine Ziege auf den Schultern. Unten führt der vordere Mann eine Ziege am Strick, der hintere trägt ein Tier, von dem große Teile fehlen. Auf SKl 9 ist nur noch der untere Teil eines Mannes erkennbar sowie dahinter Reste eines Tieres. SKl 10 ist wiederum zweizonig gestaltet mit zweimal zwei Männern, von denen der linke obere etwas größer und nur zur Hälfte erhalten ist. Der ihm folgende trägt eine Ziege auf beiden Händen. Die beiden unteren führen jeweils eine Ziege, einer hält eine Schale in der Hand, der andere einen nicht erkennbaren Gegenstand. Das stark fragmentierte Relief SKl 11 zeigt in zwei Zonen Reste von fünf Männern und im oberen Bereich Teile eines nicht näher zu deutenden Möbelstückes, ähnlich denjenigen aus SVl 3. Beidseitig des Möbels steht jeweils eine Gestalt. Im unteren Bereich sind Teile von drei Männern zu erkennen, die beiden linken nach rechts, der dritte nach links gewandt. Nur vom linken ist der Kopf erhalten. Die Bedeutung der Szene lässt sich nicht rekonstruieren. Ebenso unklar ist die Bedeutung der nächsten Abbildung auf SKl 12. Man sieht unten zwei antithetische Stiere, darüber die Füße von zwei weiteren Tieren, möglicherweise Löwen. Auf dem aus zwei Blöcken bestehenden, gut erhaltenen Binder SKl 13 sind übereinander fünf große und ein kleinerer Vogel abgebildet. Sie sind wahrscheinlich der Vogeljagdszene auf dem folgenden SKl 14 zuzuordnen. Dieses ist in zwei Bereiche geteilt, im oberen ist ein einfaches, unten rundes Boot abgebildet, in dem sich zwei nach links gewandte Männer befinden. Der vordere, stehende hält ein Fanggerät, vergleichbar dem in SKr 17 gezeigten Lockvogelkäfig. Der hintere sitzt und hält ein Paddel. Unter dem Boot schwimmt ein nicht identifizierbarer Fisch mit zwei Flossen am Rücken und zwei am Bauch. In der unteren Szene steht rechts ein Mann mit einem Fanggerät in der Hand. Der Vergleich mit NKl 10 lässt auf einen Netzschläger schließen. Das halbrunde Gerät in der anderen Hand lässt sich nicht bestimmen. Er versucht, einen vor ihm stehenden Vogel zu fangen. Dieser hat einen großen Körper, lange Beine und einen geraden Schnabel. Nach Auskunft des Ornithologen Hans Deetjen könnte es sich, wie bei den Vögeln auf SKl 13, um einen Frankolin handeln. Die auf der rechten Kammerseite folgenden drei Reliefsteine SKl 15 bis SKl 17 zeigen eine Prozession von vier Göttern der Felder und Fluren sowie zwei menschliche Gestalten. Auf dem ersten Bild steht rechts der nach links gewandte Gott, er hält in der Linken einen Hasen an den Hinterläufen und in der Rechten einen Vogel. Er entspricht der Darstellung auf SVl 4. Vor ihm steht, ihn anblickend, eine kleinere Figur, die dementsprechend den Herrscher zeigen dürfte. Der Raupenhelm und der Speer in der Hand weisen ihn hier als Heerführer aus. Im nächsten Bild geht dem gleichartig gezeigten Gott eine kleine Gestalt voraus, möglicherweise ein Gehilfe. Das dritte Bild zeigt zwei dieser Götter, ebenfalls mit Hase und Vogel, die den Zug abschließen. Eine gleichartige Prozession von Feldgöttern ist auf einer Siegelabrollung aus Kültepe zu sehen. Die Steine SKl 18 bis SKl 20 fehlen. Die Kammerseite wird abgeschlossen von dem stark fragmentierten Portallöwen SKl 21. Am Kopf sind alle Zähne einschließlich der Reißzähne erhalten, dazwischen hängt die dreieckige Zunge aus dem aufgerissenen Rachen. Rechtwinklig dazu steht, entsprechend dem gegenüberliegenden SKr 20, ein letzter Orthostat SKl 22. Von dem zweiseitig bearbeiteten Eckstein sind nur drei Fragmente vorhanden. Auf der Breitseite sind nur der Kopf und Teile der Schulter einer nach links gerichteten großen Figur zu erkennen, auf der Schmalseite Reste des Gesichts einer linksgewandten großen Gestalt. Statue des Wettergottes Etwa sechs Meter nordöstlich des Südtores im Innenraum der Festung steht die Statue des Wettergottes. Durch eine in den gewachsenen Felsen eingearbeitete Mulde ist der Platz als ursprünglicher Standort gesichert. Das überlebensgroße Standbild steht auf einem Stiersockel von etwa 1,3 × 1,0 Metern und erreicht damit eine Höhe von über drei Metern. Der Gott trägt ein knöchellanges Gewand mit Fransen am unteren Rand, darüber ein eng um den Körper gewickeltes Tuch und auf dem Kopf eine Kappe mit hochgebundenen Ohrenklappen und einer Randborte. Die Arme sind angewinkelt, in den Händen hält er zwei abgebrochene, nicht erkennbare Gegenstände. Das fehlende Gesicht wurde 1988 von Nezar Özatay nachmodelliert, einem Bildhauer und Restaurator des Zentrums für Restaurierung und Konservierung der Generaldirektion für Altertümer und Museen in Istanbul. Der in die Bodenmulde eingelassene Stiersockel hat ein viereckiges Loch, in das der Zapfen der Statue eingepasst ist. An den Seiten sind im Relief zwei Stiere, die bekannten Attribute des Wettergottes, zu sehen, die Köpfe sind plastisch und stark verwittert. An der Frontseite werden sie von einem, ebenfalls im Relief gearbeiteten, Mann mit beiden Armen an den Köpfen gehalten. Sein Kopf fehlt. Der gesamte Unterkörper der Figur sowie Rücken und Seite des linken Tieres sind mit der phönizischen Inschrift PhSt/CV bedeckt. Laut deren Text handelt es sich bei der dargestellten Gottheit um Baʿal-KRNTRYŠ. Anordnung und Ikonografie der Bildwerke Die größte Gruppe der Darstellungen nehmen die Götter ein, zu erkennen an ihrer die gesamte Reliefhöhe einnehmende Größe. Die Kennzeichnung durch Hörner, die sonst aus dem altorientalischen Bereich bekannt ist, ist hier nicht anzutreffen. Einige der Götter sind in der Inschrift namentlich genannt, es finden sich Götter des gesamten in Azatiwataya verehrten luwischen Pantheons. Dazu gehören Götter der Feldfluren, Götter der Jagd (möglicherweise der Herr des Bogens Jarri auf NVr 4, der mit Apollon in Verbindung gebracht wird) und ein Schutzgott der Viehherden, der Ziegenträger auf NVr 11. Der höchste Gott im anatolischen Pantheon, der Wettergott Tarhunza oder Teššub, ist möglicherweise der männliche Gott der Göttertrias auf NKr 11. Zur nächstgrößten Gruppe der mythischen Wesen gehören der mehrfach dargestellte Bes, der vogelköpfige Genius auf NVr 9, Stiermenschen auf SVr 4 sowie die antithetischen Krieger und Tänzer. Die Abbildung der Tötung des Ḫumbaba aus dem Gilgameschepos und die am Baum stehenden Ziegen müssen ebenfalls dieser Gruppe zugeordnet werden. Zu der Gruppe der Bilder aus dem Bereich der Sterblichen gehören Darstellungen der Herrscher, Opfer- und Festmahlszenen einschließlich Bildern von Musik und Tanz, Jagd- und Vogelfangszenen, Wagenszenen und schließlich Reliefs, die möglicherweise auf historische Begebenheiten Bezug nehmen, wie beispielsweise die Audienz von NKr 3 und die Schiffsszene NKr 19. Zu den Herrscherbildern muss festgestellt werden, dass wegen der fehlenden Beischriften keine der Figuren sicher mit einem bestimmten Regenten identifiziert werden kann. Zahlreiche Teile der Reliefs fanden sich in situ, bei anderen konnte aufgrund von Stoßfugen und Sockeln die Aufstellung erschlossen werden. Aus der Anordnung lässt sich ein grobes inhaltliches Konzept erkennen, bei der die Welt der Götter und deren mythologisches Umfeld, jeweils auf der rechten Seite, den rituellen Handlungen der Sterblichen auf der linken Seite gegenübergestellt wird. Ob die Bildwerke zu Zwecken der Verehrung – der Götter oder der Herrscher – geschaffen wurden, oder um die Burg betretenden Fremde zu beeindrucken, oder mit anderen, unbekannten Zielen aufgestellt wurden, kann nur spekuliert werden. Lediglich bei einigen Figuren wie dem dreifach auftretenden Bes, dem geflügelten Genius NVr 9 oder den Portallöwen und den Sphingen kann man von einer Schutz- beziehungsweise Wächterfunktion ausgehen. Der Ursprung der Bildmotive findet sich vor allem im altanatolischen und mesopotamischen Raum, aber auch Einflüsse aus dem phönizischen sowie dem westlichen, also griechischen und kretischen Kulturkreis sind zu erkennen. Die Inschrift Azatiwada war ein von Awariku (Urikki), König von Qu'e und Adana in Kilikien und Vasall von Tiglat-Pileser III. (745 bis 726 v. Chr.), eingesetzter Herrscher, im phönizischen Text als abarakku bezeichnet, was Edward Lipiński mit Wesir übersetzt. Der Text ist ein autobiografischer Bericht über seine Verdienste um das Reich von Adana, wo er der Inschrift zufolge die Nachkommen von Awariku inthronisiert hat. Er leitet im Text seine Abstammung vom Haus des Mukasa (Luwisch mu-ka-sa-sa-na DOMUS-ni-i, Phönizisch LBT MPŠ) her, was von einigen mit dem griechischen Seher Mopšos gleichgesetzt wird. Auszug König Awariku ist der Urheber der 1997 gefundenen Bilingue von Çineköy, in der er seine Abstammung ebenfalls auf Mopsos zurückführt. Neuere Deutung Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Raoul Schrott vertritt die umstrittene These, dass Homer als griechischer Schreiber in Diensten der Assyrer in Karatepe gelebt habe. In dessen Landschaftsbeschreibungen von Troja und der Troas sieht er deutliche Ähnlichkeiten mit der Umgebung des Karatepe. Er schließt, dass Homer den bekannten trojanischen Sagenkreis an die dortigen Gegebenheiten angepasst habe. Auch in den Reliefs der Toranlagen meint er zahlreiche Ereignisse und Personen der Ilias erkennen zu können. Von der Mehrheit der Wissenschaftler werden Schrotts Thesen abgelehnt. Literatur Helmuth Theodor Bossert, Halet Çambel, Bahadır Alkım: Karatepe kazıları. (Birinci ön-rapor). = Die Ausgrabungen auf dem Karatepe. (Erster Vorbericht). (= Türk Tarih Kurumu yayınlarından. V. seri, 9, ). Türk Tarih Kurumu Basımevi, Ankara 1950. Paolo Matthiae: Studi sui rilievi di Karatepe. Centro di Studi Semitici, Rom 1963. François Bron: Recherches sur les inscriptions phéniciennes de Karatepe. Droz, Genf 1979. Halet Çambel: Karatepe-Aslantaş. The inscriptions. Facsimile edition. (= Corpus of hieroglyphic Luwian inscriptions Bd. 2) de Gruyter, Berlin 1999, ISBN 3-11-014870-6. John David Hawkins: Corpus of hieroglyphic Luwian inscriptions. Vol 1. Inscriptions of the Iron Age. Part 1: Text: Introduction, Karatepe, Karkamiš, Tell Ahmar, Maraş, Malatya, Commagene. de Gruyter, Berlin 2000, ISBN 3-11-010864-X. Martina Sicker-Akman: Untersuchungen zur Architektur der späthethitischen Burganlage in Karatepe-Arslantaş. In: Istanbuler Mitteilungen. 49, 2000, S. 529–541. Martina Sicker-Akman: Der Fürstensitz der späthethitischen Burganlage Karatepe-Arslantaş. In: Istanbuler Mitteilungen. 50, 2001, S. 131–142. Halet Çambel, Aslı Özyar: Karatepe-Arslantaş. Azatiwataya. Die Bildwerke. Zabern, Mainz 2003, ISBN 3-8053-3085-5. Waltraud Sperlich: Die Hethiter. Das vergessene Volk. Thorbecke, Ostfildern 2003, ISBN 3-7995-7982-6. Mirko Novák, Andreas Fuchs: Azatiwada, Awariku from the "House of Mopses", and Assyria. On the Dating of Karatepe in Cilicia. in: A. Payne, Š. Velhartická, J. Wintjes (Hg.), Die Beyond all Boundaries. Anatolia in the First Millennium BC. OBO 295, S. 397–466. Peeters, Leuven 2021, ISBN 978-90-429-4884-6 (https://www.academia.edu/44251904/Azatiwada_Awariku_from_the_House_of_Mopsos_and_Assyria_On_the_dating_of_Karatepe_in_Cilicia). Weblinks Uni Karlsruhe hittitemonuments.com Provinz Osmaniye: Karatepe-Aslantaş Açık Hava Müzesi (türkisch) Halet Çambel Einzelnachweise Altorientalischer Fundplatz in der Türkei Neo-Hethiter Geographie (Provinz Osmaniye) Archäologisches Museum Adana Archäologischer Fundplatz in Asien
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https://de.wikipedia.org/wiki/God%20of%20War%20%282005%29
God of War (2005)
God of War ( für Gott des Krieges, Kriegsgott; kurz GoW) ist ein Videospiel aus dem Genre Action-Adventure. Es wurde vom kalifornischen SCE Santa Monica Studio unter der Leitung des Game Designers David Jaffe für die Spielkonsole PlayStation 2 (kurz: PS2) entwickelt und von Sony Computer Entertainment im März 2005 in Nordamerika erstveröffentlicht. In Europa kam das Spiel in den meisten Ländern im Juli desselben Jahres auf den Markt. Nachdem es zunächst keine Altersfreigabe von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) erhielt, verzögerte sich der Einführungstermin in Deutschland, bis es im Mai 2006 schließlich auch dort veröffentlicht werden konnte. Der Spieler steuert den Protagonisten Kratos, einen ehemaligen spartanischen Heerführer, durch eine Fantasywelt, die auf der griechischen Mythologie basiert. Der Spartaner, der als Krieger den olympischen Göttern dient, bekommt von Athene den Auftrag, den Kriegsgott Ares zu töten, mit dem er zehn Jahre zuvor einen Bluteid einging und der Kratos daraufhin dazu brachte, seine eigene Familie zu ermorden. Die Fachpresse nahm God of War durchweg positiv bis sehr positiv auf und lobte dabei vor allem das antike Szenario, die Grafik und das Spielprinzip mit einer ausgewogenen Mischung aus Action-, Geschicklichkeits- und Rätselelementen. Das Spiel gewann einige Preise und wurde in zahlreiche Bestenlisten aufgenommen. Es war mit über 4,6 Millionen verkauften Exemplaren für Sony auch wirtschaftlich ein großer Erfolg und bildete den Startpunkt des mittlerweile mehrere Spiele für die PlayStation-Konsolenfamilie, ein Handyspiel sowie Romane und Comics umfassenden God-of-War-Franchises. Im April 2010 erschien es in Europa zusammen mit seinem direkten Nachfolger God of War II als God of War Collection mit überarbeiteter HD-Grafik für die PlayStation 3. Eine Portierung für die Handheld-Konsole PlayStation Vita kam im Mai 2014 auf den Markt. Handlung Das Szenario von God of War bildet eine phantastische Version der griechischen Antike, in der Götter, Titanen und Fabelwesen der griechischen Mythologie als Figuren auftreten. Die Handlung wird nichtlinear mit Voraus- und Rückblenden erzählt: Sie wird mit einer Szene eröffnet, in der sich der Protagonist Kratos von einer Klippe ins Meer stürzt, um sich das Leben zu nehmen. Die eigentliche Haupthandlung beginnt drei Wochen zuvor und wird ihrerseits mehrmals durch Zwischensequenzen zu Kratos’ Vorgeschichte unterbrochen, die Ereignisse schildern, die etwa zehn Jahre zurückliegen. Vorgeschichte Kratos, ein Hauptmann des spartanischen Heeres, ist ein erfolgreicher Krieger, der mit seinen Männern unter den Feinden Spartas Angst und Schrecken verbreitet. Trotz der Warnungen seiner Ehefrau Lysandra bleibt Kratos’ Verlangen nach immer neuen Eroberungen ungebrochen. Es kommt jedoch der Tag, an dem der Spartaner vor einer unausweichlichen Niederlage gegen Barbarenhorden aus dem Osten steht. In dieser aussichtslosen Situation ruft er den Kriegsgott Ares um Beistand an und verschreibt ihm im Gegenzug seine Seele und sein Leben. Der Kriegsgott rüstet Kratos daraufhin mit zwei mächtigen Klingen aus, die ihn zugleich an Ares fesseln und damit dem Bündnis auch äußerlich Ausdruck verleihen. Mit diesen Chaosklingen kann Kratos den Anführer der Barbaren töten und seinen Kriegszug im Namen des Ares erfolgreich fortsetzen. Nach einem Massaker an den Bewohnern eines der Göttin Athene ergebenen Dorfes wird sich der zunehmend grausamer und blutrünstiger agierende Kratos gewahr, dass sich unter den Opfern im Tempel der Athene – Ares’ Gegenspielerin im Olymp – seine Ehefrau Lysandra und seine kleine Tochter Kalliope befinden. Der einsetzende Schmerz über den Verlust lässt ihn zur Besinnung kommen; gleichzeitig belegt ihn das Orakel des geschändeten Tempels mit einem Fluch: Sein Körper solle für alle Zeiten mit der Asche von Lysandra und Kalliope bedeckt bleiben und damit seine Gräueltaten jedermann sichtbar machen. Der nun als Geist von Sparta im ganzen Land gefürchtete Kratos sieht in Ares den wahren Schuldigen für die Ereignisse und trachtet, begleitet von schrecklichen Albträumen und Visionen, fortan danach, am Kriegsgott Rache zu nehmen. In den darauffolgenden zehn Jahren stellt sich Kratos dazu als Krieger in den Dienst anderer Götter, in der Hoffnung, dass diese ihn von seinen Visionen befreien mögen. Haupthandlung Nachdem Kratos auf Weisung des Meeresgotts Poseidon die Hydra getötet hat, erhält er von Athene einen letzten Auftrag. Sie verspricht dem Spartaner, dass die Götter seine Taten vergeben und seine Vergangenheit löschen werden, wenn er Ares tötet, der mit seinen Schergen in Athenes Stadt, Athen, wütet. Kratos kämpft sich durch die halb zerstörte Stadt und begegnet schließlich vor dem Tempel des Orakels einem geheimnisvollen Totengräber, der ein einzelnes Grab schaufelt. Der alte Mann bestärkt den Spartaner in seinem Vorhaben, Ares zu töten, und verrät ihm, dass er das Grab für ihn, Kratos, aushebe; er solle jedoch darauf achten, nicht zu sterben, bevor es fertig sei. Kratos rettet das Orakel von Athen vor Ares’ Dienern und erfährt von ihm, dass der einzige Weg, Ares zu besiegen, die Büchse der Pandora sei. Athene offenbart Kratos, dass sich die Büchse in einem Tempel befindet, der auf den Rücken des Titanen Kronos gekettet ist, Zeus’ Strafe für Kronos in der Titanomachie. Kratos durchquert die Wüste, dringt in Pandoras Tempel ein und überwindet dort die zahlreichen Fallen und Widersacher. An der Spitze des riesigen Tempels findet er schließlich die Büchse, eine schwere goldene Truhe. Als er diese nach Athen schaffen will, tötet Ares jedoch von dort aus den Spartaner und lässt die Büchse zu sich bringen. Kratos stürzt in den Hades hinab und kämpft sich durch die feurige Unterwelt. Mithilfe des geheimnisvollen Totengräbers, der ihm nochmals versichert, dass Kratos nicht nur von Athene göttlichen Beistand erhält, kann der Spartaner durch das nun fertige Grab dem Hades entkommen. Er begibt sich zu Ares, kann ihm die Büchse der Pandora entreißen und öffnet sie, wodurch er selbst gottgleiche Stärke erhält. In einem langen Endkampf gelingt es ihm, den Kriegsgott zu besiegen und zu töten. Athene verkündet Kratos, dass die Götter ihm dankbar seien und ihm seine Taten verzeihen, ihn aber nicht von seinen Albträumen befreien könnten. Von den Göttern enttäuscht, stürzt sich Kratos von einer hohen Klippe ins Meer, um sich das Leben zu nehmen. Athene lässt jedoch nicht zu, dass sich der Spartaner selbst tötet, und hebt ihn als Belohnung für seine Dienste in den Olymp empor. Dort nimmt er Ares’ Stelle als Gott des Krieges ein. Spielprinzip Allgemeines Die Spielmechanik von God of War enthält verschiedene Elemente. Zum Erreichen der einzelnen Spielabschnitte muss der Spieler einerseits in actionreichen Kämpfen gegen computergesteuerte Gegner antreten und diese besiegen, andererseits aber auch Rätselaufgaben durch Interaktion mit Objekten wie Schaltern oder Blöcken lösen. Verbunden werden diese Action- und Adventure-Elemente häufig durch Passagen, in denen die Spielfigur im Stile von Jump-’n’-Run-Spielen durch geschicktes Springen, Klettern und Balancieren möglichst schadensfrei durch den Abschnitt bewegt werden muss. Dabei steuert sie der Spieler mit dem linken Analog-Stick des Gamepads und lässt sie durch Drücken einer Taste springen. Die Kamera folgt der Spielfigur in der Third-Person-Perspektive, stellt sie also in ihrer dreidimensionalen Umgebung dar. Die Position der Kamera und ihr Betrachtungswinkel können nicht direkt vom Spieler beeinflusst werden, sondern zeigen das Geschehen je nach Situation meist aus einer mittleren Entfernung, in einzelnen Sequenzen auch aus einer Totalen oder aus einer besonders nahen Perspektive. Erleidet die Spielfigur den virtuellen Tod, etwa weil sie von den Gegnern besiegt wird oder in einen Abgrund stürzt, wird sie zu einem Kontrollpunkt vor dem Kampf oder der Sprungpassage zurückgesetzt. An den sogenannten Speicherpunkten kann der Spieler seinen Spielstand abspeichern. Waffen Kratos’ Hauptwaffe sind die sogenannten Chaosklingen, zwei gezackte Klingen mit daran befestigten Ketten, die um seine Handgelenke und Unterarme geschlungen sind, wodurch sie sowohl im Nahkampf wie ein Paar Schwerter als auch durch Herumwirbeln bis zu einer bestimmten Reichweite als Fernkampfwaffen eingesetzt werden können. Später im Spielverlauf steht der Spielfigur zusätzlich ein großes Schwert, die Klinge der Artemis, als alternative Waffe zur Verfügung. Kratos wird zudem nach und nach mit einigen magischen Fähigkeiten ausgestattet, mit denen er beispielsweise Gegner für kurze Zeit versteinern kann oder weit entfernte Gegner durch das Schleudern von Blitzen angreifen kann, vorausgesetzt, dass genügend Magiepunkte vorhanden sind. Kampf Die Spielfigur beherrscht als Grundangriffe einen leichten, schnellen und einen schweren, aber dafür langsameren Schlag. Diese können zu verschiedenen Angriffsketten (sogenannten Combos) kombiniert werden. Gegnerische Angriffe können abgeblockt oder durch schnelle Ausweichbewegungen mit dem rechten Analogstick des Gamepads vermieden werden. Sind die Gegner ausreichend geschwächt, erscheint eine Anzeige, die dem Spieler signalisiert, dass sie nun durch Drücken einer Taste endgültig vernichtet werden können. Bei Endgegnern und größeren normalen Gegnern wie Minotauren, Gorgonen oder Zyklopen wird dazu ein Quick-Time-Event initiiert, in dem der Spieler auf dem Bildschirm angezeigte Tasten rechtzeitig drücken muss, während die Spielfigur automatisch die zugehörigen Kampfaktionen ausführt (siehe Finishing Moves). Kleinere Gegner wie Untote oder Harpyien können hingegen mit einer Taste ergriffen und anschließend entweder mit den Klingen erstochen, auseinandergerissen oder auf andere Gegner geschleudert werden. Ein weiteres Taktikelement ist der sogenannte Götterzorn. Durch das Besiegen von Feinden füllt sich langsam eine Anzeige auf dem Bildschirm. Wenn diese ganz aufgeladen ist, kann auf Tastendruck für kurze Zeit ein Zustand ausgelöst werden, in dem normale Angriffe wesentlich wirksamer sind und zusätzliche Combos möglich werden. Dabei leert sich die Götterzorn-Anzeige und muss vor der nächsten Benutzung wieder durch Kämpfe aufgeladen werden. Je nach Gegnertyp und Art der Vernichtung erhält der Spieler sogenannte Orbs, leuchtende Kugeln, die in drei verschiedenen Farben existieren: grüne und blaue für das Auffüllen von Lebensenergie bzw. Magiepunkten sowie rote für das Sammeln von Erfahrung, mit der Waffen und Zauber aufgestuft werden können. Weitere Elemente: Erkundung, Rätsel und Geschicklichkeit In der Spielwelt verstreut befinden sich Truhen mit unterschiedlichen Inhalten. Vor und nach Kampfabschnitten dienen Truhen mit grünen oder blauen Orbs dazu, die Lebensenergie und die Magiepunkte aufzufüllen. Meist versteckt, also nur durch genaues Erkunden der Umgebung zu entdecken, sind Truhen mit roten Orbs oder aber mit sogenannten Gorgonenaugen und Phönixfedern: Das sind Sammelgegenstände, die die maximalen Lebens- und Magiepunkte erhöhen. Rote Orbs kann der Spieler auch erhalten, indem er Kisten oder Vasen in der Umgebung zerschlägt. An zahlreichen Stellen im Spiel müssen Rätsel gelöst werden, um den nächsten Abschnitt erreichen zu können. Dabei handelt es sich häufig um Puzzle-artige Aufgaben, bei denen beispielsweise Steinblöcke oder Zahnräder zusammengesetzt oder auch mechanische Maschinen richtig bedient werden müssen. Kratos kann dazu große Gegenstände über den Boden schieben oder mit einem Tritt durch den Raum kicken. Einige Rätselaufgaben sind actionbasiert, da sie innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne absolviert werden müssen oder sogar direkt in einen Kampf integriert sind. So muss die Spielfigur zum Beispiel in einem Abschnitt während des Kampfes einen Gegner auf einer bestimmten Bodenplatte versteinern und dadurch einen Schalter auslösen, der eine Tür öffnet. Das Spiel enthält zudem eine ausgeprägte Jump-’n’-Run-Komponente: So beherrscht Kratos die häufiger in diesem Genre anzutreffende Bewegungsmöglichkeit eines Doppelsprungs; er kann also während er sich bei einem Sprung in Luft befindet, ein zweites Mal springen. Die Spielfigur kann sich an herabhängenden Seilen über Abgründe schwingen, sich an waagrechten Seilen entlanghangeln oder an mit Ranken bewachsenen Wänden klettern. Häufig muss Kratos auch über schmale Balken balancieren, um einen Abgrund zu überwinden. Ab einem bestimmten Punkt in der Handlung hat die Spielfigur die Fähigkeit, unter Wasser zu tauchen. Sie kann dabei keine Waffen benutzen, beherrscht aber einen starken Schwimmstoß, mit dem sie für kurze Zeit schnell vorwärtstauchen und dabei auch brüchige Wände einreißen kann. Entwicklung Überblick Die Entwicklung von God of War durch SCE Santa Monica Studio begann 2002 unter dem Arbeitstitel Dark Odyssey und dauerte etwa drei Jahre. Die leitenden Rollen des Directors und des Lead Designers hatte der US-amerikanische Videospiel-Designer David Jaffe inne, der zuvor vor allem durch die Rennspiel-Shoot-’em-up-Spielreihe Twisted Metal bekannt geworden war. Als Produzentin von God of War fungierte Shannon Studstill, die 1999 SCE Santa Monica Studio als Teil der Sony Computer Entertainment Worldwide Studios mitbegründet hatte und die 2006 von der Spielezeitschrift Edge in eine Liste der 100 einflussreichsten Frauen in der Computerspielindustrie aufgenommen wurde. Insgesamt bestand das Entwicklerteam aus etwa 45 Personen. Design-Entscheidungen God of War wurde zum ersten Mal im Februar 2004 im Rahmen des sogenannten SCEA Santa Monica Gamers’ Day der Öffentlichkeit vorgestellt, wobei insbesondere das Szenario aus der griechischen Mythologie eingeführt wurde sowie das Kampfsystem und einige Jump-’n’-Run-Elemente präsentiert wurden. Als Ausgangspunkt des Designprozesses gab Jaffe die Action-Adventure-Reihe Onimusha von Capcom an, in der der Spieler vor dem Hintergrund einer auf der japanischen Geschichte und Mythologie basierenden Fantasywelt abwechselnd Kampf- und Rätselabschnitte bewältigen muss. Eine Inspirationsquelle für den Hintergrund aus der griechischen Mythologie in God of War seien die Filme von Ray Harryhausen, wie Jason und die Argonauten und Kampf der Titanen, gewesen, die Jaffe bereits als Kind geliebt habe. Allerdings war es sein Ziel, nicht wie häufig in Filmen eine abgeschwächte Version der antiken Sagen zu bieten, sondern diese in ihrer tatsächlichen Gewalttätigkeit und Brutalität zum Leben zu erwecken. Zudem stelle die griechische Mythologie auch eine wichtige Quelle für die Spielmechaniken selbst dar, wie etwa das Versteinern von Gegnern mit dem Kopf der Medusa oder das Schleudern von Zeus’ Blitzen. Bei der Interpretation der griechischen Mythologie nahm sich das Entwicklerteam jedoch bewusst große Freiheit; im Vordergrund sollte der Spaß und die „Coolness“ der herausgegriffenen Elemente stehen und nicht die historisch-mythologische Genauigkeit. Als Inspiration für die Art, eine Geschichte zu erzählen, und für die Rätselelemente gab Jaffe eines seiner Lieblingsspiele an, das Action-Adventure Ico aus dem Jahr 2001. In God of War gebe es sowohl in sich abgeschlossene Rätsel in einzelnen Räumen als auch solche, die mehrere Spielabschnitte umfassen und dem Spieler zwar schon früh vorgestellt werden, aber erst viel später gelöst werden können. Ein Entwicklungsziel war dabei, jedes Rätsel möglichst einzigartig zu machen und keine Aufgabe zu stellen, die nur eine leichte Variation eines bereits zuvor gelösten Rätsels ist. Technik Als Spiel-Engine kam die von SCE Santa Monica Studio für ihr Vorgängerprojekt Kinetica von Grund auf neu entwickelte Engine zum Einsatz. Bei Kinetica (2001) handelt es sich um ein nur in Nordamerika für die PS2 veröffentlichtes futuristisches Rennspiel. Laut Lead Programmer Tim Moss bot die darin verwendete Engine bereits eine gute Unterstützung der Animation und der Effekte für das geplante God of War, musste allerdings noch an die Erfordernisse eines Third-Person-Spiels angepasst werden. Rückblickend erklärte Produzentin Studstill, dass die Entwicklung der Engine zwar einige Zeit in Anspruch genommen hatte, dass diese aber gut investiert war, denn das Team wollte damit über das erste Spiel, Kinetica, hinaus der PS2 „Beine zum Laufen“ verschaffen. Laut Moss war es aus technischer Sicht eine weitere wichtige Entscheidung, für die 3D-Modellierung durchgängig die Software Maya einzusetzen. Hauptziel des aus etwa sieben Personen bestehenden Programmierteams war es, den Designern Tools zur Verfügung zu stellen, mit denen sie neue Elemente und Spezialfälle eigenständig umsetzen konnten, und so die Hauptlast des Entwicklungsprozesses auf den Designbereich zu verlagern. Zur Koordinierung der Dateien kam das Versionsverwaltungssystem Alienbrain zum Einsatz. Das Vollbildverfahren, das in der Originalversion in der Fernsehnorm NTSC für den Bildaufbau verwendet wird, konnte in der europäischen PAL-Version aus technischen Gründen nicht implementiert werden. Musik und Synchronisation Die Musik des Spiels wurde von Gerard Marino, Mike Reagan, Ron Fish, Winifred Phillips, Winnie Waldron, Cris Velasco und Marcello De Francisci komponiert. Für die später vielfach preisgekrönte Videospielkomponistin Phillips stellte die Arbeit an God of War den Beginn ihrer Karriere dar. Der vollständige Soundtrack wurde exklusiv im damaligen Sony-eigenen Connect Music Store am 1. März 2005 veröffentlicht. Er umfasst 31 Stücke mit einer Gesamtlaufzeit von 58:55. Die Hauptfigur Kratos wird im englischen Original von dem US-amerikanischen Sänger, Schauspieler und Synchronsprecher Terrence C. Carson gesprochen, die britische Schauspielerin und Sprecherin Carole Ruggier übernahm die Rollen der Athene und der Aphrodite. Als Erzählerin fungierte die US-amerikanische Schauspielerin und Oscar-Preisträgerin Linda Hunt. Die deutsche Stimme von Kratos ist der beispielsweise als Synchronsprecher von Dwayne Johnson bekannte Ingo Albrecht. Veröffentlichung Außerhalb Deutschlands Anfang Januar 2005 erschien in Nordamerika eine Demoversion von God of War mit dem Einführungsabschnitt bis zum Kampf gegen den ersten Endgegner, die Hydra. Das Spiel selbst wurde dort am 22. März desselben Jahres von Sony Computer Entertainment veröffentlicht. In den meisten Ländern Europas, nicht jedoch in Deutschland, brachte der Konzern God of War im Juli 2005 auf den Markt. Diese auf die PAL-Fernsehnorm lokalisierte Fassung enthält neben der englischen eine deutsche, französische, italienische und spanische Synchronisation. In der PAL-Version, die die PEGI-Jugendschutzeinstufung „empfohlen ab 18 Jahren“ erhielt, wurde eine einzelne Spielszene abgeändert. Dabei handelt es sich um einen Rätselabschnitt, bei dem eine durch eine Feuerfalle gesicherte Tür der einzige Weg ist, um einen Raum zu verlassen. In der Originalversion besteht die Lösung darin, einen in einem Käfig gefangenen menschlichen Soldaten in der Falle zu opfern, in der europäischen Version wurde der Gefangene durch einen Untoten ersetzt. Zudem wurde ein Speicherpunkt unmittelbar vor dieser Sequenz entfernt und Textpassagen im Zusammenhang zu der Szene wurden den Änderungen angepasst. In Japan wurde God of War am 17. November 2005 von dem dort ansässigen Videospielunternehmen Capcom veröffentlicht. Kontroverse um die Veröffentlichung in Deutschland Zur geplanten Veröffentlichung von God of War in Deutschland verweigerte die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) gemäß , Abs. 3 Jugendschutzgesetz die Kennzeichnung mit einer Altersfreigabe. Spiele ohne Kennzeichnung durch die USK können zwar genauso wie Spiele ohne Jugendfreigabe (USK-Kennzeichnung „ab 18“) in Deutschland veröffentlicht und verkauft werden, allerdings werden sie im Anschluss häufig von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen („Indizierung“). Sony Computer Entertainment sah daraufhin zunächst von einer Markteinführung von God of War in Deutschland ab, da die Veröffentlichung eines Titels ohne Alterskennzeichnung nicht zur Firmenphilosophie passe. Bei der darauf folgenden Prüfung des Spiels durch die BPjM lehnte das Zwölfergremium „nach intensiver Erörterung“ jedoch in einer Entscheidung vom 5. Januar 2006 eine Indizierung ab. Als Begründungen gab die Behörde an, dass einerseits sich die Gewaltanwendung in den interaktiven Spielabschnitten fast ausschließlich gegen Wesen aus der griechischen Mythologie sowie gegen Untote richte. Vor allem verfüge God of War aber andererseits neben den gewalthaltigen Elementen über weitere Anteile, die wesentliche Bestandteile des Spiels darstellen, nämlich „teilweise sehr anspruchsvolle“ Kletter-, Balancier- und Sprungaufgaben sowie viele Rätsel, die den Spieler zum Überlegen und Nachdenken zwingen. Nach der Entscheidung der BPjM wurde das Spiel im Februar 2006 erneut der USK zur Einstufung vorgelegt. Es erhielt nun die Kennzeichnung „ab 18“ und konnte schließlich von Sony Computer Entertainment am 10. Mai 2006 in Deutschland veröffentlicht werden. Zu diesem Zeitpunkt war das Spiel in den meisten Nachbarländern, etwa in Österreich und der Schweiz, bereits als sogenannte Platinum-Version zum halben Preis erhältlich. Portierungen und Kompilationen Am 17. November 2009 veröffentlichte Sony Computer Entertainment in Nordamerika God of War zusammen mit dem Nachfolger God of War II auf einer Blu-ray Disc unter dem Titel God of War Collection für die PlayStation 3. In Europa kam die Kollektion Ende April 2010 auf den Markt. Das Remastering der beiden Spiele in hochauflösender Grafik (Auflösung 720p mit einer Bildfrequenz von 60 Bildern pro Sekunde und zweifachem Antialiasing) führte das texanische Entwicklerstudio Bluepoint Games in nur drei Monaten durch. Seit Oktober 2010 kann die God of War Collection auch als kostenpflichtiger Download im PlayStation Store bezogen werden. Im August 2012 veröffentlichte Sony Computer Entertainment God of War als Teil einer Kompilation der ersten fünf Teile der God-of-War-Reihe auf zwei Blu-ray Discs unter dem Titel God of War Saga in Nordamerika für PlayStation 3. Eine Portierung der God of War Collection für die Handheld-Konsole PlayStation Vita wurde von Sony Computer Entertainment weltweit im Mai 2014 veröffentlicht. Verantwortlich für die Umsetzung war das kalifornische Entwicklerstudio Sanzaru Games, das vor allem für die Entwicklung des Teils Sly Cooper: Jagd durch die Zeit der Jump-’n’-Run- und Stealth-Spielreihe Sly Cooper und für die Portierung von dessen Vorgängern auf PS3 und PS Vita bekannt geworden war. Für die Grafikdarstellung der beiden Spiele der God of War Collection wird deren originale Grafikauflösung von 720 × 408 Pixel auf die 960 × 544 Pixel des PS-Vita-Bildschirms hochskaliert. Zum Wechsel der Zauberfähigkeiten der Spielfigur wird der Touchscreen der Handheld-Konsole verwendet; das Touchpad auf der Geräterückseite ersetzt zwei bei der PS Vita fehlende Tasten des PS2-Gamepads. Verkaufszahlen God of War belegte nach dem ersten Halbjahr des Jahres 2005 den sechsten Platz in der Liste der meistverkauften Computerspiele. Laut Sony Computer Entertainment wurden von der erstveröffentlichten PS2-Version des Spiels bis Ende Mai 2012 weltweit mehr als 4,6 Millionen Exemplare verkauft, davon etwa 1,6 Millionen in Europa und etwa 140.000 in Japan. Hinzu kommen bis zu diesem Zeitpunkt mehr als 2,4 Millionen (Europa: ca. 510.000) verkaufte Einheiten der PS3-Version als Teil der God of War Collection. Die Verkäufe aller Teile der God-of-War-Reihe zusammen beliefen sich bis dahin auf über 21,6 Millionen. Die Website VG Chartz schätzt die Anzahl der bis August 2015 verkauften Exemplare der PS-Vita-Version auf 180.000. In Deutschland, wo God of War sehr viel später als im Ausland erschien, stieg das Spiel nur auf Platz 10 der Computerspiel-Verkaufscharts ein. Das deutsche Computerspielmagazin 4Players vermutete dazu in einem Bericht, dass viele, die das Spiel haben wollten, es bereits vorher gekauft hätten. Rezeption Rezensionen Originalversion God of War wurde von der Kritik durchweg positiv bis sehr positiv beurteilt: Bei Metacritic, einer Website für Medienbewertungen, erzielte das Spiel 94 von 100 Punkten. Bei GameRankings, einem anderen Aggregator-Dienst, erreichte es einen Wertungsschnitt von 93,58 %, womit es auf dieser Website das PS2-Spiel mit der achthöchsten Metawertung ist. Matt Leone vom Onlinemagazin 1Up.com stellte in seiner Besprechung des Spiels lobend fest, dass sowohl der Action- als auch der Adventure-Anteil herausragend seien, eine Eigenschaft, die im Action-Adventure-Genre nur selten anzutreffen sei. Die Darstellung der Kämpfe sei flüssig und gebe dem Spieler von Anfang an ein „großartiges Gefühl von Stärke und Macht“; die Animationen der Finishing Moves seien erstaunlich. Lediglich das Ausweichen gegnerischer Angriffe, das nur in vier Richtungen erfolgen kann, wirke starr und wenig benutzerfreundlich. In Bezug auf den Adventure-Anteil lobte Leone die Handlung, die beeindruckend erzählt werde, sowie die Rätsel. Diese seien entweder selbst actionorientiert oder erfordern Puzzle-typisches Nachdenken und bieten eine schöne Abwechslung. Zu einer ähnlich positiven Einschätzung kam auch Paul Kautz vom Magazin 4Players. Er lobte vor allem die Präsentation von God of War mit einem „bombastischen, pompösen“ Soundtrack und einer „phantasiereich designten, herrlich detaillierten“ Grafik. Die Kamera zeige das Geschehen oft aus dramatischen Perspektiven, allerdings wünsche man sich mitunter, die Einstellung selbst ändern zu können. Die Inszenierung der Kämpfe zeichne sich durch eine „brutale Eleganz“ aus, die der Rezensent mit einer einzigartigen „Mischung aus Ballett und Kettensägenmassaker“ verglich. Die Rätselabschnitte seien clever designt, einige zeitkritische Aufgaben könnten jedoch auch das Potential haben, den Spieler zu frustrieren. Kautz merkte zudem die Preispolitik des Publishers Sony negativ an, der God of War in Deutschland als Vollpreisspiel auf den Markt bringe, obwohl es im Ausland mittlerweile schon zu einem Budget-Preis erhältlich sei. Alex Navarro lobte im Onlinemagazin GameSpot vor allem das abwechslungsreiche Kampfsystem, die zahlreichen herausfordernden, aber nicht unmöglichen Rätsel und den orchestralen Soundtrack des Spiels, er sprach allerdings auch einige kleinere negative Punkte an. So könne man kritisieren, dass die Eingabe von Angriffskombinationen zu nachsichtig sei und nur wenig Aufmerksamkeit erfordere: Durch einfaches Drücken der Angriffstasten könne man bereits eindrucksvolle Combos ausführen. Außerdem empfand Navarro einige sexuelle Anspielungen – insbesondere ein in einer eher komischen Art und Weise präsentiertes Sex-Minispiel – als unpassend für die ansonsten durchgängig düstere, morbide und „erwachsene“ Spielatmosphäre. Von technischer Seite lobte er besonders die flüssigen Animationen, bemerkte allerdings, dass es in speziellen Spielsituationen zu einer Absenkung der Bildfrequenz kommen könne, was ein leichtes Ruckeln des Bildes bewirke. In einer Besprechung von God of War in der New York Times bezeichnete der Rezensent Charles Herold das Spiel mit seinem „beeindruckenden Level-Design, den spannenden Kämpfen, den trickreichen Rätseln und seiner kraftvollen, sinfonischen Spielmusik“ als nahezu perfekt. Mitunter leiste es sich aber auch Fehltritte, wie etwa einen einfach nur lästigen Marsch durch einen die Sicht behindernden Sandsturm. Herold ging in seiner Rezension differenziert auf die zahlreichen Gewaltelemente des Spiels ein: Wenn Kratos monströse Kreaturen zu Boden schleudert, untote Krieger mit ihrer eigenen Waffe aufspießt oder Harpyien packt und ihnen ihre Flügel ausreißt, so habe das etwas „herrlich Muskulöses“ an sich und die Finishing Moves seien „ausgeklügelt brutal“. Es gebe aber beispielsweise auch Abschnitte, in denen der Spieler Menschen für einen Gesundheitsbonus töten könne. Eine Szene, in der ein um sein Leben bettelnder Soldat geopfert werden muss (siehe Abschnitt #Außerhalb Deutschlands), sei ziemlich verstörend. Portierungen In einer Rezension der PlayStation-3-Portierung des Spiels zeigte sich Chris Roper von IGN beeindruckt von der HD-Grafik und stellte fest, dass sich die Steuerung durch die höhere Bildfrequenz flüssiger anfühle. Der ansonsten völlig unverändert gebliebene Spielinhalt sei über die Jahre gut gealtert und mache noch genauso viel Spaß, wie bei der Erstveröffentlichung. Kritik übte Roper an der Grafikqualität der Zwischensequenzen: Während die vorgerenderten Szenen zwar nur in Standardauflösung gezeigt werden, aber immer noch gut aussehen, sei die Qualität der in Spielgrafik dargestellten Sequenzen ziemlich schlecht – gerade im Vergleich zur HD-Darstellung der interaktiven Spielelemente. Die PS3-Version der God of War Collection erhielt eine Bewertung von 91 % bei Metacritic und 90,78 % bei GameRankings. Die im Mai 2014 veröffentlichte Portierung der God of War Collection für die PlayStation Vita erhielt nur durchschnittliche Kritiken. So sah sich Meghan Sullivan von IGN enttäuscht von der für die Handheld-Konsole heruntergestuften Grafik, die fade und leicht unscharf wirke. Zudem seien durch das andere Bildschirmformat die Proportionen unvorteilhaft verzerrt. Die Sprachausgabe bezeichnete die Rezensentin als dumpf („wie über ein Walkie-Talkie“) und die Steuerung, insbesondere den Einsatz des Touchpads, als ungelenk. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch ein Test dieser Version in Computer Bild Spiele: Die beiden Spiele selbst seien auch 2014 noch spannend und unterhaltsam, aber die Umsetzung für die PS Vita sei technisch misslungen und weise eine „fummelige“ Steuerung auf. Die PS-Vita-Version der God of War Collection erhielt eine Bewertung von 73 % bei Metacritic und 75,00 % bei GameRankings. Auszeichnungen und Bestenlisten God of War wurde 2006 bei den Interactive Achievement Awards (D.I.C.E. Awards) als Spiel des Jahres ausgezeichnet. Neben den damit verbundenen Preisen als Konsolenspiel des Jahres und Action-Adventure des Jahres erhielt es auch eine Auszeichnung in drei „Outstanding Achievement“-Kategorien (Animation, Original Musical Composition und Sound Design). Ferner gewann es für die Hauptfigur Kratos den Preis in der Kategorie Outstanding Character Performance – Male. Bei den Spike Video Game Awards 2005 gewann God of War den Preis als Actionspiel des Jahres. Zudem wurde David Jaffe für sein Spiel in der Kategorie Designer of the Year ausgezeichnet. God of War war hier auch als Spiel des Jahres nominiert, allerdings konnte schließlich das Action-Adventure Resident Evil 4 von Capcom den Preis für sich gewinnen. Bei dem Film- und Fernsehpreis Saturn Award wurde God of War 2006 als beste Videospielveröffentlichung im Bereich Fantasy ausgezeichnet. God of War belegt in verschiedenen Bestenlisten vordere Plätze. So stufte es beispielsweise IGN 2008 als das viertbeste PS2-Spiel ein, hinter Grand Theft Auto III, Shadow of the Colossus und Metal Gear Solid 3: Subsistence. In einer ähnlichen Liste der Top-25-PS2-Spiele des ehemaligen Online-Magazins GameSpy belegt God of War sogar den zweiten Platz hinter Grand Theft Auto: San Andreas. Einfluss auf das Action-Adventure-Genre Das Spielprinzip von God of War wurde nicht nur ohne große Änderungen in den folgenden Teilen der Reihe weitergeführt, es beeinflusste auch das gesamte Action-Adventure-Genre stark. Zahlreiche andere Spiele verwendeten im Anschluss Elemente von God of War, wobei das Spektrum von Inspirationen bei Details bis zu fast unveränderten Kopien des Spielprinzips reicht. Für Letztere wurde in der Fachpresse häufig auch der etwas abfällige Begriff „God-of-War-Klone“ verwendet. Beispiele für eher erfolgreiche und von der Kritik gelobte Spiele, die mit God of War verglichen wurden, sind Castlevania: Lords of Shadow (2010), Darksiders (2010) oder auch Dante’s Inferno (2010). Typische weniger erfolgreiche „Klone“ sind etwa Conan (2007) oder Die Legende von Beowulf – Das Spiel (2007). Alle bisher genannten Spiele ähneln God of War nicht nur in Hinblick auf die Spielmechanik, sondern auch in einem phantastisch-mythologischen Szenario und einer düsteren, erwachsenen Grundstimmung. Jedoch übernahmen auch Action-Adventures, die sich hauptsächlich an eine jüngere Zielgruppe wenden, Spielmechaniken und -elemente aus God of War, so etwa The Legend of Spyro: Dawn of the Dragon (2008) aus der bekannten Spyro-Reihe oder der PlayStation-4-Launch-Titel Knack (2013). Zehn Jahre nach der Veröffentlichung von God of War sei aber laut Kat Bailey vom Online-Magazin USgamer auch klar, dass der große Einfluss auf das Genre für die Reihe, die sich in dieser Zeit selbst kaum weiterentwickelt habe, ein Problem darstellte. Inzwischen seien es Titel wie Batman: Arkham Asylum oder Uncharted 2, die heute die Konkurrenz derart deutlich in den Schatten stellen, wie es damals God of War tat. Eine Veröffentlichung wie God of War: Ascension werde hingegen von der Fachpresse eher nur noch „mit einem Achselzucken“ aufgenommen. Wissenschaftliche und gesellschaftliche Rezeption Aspekte von God of War wurden mehrfach als Demonstrationsbeispiel in wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Bereich Game Studies herangezogen oder standen im gesellschaftlichen Diskurs über Computerspiele. So analysiert Robert Cassar das Spiel vor dem Hintergrund der These, dass in modernen Videospielen im Gegensatz zu den spielerischen Elementen, die sich stark weiterentwickelt haben, die erzählerische Komponente immer noch eine untergeordnete Stellung einnehme. God of War sei jedoch ein Beispiel für die Anstrengungen, die Entwickler unternehmen, um eine Brücke zwischen dem Erzählen einer Geschichte und den spielerischen Elementen zu bauen, beispielsweise durch Quick Time Events oder Kameraschwenks. Das Spiel beweise zudem, dass in Videospielen auch realistischere und erwachsenere Themen behandelt werden können, ohne dass die Freude am Spielen darunter leiden müsse. Hypertextuelle und nichtlineare Erzählmethoden wie in God of War seien dabei ein interessanter, aber sicher nicht der einzig mögliche Lösungsansatz, um den Aspekt der Narrativität dieses Mediums anzugehen. In seiner Dissertation zum Thema Jugendmedienschutz bei Gewalt darstellenden Computerspielen analysiert Patrick Portz die Spruchpraxis der BPjM unter anderem anhand der Entscheidung zu God of War als einer der wenigen Fälle von Nichtindizierungen geprüfter Spiele. Die Begründung, das Spiel enthalte neben den gewalthaltigen Elementen noch weitere wesentliche Elemente, sei zwar insgesamt plausibel, aber inkonsequent, denn das treffe auf ein Gros der indizierten Spiele, wie beispielsweise auf einige Teile der Survival-Horror-Reihe Resident Evil oder auf das Western-Spiel Gun, in noch stärkerem Maße zu. Auch die Begründung, die Gewalt in God of War richte sich fast ausschließlich gegen menschenunähnliche Wesen, stehe im Widerspruch zur Auffassung der BPjM, nach der Wesen menschenähnlich seien, die auch menschlich reagieren. In diesem Zusammenhang sei auch die Unterscheidung zwischen Phantasiefiguren und menschenähnlichen Wesen, die ja per se nur Phantasiefiguren seien, durch die BPjM wenig plausibel. Die kanadisch-amerikanische Medienkritikerin und Videobloggerin Anita Sarkeesian verwendet God of War und seine Nachfolger in ihrem Projekt Tropes vs. Women in Video Games, das sich aus feministischer Sicht mit frauenbezogenen Stereotypen in Videospielen befasst, als ein Demonstrationsbeispiel von vielen für das Thema „Frauen als Belohnung“. So habe der erste Teil eine Tradition eines Minispiels in der Reihe etabliert, das den Spieler mit Erfahrungspunkten belohnt, wenn er erfolgreich Sex mit einer oder mehreren Frauen hat. Videospiele wie Grand Theft Auto V, The Witcher 3: Wild Hunt oder eben God of War, die Frauen als sexualisierte Spender von Erfahrungspunkten für anscheinend als männlich und heterosexuell angenommene Spieler darstellen, würden nicht nur die Sexszenen selbst als Belohnung verwenden, indem sie die Maskulinität der Spieler bestätigen. Durch den oberflächlichen Konsum weiblicher Sexualität würden Frauen auf Punkte in einer mathematischen Gleichung reduziert, die direkt mit einem Zuwachs männlicher Macht verknüpft ist. In einem Artikel über God of War und die Figur Kratos stimmt der Autor Martin Nerurkar der These zu, dass das Franchise beispielsweise aufgrund der zur Vermarktung verwendeten gewalthaltigen, blutigen Bilder oder der „seltsam unreifen“ Sex-Minispiele durchaus als exploitativ bezeichnet werden kann. Mit der visuellen Betonung von Gewalthandlungen, etwa durch Heranzoomen oder Zeitlupeneffekte, und der Darstellung von Frauen als schwache Sexobjekte bediene es sich bekannter Stereotype des Action-Genres. Andererseits müsse es jedoch wie in Filmen, Fernsehserien und Büchern auch in Spielen zulässig sein, dass der Protagonist ein gewalttätiger, sadistischer und misogyner Charakter wie Kratos ist. Die Tatsache allein, dass der Spieler die Figur selbst steuert, mache sie nicht zu einem Vorbild oder glorifiziere ihre Taten. Im Gegenteil müsse es auch Geschichten mit Hauptcharakteren geben, die der Spieler verachtet oder die ihn anekeln. Zudem liefere God of War durch die Handlung und das antike Szenario genug Kontext, der den Spieler erkennen lässt, dass Kratos, obwohl er „heldenhafte“ Taten vollbringt, kein „Held“ ist. Nachfolger God of War II Im März 2007 veröffentlichte Sony Computer Entertainment mit God of War II einen direkten Nachfolger von God of War für die PS2, in Europa kam der Titel ungeschnitten Anfang Mai desselben Jahres auf den Markt. Das Spielprinzip gleicht im Wesentlichen dem des Vorgängers, allerdings enthält das Spiel mehr Endgegner und eine größere Zahl schwieriger Rätsel. Die Handlung schließt an das Ende von God of War an. Kratos wird auch als der neue Kriegsgott von den schrecklichen Albträumen seiner Taten gequält und wütet – von den anderen Göttern gemieden und gehasst – mit seiner spartanischen Armee noch grausamer als zuvor Ares. Zu Beginn der Handlung gelingt es jedoch Zeus mit einem Trick, Kratos seine göttliche Macht zu nehmen, ihn zu töten und somit in den Hades zu verbannen. God of War II wurde wie sein Vorgänger von der Kritik sehr positiv bewertet, wobei vor allem Verbesserungen im Spielprinzip und an der Grafik sowie das Design der Rätsel gelobt wurden. Bei Metacritic erzielt das Spiel eine Bewertung von 93 %. Es erhielt einige Auszeichnungen und Preise, darunter zwei British Academy Video Games Awards. Überblick über die Spielreihe Der offene Schluss von God of War II verweist auf eine weitere Fortsetzung, die als God of War III im März 2010 für die PlayStation 3 veröffentlicht wurde. Bewegte Bilder wurden erstmals auf der Spielemesse E3 2009 gezeigt, zusammen mit einer spielbaren Demo-Version. Im Juli 2015 erschien unter dem Titel God of War III Remastered eine Version dieses Spiels für PlayStation 4. Des Weiteren existieren zwei God-of-War-Teile für die Handheld-Konsole PlayStation Portable, God of War: Chains of Olympus (2008) und God of War: Ghost of Sparta (2010), in denen die Leidensgeschichte von Kratos intensiver beleuchtet wird und diverse offene Fragen der Hauptreihe beantwortet werden. Sie wurden von den kalifornischen Ready at Dawn Studios entwickelt und unterscheiden sich in ihrer Erzählweise, der Thematik und dem Spielprinzip von der Haupttrilogie nur wenig. Eine Portierung der beiden Spiele für PlayStation 3 erschien im September 2011 als God of War Collection Volume II und wurde auch als Kompilation zusammen mit der Haupttrilogie unter dem Titel God of War: Complete Collection angeboten. Im April 2012 kündigte SCE Santa Monica Studio einen neuen Teil der Hauptreihe für die PS3 an. Das Spiel wurde unter dem Titel God of War: Ascension im März 2013 veröffentlicht. Es ist jedoch keine Fortsetzung, sondern ein Prequel, das sechs Monate nach dem Tod von Kratos’ Familie spielt. Als erster Teil der Reihe enthält Ascension einen Mehrspielermodus. Im Rahmen der E3 2016 stellte Sony im Juni 2016 einen weiteren Teil der Spielreihe vor, welcher am 20. April 2018 unter dem Titel God of War für PlayStation 4 und am 14. Januar 2022 für Windows erschien. Dieser Teil stellt sowohl eine erzählerische Fortsetzung als auch einen in Punkto Spielprinzip und Spielwelt-Design einen Neustart der Reihe dar. So wird die Geschichte nun nicht mehr vor dem Hintergrund der griechischen, sondern der nordischen Mythologie erzählt, die Spielwelt ist offener und enthält diverse Metroidvania-Elemente und es gibt stärker ausgeprägte Rollenspiel-Aspekte bei der Charakterentwicklung, z. B. das Erlernen und Verbessern von neuen Angriffen, Fähigkeiten und Rüstungen. Auch wird das Geschehen nicht mehr aus fest vorgegebenen Kameraperspektiven gezeigt, sondern aus einer separat steuerbaren Overhead-Perspektive hinter dem Spieler, ähnlich der Tomb-Raider-Reihe. Kratos ist optisch gealtert und hat einen Sohn namens Atreus. Dieser wird vom Spieler passiv gesteuert und hat seine eigenen Charakter- und Kampfeigenschaften, was ein zusätzliches, taktisches Element in die Reihe einfügt. Auch wird mehr Fokus auf das Erzählen der Geschichte sowie dem schwierigen Verhältnis zwischen Kratos und seinem Sohn gelegt. Ein weiterer Nachfolger namens God of War Ragnarök, der das Spielprinzip des Vorgängers im Wesentlichen beibehält, wurde von Sony Ende 2020, anfangs noch ohne den Beinamen, für PlayStation 4 und PlayStation 5 angekündigt und erschien nach COVID-19-bedingter Verzögerung am 9. November 2022. Laut Produzent Cory Barlog wird die Geschichte um Kratos und Atreus in diesem Teil zu Ende erzählt. Auf dem Spiel basierende Medien Roman zum Spiel Im September 2009 wurde eine Romanfassung des Spiels angekündigt, die im Mai 2010 ebenfalls unter dem Titel God of War von Del Rey Books auf den Markt gebracht wurde. Die Autoren waren die amerikanischen Fantasy- und Science-Fiction-Schriftsteller Matthew Stover, der vor allem für seine Star-Wars-Romane bekannt ist, und Robert E. Vardeman. Die deutschsprachige Übersetzung wurde unter dem Titel God of War: Der offizielle Roman zum Game im August 2010 im Panini-Verlag veröffentlicht. Geplante Verfilmung Bereits im Juli 2005, kurz nach der Erstveröffentlichung von God of War, wurde eine geplante Verfilmung des Spiels durch Universal Studios angekündigt. Filmproduzent Charles Roven gab an, sein Team sei von diesem Projekt begeistert, seit es das Spiel zum ersten Mal gespielt habe, und sehe darin ein großes erzählerisches Potential. Im März 2007 bestätigte Jaffe, dass der Drehbuchautor David Self (Das Geisterschloss, Road to Perdition) ein Skript fertiggestellt habe und das Projekt nun einen Regisseur suche. Im September 2008 vermeldete Brett Ratner (Rush Hour, X-Men: Der letzte Widerstand), dass er in der Verfilmung Regie führen werde und auf grünes Licht für den Drehbeginn warte. Einige Monate später gab Ratner jedoch an, nicht mehr am geplanten God-of-War-Film zu arbeiten und sich einem anderen Projekt, der Actionkomödie Aushilfsgangster, zugewandt zu haben. Danach wurde es einige Jahre still um eine mögliche Verfilmung, bis im Juli 2012 vermeldet wurde, dass die für die Horrorfilmreihe Saw bekannten US-amerikanischen Drehbuchautoren Patrick Melton und Marcus Dunstan an einer Leinwandadaption von God of War arbeiten. Nach der Fertigstellung des Drehbuchs verschwand die geplante Verfilmung allerdings wieder aus den Schlagzeilen. Marianne Krawczyk, Autorin für die God-of-War-Spiele, bestätigte im September 2013, dass das Team seit dem vorigen Jahr nichts mehr über den Film gehört habe. Ihrer Meinung nach sei das größte Problem einer Verfilmung die Besetzung der Hauptrolle Kratos. Literatur Weblinks Einzelnachweise Action-Adventure Computerspiel 2005 Fantasy-Computerspiel PlayStation-2-Spiel PlayStation-3-Spiel PlayStation-Vita-Spiel Rezeption der griechischen Mythologie
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https://de.wikipedia.org/wiki/Film%20%28Film%29
Film (Film)
Film ist ein US-amerikanischer Kurzfilm aus dem Jahr 1965 nach einem Drehbuch des irischen Dramatikers Samuel Beckett. Es ist ein Schwarzweißfilm ohne Dialoge und Begleitmusik. Seine einfache Handlung basiert darauf, dass die Kamera als beobachtender Akteur mit in den Film einbezogen ist. Den Protagonisten, gespielt vom gealterten Stummfilmstar Buster Keaton, bezeichnet Beckett mit O für object, die den Protagonisten verfolgende Kamera bezeichnet er mit E für eye. Der Film spielt mit den beiden Perspektiven und handelt letzten Endes von der Unausweichlichkeit der Selbstwahrnehmung und davon, dass man dem eigenen Dasein nicht entfliehen kann. Handlung Die erste Einstellung zeigt das Auge eines älteren Menschen, das sich soeben öffnet, in einer Nahaufnahme. Ein älterer Mann, der als O bezeichnet wird, hastet von der Kamera, die von Beckett als E bezeichnet wird, weg durch eine unwirtliche städtische Gegend. Er läuft an einer großen Mauer entlang im prallen Sonnenschein über unebenen, mit Steinen übersäten Boden. O versucht sich der Beobachtung durch die Kamera und dem Kontakt zu zwei anderen Passanten, deren Weg er kreuzt, zu entziehen. Als die Passanten nach Os Entschwinden in die Kamera, E, schauen, reagieren sie empört und entsetzt, der Mann setzt zum Reden an, die Frau lässt ihn mit einem 'schhhh!' verstummen. In seinem Mietshaus angekommen, versteckt sich O zunächst vor einer alten Frau, die ihm im Eingangsbereich entgegenkommt. Als die Frau aufblickt und E anschaut, also in die Kamera blickt, wandelt sich ihr Gesichtsausdruck von mild zu entsetzt und sie kollabiert. O schleicht sich an ihr vorbei die Treppe hinauf. In seiner kargen, heruntergekommenen Wohnung macht sich O daran, alles zu zerstören, zu verdecken oder zu entfernen, was ihn beobachten oder eine Beobachtung von ihm, auch durch sich selbst, ermöglichen könnte: das Fenster, ein Bild von einer Figur an der Wand, ein Wandspiegel. Auch um diverse Haustiere, die O in seiner Wohnung hält, muss er sich kümmern: Katze und Hund trägt er nacheinander aus der Wohnung. Papageienkäfig und Fischglas werden mit Stoff abgedeckt. Selbst Objekte, die nur entfernt eine Ähnlichkeit mit Augen haben, erregen Os Aufmerksamkeit, zum Beispiel die Schnitzerei an einem Schaukelstuhl. Nachdem O eine Weile im Zimmer umhergewandert ist und nach dem Eliminieren aller möglichen Blicke auf ihn zur Ruhe kommt, setzt er sich in den Schaukelstuhl und betrachtet nacheinander einige Fotos aus verschiedenen Phasen seines Lebens. Dann zerreißt er sie in umgekehrter Reihenfolge und lässt sie zu Boden fallen. Als er danach im Schaukelstuhl einschläft, bewegt sich E langsam um ihn herum, und ergattert endlich einen Blick in Os Gesicht: Über einem Auge trägt der alte Mann eine Augenklappe. O erwacht. Im Gegenschuss erkennt der Betrachter, was O erblickt: Er sieht sich selbst an der Wand gegenüber stehen, sich betrachtend. O ist somit identisch mit E. Entsetzt bedeckt er sein Gesicht mit den Händen. Die letzte Einstellung ist mit der ersten identisch: ein menschliches Auge, das sich öffnet. Produktion Idee und Vorproduktion Der Grundstein des Projekts war eine Idee des Produzenten von Film, Barney Rosset. Er verlegte seit 1951 Theaterstücke in seinem Verlag Grove Press. Zusammen mit zwei Mitarbeitern von Grove Press, Richard Seaver und Fred Jordan, sowie dem Theaterregisseur Alan Schneider gründete er um 1962 die Filmproduktionsfirma Evergreen Theatre. Ihr Ziel war die Verfilmung von spezifisch für das Kino geschriebenen Filmdrehbüchern bekannter Dramatiker. Ihre Anfragen an verschiedene Autoren wurden aber zum Teil abgelehnt, so z. B. von Jean Genet, andere Dramatiker schrieben Drehbücher für Spielfilme, darunter auch Marguerite Duras und Alain Robbe-Grillet. Letzten Endes entschied sich Evergreen Theatre, kürzere Filmscripts von Samuel Beckett, Eugène Ionesco und Harold Pinter als je eine Episode eines abendfüllenden Spielfilms zu realisieren. Becketts Film war aber die einzige dieser drei Arbeiten, die tatsächlich verfilmt wurde. Ionescos Script konnte wegen zu hoher Anforderungen an die Spezialeffekte damals nicht umgesetzt werden, Pinters Script wurde, so Rosset, erst später von der BBC verfilmt. Der damals 58-jährige Samuel Beckett trat für das Projekt eine lang erwartete Reise in die USA an, um die Produktion des Films zu begleiten. Sein einmonatiger Aufenthalt dort war sein einziger Besuch in den USA. Beckett hatte zwar bereits früher Interesse am Kino gezeigt und in einer Zeit der Beschäftigungssuche sogar einen Brief an Sergei Eisenstein geschrieben, doch das Drehbuch zu Film und seine Mitarbeit an der Produktion blieben Becketts einzige Arbeit im Kinofilmbereich. Im Anschluss arbeitete er allerdings noch einige Male für das Fernsehen, außerdem wurden Becketts Theaterstücke mehrfach verfilmt. Besetzung und Stab Als Regisseur von Film wurde der bei Evergreen Theatre involvierte Theaterregisseur Alan Schneider gewählt, der unter anderem einige Theaterstücke Becketts in den USA inszeniert hatte und erfolgreich am Broadway in New York arbeitete. Film war Schneiders erste und einzige Filmregie. Als Kameramann wurde Boris Kaufman ausgewählt. Rosset mochte seine Arbeit unter Jean Vigo an L’Atalante und Betragen ungenügend. Kaufman hatte, kurze Zeit nach dem Tod seines Bruders Dsiga Wertow, für seine Kameraarbeit an Die Faust im Nacken 1955 einen Oscar und einen Golden Globe erhalten. Für die Hauptrolle des O wurde der frühere Stummfilmstar Buster Keaton engagiert. Er war nicht die erste Wahl für die Hauptrolle; zuvor war der Part Charlie Chaplin, Zero Mostel und Jack MacGowran angeboten worden, die aber nicht verfügbar waren. Jahre zuvor hatte Keaton das Angebot ausgeschlagen, die Rolle des Lucky in einer Produktion von Warten auf Godot zu spielen. Zum Zeitpunkt der Produktion von Film erlebte er eine Neuentdeckung seiner Stummfilme und kam zu späten Ehren durch Kritiker und Publikum. Es gibt verschiedene Versionen davon, wie Keaton zur Rolle kam. Der Theater- und Filmschauspieler James Karen, der im Film einen Passanten spielt, kannte sowohl Schneider von einer Theaterproduktion als auch Keaton von einer gemeinsamen Tour mit dem Stück Merton of the Movies in den 1950er-Jahren. Da Karen gegenüber Schneider „unablässig von Keaton redete“, vermutete er, Keaton sei auch deshalb ins Gespräch für die Rolle des O gekommen. Becketts Biograf Knowlson hingegen berichtet, Keaton sei auf Vorschlag Becketts zu dem Projekt gestoßen, nachdem der von Beckett bevorzugte MacGowran ein anderes Filmengagement angenommen hatte. Mit MacGowran konnte Beckett kurze Zeit später das Fernsehspiel He Joe realisieren. Dreharbeiten und Umsetzung Die Dreharbeiten fanden im Sommer 1964 in New York statt. Viele Reporter und Schaulustige begleiteten den Außendreh der Eingangsszenen an einer Wand in der Nähe der Brooklyn Bridge, unter ihnen Allen Ginsberg, Alain Resnais und Delphine Seyrig. Insbesondere diese Außenaufnahmen stellten eine große Herausforderung für die Filmneulinge Beckett und Schneider dar. Es herrschte große Sommerhitze, und die Unerfahrenheit des Teams, besonders des Regisseurs Schneider, hatte zur Folge, dass die Außenaufnahmen der ersten Drehtage nicht wie erwartet ausfielen. Eine Wiederholung ließ das Budget nicht zu. Beckett begnügte sich mit den gelungenen Teilen, zumal die Innenaufnahmen im Anschluss besser liefen. Von dem präzisen Drehbuch, das Aktionen der Personen und insbesondere die Ausstattung von Os Wohnung genau beschrieb, wollten Schneider und Beckett kaum abweichen. Dies ließ Keaton wenig Raum zur Improvisation, die seinem Stil, Filme zu drehen, nähergekommen wäre. Das Drehbuch erforderte es zudem, dass der Hauptdarsteller des O fast ausschließlich von hinten zu sehen ist. Keaton steht immer mit dem Rücken zur Kamera und wendet sich beständig ab, wenn die Kamera versucht, um ihn herum zu schauen. Keatons Gesicht ist daher bis kurz vor Ende des Films nicht zu sehen. Beckett ließ ihn aber seine eigenen mitgebrachten Hüte, pork pie hats, tragen. Dieses Markenzeichen macht die Identität von Os Darsteller von Anfang an kenntlich. Zusammenarbeit von Beckett, Keaton und Schneider Zwar war Schneider nominell der Regisseur, Beckett spielte aber eine mindestens ebenso große Rolle bei der Produktion des Films. Er hatte, so Schneider später, genaue Vorstellungen im Kopf und bemühte sich, diese umzusetzen. Die Zusammenarbeit zwischen Beckett und Schneider einerseits und Keaton andererseits gestaltete sich als schwierig. Zum einen lag dies daran, dass sowohl Beckett als auch Schneider zwar Koryphäen auf ihrem jeweiligen Gebiet, aber Neulinge beim Film waren. Der nahezu siebzigjährige Keaton hingegen hatte schon Jahrzehnte zuvor Filme gedreht, die heute zu den besten ihrer Zeit gezählt werden. In den Worten einer Mitarbeiterin von Film: „Der Film wurde geschrieben von einem großartigen Dichter, der nichts über Film wusste, Regie führte ein Mann des Theaters, der nichts über Film wusste, Star des Films war ein Mann, der alles über Film wusste.“ Samuel Beckett war klar, dass Keaton ihm hier etwas voraus hatte. Keaton wurde von Beckett aber auch als zurückgezogen und in der Vergangenheit verhaftet wahrgenommen, die Konversation zwischen ihnen bezeichnete er als einsilbig. Trotzdem lobte und bewunderte Beckett die Professionalität Keatons, der die Regieanweisungen auch in größter Sommerhitze klaglos ausführte. Filmanalyse Becketts Idee Becketts Film basiert auf der Anschauung des irischen Philosophen George Berkeley, dass das Wahrgenommenwerden das Sein des Menschen konstituiert: Esse est percipi (dt.: Sein ist wahrgenommen werden). Selbst wenn andere einen nicht mehr wahrnehmen, nimmt man sich doch selbst noch wahr. Eine vollkommene Negation des eigenen Seins müsste daher einschließen, dass man aufhört, sich selbst wahrzunehmen oder von göttlichen, allwissenden Beobachtern wahrgenommen zu werden. Wenn O am Ende des Films sich selbst gegenübersteht, erkennt er demnach, dass er sich vor sich selbst letzten Endes nicht verbergen kann. Zwar hatte Schneider anfangs den Eindruck, Buster Keaton könne nicht viel mit dem Konzept anfangen, Keaton fasste die Essenz der Idee allerdings treffend so zusammen: „A man may keep away from everybody, but he can’t get away from himself.“ (dt: Ein Mensch kann sich von allen anderen fernhalten, sich selber kann er nicht entkommen.) O als Name der ansonsten namenlosen Hauptfigur steht für object (Objekt), die Kamera, wenn sie als beobachtende Kameraeinstellung Os Wege verfolgt, bezeichnete Beckett als E für eye (Auge). The Eye sollte auch ursprünglich der Titel des Films sein. Für O und E konzipierte Beckett zwei verschiedene filmische Darstellungsweisen. Die Optik des Bildes wechselt zwischen einer Beobachterperspektive und einer subjektiven Kamera, die Os Sicht repräsentiert und leicht verschwommen wirkt, so als sei O fehlsichtig. Der Film erschließt sich nicht allein vom Sehen. Ruth Perlmutter weist in einem Aufsatz über Film darauf hin, dass einige technische und textuelle Aspekte sich erst offenbaren, wenn man das Filmscript parallel zum Film liest. So vermerkte Beckett dort, dass es sich bei dem Bild an der Wand, das O zerstört, um ein Bildnis Gottes handelt. Außerdem schloss Beckett explizit die Möglichkeit ein, O befinde sich im Raum seiner Mutter, was weitergehende ödipale Deutungen zulässt. Beckett wird ein angespanntes, ambivalentes Verhältnis zu seiner Mutter nachgesagt. Ernst Wendt weist in einer Filmkritik darauf hin, dass der Schaukelstuhl, „Becketts geliebtes Requisit“, auch in anderen Werken vorkommt und als eine Art „Todesschaukel“ betrachtet werden kann. So setzt sich in Becketts erstem Roman Murphy von 1938 der Titelheld auf einen Schaukelstuhl, bindet sich daran fest und steckt sich in Brand. Weitere Verweise auf das Werk Becketts lassen sich finden: Das Tuch, das O am Anfang vor seinem Gesicht trägt, kann als Parallele zu jenem blutbefleckten Tuch gesehen werden, das Hamm am Anfang von Becketts Theaterstück Endspiel von 1957 trägt. Und auch die Bilder, die O zerstört, finden eine Parallele in Becketts Œuvre, in dem 1959 veröffentlichten Theaterstück Das letzte Band (Krapp's Last Tape), als Form der Betrachtung von Erinnerungen an sich selbst. Sie stellen die „erfüllten Augenblicke seines Lebens, zur optischen Pose erstarrt“, dar. Aber anders als Krapp sei O nicht imstande, diese Erinnerungen zu ertragen. Keatons Beitrag Buster Keaton versuchte in seine Interpretation des O Gags einzubringen. Zum größten Teil wurde dies von Beckett nicht angenommen. Die einzige Sequenz, die von Keaton sichtlich beeinflusst ist, ist jene, in der O die Haustiere aus der Wohnung schafft: O trägt zunächst die Katze hinaus, dann den Hund, nur um festzustellen, dass die Katze wieder in der Wohnung ist. Als er sie erneut hinausbringt, schleicht sich der Hund wieder hinein. So geht es, zur Verzweiflung Os, einige Male hin und her. Beckett fand, die Sequenz sei letzten Endes zu lang geraten. Robert Knopf konstatiert, nicht die Szene sei zu lang, sondern der Schnitt sei dem Ganzen nicht gerecht geworden – er koste den komischen Moment nicht aus, sondern breche in mehreren Einstellungen zu früh ab, was den Rhythmus der Komik störe. Beckett sagte, die Szene war seiner Meinung nach die einzige, die Keaton beim Drehen genossen habe. Veröffentlichung und Rezeption Veröffentlichung Die Premiere des Films fand erst ein Jahr nach Abschluss der Dreharbeiten beim Filmfestival in Venedig am 4. September 1965 statt. Der Filmsammler Raymond Rohauer, der für die Rettung vieler Stummfilme Keatons vor dem Verfall und dem Vergessen verantwortlich zeichnet, hatte sich beim Festivaldirektor für die Aufführung von Film eingesetzt. Die Stummfilmlegende Keaton wurde in Venedig minutenlang mit stehenden Ovationen gefeiert. Nur wenige Monate später, am 1. Februar 1966, starb Keaton an Lungenkrebs. Die Produzenten hatten zuvor massive Schwierigkeiten gehabt, den fertiggestellten Kurzfilm in den USA zur Aufführung zu bringen. Erst eine Zusage von Amos Vogel, dem damaligen Direktor des New York Film Festival, den Film im Herbst 1965 auf dem Festival im Rahmen einer kleinen Buster-Keaton-Retrospektive zu zeigen, änderte dies. In den regulären Filmverleih kam der Kurzfilm allerdings nicht. Lediglich vereinzelte Aufführungen z. B. an Universitäten oder in Kurzfilmprogrammen fanden in der Folge statt, aus Beckett- und Keaton-Fans rekrutierte sich Ende der 1960er-Jahre eine Art Underground-Publikum. Film war dementsprechend kein kommerzieller Erfolg. Der Produzent Rosset konstatiert, man habe erstens vielleicht zu viel Geld für den Film ausgegeben, zweitens so gut wie keine Einnahmen gehabt durch die (spärliche) Kinoauswertung. Filmkritik zum Erscheinen des Films Zu seinen europäischen und US-amerikanischen Premieren gab es einige Veröffentlichungen von Filmkritikern in europäischen und US-amerikanischen Zeitungen und Filmzeitschriften. Seine Premiere am 4. September 1965 auf dem Filmfestival von Venedig wurde von Karl Kern in der FAZ vom 6. September 1965 mit einer sehr positiven Kritik bedacht. Auch Ernst Wendt äußerte sich in der Zeitschrift Film positiv. Er bezeichnete den Film als eine Art „stummes Endspiel“ und schrieb, die „hellsichtige Verzweiflung Becketts“ teile sich in ihm mit. Wendt lobte die „optische Askese“ der Kamera, die er gegen „modische Attitüden einer über-emanzipierten Kamera“ abgrenzte. Die Filmkritikerin Frieda Grafe hingegen konnte Film in ihrer Kritik für die Zeitschrift Filmkritik nicht viel abgewinnen. Grafe, die Keatons früheren Arbeiten gegenüber positiv eingestellt war, bemängelt vor allem, dass ausgerechnet Keaton für den Film ausgewählt worden war. Sie schreibt: „Vor allem aber scheint man seine Vergangenheit übersehen zu haben, eine außerordentlich lebendige Vergangenheit. Sie passt nicht in Becketts Konzept, sie hebt es auf.“ Die Figur Buster Keatons wirke wie „ein Magnet, der allein bestimmend das Feld von Metallspänen ausrichtet“. Sie vermisst Becketts Stärke, seine Sprache und erlebt Film als Abfilmung eines leeren Raumes. Bei der Erstaufführung in den USA auf dem New Yorker Film Festival am 14. September 1965 traf der Film ebenfalls auf Ablehnung. Film war in einem Vorabendkinoprogramm zu Ehren des abwesenden Buster Keaton aufgenommen worden und wurde zwischen The Railrodder und Sieben Chancen gezeigt. Nach eigenen Angaben sah der Regisseur des Films, Alan Schneider, voraus, dass es keine gute Idee sei, Film zusammen mit anderen Buster-Keaton-Filmen aufzuführen: Die Leute erwarteten Slapstick, den Film nicht bieten könne. Tatsächlich war die am folgenden Tag erscheinende Kritik in der New York Times alles andere als positiv. The Railrodder, ein Kurzfilm mit Keaton als einzigem Darsteller von 1965, in dem er mit einem kleinen Schienengefährt Kanada durchquert, wurde gut vom Publikum aufgenommen. Film als zweiter Teil des Programms enttäuschte die Kinogänger. Keaton wurde schließlich nur von hinten gezeigt und die Geschichte des Films war eher spärlich, der typische Humor Keatons war nur in wenigen Szenen vorhanden. Der das Programm abschließende Langfilm war von Keaton 1925 auf dem Höhepunkt seiner Karriere beim Film gedreht worden, als er unter Joseph Schenck sein eigenes Studio hatte. Seven Chances stand zu Film in starkem Kontrast und wurde vom Publikum genossen. Schneider, der der Aufführung beiwohnte, bestätigt die Reaktionen des Publikums auf Film als sehr negativ. Rezeption in den 1990ern Der Autor Jim Kline schrieb 1993, er sehe in Keaton die perfekte Besetzung für die Rolle, da er zwar die trostlose Sicht Becketts umsetze, aber dabei seine Eigenständigkeit als Figur behalte. Kline sieht in dem Film eine „perfekte Verbindung zweier unterschiedlicher Stile, die sich komplementär ergänzen“. Hätten sich die beiden Künstler aber um eine engere Zusammenarbeit bemüht, so wäre das Ende wohl anders ausgefallen. Das „Schreckgespenst“, dem sich O am Ende gegenübersieht, hätte vielleicht eine Sahnetorte abbekommen, oder O und E hätten sich zu einem gemeinsamen Tanz hinreißen lassen, wie Keaton es mit anderen Doppelgängern von sich in seinem Kurzfilm The Playhouse tat. Robert Knopf schrieb 1999 über den Film, Keaton und Beckett hätten nur wenige Berührungspunkte gehabt, ihre gemeinsame Arbeit aber sei seltsam kraftvoll geraten. Letzten Endes werde der Film eher als ein Buster-Keaton-Film wahrgenommen als ein Werk Samuel Becketts, insbesondere da die Figur Keatons von Anfang an kenntlich sei. Auszeichnungen Film erhielt 1965 eine Auszeichnung auf dem Festival in Venedig, außerdem Auszeichnungen der Festivals in London 1965, Oberhausen 1966 und Tours 1966. Literatur Film: Complete Scenario, Illustrations, Production shots, Faber & Faber, ISBN 0-571-09942-4. (Mit einem Essay von Alan Schneider, „On directing Film“) Al McKee: Buster's Hat. In: Film Quarterly. Nr. 4, 57. Jahrgang (2003/2004), S. 31–34. Weblinks Film im Internet ansehen Ein (seltenes) Interview mit Samuel Beckett über Film und die Zusammenarbeit mit Keaton, kurze Statements von James Karen Alan Schneider über Film Barney Rosset über Film Foto von Keaton und Beckett bei den Dreharbeiten Einzelnachweise Filmtitel 1965 US-amerikanischer Film Kurzfilm Samuel Beckett